Im Zwielicht der Vergangenheit - Marina Scheske - E-Book

Im Zwielicht der Vergangenheit E-Book

Marina Scheske

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Beschreibung

Marina Scheske erzählt eine deutsche Familiengeschichte, angesiedelt zwischen den Jahren 1961 und 1991, mit allem Licht und einigen Katastrophen. Zerrissen durch die Teilung Deutschlands und scheinbar wiedervereint nach dem Fall der Mauer, wirft die Vergangenheit einen derben Schatten auf Familienmitglieder. In chronologisch geordneter Reihenfolge erzählt die Autorin eine Geschichte zwischen Ost und West; über eine Staatssicherheit, die vor Grenzen keinen Halt macht und so manch ruhige Enklave in der DDR erbeben lässt.

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Marina Scheske

IM ZWIELICHT DER VERGANGENHEIT

Chronik einer deutschen Familie

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen

wäre rein zufällig.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel: Annemarie

2. Kapitel: Ramona

3. Kapitel: Henry

Epilog

1. Kapitel

ANNEMARIE

Angermünde, am 1. Mai 1962

Jeder Tag hat seine eigene Farbe. Der Tag, an dem Ramona Poltzin geboren wurde, leuchtete maigrün und rot. Es war der Tag der Arbeit. Überall im Land zwischen Oder und Elbe blähte sich das rote Fahnentuch im frischen Frühlingswind und so ergab sich ein hübscher Kontrast zum lieblichen Maiengrün, das nun endlich nach einem langen eisigen Winter aufgeschossen war.

Annemarie schaute auf ihr Kind und schmerzlich fühlte sie, dieses Kind war alles, was ihr von Henry blieb. Sie suchte im Gesicht des Neugeborenen die Spuren einer Liebe, die sich längst in Bitterkeit verwandelt hatte und ihr Blick verlor sich im Blau der Kinderaugen, als wäre es das Himmelsblau jenes Tages, an dem sie Henry zum Bahnhof begleitete.

Es war ein heißer Tag gewesen, dieser Augusttag im Jahre 1961, ein Tag, der schon ahnen ließ, was kommen würde. Gewitterschwüle Wolken zogen über das Land. Unheildrohend flackerte dunkles Licht am Horizont hinter den Feldern, die sich scheinbar endlos ausdehnten. Gerade hatte man den letzten Bauern des kleinen Dorfes Heinrichshagen in die LPG gepresst. Was für kurze Zeit in Neubauernhand gegeben worden war, es wurde nun wieder zusammengelegt zu einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, dessen Vorsitzender Roggen nicht von Weizen unterscheiden konnte.

Annemarie kümmerte weder der Roggen noch der Weizen, als sie mit Henry am einzigen Gleis der Bahnstation stand.

„Du riechst nach Sehnsucht“, sagte er, als er sie in den Arm nahm, „ich bin noch gar nicht weg und habe schon Sehnsucht nach dir.“

Sie aber dachte, das kann nicht wahr sein, sicher träume ich nur. Wie kann er mich verlassen, wo doch alles erst angefangen hat.

„Willst du es dir nicht doch noch überlegen“, flüsterte sie.

Sie konnte nur noch flüstern und sie dachte, das kommt von der trockenen Luft, die schnürt mir die Kehle zu. Seit heute Nacht fahren die Mähdrescher, die Ernte hat begonnen.

Der Mittagszug fuhr ein und sein einziger Fahrgast stieg aus. Es war die alte Frau Schultz vom Vorwerk. Sie trug einen Korb, in dem ihr hässlicher und äußerst giftiger Spitz saß.

Und während Annemarie nun in der Klinik ihr Neugeborenes betrachtet und Henrys Bild sucht in diesem kleinen, zwergenhaft anmutenden Gesichtchen, da weiß sie, dass Frau Schultzens Bild in Zukunft immer dann aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auftauchen wird, wenn ihre Gedanken bei dieser Abschiedsszene weilen.

„Wir haben doch alles besprochen, meine Süße. Du kommst nach, sobald das mit deiner Oma vorbei ist.“

So sprach er zu ihr, während er schon ein Bein auf dem Trittbrett hatte. Die Lokomotive stieß Dampf aus und der Rest seiner Worte ging in ihrem Schnaufen unter.

Als der Schaffner die Kelle hob, da erschien Henry am Abteilfenster. Sie sah das lebendige Strahlen seiner Augen, sie sah noch einmal, was keine Fotografie ersetzen kann, nun schaute sie direkt in sein Herz. Und da sie in diesem Augenblick in seinem Gesicht wie in einem Buche lesen konnte, ärgerte es sie, dass sie eine gewisse Zufriedenheit zu sehen glaubte.

Auch ärgerte sie sich darüber, dass sie ihr Mitkommen von ihrer Oma abhängig gemacht hatte. Oma lag im Sterben, doch tat sie sich schwer damit, für immer zu gehen, weitaus schwerer als Henry, der sie in dieser Stunde des Abschieds recht unbeschwert anlächelte.

Dieser Gedanke flackerte nur kurz auf. Sie verbot ihn sich, denn Oma war der einzige Mensch, von dem sie Zuneigung und Liebe zu erwarten hatte. Annemarie wusste, ohne Oma wäre das Leben an der Seite ihrer zänkischen Mutter unerträglich gewesen all die Jahre, seit der Vater im Gefängnis gestorben war. Nun musste sie bleiben, bis Oma die Augen für immer schloss, das war sie ihr schuldig.

Der Schaffner, er hieß Wunderlich und hatte gerade Dienst, die rote Mütze saß ihm wie immer schief auf seinem grauem Haar, auch das wird sie nie vergessen, pfiff endlich den Zug ab. Brutal klang dieses Pfeifen, es gellte ihr in den Ohren wie eine Landsknechtfanfare vor mittelalterlicher Hinrichtung. Danach sah sie, wie er die Pfeife in hohem Bogen hin- und herschleuderte und wie die Spucke aus der Pfeife auf das Bahnhofspflaster spritzte.

Alles sah sie klar und überdeutlich intensiv, es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, an die sie hätte denken können, es gab nur diesen Moment.

Als sie endlich aus ihrer Erstarrung erwachte, da ertappte sie sich dabei, dass sie noch immer ihren Arm erhoben hielt. Ihr Abschiedswinken war ihr entglitten, eine höhere Macht schien es eingefroren zu haben. Ihr Blick jedoch hatte längst den Zug verloren, der sicher schon fast in Eberswalde war und von da aus weiter nach Bernau fuhr.

Dort aber stieg Henry Bernard aus, denn in Bernau, direkt gegenüber vom Hotel „Schwarzer Adler“, da wohnte seine Tante. Sie hieß Amalie und war das Alibi dieser Reise, die ihn am nächsten Tag in die andere Welt bringen sollte. Nach Westberlin, in die Welt der vollen Schaufenster und der vermeintlichen Freiheit wollte er, in die freien westlichen Sektoren einer zerstückelten Stadt, die büßen musste für die Schuld der Väter.

Annemarie aber lief atemlos zum Hof zurück. Sie spürte nicht den heftigen Regenguss, der auf sie hernieder prasselte wie ein Fuder Erbsen. Erst als sie durch das Hoftor kam und die Mutter in der offenen Scheune stehen sah, da wurde ihr bewusst, dass sie nass war wie eine Katze.

„Und was ist mit dem Kaninchenfutter“, rief die Mutter ihr zu, „wo warst du überhaupt, wo treibst du dich denn rum? Du warst doch nicht etwa da drüben!“

Mit „da drüben“ meinte sie nicht Westberlin, sondern Bernards Gärtnerei. Als ob Annemarie je gewagt hätte, auch nur einen Fuß auf das benachbarte Gehöft zu setzen, welches eigentlich kein Gehöft war, sondern der heruntergekommene Rest einer einst stattlichen Gärtnerei, die sich nur deshalb auch nach dem Krieg in privater Hand halten konnte, weil sie die russische Kommandantur mit Gemüse belieferte. Doch die Zeiten hatten sich geändert, Wilhelm Bernard sich aufgehängt und Käthe, seine Frau nahm lieber die Flasche als eine Hacke in die Hand. Henry, ihr einziger Sohn, arbeitete in der Verwaltung der unweit von Heinrichshagen liegenden Papierfabrik und mit Gurken hatte er nicht viel am Hut.

Nie hätte Annemarie es gewagt, das alte, grau verputzte Haus der Bernards zu betreten, obwohl es so traulich vom wilden Wein umwuchert war, was ihr gut gefiel.

Käthe Bernard jedoch stand ihrer Mutter nicht nach, wenn es darum ging, Gift und Galle zu verspritzen. Die beiden lebten in einer mysteriösen Feindschaft zueinander und weder Henry noch Annemarie konnten sich den Grund dieses Hasses erklären.

„Kaninchenfutter steht, wo es immer steht“, brüllte sie zurück, worauf Sieglinde brubbelnd im Dunkel der Scheune verschwand. Annemarie sah ihr nach. Sie schaute auf ihren dicken Hintern, den eine rot geblümte Kittelschürze straff umspannte, schaute auf ihre weißen nackten Waden mit den blauen Krampfadern und sie sah, wie eine unordentliche Dauerwelle unter ihrem Kopftuch hervorquoll. Da schwor sie sich, nie so zu werden wie ihre Mutter, so schlampig und keifend und über die Maßen verbittert.

