In den Wäldern des Nordens - Jack London - E-Book

In den Wäldern des Nordens E-Book

Jack London

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Beschreibung

In den Wäldern des Nordens Jack London - Jack London hat für den Band »In den Wäldern des Nordens« zehn Erzählungen zusammengestellt, die von den ersten Zusammentreffen der Ureinwohner Alaskas mit weißen Siedlern, Abenteurern und Forschern berichten. Durch den Spiegel der Wahrnehmung der Ureinwohner verdeutlicht Jack London virtuos das Wesen der westlichen Kultur. Eskimos und Indianer bestaunen die »Wunder«, die der weiße Mann bei sich hat, blicken aber auch mit unverstelltem Blick auf seine Gier und Zerstörungswut.»In den Wäldern des Nordens« von Jack London erschien erstmals 1902. Wie in vielen anderen Werken bringt Jack London auch in die Erzählungen »In den Wäldern des Nordens« seine eigenen Erfahrungen mit den harten Lebensbedingungen Alaskas ein.

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Jack London
In den Wäldern des Nordens

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Erzählungen

Über das Buch

Zwei Welten prallten aufeinander, als die ersten Weißen über die frostigen, baumlosen Einöden zu den ungeahnten, riesigen Wäldern des Nordens vorstießen und bis dahin unbekannte Eskimostämme entdeckten. Die Titelgeschichte erzählt von einem Moschusjäger, der als einziger Überlebender seiner Gruppe zu Tode erschöpft bei einem jener Stämme Aufnahme fand und bei diesen unkomplizierten Menschen blieb. Nach fünf Jahren wird er von einer Expedition gefunden. Seine Entscheidung, wieder in die Zivilisation zurückzukehren, wird für ihn zum Schicksal. Dasselbe Thema wird – mit umgekehrten Vorzeichen – in der Erzählung ›Nam-Bok, der Lügner‹ wieder aufgenommen. In ein Fischerdorf im Yukon-Delta, dessen Bewohner in ihrem ganzen Leben nur zwei Weiße – den Volkszählungsbeamten und einen verirrten Jesuitenpater – gesehen haben, kehrt der jahrelang verschollene und für tot gehaltene Nam-Bok zurück. Seine Geschichten von riesigen Kanus, die aus Eisen gemacht sind, und von dem Ungeheuer, das Rauch ausspeit und auf eisernen Stangen läuft, können nach Ansicht des Häuptlings nur Lügen sein oder aus der Schattenwelt stammen. Nam-Bok verliert erneut seine Heimat. Ergreifend ist die Geschichte ›Das Gesetz des Lebens‹, in der sich ein alter, blinder Mann, von seinem Sohn nur mit einem Häufchen Reisig im Schnee zurückgelassen, aufs Sterben vorbereitet. Mit unterkühltem Humor erzählt Jack London dagegen, wie ein Schamane mit einem kriminalistischen Trick das Vertrauen seines Stammes wiedergewinnt. In der Vielfalt ihrer Motive und Formen illustrieren die Geschichten dieses Bandes Jack Londons Erzählkunst ebenso packend wie überzeugend.

Über den Autor

Jack London wurde am 12. 1. 1876 in San Franzisko geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er schlägt sich als Fabrikarbeiter, Austernpirat, Landstreicher und Seemann durch, holt das Abitur nach, beginnt zu studieren, geht dann als Goldsucher nach Alaska, lebt monatelang im Elendsviertel von London, gerät als Korrespondent im russisch-japanischen Krieg in Gefangenschaft und bereist die ganze Welt. Am 22. 11. 1916 setzt der berühmte Schriftsteller auf seiner Farm in Kalifornien seinem zuletzt von Alkohol, Erfolg und Extravaganz geprägten Leben ein Ende.

In den Wäldern des Nordens

Nach einer beschwerlichen Reise bis hinter das letzte verkrüppelte Buschwerk und wuchernde Unterholz, hinter tiefen Einöden, wo der karge Norden der Erde alles zu verweigern scheint, stößt man auf weite Waldgebiete und Striche lächelnden Landes. Aber das hat die Welt erst jetzt erfahren. Einige Forschungsreisende haben es gewußt, aber keiner von ihnen kehrte bisher zurück, um es der Welt zu verraten.

Einöden – ja, es sind Einöden, dieses traurige Land des Nordens, diese Wüsten des Polarkreises, sie, die frostige, rauhe Heimat des Moschusochsen, die unfruchtbare, karge Stätte des mageren Steppenwolfes. So fand Avery van Brunt sie, baumlos und freudlos, kaum mit Moos und Flechten bewachsen und so gar nicht einladend. So fand er sie wenigstens, bis er zu den weißen Stellen auf der Landkarte vordrang und auf ungeahnte reiche Fichtenwälder und auf nirgends verzeichnete Eskimostämme stieß. Er hatte die Absicht – und den Ehrgeiz – gehabt, diese weißen Stellen auf der Karte auszufüllen, indem er in buntem Wechsel Gebirgsketten, Seen und Flußbetten, sich schlängelnde Ströme einzeichnete, und mit wachsendem Entzücken malte er sich die Möglichkeit eines Gürtels von Nutzholz und heimischen Dörfern aus.

