In der Gewalt des Lords - Susan King - E-Book
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In der Gewalt des Lords E-Book

Susan King

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Beschreibung

Er rettete ihr Leben, sie rettete sein Herz: der historische Liebesroman „In der Gewalt des Lords“ von Susan King als eBook bei venusbooks. England, 1215. Seit dem Tod ihres Vaters hat Lady Emlyns Leben eine dramatische Wendung genommen: Sie droht das Familienerbe zu verlieren und soll den alten, bösartigen Graf Whitehawk heiraten. Um diesem Schicksal zu entgehen, flieht Emlyn in die Tiefen der Wälder – und trifft auf den berüchtigten Outlaw Thorne, der sich ihrer annimmt. Während sie zusammen vor ihren Verfolgern fliehen, wachsen in ihnen Gefühle, die sie in tödliche Gefahr bringen … „Ein bezaubernder Roman!“ Romantic Times Book Club Jetzt als eBook kaufen und genießen: „In der Gewalt des Lords“ von Romance-Erfolgsautorin Susan King. Lesen ist sexy: venusbooks – der erotische eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 779

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Über dieses Buch:

England, 1215. Seit dem Tod ihres Vaters hat Lady Emlyns Leben eine dramatische Wendung genommen: Sie droht, das Familienerbe zu verlieren und soll noch dazu den ebenso alten wie bösartigen Graf Whitehawk heiraten! Um diesem Schicksal zu entgehen, flieht Emlyn in die Tiefen der Wälder – und trifft dort auf den berüchtigten Gesetzlosen Thorne, der trotz seines Rufs so edelmütig ist wie ein Lord. Gebannt von ihrer Schönheit, schwört der attraktive Outlaw, Emlyn zu beschützen. Doch während sie zusammen vor ihren Verfolgern fliehen, wachsen in ihnen Gefühle, die sie in tödliche Gefahr bringen …

»Ein bezaubernder Roman!« Romantic Times Book Club

Über die Autorin:

Susan King wurde 1951 in New York geboren. Sie studierte und promovierte in Kunstgeschichte. Während ihrer Promotion schrieb sie ihren ersten Roman, der sofort zum internationalen Überraschungserfolg wurde. Seitdem begeistert die Bestseller-Autorin regelmäßig mit ihren historischen Liebesromanen.

Bei dotbooks erscheinen auch folgende Highland-Romane von Susan King:

»Der Schatz des Highlanders«

»Sturm über dem Hochland«

»Der Fluch des Highlanders«

»Im Bann der Versuchung«

»Die Ehre des Highlanders«

»Der Kampf des Highlanders«

»Das Verlangen des Highlanders«

»Der Ritter und die Highlanderin«

»Das Spiel des Highlanders«

»Die Zärtlichkeit des Highlanders«

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe Dezember 2020

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Buch erschien bereits 2017 unter dem Titel »In den Armen des Outlaws« bei venusbooks.

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1994 unter dem Originaltitel »The Black Thorne’s Rose« bei Dutton, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Schwarzer Dorn« bei Heine.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1994 by Susan King

Published by Arrangement with Spencerhill Associates

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch Interpill Media GmbH, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/sivilla, inigocia

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-395885-485-7

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Susan King

In der Gewalt des Lords

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christine Roth

venusbooks

Für David, in Liebe

Vorwort

England, Sommer 1207

Im gestreckten Galopp preschten fünf Reiter die staubige Straße entlang. Ihre Umhänge bauschten sich wie schwarze Flügel, die Kettenhemden darunter schimmerten im fahlen Mondlicht. Vor ihnen lag, einer dunklen Höhle gleich, der Eingang in den Wald, dessen nächtliche Stille vom Getrampel der Pferdehufe zerrissen wurde.

In der Mitte der Gruppe ritt ein junger Mann in einem derben Lederhemd. Sein langes, dunkles Haar fiel ihm bis über die Schultern. Nach vorne gebeugt, um dem harten Tempo standzuhalten, zerrte er an den Stricken, die ihn an den Sattel und seine Hände hinter den Rücken fesselten.

Ohne die Gangart zu wechseln, tauchten die Reiter in die Dunkelheit des Waldes ein und zügelten ihre Pferde nur an den engsten Biegungen des Waldweges ein wenig. Die dichten Baumkronen, die sich wie ein Baldachin über den Weg spannten, verdunkelten den Mond und ermöglichten es einer anderen Gruppe, sich im Schatten vor den Soldaten her durch den Wald zu schleichen, ungehört und ungesehen. Ein Mann und zwei Kinder schlüpften an den dicken Stämmen der Eichen vorbei, die den Pfad säumten, hielten dann unvermittelt inne und lauschten dem rasch näher kommenden Trampeln der Pferde. Eine ausgestreckte Hand gab dem weißen Hund, der sie begleitete, ein Zeichen.

Auf ein geflüstertes Kommando hin duckte sich der Hund und schoß davon, eine Böschung hinab, ein schemenhafter Blitz im milchigen Licht, erreichte den Waldweg und baute sich knurrend vor der heranpreschenden Reiterschar auf.

Das Pferd des Anführers scheute, bäumte sich auf und kam zur Seite gerissen vor den anderen zum Stehen. Von Panik ergriffen, zerrten die Gefolgsleute an den Zügeln, um ihre Pferde ebenfalls zum Anhalten zu zwingen. Der Gefangene drehte den Kopf und spähte aus seiner gekrümmten Haltung heraus um sich, sorgsam darauf bedacht, im Sattel zu bleiben. Der weiße Hund, groß und kräftig wie ein Wolf, patrouillierte indessen gemessenen Schrittes vor ihnen den Weg auf und ab.

»Tötet das Biest!«, hallte die bellende Stimme des Anführers durch die nächtliche Stille. Drei Schwerter wurden aus den Scheiden gerissen. Der vierte Krieger hob seine Armbrust. Dann ertönte ein schriller Pfiff. Mit einem gewaltigen Satz stürzte der Hund sich ins Gebüsch, gerade als das Geschoß der Armbrust an der Stelle einschlug, wo er eben noch gestanden hatte.

Unbemerkt schlich ein Mann in geduckter Haltung an den nervös tänzelnden Pferden vorbei auf den Gefangenen zu. Die scharfe Klinge eines Dolches blitzte in seiner Hand auf, dann durchtrennte ein präziser Schnitt die ledernen Fesseln. Der Gefangene wirbelte überrascht herum, kaum daß er den nachlassenden Druck an seinen Handgelenken spürte, doch außer dem zitternden Blattwerk eines nahen Gebüschs konnte er nichts ausmachen.

Der Anführer der Truppe gab das Kommando zum Weiterreiten, doch die Pferde hatten ihren früheren Rhythmus verloren und drängten jetzt als ungeordneter Pulk vorwärts. Die Hände noch immer hinter dem Rücken verschränkt, schlug der Gefangene seinem Pferd die Fersen in die Flanken, worauf dieses unvermittelt einen Satz zur Seite machte und hinter den anderen zurückblieb.

Der Weg verjüngte sich zwischen den aus der Erde ragenden dicken Wurzeln zweier mächtiger Eichen, deren Äste sich dicht über den Köpfen der Reiter trafen. Als die Truppe in langsamerem Trab unter dem natürlichen Torbogen hindurchritt, richtete der Gefangene sich mit einer schnellen Bewegung auf und griff nach einem der unteren Äste. Mit den Füßen stieß er sich am Sattel ab, zog sich an dem Ast hoch und war auch schon in dem dunklen Laubwerk verschwunden. Arglos ritten seine Bewacher weiter, bis sich einer von ihnen umdrehte, einen Schrei ausstieß, sein Pferd herumriß und so die Truppe zum Halten zwang. Währenddessen stieg der Flüchtende immer höher hinauf in seinen sicheren Horst.