Im Haus war es noch immer so schwül, wie es vor dem Gewitter in der Feldmark gewesen war und als sie in der dunklen Diele vor der Stube ihrer Großmutter stand, da roch sie den Tod. Oma Giese lag trotz der Hitze unter einem riesigen Ballonfederbett, selbstgerupfte Gänsefedern, Daune aus dem eigenen Stall. Die Wärme war ihr abhanden gekommen, seit der Tod seine Hand nach ihr ausgestreckt hatte. Unter ihrem Kopf lagen zwei voluminöse Kissen und sie atmete rasselnd. Die kleinen dürren Hände strichen unentwegt über den Federbetthaufen, ganz als wolle sie weglaufen vor dem Mann mit der Sense. Sieglinde hatte sie so gebettet, dass sie leider den Spruch nicht lesen konnte, der in vergoldeten Rahmen auf der verblichenen Tapete hing. Vielleicht wäre ihr dann das Sterben schneller gelungen, denn dieser Spruch verhieß demjenigen die ewige Seligkeit, der da glauben würde.

Annemarie aber saß für den Rest des Tages am Bett der Sterbenden, hielt ihre kleinen, dürren kalten Hände in den ihren, bis sie schließlich ruhig und sogar ein bisschen warm wurden. Stunden saß sie so. Die Sonne kam wieder hervor, wanderte weiter, Wolken zogen vorbei, mächtige weiße Haufen, ähnlich der Zuckerwatte auf dem Rummel, der zweimal im Jahr nach Heinrichshagen kam. Annemarie schaute aus dem Fenster, lugte durch Omas Spitzengardine, auf der eine holländische Windmühle zu sehen war und sie fühlte sich merkwürdig zerrissen. Als hätte jemand ihr das Herz gespalten, so war ihr zumute, ein Teil für Oma, ein Teil für Henry. Das ganze junge Herz, einfach einmal längs durch, so dass es blutete.

Später stand sie auf und schob die Gardine beiseite. Sie schaute so weit über das Land, über all die riesigen Äcker, die sich bis zum Horizont ausdehnten, dass sie schließlich glaubte, die Stadt Bernau sehen zu können, wo Henry nun sicher die Nacht auf der Chaiselongue seiner Tante Amalie verbringen würde. Sie schaute lange, bis sie ihn wirklich sah, wie er dalag auf dem harten, unbequem altmodischen Möbelstück und versuchte, etwas Schlaf zu finden. Sogar die schwarze Katze sah sie, von der er ihr erzählt hatte, sie lag ihm zu Füßen. Bewacht wurde ihr Henry von einer hübschen Schäferin. Sie zierte den Gobelin, den die Tante über die Chaiselongue gehängt hatte, um den Schwamm zu verbergen, der am alten Haus aus der Gründerzeit nagte.

Doch sah sie nicht, was sich auf dem Hof in der Remise befand. Dort, wo eigentlich die Kohlen gebunkert wurden, deren Lieferung aber erst im September erfolgte, lagerte jede Menge des allerfeinsten Metalls, stapelte sich bis zur Decke, zu Bündeln aufgerollt auf kleinstem Raum. Stacheldraht, blank, neu und rattenscharf füllte die Remise, drängte ein klappriges Fahrrad zur Seite und zerquetschte letzte Reste alter Kartoffeln, die ohnmächtig versuchten, dagegen anzustinken. Es half nichts, sie hatten längst verloren, denn an der windschiefen Remisentür, die durch ein Vorhängeschloss gesichert war, hing ein Schild.

Es verkündete, der Zutritt sei bei Strafe verboten, da hier Schädlingsbekämpfungsmittel lagern würden. Unterschrieben hatte der Bürgermeister höchstpersönlich.

Annemarie aber sah nur Schönes in ihrer Vision und lächelnd reichte sie schließlich der alten Frau die Schnabeltasse mit dem Kamillentee, bevor sie selbst zu Bett ging …

Soweit ist sie nun mit ihren Erinnerungen im Wochenbett gekommen, als sich die Tür öffnet und ein gutaussehender, schlanker, dunkelhaariger Mann an ihr Bett eilt. Es handelt sich um Manfred Poltzin und sicher liegt es an der besonderen Situation nach der Entbindung, dass sie eine kleine Sekunde braucht, bis sie sich erinnert, seit einigen Monaten seine Frau zu sein, rechtmäßig angetraut auf dem Angermünder Standesamt. Anschließend erfolgte die sozialistische Eheschließung im Festsaal der SED-Kreisleitung.

Manfred bringt einen Hauch von Frühlingswind mit und legt einen Strauß roter Nelken und eine braune Papiertüte auf den Nachttisch. Nun richtet er sich auf, atmet tief durch und beugt sich über Annemarie, um sacht ihre Stirn zu küssen.

Sein Blick ruht auf dem Kind, es ist ganz still im Zimmer, nur eine Fliege summt vor der Fensterscheibe. Vergebens sucht sie einen Weg in die Freiheit.

„Sie ist sehr niedlich“, sagt er endlich.

Seine Stimme klingt gerührt und sie sieht, dass seine Augen feucht schimmern.

„Sie ist unsere Tochter, Annemarie und alles wird so sein, wie ich es dir versprochen habe.“

„Ja“, sagt Annemarie, „sie ist unsere Tochter.“

Das Reden fällt ihr schwer, in ihrem Hals steckt ein Kloß. Ein Kloß, der immer größer wird und so richtet sie sich schnell auf, um nicht liegend im Wochenbett zu ersticken.

Das Kind schläft den Schlaf der Unschuld. Noch weiß es nichts von der Welt, von ihrem Leid und ihren Verwicklungen.

Annemarie bittet Manfred, ein Fenster zu öffnen und als er ihrem Wunsch nachgekommen ist, da weht eine Melodie zu ihnen herauf, eine hübsche Melodie, gespielt von einem Saxophon.

„Draußen wird gefeiert, Annemarie. Unsere Tochter hat sich ein gutes Datum für ihren Geburtstag ausgesucht, auf der ganzen Welt begeht heute das Proletariat den Tag der Arbeiterklasse.“

Schnell nickt sie ihm zu und lächelt bestätigend. Dabei hofft sie, er wird jetzt nicht von seiner Rede anfangen, die er nach der Maidemonstration auf dieser Tribüne gehalten hat, während sie sich durch die Wehen quälte.

Beide lauschen sie nun den Klängen, die vom nahen Thälmannplatz bis in Annemaries Zimmer schallen und sie erinnert sich. Vor einer Woche, als ihr Bauch sich schon prall wie eine Trommel spannte und sein Gewicht sich bereits nach unten senkte, da sah sie, als sie schweren Ganges zum Bäcker ging, wie Zimmerleute sich anschickten, eine Tribüne aufzubauen. Fix ging das und als sie aus der Bäckerei kam, spannten schon die Dekorateure der HO das monströse Gerüst mit rotem Fahnenstoff zu. Sie spannten und wickelten, klopften und hämmerten, bis schließlich alles rot leuchtete. Auch sah sie die ersten grün knospenden Büsche am Rande des Festplatzes und kleine bescheidene Gänseblümchen, die ihre zarten weißen Köpfchen im jungen Gras zeigten. Annemarie erfreute sich am Frühling, während sie mit ihrem Mischbrot im Netz nach Hause ging. Das Kind kommt zur rechten Jahreszeit auf die Welt, so dachte sie und sie sah im Geiste den modernen, hochrädrigen Kinderwagen in Heinrichshagen unter ihrer Mutter Apfelbaum stehen. Sicher würde es besser werden zwischen ihr und der Mutter, wenn das Kind erst einmal da war, so hoffte sie …

Vom Fenster aus berichtet ihr Manfred, was unten auf dem Platz vor sich geht. Der Bierstand ist eng umlagert. Helles wird dort ausgeschenkt aus der Eberswalder Brauerei, dazu gibt es klaren Schnaps und Liköre für die Damen, vorzugsweise Pfefferminz und Kirsch.

In der anderen Bude dampft ein Bockwurstkessel und auf einem Grill brutzeln Bratwürste.

Man tanzt auf hölzernen Planken zu der Musik jener Kapelle, deren Klänge hinaufschallen bis in ihr nüchternes weißes Krankenzimmer. Weiß das Metallbett, weiß gestrichen Tisch und Stuhl, weiß auch die Bettwäsche. Nur der grüne Ölsockel und ein Druck mit den Sonnenblumen van Goghs lassen ahnen, dass es da draußen eine bunte Welt gibt.

„Wie soll das Kind denn nun heißen, Annemarie? Hast du dich schon entschieden? Morgen kommt die Standesbeamte.“

„Ach, ich weiß nicht … Hörst du, was sie spielen, Manfred? Erinnerst du dich?“

„Ja, mein Herz, natürlich. Das war unser erster Tanz. Und ich bin dir immerzu auf die Füße getreten.“

„Ramona, ein Leben lang hab ich von dir geträumt“, so klingt die helle, etwas schmalzige Stimme des Sängers bis hinauf in das Zimmer der Entbindungsstation.

Manfred nimmt ihre Hand in die seine. Er hält sie ganz fest, schaut ihr in die Augen und sagt leise: „Wie wäre es denn mit Ramona? Das ist doch eigentlich ein schöner Name. Vor allem ist er nicht zu lang und er klingt modern. Was meinst du, wollen wir sie Ramona nennen?“

„Warum nicht … Gut, Manfred, nennen wir sie Ramona.“

„Na siehst du“, sagt er, „nun hat unsere Tochter einen Namen. Ich geh dann mal, ich will noch in die Papierfabrik.“

„Ihr wollt doch sicher das Kind begießen, nicht wahr?“

„Nur ein kleiner Umtrunk, das bin ich ihnen schuldig. In der Tüte da sind Bananen, extra für dich organisiert. Die musst du aber bald aufessen, sonst werden sie schwarz.“

Als die Schwester kommt und ihr das Kind aus dem Arm nimmt, da schläft sie bereits.