Avery van Brunt, oder mit seinem vollen Titel: A. van Brunt, Professor am Geologischen Vermessungsinstitut, war Nächstkommandierender der Expedition und Führer der Unterexpedition, die er selbst auf einem Abstecher 500 Meilen weit durch die Täler des Thelon hinaufgeleitet hatte und jetzt in eines der nicht verzeichneten Dörfer führte. Hinter ihm mühten sich unverdrossen auf seiner Fährte acht Männer: zwei französisch-kanadische Reisende, die übrigen stämmige Crees von der Manitoba-Straße. Er allein war Vollblut-Angelsachse, und das Blut rollte, durch die Tradition seiner Rasse geheiligt, stolz durch seine Adern. Mit ihm schritten Clive und Hastings, Drake und Raleigh, Hengist und Horsa. Als erster aller Männer seiner Rasse sollte er dies weltabgeschiedene Dorf des Nordlandes betreten. Bei diesem Gedanken überkam ihn ein Triumphgefühl, eine frohe Erregung, und seine Kameraden bemerkten, wie seine Müdigkeit wich und wie er unversehens seinen Schritt beschleunigte.

Das Dorf leerte sich, und eine buntscheckige Menge zog ihm dichtgeschart entgegen. Voran die Männer, Bogen und Speere drohend in den Fäusten, als Nachtrab schüchtern Frauen und Kinder. Van Brunt hob den rechten Arm und gab das übliche Friedenszeichen, ein Zeichen, das alle Völker verstehen, und die Dorfbewohner antworteten mit dem Zeichen des Friedens. Aber da lief zu seinem Kummer ein fellbekleideter Mann vor und streckte die Hand mit einem vertraulichen »Hallo« aus. Es war ein bärtiger Mann, Wangen und Stirn bronzefarbig verbrannt, und in ihm erkannte van Brunt einen seiner eignen Rasse.

»Wer sind Sie?« fragte er, die ausgestreckte Hand ergreifend. »Andrée?«

»Wer ist Andrée?« fragte der Mann seinerseits.

Van Brunt sah ihn schärfer an. »Bei Gott, Sie müssen eine gute Weile hier gelebt haben.«

»Fünf Jahre«, antwortete jener, und ein düsterer Schimmer von Stolz leuchtete in seinen Augen. »Aber kommen Sie, lassen Sie uns plaudern. – Lassen Sie sie hier lagern«, beantwortete er den fragenden Blick, den van Brunt auf seine Leute warf. »Der alte Tant latch wird für Sie sorgen. Kommen Sie.«

Mit langen Schritten ging er. Van Brunt folgte ihm auf dem Fuße durch das ganze Dorf. Unregelmäßig, wo sich gerade eine günstige Stelle bot, waren die Zelte aus Elchfellen aufgeschlagen. Van Brunt ließ seinen erfahrenen Blick darüber hingleiten und berechnete.

»Zweihundert außer den Kindern«, schätzte er.

Der Mann nickte. »So ungefähr. Aber hier wohne ich, etwas außerhalb, wissen Sie – mehr für mich. Nehmen Sie Platz. Ich esse mit Ihnen, wenn Ihre Leute abkochen. Ich habe ganz vergessen, wie Tee schmeckt. – Fünf Jahre, und weder geschmeckt noch gerochen. – Etwas Tabak? – Ah, danke, und eine Pfeife? Gut. Und nun noch ein Zündholz, und dann wollen wir sehen, ob das alte Kraut noch seine Zaubermacht besitzt.«

Mit der peinlichen Vorsicht eines Waldbewohners strich er das Zündholz an, freute sich an der jungen Flamme, als hätte es noch nie etwas Ähnliches in der Welt gegeben, und zog den ersten Mundvoll Rauch ein. Er hielt ihn eine Weile nachdenklich zurück und blies ihn dann mit spitzen Lippen langsam und zärtlich aus. Als er sich zurücklehnte, war sein Ausdruck milder, und ein weicher Schimmer trat in seine Augen. Er seufzte tief und glücklich mit unermeßlicher Zufriedenheit und sagte plötzlich: »Weiß Gott! Das schmeckt!«

Van Brunt nickte verständnisvoll. »Fünf Jahre, sagen Sie?«

»Fünf Jahre.« Der Mann seufzte wieder. »Und ich nehme an, Sie möchten darüber hören, sind natürlich neugierig; es ist ja auch eine seltsame Situation, das stimmt. Aber es ist nicht viel zu erzählen. Ich kam von Edmonton auf der Jagd nach Moschusochsen, hatte Pech wie Pike und die andern und verlor meine Leute und meine Ausrüstung. Hunger, Entbehrung, die alte Geschichte, wissen Sie, der einzige Überlebende und so weiter, bis ich auf Händen und Füßen hier bei Tant latch angekrochen kam.«

»Fünf Jahre«, murmelte van Brunt nachdenklich und suchte in seiner Erinnerung.

»Im Februar waren es fünf Jahre. Anfang Mai kam ich über den Great Slave…«

»Und Sie sind – Fairfax?« unterbrach van Brunt ihn.

Der Mann nickte.

»Warten Sie… John, nicht wahr, John Fairfax.«

»Woher wissen Sie?« fragte Fairfax träge und mit seinen Gedanken beschäftigt, während er Rauchspiralen in die stille Luft steigen ließ.