»Die Bestie, die uns vorhin aufgehalten hat, die gehört bestimmt einem dieser Waldgeister aus den Bergen«, bemerkte einer der Männer, als sie wieder zu den überhängenden Ästen der Eichen zurückkehrten.

»Möglich, oder es war ein verzauberter Wolf«, mutmaßte ein anderer. »Ich wette, dieser Black Thorne steht mit den Waldgeistern im Bunde.«

»Geister oder nicht, ich wette jedenfalls, daß Lord Whitehawke uns alle einen Kopf kürzer machen wird, wenn uns dieser Thorne erneut entwischt«, brummte ein dritter.

»Ganz recht, Thorne ist Whitehawkes Jagdtrophäe«, stimmte der Anführer zu und drehte sich um. »Wir müssen ihn unbedingt finden. Etienne, Richard – ihr geht in diese Richtung.« Er deutete in den Wald. »Nehmt die Armbrüste und schaut nach oben. Er sitzt bestimmt irgendwo in den Bäumen.«

»Das ist doch Wahnsinn, den Schwarzen Thorne nachts in diesem finsteren Wald zu verfolgen«, schnaubte Richard verächtlich. »Wir befinden uns viel zu weit südlich von unserem eigenen Territorium.«

»Ja, an einem Ort wie diesen wimmelt es bestimmt nur so von bösen Geistern«, setzte Etienne hinzu.

»Greinende Jammerlappen!« knurrte der Anführer. »Er muß sich hier irgendwo in der Nähe versteckt halten. Findet ihn!« Damit wandte er sich ab.

Bleichen Fingern gleich fiel das Mondlicht durch die Baumkronen des nachtschwarzen Waldes und zauberte die gruseligsten Schatten. Vom sicheren Pfad aus spähten die Krieger ins Dunkel und schlichen sich vorsichtig in verschiedene Richtungen, die Schwerter gezückt und die Armbrüste im Anschlag. Jeder von ihnen hatte zuvor ein flüchtiges Kreuzzeichen über seinem Helm oder vor der Brust geschlagen. Wenig später fanden sich die Männer wieder am Saumgang des Waldes zusammen, standen neben ihren Pferden und debattierten aufgeregt.

Hoch oben in der Eiche begann Thorne jetzt seinen Abstieg und ließ sich bald lautlos auf den weichen Waldboden fallen. Da sich hinter einer der Eichen eine Lichtung auftat, verharrte er zunächst einmal reglos in gebückter Haltung nahe des wuchtigen Stamms. Auf der anderen Seite des mondbeschienenen Zirkels stand der weiße Hund, beobachtete ihn aufmerksam und ließ dabei ein leises, doch furchterregendes Knurren hören.

Einen Augenblick schien es ihm, als hätten die Wachen so unrecht nicht gehabt mit ihrer Befürchtung: Das hier war kein gewöhnlicher Hund, sondern einer aus den Bergen, eine dieser weißen Bestien, die angeblich die Waldgeister begleiten. Der Gedanke kam ihm, als er eine Elfe neben dem Hund stehen sah – eine zierliche, anmutige Gestalt aus silbernen und goldenen Spinnfäden.

Sie trat auf die Lichtung und kam mit leichten, federnden Schritten auf ihn zu. Ihr feines Haar, das ihr über die Schultern fiel, glitzerte im Mondlicht.

Thorne blinzelte verwirrt und atmete dann erleichtert auf. Unsinn, das war kein Geistwesen, sondern ein Kind, ein etwa dreizehnjähriges Mädchen. Es war klein für sein Alter und trug einen weiten Umhang, unter dem weiche, geschnürte Stiefel zu sehen waren. Der Hund, der neben ihr hertrottete, reichte ihr bis zur Hüfte.

Langsam richtete Thorne sich auf, ein schmaler Schatten, der mit dem knorrigen Stamm der Eiche verschmolz. Das Mädchen blieb vor ihm stehen, legte den Kopf in den Nacken, sah zu ihm hoch und musterte ihn mit einem offenen, neugierigen Blick aus großen, strahlenden Augen. Als der Hund wieder leise zu knurren begann, legte sie ihm ihre Hand auf den Kopf. »Still, Catgil«, wisperte sie. »Er ist ein Freund.«

Der Hund verhielt sich einen Moment ruhig, schaute sich dann um, spannte seine Muskeln und fletschte die Zähne.

Von der anderen Seite der Lichtung her drang ein raschelndes Geräusch zu ihnen herüber. Behutsam legte Thorne dem Mädchen seine Hand auf die zarte Schulter.

»Auf den Baum!«, flüsterte er und hob es im gleichen Moment auf einen der unteren Äste der Eiche. Leichtfüßig und behende wie eine Elfe kletterte es höher, und Thorne folgte ihm.

Da der Hund unruhig unter dem Baum hin und her lief, beugte sich das Mädchen zu ihm hinunter und flüsterte leise: »Catgil! Lauf – such Wat!«

Plötzlich vernahmen sie rings um sich herum das Surren von Armbrustbolzen. Der Ast über Thornes Kopf erzitterte, als einer der Geschoße durch das Laubwerk fuhr. Auf den unterdrückten Angstlaut des Mädchens hin griff Thorne nach seiner kleinen, ausgestreckten Hand und zog es neben sich auf den dicken, stabilen Ast.

Kurz darauf folgten zwei weitere Bolzen, die hinter ihnen in die Bäume und Äste einschlugen. Thorne legte den Arm um den Kopf des Mädchens; er wollte die Kleine vor jedweder Gefahr beschützen, gleichzeitig aber auch ihre schimmernde Haarflut vor den Augen der Verfolger verbergen. Obgleich ihre schmalen Schultern zitterten, gab sie keinen Laut von sich. Als der Bolzen einer Armbrust genau über ihnen einschlug, zersplitterte ein Ast, und Blätter regneten auf sie nieder. Thorne und das Mädchen zogen die Köpfe ein und drückten sich eng aneinander wie eine Glucke und ihr Küken.

Auf einmal senkte sich wieder nächtliches Schweigen über die Lichtung. Als kein weiterer Schuß erfolgte, richtete Thorne sich vorsichtig auf und suchte die unmittelbare Umgebung nach verräterischen Schatten ab.

Durch die Blätterdecke hindurch konnte er die Umrisse zweier Krieger zu Pferde ausmachen, die genau unter ihnen standen. Und während er das Mädchen fest an sich gedrückt im Arm hielt, kam ihm ein Gebet in den Sinn, das er seit seiner Kindheit nicht mehr gesprochen hatte.

Unwillkürlich formten Thornes Lippen die Worte des Psalms, doch ließ er dabei die Männer nicht aus den Augen, die leise miteinander sprachen, dann ihre Pferde wendeten und aus dem Wald hinausritten.

Einen Augenblick lang lehnte er seufzend und erleichtert seine Stirn gegen den knorrigen Stamm, um sofort wieder hochzuschrecken, als er leise Stimmen von der Lichtung her vernahm.

»Wat!«, rief das Mädchen und lächelte dabei. Sie hangelte sich so schnell von dem Baum hinunter, daß Thome sich, obwohl erst Mitte Zwanzig, vorkam wie ein alter Mann, als er ihr nachkletterte. Unten angekommen, sah er den weißen Hund freudig um das Mädchen herumspringen; zwei andere Personen kamen über die Lichtung auf ihn zu: Ein großer, blonder Junge, der um die fünfzehn sein mochte und dem Mädchen so ähnlich sah, daß die Vermutung nahelag, sie seien Geschwister, und ein stämmiger Mann in einer Kettenweste.

»Dem Himmel sei Dank, du bist wohlauf«, sagte der Mann leise und berührte das Mädchen an der Schulter. Ihr Bruder strich ihr mit einer Geste schweigender Betroffenheit zärtlich übers Haar.