Und während sie in einen sanften Traum gleitet und sich unten auf dem Thälmannplatz zwei Betrunkene prügeln, schon hört man das Martinshorn des Polizeiwagens, da verlassen wir leise das Zimmer.

Wir wollen nun erfahren, wie es wohl dazu kam, dass sie im Januar dieses Jahres den Manfred Poltzin geheiratet hat, obwohl sie doch Henry Bernards Kind unter ihrem Herzen trug.

Ein Jahr zuvor in Heinrichshagen, im August 1961

Annemarie schaut hinauf in den wolkenlosen Himmel und sie wünscht sich so sehr, schwerelos zu sein, leicht wie eine Feder, um jetzt gleich aufzusteigen und nach Berlin zu fliegen zu ihrem Henry.

Gerade hat sie drei Schäufelchen Sand auf Omas Sarg geworfen. Dreimal hat es „plopp“ gemacht und es klang ihr im Ohr, als würde Oma sagen: „Geh nur, Mädchen, geh endlich zu ihm und werde glücklich.“

Nun sind alle Lieder verklungen, auch das „Lobe den Herrn“, Oma Gieses Lieblingslied.

Der Streuselkuchen für den Leichenschmaus steht in der Speisekammer bereit. Sieglinde hat ihn bereits vor Tau und Tag gebacken. Er muss frisch sein, sonst schmeckt er nicht mehr so gut, es ist ein Hefekuchen.

Sieglinde stößt Annemarie in die Seite, schnell faltet sie ihre Hände und stimmt ein in das an- und abschwellende Vaterunsergemurmel. Doch kann sie sich nicht konzentrieren.

Ihr Blick fällt auf Pastor Friedrich, der ein rotes Furunkel auf der Nase hat und von Erde spricht, die wieder zu Erde wird. Jetzt segnet er die Trauergemeinde und wohl auch Oma, obwohl er dabei nicht auf ihren Sarg schaut. Hastig schlägt er das Kreuz.

Da steht sie nun, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen, doch alles vermischt sich in ihren Ohren zu einem dumpfen Wortbrei. Hinter ihr in der Hecke zwitschert der Zaunkönig sein Lied. Es ist das Lied der Liebe, das Lied der hohen Zeit des Sommers und es begleitet Henrys Worte, an die sie unentwegt denkt.

„Wenn es soweit ist, Annemarie, dann rufst du an. Die Nummer hast du ja.“

Später sitzt sie mit den Trauergästen an der weiß eingedeckten Tafel und trinkt den guten Bohnenkaffee aus Sieglindes Sammeltassengeschirr, das ein Leben hinter Vitrinenglas fristet und nur zu besonderen Gelegenheiten benutzt wird. Alle loben den Streuselkuchen, den keiner so gut backen kann wie Sieglinde. Doch schmeckt Annemarie weder Kuchen noch Kaffee, denn sie schlendert in Gedanken bereits mit Henry über den Kurfürstendamm. Ihr weiter bunter Rock bauscht sich über dem Petticoat im Wind, beschwingt wie der Wind ist auch ihr Gang und Henry sagt zu ihr: „Wir werden ein wunderbares Leben haben, Annemarie.“

Man sollte nicht allzu viel träumen, bevor der Tag sich zu Ende neigt, oder auch die Woche, so wie es bei Annemarie war. Die Woche, in der das Verhängnis seinen Lauf nahm.

Papierfabrik bei Heinrichshagen, am 8. August 1961

Sicher gibt es interessantere Tätigkeiten, als Töpfe auszuscheuern, aber dabei lässt es sich gut träumen. Seit Sieglinde Giese ihre Tochter mitnahm in die Großküche der Papierfabrik, um sie Töpfe ausscheuern zu lassen, hatte Annemarie so manchen Traum geträumt. Was blieb ihr anderes übrig, denn ein sehr realer Traum war zerplatzt wie eine Seifenblase, als sie auf Geheiß ihrer Mutter die Schule verlassen musste, um das zu tun, was auch ihre Mutter tagein, tagaus tat, Töpfe scheuern, Zwiebeln schälen, Möhren putzen und dergleichen mehr.

Da half es auch nichts, dass ihr Klassenlehrer extra aus Angermünde auf seinem Moped nach Heinrichshagen kam. Er beschwor Sieglinde regelrecht, das Kind doch noch eine Weile bei ihm zu lassen. Sie könnte doch die zehnte Klasse der polytechnischen Oberschule absolvieren, ihre Noten seien gut genug. Dann, so versprach er, stünde ihr die Welt offen, jedenfalls die Welt des Kreises Angermünde. Chemielaborantin könnte sie werden im großen Chemiewerk in Schwedt an der Oder oder auch Kindergärtnerin, vielleicht sogar Grundschullehrerin. Außerdem kann ein Mädchen heutzutage alle Männerberufe lernen, so sprach er, zum Beispiel Elektriker oder Schlosser werden in jenem Werk der chemischen Produktion, dessen Gestank hinüber wehte bis nach Heinrichshagen.

„Das fehlte noch“, schnaufte Sieglinde, „dass sie mit den Kerlen auf dem Bau herum poussiert, da sei mir aber Gott vor. Wo sie doch so schon genug Fisimatenten im Kopf hat!

Sie kommt mit in die Großküche, da lernt sie was fürs Leben und kann was sparen für die Aussteuer. Die Papierwerker zahlen gut. Schluss, aus, basta!“

Und so stand Annemarie auch am Morgen des achten August 1961 an der Haltestelle, wartete auf den Werkbus und dachte an ihr gestriges Telefongespräch mit Henry. War es nur einer ihrer rosaroten Träume gewesen, dass sie mit ihm telefoniert hatte in einer Telefonzelle am Angermünder Bahnhofsplatz? Nein, es war wirklich und wahrhaftig wahr. Sie hörte seine Stimme, die sich in ihr Herz schmeichelte, so dass es laut klopfte, als würde es wirklich gleich davonfliegen, direkt zu ihm nach Westberlin.

„Mittwochabend um sechs am Bahnhof Zoo, Annemie! Und nimm nicht so viel Gepäck mit, hörst du? Sie machen Kontrollen. Bis bald, mein Liebling.“

Bis bald, mein Liebling … Es knackte in der Leitung. Mit zitternder schweißnasser Hand legte sie den Hörer auf und verließ die Zelle. Vorsichtig spähte sie nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete und zwar einer von denen, die sicher sehen konnten, wie sehr ihr das Herz im Leibe flatterte. Doch sie sah keinen von den auffällig Unauffälligen und erleichtert tat sie das einzig Vernünftige in dieser nervenaufreibenden Situation. Sie ging hinüber zum Kiosk und kaufte sich eine Bockwurst, die sie hungrig hinunterschlang. Würzig duftend und heiß war sie, scharf der Senf dazu und frisch das Brötchen, die Erde hatte Annemarie Giese wieder.

Doch das war gestern und erst morgen würde der Tag der Tage sein. Und so kreisten ihre Gedanken, während sie nun im Werk in den weißen Kittel schlüpfte und die Haube über ihr Haar stülpte, unentwegt um ihren Fluchtplan. Es passte gut, die Mutter hatte morgen frei, sie wollte Erdbeeren pflanzen. Eine Katastrophe wäre es gewesen, hätten sie beide die gleiche Schicht gehabt.

Gedankenverloren betrat sie die große, muffig nach Spülwasser und Zwiebeln riechende Küche. Und dann passierte es, das Schicksal griff ein in Annemarie Gieses junges Leben und setzte sie außer Gefecht. Schuld war ausgerechnet Marianne, ihre beste Freundin. Da auch sie an diesem Morgen traumschwanger durch die Küche lief, kam es zu einem Zusammenstoß und die heiße Soljanka, an der sich eigentlich mittags die Papierwerker laben sollten, ergoss sich über Annemaries Beine. Laut scheppernd rollte der Topf über die Fliesen.

Marianne stand da, erstarrt wie Lots Weib und sah ihm nach, während sich Annemarie aufschreiend vor Schmerz krümmte.

Wenig später fuhr sie ihr Chef Manfred Poltzin mit seinem Trabant zum Angermünder Krankenhaus. Es dauerte ihn sehr, dass sie Rotz und Wasser heulte, sicher tat es furchtbar weh, so dachte er. Der gute Manfred konnte ja nicht ahnen, was für eine Katastrophe sich hier für Annemarie anbahnte, auch nicht, wie sehr dieser banale Arbeitsunfall in sein eigenes Leben einfiel. Er hatte sich in sie verliebt und wenn er gewusst hätte, dass dieser Unfall ihm eine wunderbare Chance bot, dann hätte sein verliebtes Herz vor Freude Luftsprünge gemacht.

„Das müssen wir stationär behandeln, junge Frau“, sagte die Ärztin in der Notaufnahme und Annemarie nickte dazu unter Tränen, der Schmerz nahm ihr Atem und Stimme.

Manfred verabschiedete sich und versprach, Mutter Sieglinde zu benachrichtigen, doch Annemarie hörte gar nicht mehr hin.