»Die Zeitungen waren voll davon, als Prevanche…«

»Prevanche!« Fairfax setzte sich, plötzlich munter geworden, auf. »Er verschwand in den Smoke Mountains.«

»Ja, aber er arbeitete sich durch und kam dann heraus.«

Fairfax lehnte sich zurück und wandte sich von neuem seinen Rauchspiralen zu. »Das freut mich«, meinte er nachdenklich. »Prevanche war ein Prachtkerl, wenn er auch seine eigenen Ideen über das Zaumzeug von Zugtieren hatte, das Biest. Und er kam wirklich durch? Wahrhaftig, das freut mich.«

Fünf Jahre – das fuhr van Brunt immer wieder durch den Sinn, und irgendwie schien Emily Southwaithes Antlitz vor ihm aufzutauchen und lebendig zu werden. Fünf Jahre. – Ein Keil von Wildgänsen schwebte niedrig über ihnen, und beim Anblick des Lagers schwenkten sie schnell nach Norden ab in die glimmende Sonne.

Es war eine Stunde nach Mitternacht. Die Wolken im Norden färbten sich plötzlich blutig, dunkelrote Strahlen schossen südwärts, und die düsteren Wälder brannten in einem blassen Feuer. Die Luft hing in atemloser Stille, keine Nadel zitterte, und die letzten Töne vom Lager kamen klar und deutlich herüber wie Trompetenschall. Crees und Reisende spürten einen Hauch davon, murmelten leise und träumerisch, und der Koch dämpfte unbewußt das Rasseln der Töpfe und Pfannen. Irgendwo weinte ein Kind, und aus der Tiefe des Waldes erhob sich wie das Klingen einer silbernen Saite das Klagelied einer Frauenstimme: »O-o-o-o-o-o-a-haa-ha-a-ha-aa-a-a, O-o-o-o-o-o-a-ha-a-ha-a.«

Van Brunt erschauerte, und er rieb sich kräftig seine Handrücken.

»Und sie gaben mich auf, dachten, ich sei tot?« fragte sein Genosse langsam.

»Ja, Sie kamen nie zurück, und da haben Ihre Freunde…«

»Mich prompt vergessen.« Fairfax lachte hart und verächtlich.

»Warum kamen Sie nicht wieder?«

»Teils aus Widerwillen, denke ich, und teils aus Ursachen, über die ich keine Macht hatte. Sehen Sie, Tant latch hatte sich den Fuß gebrochen, als ich seine Bekanntschaft machte – und es war ein häßlicher Bruch –, und ich renkte ihn ein und bekam ihn wieder zurecht. Ich blieb einige Zeit und kam wieder zu Kräften. Ich war der erste Weiße, den er gesehen hatte, und natürlich erschien ich ihm sehr weise, und tatsächlich zeigte ich seinem Volke unendlich viele Dinge. Unter anderm paukte ich ihnen Strategie ein, so daß sie die vier andern zum Stamme gehörenden Dörfer, die Sie noch nicht gesehen haben, besiegten und Herren des Landes wurden. Und natürlich hielten sie viel von mir, so viel, daß sie nichts davon hören wollten, als ich daran dachte, wieder aufzubrechen. Sie waren wirklich sehr gastfrei, stellten ein paar Wächter an und bewachten mich Tag und Nacht. Und dann gebrauchte Tant latch gewissermaßen Lockmittel – er überredete mich sozusagen, und da es so oder so doch keinen großen Unterschied machte, so fand ich mich damit ab und blieb.«

»Ich kannte Ihren Bruder in Freiburg. Ich bin van Brunt.«

Fairfax streckte impulsiv die Hand aus und schüttelte die des andern. »Wie, Sie sind der Freund Billys? Armer Billy. Er sprach oft von Ihnen. – Und ausgerechnet hier müssen wir uns treffen«, fügte er hinzu, ließ seinen Blick über die urweltliche Landschaft schweifen und lauschte einen Augenblick auf die Trauerklage der Frau. »Ihr Mann ist von einem Bären zerrissen worden, und sie kommt schwer darüber hinweg.«

»Scheußliches Leben!« Van Brunt schnitt eine Grimasse des Ekels. »Ich denke, nach fünf Jahren muß Zivilisation süß schmecken? Was meinen Sie?«

Das Gesicht von Fairfax nahm einen schlaffen Ausdruck an. »Ach, ich weiß nicht. Schließlich sind es ehrliche Menschen, und sie leben ihrer Einsicht gemäß. Und dazu sind sie bewundernswert einfach. Nichts Kompliziertes, nicht tausend feine Verästelungen jeder Gefühlsregung. Sie lieben, fürchten, hassen, und ärgern und freuen sich in gewöhnlichen, offenen, unfehlbaren Ausdrücken. Es mag ein scheußliches Leben sein, aber es lebt sich wenigstens leicht. Keine Liebelei, keine Zeitvergeudung. Wenn eine Frau Sie liebt, wird sie nicht zögern, es Ihnen zu sagen. Haßt sie Sie, so wird sie es auch sagen, und wenn Sie dann Lust dazu haben, können Sie sie schlagen. Die Hauptsache ist, daß sie genau weiß, was Sie meinen und umgekehrt. Keine Irrtümer, keine Mißverständnisse. Das hat seinen Reiz nach dem krampfhaften Fieber der Zivilisation. Verstehen Sie das? – Nein, es ist ein ganz gutes Leben«, fuhr er nach einer Pause fort, »gut genug, wenigstens für mich, und ich gedenke es fortzusetzen.«

Van Brunt senkte nachdenklich den Kopf, und ein unmerkliches Lächeln spielte auf seinen Lippen. Keine Liebelei, keine Tändelei, kein Mißverständnis. – Nun, Fairfax nimmt es auch nicht leicht, dachte er, eben weil Emily Southwaithe versehentlich in die Klauen eines Bären geriet. Und er war auch kein schlechter Bär, dieser Carlton Southwaithe.

»Aber Sie werden doch mit mir kommen«, meinte van Brunt vorsichtig.