Thorne zugewandt, flüsterte der Mann: »Wir stehen tief in Eurer Schuld.«

»Keineswegs, ich bin Euch zu Dank verpflichtet«, entgegnete Thome. »Ohne den Hund wäre ich immer noch ein Gefangener. Wart Ihr es, der meine Fesseln durchgeschnitten hat?«

»Ja. Mein Name ist Walter von Lydell. Und wenn Ihr derjenige seid, den sie Black Thorne, den Schwarzen Dorn, nennen, so habe ich eine Nachricht für Euch.«

Der Vogelfreie neigte in gespannter Erwartung den Kopf. Sein dunkles Haar, das im Mondlicht wie Ebenholz schimmerte und das er nach Art der Sachsen schulterlang trug, streifte dabei seine bärtigen Wangen. »Ja, der bin ich.«

Walter nickte. Der scharfe Blick seiner dunklen Augen und sein kräftiges Kinn gaben ihm ein grimmiges, unerbittliches Aussehen. »So hört mir schnell zu, denn Eure Eskorte mag gleich zurückkehren. Mein Herr, der Baron de Ashbourne, befahl mir, Euch aufzufordern, unverzüglich in den Norden zurückzugehen und dort Eure Aufgabe wie geplant zu erledigen«, sagte er. »Bewahrt Schweigen über unser Zusammentreffen, aber wisset, daß andere mit Euch gegen Graf Whitehawkes Greueltaten kämpfen.« Er stieß angewidert den Atem aus. »Die Wachen haben gewiß Weisung, Euch im königlichen Kerker von Windsor abzuliefern, junger Herr. Das ist ein stinkendes Rattenloch, in dem bislang noch jeder den Verstand verloren hat.«

»Das habe ich mir schon gedacht, als wir den Weg nach Süden einschlugen. Meinen besten Dank also, Walter. Bestellt bitte dem Baron, daß ich sein Vertrauen in mich zu schätzen weiß.« Dann warf Thorne einen Blick auf das Mädchen und ihren Bruder. »Diese Kinder – sind das die Euren?«

»Nein, das sind die Kinder des Barons de Ashbourne. Sie sind mir schon eine ganze Weile gefolgt, aber das habe ich erst vor kurzem bemerkt. Ihr Hund, glaube ich, hätte auch keinem anderen gehorcht.«

Thorne nickte. »Ich danke euch für das, was ihr heute nacht für mich getan habt«, sagte er leise. »Ich stehe tief in euer aller Schuld. Und Gott ist mein Zeuge, wenn ich hier verspreche, notfalls mein Leben einzusetzen, um mich dafür zu revanchieren.«

Walter legte Thorne die Hand auf die Schulter. »Wir müssen weiter. Hinter der Lichtung, dort« – er deutete mit dem Finger – »steht, an einem Haselstrauch angebunden, ein gesatteltes Pferd für Euch bereit. Einen Bogen nebst Köcher findet Ihr ebenfalls.«

»Gott sei mit Euch, Herr«, sagte das Mädchen. Thorne blickte in ihr kleines, zart geschnittenes Gesicht. Das Mondlicht verwandelte die Farbe ihrer Augen in ein verwaschenes Silber, als sie mit einer Mischung aus kindlicher Neugier und ernsthafter Besorgnis zu ihm hochsah.

Das Klicken eines auf eine Armbrust gelegten Bolzens drang durch die Stille. Walter griff nach dem Arm des Mädchens und zog es mit sich ins Farndickicht; der Junge und der Hund folgten ihnen. Thorne wirbelte herum und lief auf das wartende Pferd zu. Als der Bolzen durch die Luft sauste, war die Lichtung bereits verlassen.

Thorne rannte, so schnell er konnte, sein schlanker, muskulöser Körper bewegte sich mit unglaublicher Geschmeidigkeit. Bolzen zischten durch das Dickicht hinter ihm, als die Wachen durchs Unterholz brachen, und gleichzeitig hörte man das schrille Surren von Pfeilen, die krachend in Baumstämme oder dumpf im Erdboden einschlugen. Unversehrt bahnte sich Thorne seinen Weg durch das dichte Gestrüpp, das er wenn möglich mit weiten Sätzen übersprang, um schneller zu dem Pferd zu gelangen.

Mit einem hastigen Handgriff band er die Zügel los, schwang sich in den Sattel und preschte mit dem Pferd einen schmalen Pfad entlang, der zum Hauptweg hinunterführte. Ein Bogen und ein mit Pfeilen gefüllter Köcher waren wie versprochen am Sattel befestigt, aber er nahm sich nicht die Zeit, davon Gebrauch zu machen.

Pfeile und Bolzen zischten gefährlich nahe an ihm vorbei. Ein Pfeil streifte seine Wange, ein anderer traf sein Ziel, bohrte sich durch das dicke Lederwams und blieb unterhalb seines Schulterblatts stecken. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, griff er mit einer Hand nach hinten und zerrte an dem Schaft, die Zähne zusammengebissen, um dem brennenden Schmerz zu trotzen, bis es ihm gelang, das Geschoß mit einem brutalen Ruck aus der Wunde zu ziehen.

Hinter sich hörte er die donnernden Hufschläge seiner Verfolger, doch sein gut ausgeruhtes Pferd galoppierte unbeirrt vorwärts. Thorne, der ein hervorragender Reiter und dazu noch frei vom hinderlichen Gewicht einer Rüstung war, hatte bald einen sicheren Abstand zu den Kriegern gewonnen und kam schnell auf den alten Straßen Richtung Norden voran. Bei Sonnenaufgang hatte er seine Häscher weit hinter sich im weißen Morgennebel zurückgelassen und schlug einen Viehtreiberweg über die Berge ein.

Obwohl der Pfeil tief in seinen Rücken eingedrungen war, ritt er zwei Tage fast ohne Unterbrechung. Verbissen kämpfte er gegen die Schmerzen und seine nachlassenden Kräfte an, bis er die heimischen Moore im Norden erreicht hatte. Dort, in der Mitte einer Ansammlung aufrecht stehender Steine, stürzte er vom Pferd und blieb ohnmächtig am Fuß eines uralten Monolithen liegen, als habe er sich diesen zum Grabstein erkoren.

Kapitel 1

England, April 1215

Ihr letzter Pfeil fiel einer Laune des Windes anheim. Von der Sehne freigesetzt und von einer Bö erfaßt, beschrieb er einen hohen Bogen und flog weit über sein Ziel hinaus. Als er in einer Gruppe dicht belaubter Bäume neben dem Waldweg verschwand, stieß Emlyn de Ashbourne einen mißmutigen Seufzer aus und schulterte ihren Bogen. Mit einer Hand hielt sie den grünen Umhang zusammen, um sich vor der Kälte zu schützen, zog mit der anderen die Kapuze über die flachsblonden Zöpfe und marschierte auf die Baumgruppe zu.

Etliche ihrer Übungsschüsse waren heute danebengegangen, was jedoch weniger dem Wind als ihrer Unerfahrenheit zuzuschreiben war. Von dem Dutzend graugefiederter Pfeile steckten nur noch vier in dem ledernen Köcher, der an ihrem Gürtel hing. Diesen hier mußte sie suchen gehen, wenn sie mit ihren Schießübungen fortfahren wollte.

Behende bewegte sich Emlyn unter dem dichten Blätterdach des Waldes voran; das von der Morgensonne getüpfelte Laub raschelte in der würzigen Frühlingsbrise. Sie war froh, daß sie nach dem monatelangen öden Eingesperrtsein das Risiko gewagt hatte, sich in den Forst davonzustehlen.