„Achtzehn Uhr, Bahnhof Zoo, Scheiße, stationär“, so hämmerte es in ihrem Kopf.

Stationär bedeutete Krankenhaus, eingesperrt hinter Schloss und Riegel, der Angermünder Bahnhof unerreichbar. Dabei hatte sie gestern fast am Zug gestanden. Warum war sie nicht einfach eingestiegen …

Es nützte nichts, nun lag sie auf dem Bett, starrte hinauf zur Zimmerdecke und zählte ihre zahlreichen Wasserflecken, um sich zu beruhigen. Immerhin lag sie allein im Zimmer, die Beine waren sauber verbunden und der Schmerz ebbte ab. Kraft musste sie jetzt schöpfen, jede Menge Kraft. Wenn alles still geworden war und nur noch die Nachtschwester über die Gänge huschte, wollte sie aufstehen und sich einen unauffälligen Abgang verschaffen.

Natürlich nicht durch die Pförtnerloge, sondern durch das hintere Treppenhaus, von dem sie wusste, dass es auf den Hof hinausging zu einem Pavillon, in dem sich die Pathologie und die Röntgenabteilung befanden. Da sie als Dreizehnjährige ihren Blinddarm hier gelassen hatte, kannte sie sich aus. Die hintere Tür blieb auch nachts unverschlossen, weil die Schwestern unten im Hof rauchten.

Gott sei Dank, dachte sie, meine Tasche habe ich dabei, Geld und Ausweis, ich habe alles mit. Jetzt muss ich schlafen, mich noch einmal richtig ausschlafen, bevor es losgeht.

Und so verschlief sie den Nachmittag, schlief bis zum frühen Abendbrot.

Es gab Leberwurstbrote und zwei Gewürzgürkchen, dazu Pfefferminztee. Annemaries aß mit gutem Appetit und sie erfuhr von der freundlichen Schwester, dass die Mutter da gewesen war, während sie schlief. Drei geblümte Baumwollnachthemden lagen auf dem Tisch, daneben die Kulturtasche, Wäsche, Pantoffeln und ein Bademantel. Auch an Handtücher hatte Sieglinde gedacht. Es waren die guten, die feinen chinesischen, die Sieglinde schonte und aufhob für besondere Anlässe.

Um die Schwester zu täuschen, streifte sie eines der geblümten Nachthemden über, dabei dachte sie sehnsüchtig an ein ganz bestimmtes Flatterhemd aus Nylon, schwarz, mit Spitze und kleinen rosa Schleifchen. Sie hatte es in einer arg zerfledderten Modezeitschrift gesehen, die beim Dorffrisör auslag und in einem Hamburger Verlag erschien. Jemand musste sie wohl von Westberlin nach Heinrichshagen geschmuggelt haben, so wie auch die Bastei-Romane, die im Ort die Runde machten. Die Frau des Frisörs trieb mit ihnen einen schwunghaften Handel, einmal ausleihen kostete pro Heft vierzig Ostpfennige, für gute Freundinnen allerdings nur zwanzig.

Annemarie nahm einen Schluck vom Pfefferminztee und spülte damit die Schmerztablette herunter, die ihr von der fürsorglichen Schwester im weißen Porzellanbecherchen bereit gestellt worden war. Dann lehnte sie sich bequem zurück. Nun galt es zu warten, bis der Tagdienst den Heimweg angetreten hatte.

So wie ihre Oma auf den Sensenmann gewartet hatte, wartet Annemarie nun auf den stärkenden Schlaf. Draußen ist es still, ab und an sieht sie das kalte Licht eines vorbei fahrenden Autos. Scheinwerferfinger streifen über die Decke des kahlen Zimmers, mahnend und bedrohlich zugleich erscheinen sie ihr, lassen sie an Schäferhunde denken und an die Männer in den Uniformen der Transportpolizei. Annemarie schläft und träumt, die Trapo durchkämmt den Zug …

… Was haben wir denn da in der Tasche, kleines Fräulein? Na, zeigen Sie mal her. Aha, Kamm, Zahnbürste und einen Waschlappen, sehr interessant. Wollen Sie drüben etwa übernachten? … So, so, bei der Tante in Lichtenberg. Da hätten Sie längst aussteigen müssen, hier ist Friedrichstraße. Kann ich mal Ihren Ausweis sehen? Name, Adresse? …

… Ich bin Annemarie Giese aus Heinrichshagen bei Angermünde. Friedrichstrasse? Oh Gott, da bin ich wohl eingeschlafen! Es tut mir leid. Das ist ein Irrtum, ich wollte doch nicht … Republikflucht? Aber nein, nie würde ich so etwas tun …

… Giese … Giese, Annemarie … So, so, Nachtigall, ick hör dir trapsen. Die Tochter von einem gewissen Helmut Giese. Vier Jahre Zuchthaus, politisch. Genosse, führen Sie die Person ab … Ja, so ist das, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Weitermachen! …

Aus bösen Träumen hochschreckend stellt sie fest, dass sie dringend zur Toilette muss. Mühsam erhebt sie sich und sie fühlt sich, als wäre sie um Jahre gealtert, auch meldet sich nun der pochende Schmerz zurück. Sie findet die Toiletten am Ende des Ganges, der blank gebohnert wie ein zugefrorener See vor ihr liegt und im kalten blauen Neonlicht endlos erscheint.

Und dann geschieht, was nicht geschehen dürfte, wenn sie nur ein kleines bisschen mehr Glück hätte mit ihrem kühnen, romantischen Plan, aufzubrechen zu neuen Ufern, zu einer Reise ohne Wiederkehr, denn eine Rückkehr wäre nicht möglich, sie würde unweigerlich im Zuchthaus enden.

Ein plötzlicher Schwindel sucht sie heim, alles Blut treibt zum Herzen, zum laut pochenden, eine schwarze Macht senkt sich über sie und drückt sie zu Boden.

Annemarie Giese liegt ohnmächtig auf der blank gebohnerten Schlitterbahn des Angermünder Krankenhausflures und die diensthabende Schwester eilt hinzu, denn bevor Annemarie fiel, setzte sie noch einen Schrei ab, einen einzigen lauten, hohen und äußerst schrillen Kleinmädchenschrei.

Stimmen werden laut, polternde Schritte eilen über den Gang und ein geschäftiges Treiben beginnt. Davon bekommt Annemarie nichts mit, noch immer hält die schwarze Macht sie in ihrem Bann fest. Erst der diensthabende Arzt ist in der Lage, sie zu vertreiben, indem er ihr mit einer fiesen grellen Lampe ins Gesicht leuchtet, während die assistierende Schwester Annemaries Augen brutal auseinander spreizt.

„Aufwachen, Fräulein Giese“, brüllt die Schwester, die Ruth heißt und energisch ihre Wange tätschelt. Schwester Ruth wendet sich hektisch nach rechts und links, ihr gestärktes, siebenmal gefaltetes Häubchen wackelt mit und dann reicht sie dem Arzt eine metallisch aufblitzende Spritze.

„Wir geben Ihnen etwas für Ihren Kreislauf, junge Frau, um Sie zu stabilisieren.“

„Ist gut“, haucht sie leise. Sie schaut direkt in die Augen des Arztes, die matt und seltsam bläulich an einen Fisch erinnernd hinter uhrglasdicken Brillengläsern verschwimmen.

Während die Schwester noch einmal fürsorglich ihren Puls misst, dämmert sie wieder hinüber in die Welt ihrer Träume.

Sie sitzt mit Henry im Cafe Kranzler vor Bohnenkaffee und Mohrenköpfen.

„War doch ganz leicht, nicht wahr Annemie? Schon bist du da! Möchtest du Schlagsahne? Du magst doch Schlagsahne, nicht wahr, du kleine Naschkatze.“

Dann aber tut er etwas Merkwürdiges, er löst sich auf. Schon ist er weg, er verschwindet einfach und sie sitzt da, als hätte man sie festgenagelt. Ein Kellner kommt an ihren Tisch, ein richtiger Ober im Schwalbenschwanzfrack.

„Darf es noch etwas sein, gnädiges Fräulein?“

„Nein danke“, antwortet sie schüchtern, „zahlen bitte.“

Kaum hat sie es ausgesprochen, da fällt ihr ein, sie hat ja gar kein Geld, um in diesem Westberliner Cafe zu bezahlen und sie wühlt in ihrem Portemonnaie, legt Schein um Schein auf den Tisch, doch es ist nicht das richtige Geld, es ist das Geld der armen Leute aus der Ostzone.

„So, so“, sagt der Kellner, es klingt recht süffisant und er weidet sich offenkundig an ihrer Verlegenheit.

„Nehmen Sie die Mohrenköpfe doch zurück, bitte“, haucht sie schüchtern, „wir haben ja noch nichts davon gegessen.“

Der Kellner aber lacht, es klingt etwas meckernd und die weiße Chrysantheme an seinem Frack zittert leicht. „So geht das aber nicht, gnädiges Fräulein. Es tut mir herzlich leid, aber irgendwie müssen Sie die Zeche bezahlen.“

Und wieder erwacht sie aus düsterem Alptraum, die Tür öffnet sich und eine junge Lehrschwester im himmelblauem Kleid und weißer Schürze kommt herein.

„Abendbrot“, verkündet sie laut. Ihr Häubchen hat erst zwei Falten.

Annemarie schaut auf das Tablett. Sie sieht einen weißen, blau geränderten Steingutteller, darauf zwei Mischbrotscheiben mit Leberwurst und zwei aufgeschnittene, zu Fächern drapierte Gewürzgurken. Daneben in der bauchigen Emailletasse dampft der Tee. Er riecht nach Pfefferminz.