»Nein.«

»Doch.«

»Das Leben ist zu leicht hier, wie gesagt.« Fairfax sprach mit Entschiedenheit. »Sommer und Winter wechseln wie das Flammen der Sonne durch die Latten eines Zaunes, die Jahreszeiten sind ein nebelhaftes Etwas zwischen Licht und Schatten, die Zeit flieht, und das Leben zerrinnt und dann… Eine Klage im Walde und die Finsternis. Hören Sie!« Er streckte die Hand in die Höhe, und durch die Stille und Einsamkeit ertönte die silberne Saite von der Trauer des Weibes. Fairfax stimmte leise mit ein.

»O-o-o-o-o-a-haa-ha-a-aa-a-a, O-o-o-o-o-a-ha-a-ha-a«, sang er. »Hören Sie nicht? Sehen Sie nicht? Die Klage eines Weibes? Das Totenlied? Meine Haare weißlockig und ehrwürdig? Die rauhe Pracht meiner Pelze, in die ich gehüllt bin? Der Jagdspeer an meiner Seite? Wer kann da sagen, es sei nicht gut so?«

Van Brunt blickte ihn kühl an: »Fairfax, Sie sind ein Narr. Fünf solche Jahre genügen, um einen Mann zu knicken, und Sie befinden sich in einer ungesunden, krankhaften Verfassung. Übrigens: Carlton Southwaithe ist tot.«

Van Brunt stopfte seine Pfeife, steckte sie an und beobachtete den andern vorsichtig und mit fast berufsmäßigem Interesse. Einen Augenblick blitzten Fairfax' Augen auf, seine Fäuste ballten sich, und er erhob sich halb. Dann erschlafften seine Muskeln, er schien zu grübeln. Michael, der Koch, meldete, daß das Essen fertig sei, aber van Brunt winkte ihm, daß er noch warten wolle. Das Schweigen war drückend, und er hatte den Einfall, die Gerüche des Waldes zu analysieren, diese Düfte modernder und verwesender Vegetation, dann die harzigen der Tannenzapfen und Nadeln, den aromatischen Rauch von vielen Lagerfeuern. Zweimal blickte Fairfax auf, ohne etwas zu sagen, und dann kam es: »Und – Emily…?«

»Seit drei Jahren Witwe, und noch immer Witwe.«

Wieder Schweigen, ein langes Schweigen, das Fairfax endlich mit naivem Lächeln brach. »Sie haben wohl recht, van Brunt. Ich komme mit.«

»Ich wußte es.« Van Brunt legte Fairfax die Hand auf die Schulter. »Man kann natürlich nicht wissen, aber ich glaube – eine Frau in ihrer Lage – sie hatte Anträge…«

»Wann brechen Sie auf?« unterbrach Fairfax ihn.

»Wenn die Leute etwas geschlafen haben. Dabei fällt mir ein, daß Michael böse wird; kommen Sie, wir wollen essen.«

Nach dem Abendbrot, nachdem die Crees und die Reisenden sich in ihre Decken gehüllt hatten und schnarchten, saßen die beiden Männer noch an dem erlöschenden Feuer. Sie hatten viel zu reden – von Kriegen und Politik, Forschungsreisen, Männertaten und Ereignissen, Freunden, Heiraten und Todesfällen – von fünfjährigem Geschehen, auf das Fairfax brannte.

»So wurde die spanische Flotte bei Santiago erledigt«, sagte van Brunt gerade, als eine junge Frau mit leichtem Schritt zu ihnen trat und neben Fairfax stehenblieb. Sie blickte ihm rasch ins Gesicht und warf einen verwirrten Blick auf van Brunt.

»Die Tochter des Häuptlings Tant latch, eine Art Prinzessin«, erklärte Fairfax mit ehrlichem Erröten. »Um es gleich zu gestehen, eines von den Lockmitteln, die mich hierbleiben ließen. Thom, das ist mein Freund, van Brunt.«

Van Brunt streckte die Hand aus, aber die Frau verharrte in ihrer starren Ruhe, die über ihrer ganzen Erscheinung lag. Weder wurde eine Linie in ihrem Antlitz sanfter, noch entspannten sich ihre Züge. Ihr Blick begegnete dem seinen durchdringend, fragend, suchend.

»Köstlich, sie versteht es!« lachte Fairfax. »Ihre erste Vorstellung, wissen Sie. Aber wie sagten Sie, die spanische Flotte wurde bei Santiago vernichtet?«

Thom kauerte neben ihrem Gatten nieder, reglos wie eine Bronzestatue, nur ihre Blicke wanderten unaufhörlich spähend von Angesicht zu Angesicht. Und während Avery van Brunt immer weiter sprach, spürte er unter dem stummen Blick eine gewisse Nervosität. Mitten in malerischen Schlachtenschilderungen fühlte er plötzlich das schwarze Auge auf sich brennen, und dann stotterte und stammelte er, bis er seine Haltung wiedergewann und wieder in Gang kam.

Die Hände um die Knie geschlungen, mit erloschener Pfeife und in tiefem Sinnen trieb Fairfax ihn an, wenn er zögerte, und malte sich die Welt wieder, die er vergessen zu haben glaubte.