In einem Wald wie diesem war ihr Bruder Guy, der junge Baron de Ashbourne, im letzten Herbst von König Johns Häschern gefangen worden. Und da sie vom Haushofmeister der Burg, der um ihre Sicherheit fürchtete, eindringlichst gewarnt worden waren, hatten Emlyn und ihre drei jüngeren Geschwister den ganzen Winter über nicht einen Fuß vor die Mauern der Burg Ashbourne gesetzt. Bis heute wußte niemand, wo Guy gefangengehalten wurde und ob er überhaupt noch am Leben war.

Ans Bogenschießen, das Guy ihr kurz vor seinem Verschwinden versucht hatte beizubringen, hatte Emlyn bis zu diesem Nachmittag überhaupt nicht mehr gedacht. Und als Meisterin in dieser Kunst durfte sie sich wahrlich nicht bezeichnen; ihre Haltung und ihr rechter Arm waren viel zu steif, und ihre Finger nicht geschmeidig genug, wenn sie die gewachste Hanfsehne spannte. Sie war auch nicht zum Jagen in den Forst entwischt, sondern um ihre Übungen wieder aufzunehmen.

Obgleich der kurze Damenbogen sich wegen seiner geringen Spannkraft nicht besonders gut dazu eignete, Kleinwild zu erlegen – welches in diesen Tagen auf Burg Ashbourne weiß Gott willkommen gewesen wäre –, faszinierte Emlyn die Eleganz dieser Waffe und die zu ihrer Handhabung erforderliche Geschicklichkeit schon seit ihrer Kindheit. Das Zielschießen im Burghof hatte sie seit jeher zu begeisterten Bravorufen hingerissen, wenn die Männer auf Heuballen und Strohpuppen in französischen Rüstungen schossen, oder wie jüngst auf solche, die König John darstellten.

Auf der Suche nach ihrem vermißten Pfeil gelangte Emlyn an einen einsamen Waldweg, wo sich das dichte Laub ein wenig lichtete. Plötzlich wurde sie von einem metallisch klirrenden Geräusch aufgeschreckt und flüchtete sich ängstlich hinter den mächtigen Stamm einer Eiche. Mit klopfendem Herzen drückte sie sich eng an die borkige Rinde.

»Bei den heiligen Gebeinen der Götter!«, schallte der von einer grimmigen Männerstimme ausgestoßene Fluch durch den Wald. Emlyn stützte sich auf ihren Bogen und lugte vorsichtig hinter dem Baumstamm hervor.

Nur wenige Schritte von ihr entfernt sah sie einen Ritter in voller Rüstung auf einem mächtigen schwarzen Streitroß sitzen, den Kopf von ihr abgewandt. Der elegant und weit geschnittene blaue Mantel des Mannes reichte dem Pferd bis über die Flanken. An der hochgezogenen Hinterpausche des Sattels hing ein weißes, mit einem Wappen verziertes Schild.

Obgleich Emlyn die Insignien – ein weißer Falke und ein grüner Zweig – unbekannt waren, sagten ihr das Schild und das wertvolle Zaumzeug des Pferdes, daß sie hier einen Ritter von hohem Stand vor sich hatte. Einen Königstreuen möglicherweise, schoß es ihr durch den Sinn. Wat hatte sie vor jenen gefährlichen Männern gewarnt, die häufig durch diesen Wald ritten. Eiligst suchte sie wieder hinter der Eiche Deckung.

Langsam ließ der Unbekannte sein Pferd im Kreis über den breiten Waldweg traben. Emlyn fragte sich, weshalb der Ritter so wachsam um sich spähte, das gezogene Schwert zum Angriff bereit in der Hand. Das verhaltene Klappern der Pferdehufe, das leise Klingeln der Eisenrüstung und die tiefe Stimme des Mannes, der unentwegt vor sich hin fluchte, machten Emlyn die Einsamkeit des Waldes nur noch bewußter.

Von dem Gedanken alarmiert, daß sich möglicherweise noch andere Ritter in der Nähe aufhalten könnten, machte sie spontan ein paar Schritte zurück ins Dickicht. Unter ihrem Fuß zerbrach mit lautem Knacken ein morscher Ast.

Augenblicklich fuhr der Ritter herum und entdeckte sie auch schon zwischen den Bäumen. Mit einer schnellen Handbewegung hatte er den schwarzen Hengst herumgerissen und kam auf Emlyn zugaloppiert. »Halt! Stehenbleiben!«

Emlyn rührte sich nicht vom Fleck. Einige Fußlängen vor ihr brachte er das riesige Pferd zum Stehen. Mit angstvoll geweiteten Augen sah sie zu dem mächtigen schwarzen Kopf des Streitrosses hoch, dann wanderte ihr Blick über die Brust und die muskulösen Schultern des Pferdes zu den gepanzerten Beinen des Ritters.

Und da entdeckte sie ihren vermißten Pfeil. Er steckte mitten im ungeschützten Oberschenkel des Fremden, hatte sich durch einen der Ringe des Kettenpanzers gebohrt.

Wie hypnotisiert starrte Emlyn den zitternden Pfeilschaft an, der in einem seltsamen Winkel aus dem Bein herausragte. Geronnenes Blut hatte einen karminroten Kreis um die Stelle beschrieben, wo der Pfeil ins Fleisch eingedrungen war. Ganz langsam tastete sich ihr erschrockener Blick hinauf zu dem Gesicht des Ritters.

Seine Augen unter den dunklen, kaum gewölbten Brauen funkelten genauso graumetallen wie seine Rüstung. »Kommt raus da!«, herrschte er sie mit einer tiefen Stimme an, deren Echo in der scharfen, klaren Luft widerhallte.

Emlyn zögerte, sie konnte den Blick nicht von dem Pfeil lösen. Und als ihr plötzlich die ganze Ungeheuerlichkeit ihrer Tat bewußt wurde, erfaßte sie schiere Panik. Sie holte tief Luft und machte ein paar Schritte auf den Unbekannten zu. Ihr Herz raste, als sie vor der hoch aufragenden Gestalt stehenblieb.

Er musterte sie einen Augenblick schweigend und schob dann sein Schwert zurück in die Scheide. »Ich muß den Pfeil aus meinem Bein ziehen«, sagte er, »und brauche dazu Eure Hilfe.«

Emlyn starrte ihn verdutzt an. Sein von der engen Kettenhaube umrahmtes Gesicht wirkte trotz der feinen Züge grimmig und hart, ein Eindruck, der durch die dunklen Bartstoppeln noch verstärkt wurde. Erwartungsvoll hob er eine Braue.

Die Stirn in Falten gelegt, betrachtete Emlyn den Pfeil. »Sire«, begann sie dann mit dünner Stimme. »Ich glaube, ich komme nicht an ihn ran.«

»Meine Rüstung ist äußerst hinderlich«, erwiderte er knapp. »Wenn ich von meinem Pferd absteige, werde ich ohne fremde Hilfe kaum wieder hinaufkommen, um so weniger mit einem verwundeten Bein. Zieht mir den Pfeil also heraus, Jungfer, und bitte schnell.« Er deutete auf einen Baumstumpf. »Stellt Euch dort drauf.«

Emlyn gehorchte seiner Anordnung schweigend und fragte sich, ob andere seinen Befehlen ebenso unterwürfig nachkamen wie sie. Nun ja, schließlich war sie es gewesen, die ihn verwundet hatte, dachte sie dann, sprang auf den Baumstumpf und wartete, bis er sein Pferd an die richtige Position dirigiert hatte.

»So, nehmt den Pfeil fest in die Hand«, wies er sie an, worauf sie gehorsam ihre Finger um den Schaft schloß. Nachdem er den Panzerhandschuh abgestreift hatte, schob er seine Hand unter die ihre und preßte sie auf sein Bein. Emlyn empfand die Berührung als angenehm kühl. »Wenn ich ›jetzt‹ sage, zieht Ihr kräftig an.«

»Sire, ich …«, stammelte sie und biß sich auf die Lippen.