Wie immer, wenn Annemarie scharf nachdenkt, zeigt sich eine steile Falte zwischen ihren Brauen. Sie starrt auf den Teller, der ihr so seltsam bekannt vorkommt, dann geht ihr Blick zum Fenster. Sie kennt den Stand der Sonne, sie ist ein Kind des flachen Landes, eine Tochter der norddeutschen Tiefebene und nun steigt Panik in ihr auf. Etwas ist falsch, ganz falsch, hier stimmt was nicht.

„Schwester“, brüllt sie dem wehenden himmelblauen Rock hinterher, „wie spät ist es und welches Datum haben wir heute?“

Doch der himmelblaue Rock ist verschwunden. Annemarie setzt sich auf, schwingt die Beine aus dem Bett, ein leichter Schwindel befällt sie. Sie fährt in ihre Pantoffeln und läuft hinaus auf den Flur. Unwirklich erscheint ihr alles, geradezu gespenstisch und wenn da nicht der Teewagen stünde vor der nächsten Zimmertür, mit seinen Leberwurstbroten und den liebevoll zu Fächern aufgeschnittenen Gürkchen auf blaugeränderten Tellern, sie würde glauben, immer noch zu träumen. Vor dem Schwesternzimmer hält sie inne und klopft an die Tür.

„Fräulein Giese, um Himmels willen, wenn Sie nun wieder gestürzt wären!“

So wie die Leberwurstbrote ist auch Schwester Ruth wieder vor Ort und Annemarie erfährt, dass heute Mittwoch, der neunte August sei und sie doch wirklich und wahrhaftig siebzehn Stunden am Stück geschlafen hat.

Die Zeiger der Wanduhr im Schwesternzimmer zeigen beide steil nach unten.

Du hast verloren, Annemarie, scheinen sie ihr zu sagen. Dies ist ein Urteil, das Urteil einer hässlichen schmucklosen Uhr. Ihre erbarmungslosen, dünnen, schwarzen Zeigefinger stehen nicht auf zwölf Uhr mittags. Wenn sie es täten, wenn sie gnädig beide nach oben zeigen würden, dann hättest du noch eine Chance … Entlassen auf eigenen Wunsch, zum Bahnhof mit dem Bus und dann, tschüs, Heinrichshagen, ab zum Bahnhof Zoo. Gut zu schaffen wäre es, so gut, dass noch Zeit bliebe, um sich auf ihn zu freuen, denn Vorfreude ist die schönste Freude …

Sie hört ein leises Klicken, der Minutenzeiger dieser verdammten Uhr rückt weiter. Neunundzwanzig Minuten bleiben ihr noch, doch selbst wenn sie fliegen könnte, wäre es nicht zu schaffen.

„Aber warum“, stöhnt sie, „das kann doch nicht sein und weshalb haben Sie mich denn nicht geweckt?“

„Ganz ruhig, Fräulein Giese, bitte regen Sie sich nicht auf. Erinnern Sie sich, wir haben Ihnen gestern ein Kreislaufmittel gespritzt, deshalb Ihr langer Schlaf, ein richtiger Murmeltierschlaf! Glauben Sie mir, Schlaf ist die beste Medizin. Eigentlich sind Sie zu beneiden, ich wünschte, ich könnte auch mal so lange durchratzen, sogar den Verbandswechsel haben Sie verschlafen. Kommen Sie, ich bringe Sie zurück auf Ihr Zimmer. Ach ja, ich soll Sie schön grüßen von Ihrer Mutter und von einem Herrn Poltzin, sie waren beide zu Besuch und lassen ihnen ausrichten, dass sie morgen wiederkommen.“

„Wann werde ich denn entlassen, Schwester?“

„Sicher schon übermorgen, die Wunden eitern nicht, Sie haben eine gute Heilhaut. Das kann man weiter ambulant behandeln. Aber Ihr Kreislauf macht uns Sorgen, doch das erzählt Ihnen Morgen der Arzt bei der Visite alles ausführlich. So, und nun legen wir uns schön wieder hin! Ich werde später noch einmal Ihren Blutdruck messen. Und nehmen Sie Ihre Schmerztabletten ein, Sie stehen auf dem Abendbrottablett.“

Die siebenfaltige Haube schwebt aus dem Zimmer. Annemarie nimmt die vermeintlichen Schmerzmittel und vergräbt sie hinter einer losen Scheuerleiste. Wilde Gedanken suchen sie heim. Sie wissen Bescheid, so huscht es durch ihr Hirn, sie stellen mich ruhig mit Tabletten und Spritzen, damit ich hier nicht weg kann. So etwas hat sie kürzlich gelesen und zwar in einem Detektivroman, den Henry aus Westberlin mitgebracht hatte. So macht man das und was die in Amerika können, das können sie hier sicher auch. Bestimmt hat mich neulich jemand in der Telefonzelle belauscht.

Sie erinnert sich an ein Gespräch in der Heinrichshagener Kneipe. Brausepulver wollte sie am Tresen kaufen und während Onkel Otto ins Lager ging, um das Gewünschte zu holen, da hörte sie, dass von Wanzen die Rede war. Damit waren beileibe nicht die schrecklichen Tierchen gemeint, von denen ihre Mutter manchmal erzählte. Flüchtlinge, die um Kartoffeln schnorrten, hatten sie nach dem Krieg in ihr reinliches Haus getragen. Von denen konnte man auch nichts anderes erwarten, pflegte sie zu sagen, die kamen nämlich aus dem Osten und waren Kaschuben, Wasserpolacken, also gar keine richtigen Deutschen, die taten nur so.

Sie aber spitzte die Ohren am Tresen und so erfuhr sie, dass diese Wanzen keine Insekten waren, sondern Lauschapparate, die sich überall dort mit Hilfe der auffällig Unauffälligen eingenistet hatten, wo es etwas Interessantes zu hören gab. Etwas, das der Staatsmacht die Befugnis gab, Menschen „abzuholen“.

Annemarie ist sich nun sicher, die Telefonzelle war verwanzt. Und dann hat man sie beschattet. Alles wäre genau so passiert wie in ihrem schrecklichen Traum. Verhaftung aus dem Zug heraus, Zuchthaus …

Wenn nur nicht Marianne mit dem Topf gekommen wäre, die hat ihr das alles eingebrockt.

Marianne! Ein Komplott, ihre beste Freundin Marianne ist eine Verräterin! Doch woher wusste sie es, kein Sterbenswörtchen hat sie ihr gesagt, nur Oma wusste Bescheid. War Marianne irgendwann in letzter Zeit bei Oma gewesen, hatte sie ihr einen Besuch am Sterbebett abgestattet? Marianne mochte Oma. Vielleicht war sie ja mal da, als sie selbst zur Arbeit war und Mutter hatte es nicht erwähnt, maulfaul wie sie ist …

Und nun sitzt sie hier in der Falle. Gleich öffnet sich die Tür, der Arzt schaut sie an mit seinen Fischaugen und gibt ihr wieder eine Spritze. Lange wird sie hier drin bleiben, solange bis Henry sie vergessen hat und sie nur noch ein Schatten ihrer selbst ist.

Ein trockenes Schluchzen schüttelt ihren Körper und es löst sich auf in einem Tränenfluss, der schier kein Ende nehmen will, bis sie sich endlich leer geweint hat.

Danach geht sie zum Fenster und öffnet es, schaut in ein wundervoll abendrotes Licht und weiß, wie selten dumm sie ist. Wieder einmal hat sie sich so sehr in einen Tagtraum hinein gesteigert, dass ihr das Herz davon weh tut. Übermorgen wird man sie entlassen und dann ruft sie Henry an. Alles wird gut, ganz bestimmt.

Der nächste Tag beginnt mit einer Visite und der hoffnungsvollen Mitteilung, dass sie am Freitag entlassen wird. Die Gemeindeschwester wird jeden Tag kommen, um ihre Verbände zu wechseln und der Chefarzt teilt ihr mit, die Wunden würden gut aussehen, sehr gut, ja, wirklich vorzüglich. Fast euphorisch hört sich das an und Annemarie zweifelt einen Augenblick, ob er wahrhaftig von ihren lädierten Beinen spricht. Auch den Blutdruck wird die Schwester jeden Tag bei ihrer Visite messen und dann, so meint er jovial, werden wir weiter sehen, sicher war das mit dem Blutdruck nur der Ausnahmesituation geschuldet.

Als der weiße Schwarm ihr Zimmer verlassen hat, hallt ein Wort in ihr nach, kreist so sehr durch ihren Kopf, dass fast ein neuer Weinkrampf, ein erneutes Gefühlsgewitter an ihrem persönlichen Horizont aufzieht. Wobei diese psychisch geografische Begrenzung gar nicht so eng ist, wie der flüchtige Betrachter es bei Annemarie vermuten würde. Eher ist sie durchlässig und zeigt an ihren Grenzsteinen, wie Traum und Realität sich vermählen.

Hinter dieser dünnen, flirrenden Linie, die ihr kognitives Vermögen begrenzt, da liegt ein Land, so bunt und exotisch, so duftend und glückselig, doch auch oft so schwarz und trostlos und bevölkert mit wilden und grässlichen Tieren, wie sie schauriger nicht sein können.

Kurz und gut, Annemarie Giese verfügt über eine blühende Fantasie, die leicht in ihre Alltagsgedanken einbricht, so wie auch jetzt.