Eine oder zwei Stunden vergingen, dann erhob Fairfax sich zaudernd. »Und Cronje wurde in die Enge getrieben, wie? Na ja! Warten Sie einen Augenblick, ich gehe nur schnell zu Tant latch hinüber. Er wird Sie erwarten, und ich werde es so einrichten, daß Sie ihn nach dem Frühstück begrüßen können. Das ist Ihnen doch recht, nicht wahr?«

Er verschwand zwischen den Kiefern, und van Brunt fand sich, wie er in das warme Auge Thoms starrte. Fünf Jahre, überlegte er, und sie kann jetzt nicht älter als zwanzig sein. Ihre Nase war nicht flach und gleichsam breitgedrückt wie die der Eskimofrauen, sondern adlerhaft mit zarten Flügeln und so fein gebildet wie die einer Dame weißer Rasse. – Also irgendwie Indianerblut, verlaß dich drauf, Avery van Brunt. Und sei nicht nervös, Avery van Brunt, sie wird dich nicht auffressen; sie ist nur eine Frau, und noch dazu keine häßliche. Eher orientalisch als arktisch. Große und weit offene Augen mit einer ganz schwachen Andeutung von Mongolentum. Thom, du bist eine Anomalie. Du gehörst nicht zu den Eskimos, selbst wenn dein Vater einer ist. Wo kam deine Mutter her? Oder deine Großmutter? Und Thom, liebes Kind, du bist eine Schönheit, eine eisige, frostige kleine Schönheit mit Alaska-Lava im Blut, und bitte, schau mich nicht so an. – Er lachte und stand auf. Ihr unausgesetztes Starren verwirrte ihn. Ein Hund schnupperte an den Nahrungsmittelsäcken. Er wollte ihn vertreiben und den Proviant in Sicherheit bringen, bis Fairfax wiederkam. Aber Thom hinderte ihn mit einer Handbewegung daran und stand, ihn musternd, auf.

»Du?« sagte sie in einem arktischen Dialekt, der fast ohne Abweichungen von Grönland bis Point Barrow gesprochen wird. »Du?«

Und der Ausdruck, der schnell auf ihr Gesicht trat, verriet alles, was sie mit diesem »Du« meinte: die Frage, warum er hier sei, was er wolle, was er mit ihrem Manne zu schaffen habe – alles.

»Brüder«, antwortete er im selben Dialekt, indem er mit der Hand nach Süden wies. »Brüder sind wir, dein Mann und ich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gut, daß du hier bist.«

»Nach einem Schlaf gehe ich.«

»Und mein Mann?« fragte sie mit zitterndem Eifer.

Van Brunt zuckte die Achseln. Ihn überkam ein gewisses heimliches Schamgefühl, eine Art unpersönlicher Scham, und ein Zorn auf Fairfax. Und als er die junge Wilde ansah, spürte er das heiße Blut, das ihm ins Gesicht stieg. Sie war eben Weib. Das sagte alles – Weib. Wieder einmal die alte niederträchtige Geschichte, immer wieder, so alt wie Eva und so jung wie der letzte Liebeskuß.

»Mein Mann! Mein Mann! Mein Mann!« wiederholte sie heftig, indem sie ihm mit leidenschaftlich gerötetem Gesicht und der unbarmherzigen Milde des ewigen Weibes in die Augen blickte.

»Thom«, sagte er ernst auf englisch, »du bist in den Wäldern des Nordlandes geboren, du hast Fisch und Fleisch gegessen, mit Kälte und Hunger gekämpft und alle deine Tage einfach gelebt. Und es gibt viele Dinge, die wahrlich nicht einfach sind, die du nicht kennst und nicht verstehen kannst. Du weißt nicht, was es heißt, sich nach fernen Fleischtöpfen zu sehnen, du kannst nicht verstehen, was es heißt, Verlangen nach dem Antlitz einer schönen Frau zu tragen. Und die Frau ist schön, Thom, die Frau ist sehr schön. Du warst diesem Manne eine Frau, und du warst ihm alles, was du konntest, aber dein ›Alles‹ ist sehr wenig und sehr einfach. Zu wenig und zu einfach, und er ist ein Mann von einer fremden Rasse. Ihn hast du nie gekannt und wirst ihn nie kennen. Es ist so bestimmt. Du hieltest ihn in deinen Armen, aber du hieltest nie sein Herz, das Herz dieses Mannes, dem die Jahreszeiten wechselnde Farben sind und dessen Träume barbarisch enden. Traum und Traumdunst, das ist er dir gewesen. Du griffst nach einer Gestalt und faßtest einen Schatten, schenktest dich einem Manne und warst die Bettgenossin eines Gespenstes. So ging es in alten Zeiten den Töchtern der Menschen, wenn die Götter sie schön fanden. Und doch, Thom, Thom, ich möchte nicht John Fairfax sein in den schlaflosen Nächten der kommenden Jahre, in den Nächten, da seine Augen nicht den Sonnenglanz von dem Haare der Frau an seiner Seite, sondern die dunklen Flechten einer Gefährtin sehen werden, die er in den Wäldern des Nordens verlassen hat.«

Obwohl sie ihn nicht verstand, hatte sie mit gespannter Aufmerksamkeit gelauscht, als hinge ihr Leben von seinen Worten ab. Aber sie erfaßte den Namen ihres Gatten und rief auf eskimoisch: »Jaja, Fairfax! Mein Mann!«

»Armes Närrchen, wie könnte er dein Mann sein?«

Aber sie verstand seine englische Sprache nicht und glaubte, daß er sich über sie lustig mache. Der triebhafte, unvernünftige Zorn des Weibchens flammte auf ihrem Gesicht, und es schien dem Manne fast, als kröche sie wie ein Panther zum Sprunge zusammen. Er fluchte leise bei sich und sah, wie die Flamme von ihrem Antlitz wich und die weiche strahlende Glut des flehenden Weibes sich entzündete – des flehenden Weibes, das auf Stärke verzichtet und sich wohlweislich mit seiner Schwäche waffnet.