»Ich hätte es auch allein getan, wenn ich Euch nicht zufällig hier angetroffen hätte.«

Sie nickte eifrig, verstärkte ihren Griff um den Pfeilschaft und holte tief Luft. Dabei hörte sie, daß auch der Ritter tief einatmete. Als sie daraufhin zu ihm hochsah, bemerkte sie, daß er sie beobachtete. Der Blick aus seinen stahlgrauen Augen war durchdringend und hart.

»Jetzt!«, kommandierte er, und Emlyn zog so kräftig, wie sie nur konnte. In das Geräusch seines langen Ausatmens mischte sich ein unterdrücktes Stöhnen, als die Pfeilspitze aus der Wunde gerissen wurde. Warmes Blut spritzte über ihre zitternden Hände.

Zu ihrem Entsetzen merkte Emlyn, daß sich die breite Pfeilspitze nicht so einfach aus dem Kettenpanzer und den dicken Lederhosen darunter ziehen ließ. Behutsam führte sie die Widerhaken durch das Netz von Metallringen, wobei ihr das verbissene Schweigen des Ritters förmlich in den Ohren dröhnte.

Sobald es ihr gelungen war, den Pfeil ganz zu entfernen, preßte sie ihren Handballen auf die blutende Wunde und zog ein frisches Leinentüchlein aus dem Ärmel. Wortlos nahm ihr der Ritter das Tuch aus der Hand, um die Blutung selbst zu stillen, und verzog dabei stöhnend das Gesicht. Wie eine schwarze Mondsichel lag der untere Wimpernkranz seiner Augen auf den unrasierten Wangen, seine Lippen waren vor Schmerz zusammengepreßt.

Unsicher hielt Emlyn den blutigen Pfeil in der Hand. Sie konnte ja schlecht die Spitze abwischen und den Pfeil zurück in den Köcher stecken, den ihr Umhang verbarg.

Da beugte sich der Ritter zu ihr herab und nahm ihr den Pfeil aus der Hand, um den Schaft zu inspizieren. »Hm, ich kann keine eingeritzten Zeichen entdecken, die auf den Besitzer schließen lassen. Der breiten Spitze nach zu urteilen handelt es sich jedenfalls um einen Jagdpfeil, mit dem man auf Kleinwild schießt«, murmelte er, wobei er Emlyn scharf musterte. »Sagt mir, was Ihr über diesen Anschlag wißt, Jungfer. Wer ist der Kerl, dem ich diese Wunde zu verdanken habe?«

»Anschlag?« Sie nagte wieder nervös an ihrer Unterlippe.

»Nun, es folgte kein zweiter Schuß, ich habe keine Banditen gesehen und auch keine Wilderer.« Er beugte sich näher zu ihr vor; der Blick seiner grauen Augen war so hart und kalt wie Frost auf einem Stein. Dann legte sich eine schwere Hand auf Emlyns Schulter. »Was habt Ihr denn hier in diesem Forst zu suchen, Jungfer?«

Obwohl sie am liebsten seine Hand abgeschüttelt und sich in den Wald geflüchtet hätte, rieten ihr die Umstände und ihre jahrelange Erziehung in einem Kloster dazu, alles zu gestehen. Doch als sie den Mund aufmachte, um zu sprechen, brachte sie nur einen hohen, heiseren Ton zustande, kaum lauter als das Quieken einer Maus. Die berechtigte Angst, wie dieser Unbekannte auf die Wahrheit reagieren würde, lähmte ihre Zunge. Es waren skrupellose Ritter gewesen, die Guy festgenommen hatten, erinnerte sie sich. Dieser hier mochte ihr Gewalt antun oder sie vielleicht sogar für das Verbrechen töten, das sie begangen hatte.

In der einen Hand hielt er lose die Zügel und balancierte gleichzeitig den blutigen Pfeil zwischen zwei Fingern, die andere ruhte noch immer schwer auf ihrer Schulter. »Sprecht! Seid Ihr mit Eurem Vater oder Bruder auf der Jagd, um das Rotwild des Königs zu schießen?«

»Nein, Sire. Das hier ist ein Nutzwald, der zur Burg Ashbourne gehört – eine Hecke und ein Wassergraben halten das Rotwild von hier fern.«

Er spähte in die Richtung, in die sie mit ihrer freien Hand deutete. Von den Baumstämmen größtenteils verdeckt, konnte er die Umrisse einer dichten, doch seltsamerweise niedrigen Hecke ausmachen, die um das Waldstück herumführte. Sorgfältig instand gehalten, waren solche Hecken durchaus geeignet, das Wild, insbesondere Rehe und Hirsche, daran zu hindern, in den Forst einzudringen und die Rinde von den Bäumen zu nagen sowie junge Setzlinge abzuäsen.

»Da der König kürzlich verfügt hatte, alle Hecken zu stutzen«, erklärte sie auf seinen verwunderten Blick hin, »wurde auch diese getrimmt. Zudem ist ein Teil der Hecke den letzten Winterstürmen zum Opfer gefallen. Daß bald das Rotwild hier frei in unserem Nutzwald herumspazieren kann, haben wir nur König John zu verdanken. Dies hier ist ein alter, kaum benutzter Pfad, der zur Burg führt.«

»Ein Nutzwald«, wiederholte er trocken. »Und außer dir ist sonst niemand hier?«

Emlyn holte tief Luft, entschlossen, jetzt endlich die Wahrheit zu sagen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, als sie ihr Geständnis hervorstieße. »Es hat weder ein Bandit noch ein Wilderer auf Euch geschossen, Herr. Es war mein eigener Pfeil, der Euch traf.« Jeden einzelnen Muskel im Körper angespannt, wollte Emlyn sich zur Flucht wenden, doch seine Finger schlossen sich so fest um ihre Schulter, daß sie sich den Arm ausgerenkt hätte, wenn sie tatsächlich losgerannt wäre.

Einen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber, dann zerriß sein dröhnendes Gelächter die Stille des Waldes. »Ich wüßte nicht, daß wir miteinander im Hader liegen. Black Thorne, der Outlaw, ist doch tot, sagen die Leute, und niemand sonst würde es wagen, meine Familie anzugreifen!« Sein Kinn schoß vor, als er sie jetzt anbrüllte: »Versuche nicht, deine Sippe, deinen Geliebten oder deinen Ehemann zu schützen! Sag mir, wo der Kerl steckt, der auf mich geschossen hat!« Dann wurde seine Stimme gefährlich leise: »Treib kein Spiel mit mir, Jungfer. Ich bin äußerst schlechter Laune, habe Schmerzen und müßte schon längst ganz woanders sein!«

Emlyn zuckte angesichts der unverhohlenen Wut des Mannes zusammen und preßte erschrocken ihre zitternde Hand vor den Mund. Durch diese unbedachte Bewegung öffnete sich ihr Umhang, und der Lederköcher an ihrem Gürtel schlug gegen ihre Hüfte. Darin klapperten vier identische Pfeile.

Der Ritter starrte erst den Köcher an, dann sie. »Es ist also tatsächlich wahr?«

»Jawohl, Mylord«, wisperte sie ängstlich.

»Warum hast du mich angegriffen?« Seine Stimme klang jetzt mehr wie ein Knurren.

»Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu verletzen, verehrter Ritter«, entgegnete sie aufrichtig. »Es war ein Mißgeschick. Ich habe Schießübungen gemacht.« Er musterte sie schweigend. »Eine Windbö hat den Pfeil abgelenkt. Ich habe auf den Stamm einer Rotbuche gezielt«, fügte sie lahm hinzu.