Es ist das Wort „Ausnahmesituation“, welches ihr zu schaffen macht. Vom Chefarzt leichthin fallen gelassen, liegt es nun vor ihr auf dem hässlichen Linoleum des Krankenzimmers und wartet darauf, von ihr aufgenommen zu werden, was sie auch tapfer tut.

Nun aber liegt sie zwischen Visite und Mittagessen in ihren Kissen und kaut auf der Ausnahmesituation herum, wie Henry auf seinen Kaugummis, die er sich stets aus Westberlin mitbrachte. So wie man den Kaugummi nicht herunterschlucken darf, denn er kann im Magen zu einer Plage werden, das hat Henry gesagt, so kann sie nun auch dieses Wort nicht schlucken, es riecht zu sehr nach Verrat. Es stinkt geradezu und veranlasst sie zu wilden Gedanken. Oma hat es auf dem Totenbett ihrer Mutter gepetzt, denkt sie. Oma war sehr fromm und sie hatte sicher Angst, vor dem Herrgott zu treten mit dieser Sünde. Es kann nur eine Sünde sein, wenn man etwas tut, das den Mächtigen im Lande nicht genehm ist, ja, verboten ist, denn wo das hinführt, hat man ja gesehen, bei Helmut, ihrem Sohn. Es führt nach Bautzen, und dies wollte sie ihrer einzigen Enkeltochter ersparen.

Siedend heiß fällt ihr ein, dass man den Toten nichts Schlechtes nachreden soll, doch dann denkt sie, Oma hat es sicher gut gemeint, was weiß sie schon darüber, wie sehr Liebe brennt. Alt war sie, sehr alt und jenseits von gut und böse, wie man es von den Frauen ihres Alters zu sagen pflegt. Was wusste Oma schon von den Schmetterlingen im Bauch, zumal sie ihr einst erzählt hatte, früher heiratete man, um sein Land und Gut vorteilhaft zu vermehren und nicht wegen irgendwelcher romantischen Flausen.

Doch selbst wenn es so gewesen wäre, warum sollte ausgerechnet ihre Mutter sie verraten? Schließlich wäre es ihr eigener Schade, denn wo man mitgefangen ist durch Familienbande, da wird man auch mitgehangen.

Oder hatte sich Mutter etwa Manfred anvertraut, der nicht nur ihr Chef war, sondern auch ein guter Genosse?

Ich wollte nur dein Bestes, Annemarie, so hört sie in Gedanken die Stimme ihrer Mutter … Nein, das nun doch nicht, es ist zu absurd … Obwohl wir ständig Streit haben … Aber sie ist doch meine Mutter.

Als sich die Tür öffnet und der Duft von Erbseneintopf in das Zimmer weht, schiebt sie ihre Grübeleien beiseite und setzt ein munteres Lächeln auf. Hübsch ruhig Blut bewahren, so pocht es in ihren Schläfen, nur nicht auffallen. Sie erfährt von der Schwester, eine ältliche namens Agathe, dass ihre Schmerzmittel abgesetzt worden sind. Anscheinend will sie niemand gewaltsam ruhig stellen und so löffelt sie mit gutem Appetit die Erbsen, die fast so gut schmecken wie bei ihrer Mutter.

Dieselbige kommt am frühen Nachmittag und was sie ihr erzählt, beruhigt sie vollends. Mutter weiß anscheinend nichts.

„Weißt du, was sie im Konsum erzählt haben, Annemarie?“

Der Konsum, ein enger, ehemaliger Kolonialwarenladen, verkramt und dunkel, ist die Tratschzentrale Heinrichshagens.

„Woher soll ich das wissen, Mutter“, antwortet sie mit gleichgültiger Stimme.

Worauf will sie wohl hinaus, so denkt sie, als sie den Blick ihrer Mutter sieht Wie ein Raubvogel schaut sie auf Annemarie herab, wie ein Adler, der seine Beute anvisiert.

„Nun sag schon“, hakt sie unwillig nach, sie ärgert sich über die Heimlichtuerei ihrer Mutter.

Sieglinde beugt sich nah heran, so nah, dass Annemarie ihren Atem spürt und ihr Kölnisch Wasser riecht.

„Die Meyersche hat gesagt, der Henry Bernard soll nach drüben gemacht sein, nach Westberlin.“

Schweigend schauen sie sich an und Annemarie glaubt, einen gewissen Triumph in den Augen ihrer Mutter aufblitzen zu sehen.

„Ja und“, entgegnet sie ihr mit trotziger Kleinmädchenstimme, „worauf willst du hinaus, Mutter?“

„Ich meine ja nur“, antwortet sie schnell, „wo du doch mit ihm …“

„Mutter, hör doch endlich auf! Das ist längst vorbei. Ich weiß, dass er verreist ist, aber nicht nach Westberlin. Er ist zu seiner Tante nach Bernau gefahren, er hat Urlaub. Mein Gott, du glaubst aber auch alles, was die tratschen!“

„Ist ja gut, reg dich doch nicht so auf, Annemiechen, bitte!“

Sieglinde tätschelt mütterlich ihre Hand, plaudert von der Arbeit und nennt Marianne ein Trampel, denn schließlich sei sie schuld am Unfall. So redet sie unentwegt und als sie sagt, das passt ja prima, dass Annemarie zu Hause sei, denn die grünen Bohnen müssen eingeweckt werden, sie wird sie vor der Schicht pflücken, da schneidet ihr Annemarie das Wort ab.

„Musst du nicht gehen, Mutter? Ich denke, du hast Spätschicht.“

Heinrichshagen, am 12. August 1961

Als Annemarie den Wecktopf mit den Bohnengläsern auf den Herd stellt und sich eine kleine Pause am Fenster gönnen will, da hört sie vor der Hofeinfahrt Motorengeräusch. Es tuckert und blubbert ganz nach Trabbiart, die Autotür knallt zu und Manfred steigt aus.

Gut sieht er aus, denkt sie, fast so gut wie Henry und er hat sogar Blumen dabei.

Sie verliert sich im Anblick Manfreds, der heute einen sandfarbenen hellen Blouson zur ebenso hellen und sportlichen Popelinehose trägt. Das passt gut zu seinem brünetten Haar und zum gebräunten Teint. So sehr ist sie damit beschäftigt ihn zu betrachten, dass kein einziger verschwörungsschwangerer Gedanke in ihr aufblitzt.

Er spricht mit der Katze, die es sich auf dem linken Pfeiler des Tores in der Sonne gemütlich gemacht hat. Bereitwillig lässt sie sich von ihm den Nacken kraulen.

Ein schönes Bild, so denkt sie. Und dennoch, als er sich dem Hause nähert, die Küchentür steht auf, überfällt sie eine gewisse Verlegenheit. Sie ist es nicht gewöhnt, ihn so ganz privat zu treffen und denkt nun doch wieder an Verrat und eventuelle Befragungen.

Sein Lächeln gleicht dem eines kleinen Jungen, so unschuldig verlegen erscheint es ihr und es wischt ihre kleine unschöne Gedankenwolke fort. Artig bittet sie ihn herein, bietet ihm einen Stuhl und ein Glas vom selbstgemachten Apfelsaft an und bedankt sich überschwänglich für die Blumen, die ersten Dahlien des Jahres.

„Oh wie schön“, sagt sie mit hoher Stimme, „Dahlien! Leider haben wir gar keine mehr, die Knollen sind uns im letzten Winter verfault, wir hatten Wasser im Keller. Aber Mutter will im nächsten Jahr neue setzen.“

So sitzen sie sich nun gegenüber, zwischen ihnen steht eine hohe bauchige Vase aus böhmischem Glas, darin die Dahlien. Gelb und rot leuchten sie flammend in der Sonne, die ins Fenster einfällt und sie künden vom Herbst, der bald kommen wird. Nachdem er eine kleine Weile verlegen geschwiegen hat, kramt er in seiner Aktentasche und überreicht ihr eine Schachtel Pralinen.

„Von den Kollegen, Annemarie. Sie lassen dich alle schön grüßen und wünschen dir baldige Genesung. Es tut ihnen sehr leid, dass du solch ein Pech hattest.“

Etwas hölzern sagt er es, so als würde er vor der Parteiversammlung eine Rede halten.

Annemarie bedankt sich artig und dann sagt sie mit einer kleinen schüchternen Mädchenstimme: „Es war ja meine Schuld, ich bin eben ein Trampel.“

Sie steht auf und schaltet das Gas aus, die Bohnen sind fertig.

„Aber nein, aber nicht doch, Annemarie! Das hätte jedem passieren können. Und außerdem, wenn ich das so sagen darf, du bist doch kein Trampel, du bist ein ganz reizendes junges Mädchen.“

Er sucht ihren Blick, doch sie schlägt die Augen nieder, wischt sinnlos mit einem Lappen über den Spültisch, lacht schließlich ein kleines verlegenes Lachen und setzt sich wieder hin.

Manfred nimmt einen Schluck vom Apfelsaft und lobt den Geschmack und sie reden über die hiesigen Mostereien. Er erfährt, dass Gieses ihre Äpfel in Penkun mosten lassen, ein Nachbar nimmt sie mit, weil sie selbst kein Auto haben.

Während sie mit ihm lacht und redet, da breitet sich ein Gedanke in ihr aus. Ihr Chef Manfred Poltzin flirtet offensichtlich mit ihr und sein Besuch ist weit mehr als ein Krankenbesuch.