»Er ist mein Mann«, sagte sie sanft. »Ich habe nie einen andern gekannt. Es kann nicht sein, daß ich je einen andern kennen werde. Es kann auch nicht sein, daß er von mir geht.«

»Wer hat gesagt, daß er von dir gehen soll?« fragte er scharf, halb im Zorn, halb in Ohnmacht.

»Du mußt sagen, daß er nicht von mir gehen soll«, antwortete sie sanft und mit Tränen in der Stimme.

Van Brunt stieß zornig mit dem Fuß ins Feuer und setzte sich nieder.

»Du mußt es ihm sagen. Er ist mein Mann. Vor allen Frauen ist er mein Mann. Du bist groß, du bist stark, und sieh, ich bin schwach. Sieh, ich liege zu deinen Füßen. Du hast es in der Hand, mit mir zu tun, was du willst. Es ist deine Sache.«

»Steh auf!« Er riß sie heftig hoch und stand selbst auf. »Du bist ein Weib, und deshalb darfst du nicht zu Füßen eines Mannes liegen.«

»Er ist mein Mann.«

»Dann verzeihe Christus allen Männern!« rief van Brunt leidenschaftlich.

»Er ist mein Mann!« wiederholte sie eintönig und flehend.

»Er ist mein Bruder«, antwortete er.

»Mein Vater ist der Häuptling Tant latch. Er herrscht über fünf Dörfer. Ich will dafür sorgen, daß die fünf Dörfer durchsucht werden nach einem Mädchen, das dir gefällt, so daß du in Wohlbehagen hier bei deinem Bruder leben kannst.«

»Nach einem Schlaf gehe ich fort.«

»Dort kommt mein Mann, sieh!«

Aus dem Dunkel der Fichten erklang Fairfax' Stimme in munterm Trällern.

Wie der Tag durch ein Nebelmeer verdrängt wird, so vertrieb sein Gesang das Licht von ihrem Antlitz.

»Es ist die Sprache seines eigenen Volkes«, sagte sie, »die Sprache seines eigenen Volkes.«

Sie wandte sich mit den leichten Bewegungen eines geschmeidigen jungen Tieres und verschwand im Walde.

»Alles in Ordnung!« rief Fairfax im Näherkommen. »Seine Majestät werden Sie nach dem Frühstück empfangen.«

»Haben Sie es ihm gesagt?« fragte van Brunt.

»Nein. Ich will es ihm auch nicht sagen, ehe wir marschfertig sind.«

Van Brunt warf verstimmt einen Blick auf die schlafenden Gestalten seiner Leute.

»Ich werde froh sein, wenn wir hundert Meilen von hier weg sind«, sagte er.

Thom hob den Fellvorhang von der Hütte ihres Vaters. Zwei Männer saßen drinnen bei ihm, und alle drei blickten sie mit lebhaftem Interesse an. Aber ihr Gesicht verriet nichts, als sie eintrat und sich schweigend niederließ. Tant latch trommelte mit den Knöcheln auf einem Speerschaft, den er über seine Knie gelegt hatte, und starrte träge einem Sonnenstrahl nach, der durch ein Schnürloch fiel und eine schimmernde Spur in die trübe Luft der Hütte zeichnete. An seiner rechten Schulter kauerte Chugungatte, der Schamane. Beides waren alte Männer, und die Müdigkeit vieler Jahre nistete in ihren Augen. Ihnen gegenüber aber saß Keen, ein junger und im Stamme sehr beliebter Mann. Er hatte rasche und lebhafte Bewegungen, und seine schwarzen Augen blitzten unaufhörlich forschend und herausfordernd von einem Antlitz zum andern.

Es war still in der Hütte. Hin und wieder drang der Lärm vom Lager herein, und in der Ferne klang schwach wie die Schatten von Stimmen das Zanken von Knaben in dünnen, schrillen Tönen. Ein Hund steckte plötzlich den Kopf zum Eingang herein und blinzelte die Versammelten eine Weile wolfsartig an, während der Geifer von seinen elfenbeinweißen Fangzähnen tropfte. Nach einer Weile knurrte er aufreizend, senkte dann aber, durch die Unbeweglichkeit der menschlichen Gestalten erschreckt, wieder den Kopf und kroch rückwärts hinaus. Tant latch blickte seine Tochter gleichgültig an.

»Und dein Mann, wie steht es mit ihm und dir?«

»Er singt fremdartige Lieder«, antwortete Thom, »und es ist ein neuer Ausdruck in seinem Gesicht.«

»So? Hat er gesprochen?«

»Nein, aber es ist ein neuer Ausdruck in seinem Gesicht, ein neues Licht in seinen Augen, und er sitzt mit dem Fremden am Feuer, und sie reden und reden, reden ohne Ende.«

Chugungatte flüsterte seinem Herrn etwas ins Ohr, und Keen bog sich in den Hüften vor.

»Irgend etwas ruft ihn aus der Ferne«, fuhr sie fort, »und er scheint zu lauschen und mit einem Lied in der Sprache seines eigenen Volkes zu antworten.«

Wieder flüsterte Chugungatte, Keen bog sich vor, und Thom schwieg, bis ihr Vater ihr zunickte, daß sie fortfahren solle.