Er sagte immer noch nichts, aber sein Griff um ihre Schulter lockerte sich ein wenig. »Fürwahr, ich bin keine gute Schützin.«

»Hm«, brummte er. »Das scheint mir auch so.«

Sie nickte kleinlaut. »Bei der heiligen Mutter Gottes, ich bitte Euch ergebenst um Verzeihung. Obwohl das mein schweres Vergehen nicht mindert.«

»Nein, das tut es in der Tat nicht.« Er ließ unvermittelt ihre Schulter los, und Emlyn massierte mit ihrer Rechten die schmerzende Stelle. Während der Ritter sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen dabei beobachtete, atmete er langsam und geräuschvoll aus. »Nun«, brummte er dann. »Ich muß leider Gnade vor Recht ergehen lassen, da ich in Eile bin und dich nicht entsprechend bestrafen kann. Obgleich ich das gerne täte, dessen sei versichert.« Er hielt ihr den Pfeil hin. »So, und jetzt mach, daß du wegkommst, und zwar schnell.«

Nachdem Emlyn zögernd das Corpus delicti an sich genommen hatte, stieg sie von dem Baumstumpf herunter und blickte über die Schulter zu dem Ritter hoch. Die Wangenpartie über den Bartstoppeln war rot gefleckt, und in der Sonne glühten seine Augen wie Stahl. Doch selbst die scharfen Linien, die Schmerz und Wut in sein Gesicht gezeichnet hatten, konnten seine feinen Züge nicht verbergen. Ob er wohl noch weit zu reiten hatte mit dieser Verwundung? fragte sich Emlyn.

»Eins noch, Jungfer«, rief er ihr zu. »Ich würde zu gern den Namen der Attentäterin erfahren!«

Bevor sie antworten konnte, gellte ein Ruf durch den Wald.

Der Ritter drehte sich im Sattel um und brüllte eine Antwort zurück. Von einem nicht einsehbaren Stück des Waldweges her näherten sich Hufschläge. Emlyn wurde nervös. Sie wollte am liebsten davonrennen. Niemals hätte sie allein und schutzlos durch den Wald streifen und sich so weit von der Burg entfernen dürfen, schalt sie sich im stillen.

»Geh jetzt«, forderte sie der Ritter auf, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Und überlaß ab jetzt das Bogenschießen Männern, die sich auf diese Kunst verstehen.« Damit wendete er sein Pferd und trabte den herankommenden Reitern entgegen.

Emlyn hatte eben noch tiefe Reue und ehrliches Mitleid mit dem verwundeten Ritter empfunden, doch dieser Abschied versetzte sie in Wut. Sehr unfreundliche Worte vor sich hin murmelnd, die besser ungehört blieben, stapfte sie durchs Unterholz, um ihren kleinen Bogen zu holen, dann schlug sie den Weg nach Ashbourne ein. Befand sie sich erst einmal innerhalb der Schloßmauern, war sie der Gefahr enthoben, in die man geriet, wenn man mit Pfeilen auf junge Ritter schoß. Vor dem schrecklichen Gezeter ihrer Amme Tibbie jedoch konnte sie nur sicher sein, wenn diese gerade irgendwo in einem anderen Winkel der Burg beschäftigt war.

Als sie schließlich atemlos die Diele betrat, die an die große Halle angrenzte, schob sie vorsichtig den roten Vorhang zur Seite, der den Durchgang zur Halle verdeckte, und spähte hinein. Verdammt, dachte sie, ich habe zu allem Überfluß auch noch das Abendessen verpaßt! Jetzt erwischen sie mich bestimmt.

Sie sah einige Diener die Holztische und schmalen Bänke zur Seite schieben, an denen das frühe Nachtmahl eingenommen worden war. Ein Mädchen kehrte den Boden, während ein anderes die übriggebliebenen Brotlaibe einsammelte, die am nächsten Tag an die Dorfbewohner verteilt werden sollten. Ein langer, schwerer Eichentisch, dessen polierte Oberfläche man bereits saubergewischt hatte, stand neben dem großen Kamin, der am entgegengesetzten Ende der Halle in die Mauer eingebaut war.

»Lady Emlyn! Da seid Ihr ja endlich!« Die kräftige, warme Stimme schallte durch die große Halle. In ihrer Aufregung hatte Emlyn ihre Amme Tibbie gar nicht bemerkt.

Wie eine heranziehende Gewitterwolke schob sich die kleine, stämmige Person durch den Saal, wobei sich ihre diversen Röcke und Überröcke raschelnd um ihre kurzen Beine bauschten. Emlyn, die den Vorhang jetzt ein Stück weiter öffnete, gab sich geschlagen. »Ja, Tibbie?«

»Laßt Euch den Umhang abnehmen, M’lady!«, rief Tibbie und schoß, eine Hand ausgestreckt, auf Emlyn zu, um ihr das Cape von den Schultern zu ziehen. Emlyn wich zurück in die Diele und fummelte mit zitternden Fingern an der bronzenen Nadel, die den Umhang zusammenhielt.

Tibbie zerrte an dem dicken Wollstoff und schnaubte gequält. »Emlyn de Ashbourne, dieser Umhang ist ja patschnaß! Gebt ihn her!«

Emlyn schälte sich aus den voluminösen Stoffbahnen. »Er ist nur ein wenig feucht.«

»Pah! Feucht! Von oben bis unten mit Schlamm bespritzt ist er, und überall voller Blätter und Tannennadeln.« Tibbie inspizierte den Umhang und zupfte mit ihren plumpen Fingern einzelne Blätter und Nadeln ab. Dann fixierte sie Emlyn mit einem unheilvollen Blick. »Ihr habt Euch außerhalb der Schloßmauern herumgetrieben, ohne Begleitung, selbst ohne Hund, völlig schutzlos, habe ich recht?«

»Ja«, seufzte Emlyn. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß man vor Tibbie keine Geheimnisse haben konnte.

Den Umhang unter den Arm geklemmt, verschränkte Tibbie die Hände vor ihrem dicken Bauch und wartete, den Blick streng auf Emlyn geheftet. Keine der beiden Frauen war groß, doch während Emlyns zart gebauter Körper aus Gold und Elfenbein geformt zu sein schien, ließ einen Tibbies plumpe und beinahe doppelt so breite Gestalt eher an Bronze und Eiche denken.

»An manchen Tagen komme ich mir hier vor wie in einer Gruft«, erklärte Emlyn kleinlaut. »Und deshalb bin ich heimlich ausgegangen. Wat hätte mir niemals die Erlaubnis gegeben, und du auch nicht. Außerdem war ich nur im Forst.«

»Sir Walter ist kein alter Trottel, und Ihr solltet auf ihn hören. Was, wenn Ihr den Männern des Königs in die Hände gelaufen wäret? Wat sagt, daß sie sich jetzt ständig da draußen herumtreiben. Nicht auszudenken, wenn sie Euch oder uns alle verschleppen sollten. Dann sei uns Gott gnädig.« Tibbie schlug hastig das Kreuzzeichen über ihrem gewaltigen Busen und stemmte dann die Faust in die Hüfte.

Eisige Schauer rieselten Emlyn über den Rücken, als sie an den Ritter im Forst dachte. Sie konnte sich noch gut an den Ausdruck in seinen Augen erinnern, als sie die Hand um den Pfeilschaft schloß, der in seinem Oberschenkel steckte. Die Angst, die sie in diesem Augenblick verspürt hatte, ließ sie noch im nachhinein zusammenzucken.

Tibbie und Wat, der Oberhofmeister, nahmen die Aufgabe, sie und die jüngeren Ashbourne-Kinder zu beschützen, seit Guy bei einem Jagdausflug verschleppt worden war, peinlichst genau. Den ganzen langen Winter über hatte angstvolles Warten die Stimmung im Schloß beherrscht, das sich noch steigerte, als der König von ihnen eine unverschämt hohe Zahlung verlangte; eine Strafe, wie der Bote erklärt hatte.