„Hast du noch Schmerzen, Annemie?“

„Nein, es geht, nur ein bisschen noch. Es tut mir leid, dass ich nun ausfalle. Sicher bringe ich dir den ganzen Dienstplan durcheinander.“

„Darüber mach dir mal keine Sorgen, wir haben schon alles geregelt, wir bekommen ab morgen sowieso Verstärkung. Ich werde nämlich auch für ein paar Tage ausfallen.“

„Du hast Urlaub, nicht wahr?“

„Eigentlich ja, ich wollte zu meinen Eltern nach Neuhof. Aber es ist etwas dazwischen geklommen, ich muss von hier aus gleich weiter nach Berlin. Nach Lichtenberg, zu einem Kampfgruppeneinsatz.“

Sie nickt schweigend und lächelt ihm zu. Wenn Männer zur Kampfgruppe beordert werden, dann stellen Frauen keine Fragen. Sie sitzen daheim und warten, bis es vorbei ist, das Rennen durch die märkischen Kiefernwälder mit einem Gewehr in der Faust, das Antreten und Exerzieren unter staubtrockenen Himmel, die Lagerfeuer, an denen man seine Proviantpäckchen verzehrt und Kommisbrot mit Wodka hinunterspült.

So zeigt Annemarie stillschweigend Verständnis. Sie ahnt nicht, dass sie es prophetisch vorausschauend tut. Sie kann noch nicht wissen, dass sie in weniger als einem halben Jahr die Ehefrau Manfreds sein wird.

Er aber steht nun auf, bedankt sich für den Apfelsaft und schüttelt ganz nach Genossenart herzhaft ihre kleine Hand.

„Dann werd ich mal“, sagt er munter, „ich muss um vierzehn Uhr in der Kaserne sein.“

„Ich bring dich noch zum Tor.“

Mitten auf dem Hof bleibt er stehen, sein Blick schweift über Haus, Scheune und Stall.

„Schön habt ihr es hier. Ein richtiger alter Dreiseitenhof.“

„Ja, schön. Macht aber auch alles viel Arbeit.“

„Aber Land habt ihr nicht mehr, oder?“

„Nein, nur den Garten und den kleinen Acker hinterm Haus … für Kartoffeln.“

Was soll das, denkt sie, warum fragt er, wo doch jeder weiß, dass wir nach Vaters Verurteilung enteignet worden sind. Die Spatzen pfiffen es doch von den Dächern, wie Mutter immer sagt. Altbauer war er und nach dem Krieg gerade noch so an der Enteignung vorbei geschlittert. Wilhelm Giese hatte zunächst Glück gehabt, es fehlten ein paar Morgen Land. Aber später, nach dem Prozess, da rieben sie sich im Dorf die Hände, die kleinen Hungerleider, wie Sieglinde die Leute von der LPG nennt, da triumphierten sie, dass er doch noch alles los wurde … Bitterkeit steigt in ihr auf, doch sie will diesen Geschmack nicht im Munde haben, es ist der Geschmack ihrer Mutter.

So wendet sie sich an Manfred, berührt leicht seinen Arm, flüchtig nur, und sie sagt:

„Es war sehr nett, dass du mich besucht hast. Komm gut nach Berlin und pass auf dich auf.“

Als sie es ausgesprochen hat, da ist ihr klar, sie hat eine Grenze übertreten. Wie kann man zu seinem Chef sagen, pass gut auf dich auf. Spontan tat sie es, es sprudelte heraus, war wohl geschuldet seinem Blick, der warm und dunkel auf ihr ruhte, so dass sie sich in seiner Gegenwart sehr wohl fühlte und auf eine gewisse Art beschützt.

Röte steigt in ihr Gesicht und er lächelt so breit, dass seine Ohren Besuch bekommen, wie man in Heinrichshagen zu sagen pflegt. Noch einmal drückt er ihre Hand.

„Danke, Annemarie, und pass du auch gut auf dich auf.“

Sie schaut ihm nach, wie er davon knattert, eine stinkende Wolke hinter sich herziehend.

Die Bohnen sind eingeweckt, die Hühner gefüttert, die Diele gewischt und sie denkt, Mutter kann froh sein, dass ich noch da bin, was wird sie ohne mich machen, wie soll sie das alles schaffen. Das schlechte Gewissen nagt an ihr, verdunkelt den Sonnentag und verdirbt ihr den Spaß an ihrem Flirt mit Manfred, verdirbt ihr die Freude auf Montag. Sie wird noch einmal nach Angermünde fahren und Henry anrufen, um ihm alles zu erklären.

Müde steigt sie die Treppe zu ihrer Mansarde hoch. Hier oben hat sie ein eigenes Reich, zwei Stübchen sind es sogar, mit biedermeierlich anmutenden Rosenmuster tapeziert und ausgestattet mit weißen alten Schleiflackmöbeln. Mit diesem Mobiliar hat es seine besondere Bewandtnis. Sieglinde erzählt gern jeden, der es hören will oder auch nicht, dass es einst einer Hofdame aus Potsdam gehörte und wenn Annemarie sich vor den großen ovalen Spiegel an die Frisierkommode setzt, um ihr langes, dunkelblondes Haar zu bürsten und zur Nacht zu flechten, dann fühlt auch sie sich sehr höfisch, obwohl sie nur die Erbin eines vom Staat schon arg geplünderten Dreiseitenhofes ist. Allerdings erzählt Mutter Sieglinde nie, wie sie in den Besitz der weiß gelackten Herrlichkeit gekommen ist. Aus der Not anderer wurde Sieglinde Gieses Tugend, oder vielmehr vorausschauende Schläue, denn im Staat der Planwirtschaft gibt es nur Sperrholzmöbel, obwohl der erste Präsident der jungen DDR ein Tischler war. Kurz und gut, Sieglinde gab Schinken, Kartoffeln und manches mehr her für höfisches Mobiliar feinster Qualität, damals, kurz nach dem Zusammenbruch, wie sie das Kriegsende nennt.

Annemarie aber sitzt nun vor dem Spiegel und bürstet ihr Haar, obwohl es noch längst keine Schlafenszeit ist. Nachdem sie sich im schon etwas blindfleckigen Glas betrachtet und vergeblich nach Sommersprossen gesucht hat, die sie nicht mag, schneidet sie Fratzen, die jedoch ihrer neunzehnjährigen Schönheit keinen Abbruch tun. Klar ist ihre ebenmäßige Stirn herzförmig das Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der Mund voll und reif wie eine Frühkirsche und die Nase, die sie vom Vater haben soll, wie Oma stets verkündete, ist fein gebildet. Nur die Augen gleichen sehr denen ihrer Mutter, flaschengrün und immer etwas verschwommen schauend, so dass man nie weiß, woran man ist.

Ja, sie ist genau so eine Heimlichtuerin wie Sieglinde, sie weiß es und ärgerlich unterdrückt sie jeden Gedanken daran. Und so teilt sie das Schicksal vieler junger Frauen, die wohl wissen, wie sehr sie ihrer Mutter im Charakter ähnlich sind, aber es nicht wissen wollen. Denn wer will mit knapp zwanzig Jahren seiner Mutter gleichen.

Sie beendet ihr Grimassenspiel und wirft sich auf den kunstseidenen Bettüberwurf.

Wieder denkt sie an Manfred, segeln wollte er im Urlaub, dort oben in seiner Heimat am Greifswalder Bodden und das wird er sicher noch tun, wenn er in Berlin genug Krieg gespielt hat. Was vorgeschwärmt hat er ihr von feinsandigen Buchten, in denen man baden und sich sonnen kann und seine Schilderung gipfelte schließlich im kühnen Vorschlag, doch mal mit ihm mitzukommen, auf eine sonntägliche Tour mit dem Trabant.

Erst hier im stillen Zimmer und ganz allein, wenn man von den Blicken ihrer Puppenschar absieht, wird ihr bewusst, wie weit sich Manfred vorgewagt hat, wie sicher er sich ist, dass er bei ihr landen kann, wie es so schön heißt. Daraus aber zieht sie den beruhigenden Schluss, dass er nicht ahnt, wer auf sie in Westberlin wartet.

Nun aber legt sie Manfred ad acta, schließt ihre Augen und erinnert sich an ihr letztes Treffen mit Henry. Ein heimliches Treffen am Kuhsee, der nicht so heißt, weil dort die Kühe baden, sondern ein durchaus passabler Badesee ist, schilfbewachsen, glasklar und fast so schön wie Manfreds Badeparadies in Neuhof am Bodden.

Verboten und heimlich waren all ihre Verabredungen und Sieglindes Verbote gipfelten gar in der Drohung, ihr eigenhändig den Hals umzudrehen, falls sie ihr draufkommen sollte.

Das war an jenem Abend, als Sieglinde beobachtete, wie sich Henry nach sonnabendlich dörflichen Tanzvergnügen vor ihrem Gehöft von ihr verabschiedete. Dabei geschah so gut wie nichts zur Enttäuschung Annemaries, nur ein kleiner kurzer Kuss flog auf ihre Wange.

Es war einer ihrer ersten Abende und sie platzte fast vor Stolz, dass er ausgerechnet sie erkoren hatte, sie seine Herzdame war, denn er galt bis dahin entweder als schüchtern oder als arrogant, da war man sich nicht sicher. Das heißt, er lungerte am Rande des Saales vor dem Tresen herum, machte eine gute Figur, war schick in Schale, aber er forderte nie ein Mädchen zum Tanz auf.