»Du weißt, Tant latch, daß Wildgans und Schwan und die kleine Krickente hier im Tieflande geboren werden. Und du weißt, daß sie vor dem Froste in unbekannte Länder fliehen, und ebenso weißt du, daß sie stets zurückkehren, wenn die Sonne über dem Lande steht und die Wasserläufe frei sind. Stets kehren sie dorthin zurück, wo sie geboren sind, damit dort neues Leben entstehen kann. Das Land ruft sie, und sie kommen. Und jetzt ruft ein anderes Land, und es ruft meinen Mann – das Land, in dem er geboren ist –, und er gedenkt, dem Rufe zu folgen. Dennoch ist er mein Mann. Vor allen Frauen ist er mein Mann.«

»Ist das gut, Tant latch? Ist das gut?« fragte Chugungatte mit einer leisen Drohung in der Stimme.

»Ja, es ist gut!« rief Keen dreist. »Das Land ruft seine Kinder, alle Länder rufen ihre Kinder wieder. Wie Wildgans und Schwan und die kleine Krickente gerufen werden, so auch dieser Fremdling, der bei uns verweilt hat und nun gehen muß. Auch das Geschlecht ruft. Die Gans paart sich mit der Gans, und der Schwan paart sich nicht mit der kleinen Krickente. Es tut nicht gut, wenn der Schwan sich mit der kleinen Krickente paart. Und es tut auch nicht gut, wenn Fremdlinge sich ihre Weiber in unsern Dörfern suchen. Daher sage ich, daß der Mann zu seinem eigenen Geschlecht in sein eigenes Land gehen soll.«

»Er ist mein Mann«, antwortete Thom, »und er ist ein großer Mann.«

»Ja, er ist ein großer Mann.« Chugungatte hob den Kopf mit einem leisen Erwachen jugendlicher Kraft. »Er ist ein großer Mann, und er hat deinem Arm Stärke geschenkt, o Tant latch, hat dir Macht gegeben und deinen Namen gefürchtet im Lande gemacht, gefürchtet und geehrt. Er ist sehr weise und seine Weisheit bringt viel Nutzen. Ihm haben wir vieles zu verdanken – die Anwendung von Kriegslisten und die Geheimnisse einer Verteidigung des Dorfes und bei Überfällen im Walde, die Abhaltung von Beratungen, Besiegung des Feindes durch Worte und feierliche Versprechungen, Einkreisung des Wildes, das Stellen von Fallen, die Aufbewahrung von Nahrungsmitteln und die Heilung von Krankheit und Wunden auf der Jagd und im Kampfe. Du, Tant latch, würdest heute ein lahmer alter Mann sein, wäre der Fremdling nicht zu uns gekommen und hätte dich gepflegt. Und stets, wenn wir im Zweifel über eine schwierige Frage waren, sind wir zu ihm gegangen, daß er uns durch seine Weisheit Rat schaffte, und stets hat er uns Rat geschafft. Und es werden immer wieder Fragen kommen, da wir sein Wissen brauchen werden. Wir können ihn deshalb nicht gehen lassen. Es ist nicht gut, ihn gehen zu lassen.«

Tant latch trommelte weiter auf dem Speerschaft und gab kein Zeichen, daß er zugehört hatte. Thom forschte vergebens in seinem Gesicht, Chugungatte schien einzuschrumpfen und zusammenzusinken, als ob die Last der Jahre wieder auf ihn fiele.

»Niemand tötet meine Beute.« Keen schlug sich kräftig vor die Brust. »Ich töte meine Beute selbst. Ich freue mich des Lebens, wenn ich meine Beute töte. Wenn ich mich über den Schnee an den großen Elch anpirsche, so bin ich glücklich. Und wenn ich mit voller Kraft den Bogen spanne und ihm den Pfeil schnell und scharf ins Herz jage, so bin ich glücklich. Und das Fleisch von der Beute, die ein anderer Mann gefällt hat, schmeckt mir nicht so gut wie das von meiner eigenen Beute. Ich freue mich des Lebens, freue mich meiner eigenen List und Kraft, freue mich, daß ich etwas ausrichte, etwas für mich selber. Wozu sollte man sonst wohl leben? Wozu sollte ich leben, wenn ich mich nicht freute über mich selbst und über das, was ich vollbringe? Und weil ich mich freue und glücklich darüber bin, daß ich jage und fische, darum werde ich listig und stark. Der Mann, der in seiner Hütte am Feuer sitzt, wird nicht listig und stark. Er wird nicht froh, wenn er von meiner Beute ißt, und das Leben ist keine Freude für ihn. Er lebt nicht. Und deshalb sage ich: Es ist gut, daß der Fremdling geht. Seine Weisheit macht uns nicht weise. Wenn er listig ist, so brauchen wir es nicht zu sein. Haben wir List nötig, so gehen wir zu ihm und holen sie uns. Wir essen das Fleisch von seiner Beute, und es schmeckt nicht. Wir haben den Nutzen von seiner Stärke, und wir werden nicht glücklich dadurch. Wir leben nicht, wenn er für uns lebt. Wir werden dick und weibisch, wir fürchten uns vor der Arbeit, und wir vergessen, was wir für uns selbst tun müssen. Laß den Mann gehen, o Tant latch, auf daß wir Männer sein können! Ich bin Keen, ein Mann, und ich töte selbst meine Beute!«

Tant latch sandte ihm einen Blick, in dem die Leere der Ewigkeit zu liegen schien. Keen wartete gespannt auf die Entscheidung; aber die Lippen blieben unbeweglich, und der alte Häuptling wandte sich zu seiner Tochter.