Als Schloßherrin hatte Emlyn sich nach besten Kräften um die Erziehung der Kinder und die Führung des Haushalts bemüht. Sie hatte es sogar fertiggebracht, dem König einige Silberstücke zu übersenden, obgleich sie dafür die Schatztruhe plündern mußte; doch Geld war die einzige Hoffnung, Guy jemals lebend wiederzusehen. Während des Winters hatte Emlyn sich ernsthaft bemüht, auf Gott zu vertrauen und statt Wut Versöhnlichkeit zu empfinden. Doch diese edlen Gedanken zu hegen, war leichter gesagt als getan.

Obwohl ihre Eltern und die älteren Geschwister nicht mehr bei ihnen waren, was im ersten Fall dem Willen des Herrn zuzuschreiben war, im zweiten dem eines anderen Mächtigen, befanden sich ihre drei jüngeren hier in ihrer sicheren Obhut. Nach Guys Gefangennahme hatte Emlyn vor der Heiligen Jungfrau das Gelübde abgelegt, die Kleinen niemals im Stich zu lassen und ihnen den Kummer zu ersparen, den sie hatte erfahren müssen. Als ihre Schwester und Beschützerin konnte sie zumindest darauf in gutem Glauben vertrauen.

Tibbie ließ nicht locker. »Und was bitteschön habt Ihr allein im Wald verloren?« erkundigte sie sich in scharfem Tonfall. »Und warum habt Ihr Catgil nicht mitgenommen?«

»Ich habe geübt«, antwortete Emlyn. »Und Catgil wird allmählich zu alt und träge.«

»Ach, doch nicht etwa mit Pfeil und Bogen, wie?« Tibbie machte ein finsteres Gesicht. »Seit Kindesbeinen an seid Ihr davon besessen. Dieser Black Thorne, dem Ihr fatalerweise einmal begegnet seid, der hat Euch diesen Floh ins Ohr gesetzt.«

»Ach, Tib«, seufzte Emlyn. »Guy fand nichts Ungehöriges am Bogenschießen. Er hat es mir beigebracht. Außerdem jagen viele Ladys mit dem Bogen.«

»Pah! Diese sogenannten Ladys, die mit Jagdgesellschaften durch die Wälder trippeln, sind auf größere Beute aus als Kaninchen, müßt Ihr wissen. Viele von denen scheren sich einen Teufel um die hohe Kunst des Bogenschießens, denen ist viel mehr an den jungen Lords gelegen, die selbige praktizieren! Hättet Ihr nicht die letzten Jahre in diesem Kloster zugebracht, dann wüßtet Ihr über derartige Dinge Bescheid.«

Tibbie holte tief Luft, dann fuhr sie fort: »Findet Ihr es wirklich richtig, denjenigen Sorge zu bereiten, die versuchen, Euch vor dem Zorn dieses grausamen Königs – der Herr möge mir vergeben, aber das ist er, und wir alle wissen es – zu schützen und Jagd auf winzige Vögelchen zu machen? Ihr solltet lieber für unseren armen Baron Guy beten. Gott schütze ihn.« Wieder schlug sie das Kreuzzeichen und schüttelte dann so entrüstet den Kopf, daß ihr gestärkter weißer Schleier hüpfte. »Aber eigentlich kann ich Euch keinen Vorwurf machen.«

Emlyn blinzelte verdutzt. »Tib?«

»Ja, ich kann es Euch nicht verdenken, daß Ihr dieser Gruft, wie Ihr Euer trautes Heim nennt, an einem so herrlichen Tag wie heute entflohen seid. Habt Ihr mit diesem Schießgerät wenigstens ein Stück Wild erlegt, das sich in der Küche verwenden ließe?«

Nach über zwanzig Jahren, die Emlyn mit Tibbies Geplapper und ständigen Vorhaltungen verbracht hatte, war sie an deren plötzliche Stimmungsschwankungen und Gedankensprünge gewöhnt. Tibbies Gedanken glichen wilden Windböen, die ihre Worte hierhin und dorthin bliesen wie trockenes Laub. Emlyn kannte niemanden, der liebenswerter und fürsorglicher gewesen wäre als sie, doch diejenigen, die Tibbies Obhut anvertraut waren, litten bisweilen schrecklich unter ihrem unaufhörlichen, lautstarken Geplapper.

»Emlyn, Liebe, habt Ihr uns ein Kaninchen geschossen?« wiederholte Tibbie.

»Ein Kaninchen? N … nein, nicht direkt. Ich bin eine miserable Schützin.« In der Tat, dachte sie und sah wieder den blaugekleideten Ritter vor sich. Schwarzbraune Wimpern, dunkle Augen, warme Hände und scharfe Worte kamen ihr in den Sinn.

»O weh! Obwohl wir in diesen Tagen weiß Gott eine Extraportion für unsere Abendtafel gebrauchen könnten, zumal kaum Männer da sind, die auf die Jagd gehen können«, klagte Tibbie.

»Die Zahlung an den König hat fast unsere ganze Barschaft aufgebraucht. Demnächst müssen wir einige Jäger aussenden, denn die Fässer mit eingesalzenem Fleisch sind beinahe leer.«

Emlyn seufzte ebenfalls, denn an Tibbies Aussage gab es nichts zu rütteln. Trotz der üblichen Geschäftigkeit eines Burghaushalts, mit Dienern und Handwerkern, die im Burgfried, den Küchen, Brauhäusern, Stallungen und Schmieden arbeiteten, wurde die Versorgung allmählich knapp. Und die Abwesenheit der eigentlichen Burgbesatzung war deutlich spürbar.

Nur eine Handvoll Bewaffneter bewachte noch den Burgwall. Nach Guys Gefangennahme hatten Ashbournes Söldner bis auf wenige die Burg verlassen; fast alle waren von den Boten des Königs abgeworben worden. Bei einer so geringen Anzahl von Männern, die hätten jagen können, kam jedes Stück Wild gelegen. Der Mangel an Kriegern bedeutete außerdem, daß Ashbourne einem etwaigen Angriff nicht lange würde standhalten können.

»Wir haben bis jetzt ganz gut überlebt, Tibbie«, erklärte Emlyn, »und irgendwie werde ich auch noch den Rest von Guys Erbschaftssteuer aufbringen. Unsere Schafherden sind prächtig gediehen dieses Jahr, und die Wolle wird einen guten Preis erzielen.«

»Betet nur, daß der Erlös diesen habgierigen König zufriedenstellt«, brummte Tibbie.

»Bestimmt wird er eine weitere Ratenzahlung akzeptieren.«

»Hmm«, schnaufte Tibbie säuerlich. Emlyn lächelte, wußte sie doch nur zu gut, daß Tibbies Kommentare ebenso mit Honig wie mit Essig gewürzt sein konnten.

Emlyn verließ sich aber auch auf die Weisheit und die Erfahrung von Walter von Lydell, der schon der Oberhofmeister ihres Vaters gewesen und der Familie treu geblieben war, als Guy nach dessen Tod Burgherr wurde. Dank Wats Unterstützung war Emlyn in der Lage gewesen, den Haushalt der Burg weitgehend unbeeinträchtigt weiterzuführen, was sie sehr befriedigte. Sie wollte die jüngeren Geschwister so weit wie möglich vor den Folgen der momentanen Zwangslage bewahren, betrachtete sie doch die Sorge um sie als ihre wichtigste Verantwortung. Ihr Vater hatte die Kleinen Guy und ihr anvertraut, als er starb.

»Der Ruhe im Haus nach zu schließen, müssen die Zwillinge ja bestens beschäftigt sein«, sagte sie zu Tibbie.