Doch dann geschah es, das Unerwartete, nicht nur für Annemarie, sondern auch für all jene, die an diesem Sonnabendabend sich im Schloss zum obligatorischen Tanz getroffen hatten, den die FDJ fleißig veranstaltete, um neue Mitglieder zu werben.

FDJ und Schloss? Da fragt man sich, wie das zusammengeht. Ganz einfach, ein simples Schild sorgte für die Umfunktionierung des alten Gutshauses, welches die Dorfbewohner großmütig „Schloss“ nannten. Dieses Schild war akkurat bespannt mit rotem Fahnenstoff auf dem man deutlich lesen konnte, dass jenes „Schloss“ nun ein Kulturhaus war. Ein scharfer Wind, der die Uckermark von Osten kommend regelmäßig heimsuchte, hatte schon eifrig an der Stoffbespannung genagt und ein neues solides Schild war bereits bei Malermeister Brösel in Auftrag gegeben worden. Doch das dauerte, denn der Malermeister, so munkelte man, arbeitete lieber schwarz beim Klassenfeind in Westberlin. Die Staatssicherheit hatte bereits eine Akte über ihn angelegt, was der gute Brösel allerdings nicht ahnte.

Da stand nun das einstige Herrenhaus mit seinem rotem Banner über dem Portal und konnte sich ebenso wenig wehren wie Malermeister Brösel, wenn er von den Beobachtungen der Staatsmacht gewusst hätte. Das heißt, ein bisschen wehrte es sich schon. Erste Spuren des Verfalls zeigten sich, die später, als der Arbeiter- und Bauernstaat pleite ging, aus dem einst gediegenen Wohnsitz derer von Parchim fast eine Ruine gemacht hatten, wenn da nicht gerade noch rechtzeitig Hilfe gekommen wäre. Aber wir wollen nicht vorgreifen …

Parchims lagen längst auf dem kleinen Friedhof, sie hatten es vorgezogen angesichts der näher kommenden Roten Armee ihrem Leben ein Ende zu setzen, und im Gutshaus herrschte reges neues Leben. Im linken Flügel kochte die LPG-Küche Deftiges für hungrige Feldbaubrigaden und im rechten gab es einen Kindergarten für die Mütter, die ihre Kinder nicht wie zu Junkerszeiten mit aufs Feld nehmen wollten. Die Mitte aber, samt Spiegelsaal, in dem es keine Spiegel mehr gab, ein betrunkener Russe hatte sie fünfundvierzig kurz und klein geschossen, sie war der Kultur vorbehalten. Die Kultur bestand im Wesentlichen aus „Ringelpietz mit Anfassen“, so nannte man das dörfliche Tanzvergnügen.

Und da wären wir wieder bei Annemarie Giese, die nun mit frisch gebürsteten Haaren auf ihrem Schleiflackbett liegt und sich an jenen ersten Abend mit Henry erinnert.

Magisch war er, dieser Moment, als er ganz langsam zu ihr an den Tisch kam und wirklich und wahrhaftig während dieses Ganges kein Auge von ihr ließ, so dass sie sich fast an ihrer Brause verschluckte, die sie mit einem Strohhalm schlürfte. In einem Film mit Nadja Tiller und Walter Giller hatte sie gesehen, wie man das auf elegante Art macht, inklusive unwiderstehlicher Augenaufschlag. Nur die falschen Wimpern gab es in der Angermünder Drogerie nicht zu kaufen. Annemarie bürstete die ihren mit Schuhcreme.

„Darf ich bitten?“ Mit diesen Worten wendete er sich an sie und er deutete sogar eine Verbeugung an. Kein vernuscheltes: „Wolln wa tanzen?“ oder gar: „Haste Lust“, kam aus seinem Mund, so wie es die anderen Burschen taten, wenn sie ein Mädchen zum Tanz aufforderten. Nein, Henry Bernard forderte Annemarie formvollendet elegant zum Tanz auf.

Und er sprach klar und laut zu ihr, so dass sich alle Augen auf sie richteten. Annemarie aber bereute in diesem Moment, dass sie nicht den neuen Petticoat aus Westschaumgummi unter ihrem weiten Rock trug, er hing im Garten auf der Leine. Sie trug an diesem Abend ihren Ersatzpetticoat aus der HO, der keinen richtigen Stand hatte, obwohl sie ihn einmal in der Woche in ein Kartoffelstärkebad steckte.

Dennoch waren sie ein elegantes Pärchen, das verrieten ihr die Blicke der Gaffenden.

Sie gafften so sehr, dass einige von ihnen das Tanzen vergaßen. Die Combo spielte, was sie nicht hätte spielen dürfen, eine Schnulze von Elvis Presley. Nur ganz am Rande, dieses Fehlverhalten wurde von der Kreisleitung der SED am folgenden Montag ausgewertet, doch die Sache ging glimpflich aus, es drohte der beliebten Kapelle kein Auftrittsverbot. Noch nicht …

Annemarie aber schwebte im siebten Himmel der Liebe Es wurde nicht viel geredet, oh nein, da gab es Besseres zu tun. Da versenkte sich Augenpaar in Augenpaar, da spürte man sich sanft Arm in Arm, roch sich aus nächster Nähe und die Füße folgten ganz von allein dem Takt. Nur an eines erinnert sie sich noch genau. Es war die Rede davon, dass sie sich kaum begegnet waren in den letzten Jahren, sie fing damit an. Sie standen nun am Tresen, Henry hatte sie zum Eierlikör eingeladen.

Bevor er den Mund aufmachte, vergewisserte er sich vorsichtig tastend, ob seine Frisur, die er sorgfältig mit Gel präpariert hatte, noch immer perfekt saß und sich sein volles dunkles Haupthaar am Hinterkopf zu einem Gebilde vereinigte, welches man in Heinrichshagen Entenarsch nannte.

„Weißt du, Annemarie“, antwortete er ihr schließlich und es klang vielleicht etwas blasiert, jedoch recht weltmännisch in ihren Ohren, „ich habe einfach keine Lust auf dieses öde Landleben. Ich ziehe es vor, meine eigenen Wege zu gehen. Wenn ich frei habe, bin ich meist unterwegs.“

Nie wäre sie auch nur ansatzweise auf die Idee gekommen, ihn nach seinen eigenen Wegen zu fragen und wo sie wohl hinführen, diese geheimnisvollen Wege, auf denen er unterwegs war. Stattdessen entschuldigte sie sich und ging mit ihrer Freundin Marlis aufs Klo, um alles zu besprechen und mit dem Toupierkamm die Hochfrisur nachzubessern.

Wir haben es schon bemerkt, während Annemarie sich auf ihrem Bett räkelt, kommt sie „vom Höckchen aufs Stöckchen“.

Doch nun eilen ihre Gedanken wieder zum Kuhsee, der an diesem Sommernachmittag menschenleer war. Vielleicht lag es daran, dass die Schulkinder Heinrichshagens ihre Wandertage in einem Pionierlager am Scharmützelsee verbrachten, wo sie zeltend, Arbeiterlieder singend und zum Appell antretend, genug zu tun hatten und wir ahnen bereits, die fehlenden Schulkinder schufen Platz für eine wahrhaft verhängnisvolle Konstellation des Schicksals.

Da saß sie also in der Sandkuhle unter der Winterlinde, pfiff einen Schlager und flocht ihr nasses Haar zu Zöpfen. Dabei beobachtete sie Henry, der sich nicht genug daran tun konnte, prustend und wie ein Kind platschend zu baden. Ein herber Geruch fiel in ihre Idylle ein, sie hatten wohl das Futtersilo der LPG geöffnet. Sie stand auf, zog ihr Näschen kraus und erkundigte sich bei ihm, ob er nicht endlich genug vom Baden hatte, sie hätte nun Lust auf ein Eis bei Onkel Otto und mit der Gemütlichkeit sei es sowieso vorbei wegen des Gestanks.

Henry lachte sie an und verschwand im Wasser. Weit tauchte er, es dauerte gefühlte fünf Minuten, bis er vor der kleinen Schilfinsel wieder hoch kam. Sie ärgerte sich, dass er nicht ihrem Wunsch nachkam, sie ahnte nicht, was Henry in diesem Moment empfand. Abschied nahm er vom See seiner Kindheit, jedoch tat er es nur halbherzig, in Gedanken kraulte er schon durchs Strandbad Wannsee. Und dann, so dachte er, wenn ich erst einmal drüben bin, werde ich in ganz anderen Seen baden, in Gewässern mit klangvolleren Namen. Im Bodensee, im Chiemsee, in der Nordsee gar und vielleicht auch im Gardasee und im Mittelmeer, mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.

Als er endlich rauskam und sie ihm ein Badetuch reichte, da deutete sie sein verzücktes Lächeln falsch. Sie dachte, es gilt ihr allein, sie konnte nicht ahnen, dass Henry dank seiner blühenden Fantasie gerade unter einem Sonnenschirm an der Adriaküste saß und süßen Wein trank. Trotz seines Lächelns spürte sie eine ahnungsvolle Verstimmung in sich aufsteigen. Vor allem hatte sie das dringende Bedürfnis, etwas zu klären, bevor sich ihre Wege vorläufig trennten. Es ging ihr um die Feindschaft zwischen ihren Müttern, besonders um Sieglindes hysterisches Gebaren, das sie an den Tag legte, wenn sie Henry um ihr Gehöft schleichen sah.

„Hast du Durst“, sagte sie vorerst jedoch nur und bot ihm von ihrem kalten Muckefuck an, den sie stets in einer Limonadenflasche mit zum See nahm.