»Was gegeben ist, kann nicht zurückgenommen werden«, brach sie los. »Ich war noch ein Kind, als der Fremdling, der mein Mann ist, zu uns kam. Und ich kannte nicht Männer und Männerart, und mein Herz lebte im Spiel der Mädchen, als du, Tant latch, du und kein anderer, mich zu dir riefst und mich in die Arme des Fremdlings legtest. Du und kein anderer, Tant latch! Und wie du mich dem Manne gabst, so gabst du auch den Mann mir. Er ist mein Mann. In meinen Armen hat er geschlafen, und aus meinen Armen kann er nicht gerissen werden.«

»Es wäre gut, o Tant latch«, fügte Keen schnell mit einem bedeutungsvollen Blick auf Thom hinzu, »es wäre gut, daran zu denken: Was gegeben ist, kann nicht zurückgenommen werden.«

Chugungatte richtete sich auf. »Deine Jugend, Keen, gibt deinem Mund diese Worte ein. Aber wir, o Tant latch, wir sind alte Männer, und wir verstehen. Auch wir haben in die Augen von Frauen geblickt und gefühlt, wie unser Blut heiß wurde von seltsamen Wünschen. Aber die Jahre haben uns abgekühlt, und wir haben die Weisheit der Ratsversammlung, die Schlauheit des kühlen Kopfes und der ruhigen Hand gelernt, und wir wissen, daß das heiße Herz allzu heiß ist und zur Unbesonnenheit neigt. Wir wissen, daß Keen Gnade vor deinen Augen fand. Wir wissen, daß Thom ihm in alten Tagen versprochen wurde, als sie noch ein Kind war. Und wir wissen, daß die neuen Tage kamen und mit ihnen der Fremdling und daß um unseres Wissens und unseres Verlangens nach Glück willen Keen Thom verlor und das Versprechen gebrochen ward.«

Der alte Schamane schwieg und sah dem jungen Mann gerade in die Augen.

»Und man mag auch wissen, daß ich, Chugungatte, den Rat gab, das Versprechen zu brechen.«

»Auch nahm ich kein anderes Weib in mein Bett«, fiel Keen ein. »Ich habe selbst mein Feuer entzündet und mein Essen gekocht und in meiner Einsamkeit mit den Zähnen geknirscht.«

Chugungatte winkte mit der Hand, zum Zeichen, daß er noch nicht fertig sei. »Ich bin ein alter Mann, und ich spreche, weil ich verstehe. Es ist gut, stark zu sein und nach Macht zu streben. Es ist besser, auf Macht zu verzichten, auf daß Gutes daraus entstehe. In alten Tagen saß ich neben deiner Schulter, Tant latch, und meine Stimme wurde überall gehört im Rate, und mein Rat wurde in wichtigen Dingen befolgt. Und ich war stark und hatte Macht. Nächst Tant latch war ich der Größte. Da kam der Fremdling, und ich sah, daß er listig und weise und groß war. Und weil er weiser und größer war als ich, wurde es klar, daß größerer Vorteil von ihm kommen würde als von mir. Und ich hatte dein Ohr, Tant latch, und du lauschtest meinen Worten, und der Fremdling erhielt Macht und Stellung und deine Tochter Thom. Und der Stamm gedieh unter den neuen Gesetzen in den neuen Tagen, und so wird er weiter gedeihen, solange wir den Fremdling in unserer Mitte haben. Wir sind alte Männer, wir beiden, o Tant latch, du und ich, und dies ist eine Sache des Kopfes und nicht des Herzens. Hör meine Worte! Laß den Mann hierbleiben.«

Ein langes Schweigen herrschte. Der alte Häuptling grübelte mit der gewichtigen Sicherheit eines Gottes, und Chugungatte schien sich in die Nebel eines hohen Alters zu hüllen. Keen sah verlangend auf das Weib, aber sie achtete nicht darauf, sondern hielt ihre Augen starr auf das Gesicht ihres Vaters geheftet. Der Wolfshund schob wieder den Vorhang beiseite, faßte in der Stille Mut und kroch auf dem Bauche näher. Er schnupperte neugierig an Thoms gleichgültiger Hand, spitzte Chugungatte gegenüber herausfordernd die Ohren und kroch vor Tant latch zusammen. Der Speer fiel rasselnd zu Boden, der Hund sprang mit einem erschrockenen Heulen beiseite, schnappte in die Luft und erreichte mit einem neuen Sprung den Eingang.

Tant latch sah von einem Gesicht auf das andre und betrachtete jedes lange und sorgfältig. Dann hob er den Kopf mit rauher Königswürde und sprach sein Urteil in kaltem, ruhigem Tone: »Der Mann bleibt. Laßt die Jäger zusammenrufen. Schickt einen Läufer in das nächste Dorf mit dem Befehl, die Krieger zu schicken. Ich will den neuen Fremdling nicht sehen. Sprich du mit ihm, Chugungatte. Sag ihm, daß er gleich gehen soll, wenn er in Frieden gehen will. Kommt es aber zum Kampfe, so tötet, tötet, tötet bis zum letzten Mann, aber gebt mein Wort kund, daß nichts Böses unserm Manne widerfahren darf – dem Manne, den meine Tochter geheiratet hat. – Es ist gut.«

Chugungatte erhob sich und stolperte hinaus; Thom folgte ihm. Als Keen sich aber im Eingang bückte, hielt Tant latchs Stimme ihn zurück: »Keen, es ist gut, auf mein Wort zu hören. Der Mann bleibt. Sorge dafür, daß ihm nichts Böses widerfährt.«