Tibbie warf ihr aus ihren sommerblauen Augen einen belustigten Blick zu, zog ihre struppigen Augenbrauen hoch, und auf einer ihrer runden Wangen erschien ein Grübchen. »Ruhe setzt Ihr mit bestens beschäftigt gleich? Bei Kindern? Meine hochverehrte Lady, ruhige Kinder können sich bisweilen als die teuflischsten aller Kreaturen erweisen! Ihr und Euer Bruder Guy, Gott sei mit ihm – der König ist ein Bastard, vergib mir, o Herr –, ihr wart zwei Früchtchen, auf Euch aufzupassen war kein Honiglecken, und Eure Schwester Agnes und Euer Bruder Richard vor Euch – der Herr sei seiner Seele gnädig und wache über Lady Agnes in ihrem Konvent!« Sie schnappte kurz nach Luft und fuhr in ihrem Redeschwall fort: »Aber damals war ich noch jünger, und als die beiden Großen aus dem Gröbsten raus waren, habe ich mich um Euch gekümmert, genau wie ich jetzt für die Zwillinge und dieses goldige Geschöpf sorge, den kleinen Harry.«

Emlyn lächelte. »Christien und Isobel sitzen bestimmt bei einer spannenden Partie Dame.«

Belustigt über diese unwahrscheinliche Vorstellung ging Tibbie durch die kleine Diele und hängte Emlyns Cape zu den anderen auf einen hölzernen Garderobenständer. »Ich habe die beiden vor einer Weile in die Küche geschickt – sie hatten nach dem Abendessen immer noch Hunger, und der Koch hat jedem von ihnen ein Stück Pastete versprochen. Klein-Harry schlummert bereits tief und süß, Gott sei’s gedankt.« Kaum hatte sie das ausgesprochen, da gellte ein durchdringender Schrei durchs Haus.

»Bei allen Heiligen und Engeln, die Sarazenen kommen zurück!«, kreischte Tibbie und schüttelte den Kopf.

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Emlyn und rannte bereits die Treppe hinauf, die in die Schlafkammern über dem großen Saal führte. Das Tappen ihrer weichen Lederstiefel auf den unebenen Steinstufen mischte sich mit dem schrillen Echo des Kindergebrülls.

Kapitel 2

Auf dem Kamm des Hügels zügelte Baron Nicholas de Hawkwood sein schwarzes Streitroß und studierte von dort die Burg Ashbourne mit einem scharfen, analytischen Blick. Die kalte Frühlingsluft verlieh den Konturen die Genauigkeit geschliffener Juwelen, und die Burg vor ihm leuchtete wie eine vergoldete Reliquie auf einem Bett aus grünem Samt. Die hohen Kalksteinmauern, die sich inmitten weiter Wiesen und junger Nadelwälder erhoben, schimmerten golden in der späten Nachmittagssonne.

Unbeeindruckt von dem romantischen Bild kreuzte der Baron seine in Kettenhandschuhen steckenden Hände über dem Sattelknauf und fluchte lauthals vor sich hin. Jede Bewegung des Pferdes spürte er als stechenden Schmerz in seiner Wunde. Bereits seit über einer Stunde wartete er schon auf diesem Hügel, doch Graf Whitehawke schien es zu gefallen, ihn hier tatenlos herumstehen zu lassen. Erschöpft rieb er sein schmerzendes, inzwischen schon ziemlich steifes Bein. Diese Mission war keineswegs so einfach, wie der König versprochen hatte.

Er ließ seinen Blick noch einmal über die quadratisch geschnittene Burganlage schweifen und kam zu dem Schluß, daß sie von den Normannen erbaut worden sein mußte, schlicht, aber solide. Die simple Architektur des Burgfrieds, des Verteidigungswalls und der vier Ecktürme konnte wohl Jahrhunderte überdauern. Doch er wußte, daß diese Burg in ihre Hände fallen würde wie ein reifer Apfel.

Innerhalb der Burgmauern befanden sich die Dienstboten, einige wenige Söldner und eine Handvoll Kinder: kein Hindernis also für seinen Auftrag. Die Burg würde schnell und ohne viel Federlesens fallen, nicht durch Waffengewalt, sondern allein durch einen Federstrich. König Johns handschriftlicher Erlaß war an die Innenseite seines blauen Umhangs geheftet. Kraft der mit schwarzer Tinte geschriebenen und mit dem königlichen Siegel versehenen Anordnung ging die Burg Ashbourne nebst ihren umliegenden Ländereien in den Besitz seines Vaters, des Grafen Whitehawkes, über.

Verächtlich verzog Nicholas die Lippen; er wollte nichts davon.

Auf das rhythmische Geräusch von Hufschlägen hin drehte er sich um und blickte über die Schulter. Ein Ritter im grünen Umhang kam auf ihn zugeprescht und brachte seinen Schecken dann lässig neben dem schwarzen Hengst zum Stehen.

»Wo ist Graf Whitehawke?«, verlangte der Baron ungeduldig zu wissen.

Der junge Ritter sah ihn an und zuckte die Schultern. »Auf der südlichen Straße jedenfalls nicht, Herr. Ich bin einige Meilen zurückgeritten. Doch Eure Männer sind auf dem Weg hierher und mögen vielleicht mehr wissen.«

Leise fluchend schob Nicholas seine eisengeflochtene Kapuze zurück und drehte sich um. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er noch einmal die Gegend ab. Sein langes, dunkles Haar flatterte dabei in der kühlen Frühlingsbrise um seine Schultern. »Das sieht Graf Whitehawke und dem König ähnlich, im letzten Moment noch die Route zu ändern.«

Sein Gefährte rieb sich den rotgoldenen Schnauzbart und schnaubte dann zustimmend. »Ja, Mylord, genau wie es Euch und Graf Whitehawke ähnlich sieht, wieder einmal miteinander im Hader zu liegen.«

»Schweig, Perkin«, knurrte Nicholas. »Mir steht der Sinn weiß Gott nach etwas anderem, aber ich muß dem Befehl des Königs Folge leisten.« Als er sich im Sattel zurechtsetzte, fuhr ihm ein stechender Schmerz durch den Oberschenkel.

»Beruhigt Euch, Mylord. Ihr seid ja noch nervöser geworden, seit ich weggeritten bin. Was macht Eure Verletzung?«

»Nicht der Rede wert, wie ich schon sagte.«

»Wir sollten den Jäger dingfest machen, dessen Pfeil Euch erwischt hat.«

»Ach was, das ist doch nur ein Kratzer, ein kleiner Unfall«, wehrte Nicholas ab und drehte sich mit zusammengepreßten Lippen um. Niemals würde er zugeben, daß ihn ein junges Mädchen aus Versehen angeschossen hatte, als er ahnungslos durch den Wald geritten war. Er und Peter von Blackpoole – Perkin, wie er ihn schon als Kind genannt hatte – waren zusammen im Hause seines Onkels aufgewachsen und so vertraut wie Brüder. Peter war ein ausgesprochener Witzbold und hatte stets einen markigen Spruch auf der Zunge; diese Geschichte wäre ein gefundenes Fressen für ihn gewesen.

Peter kratzte sich das stoppelige Kinn. Sein Bart leuchtete wie Kupfer in der tiefstehenden Sonne, als er hinüber zur Burg Ashbourne blickte.

»Was meint Ihr, ist das junge Ding in der Burg da schon alt genug zum Heiraten?«

»Das junge Ding ist alt genug«, erwiderte Nicholas knapp. »Die vier jüngsten Sprößlinge von Rogier de Ashbourne leben noch auf der Burg. Das Mädchen ist die älteste von ihnen. Die anderen sind so um die sechs, sieben Jahre alt, vermute ich.«

Er vermutete noch mehr, behielt es aber für sich. Jahre zuvor hatte er um die Hand der zweitältesten Tochter angehalten, da er Rogier de Ashbourne noch eine Gegenleistung schuldig war. Doch der Baron starb völlig unerwartet, bevor noch ein Ehevertrag besiegelt werden konnte. Und Nicholas hatte gerade erfahren, daß König John eben dieses Mädchen seinem Vater versprochen hatte.

»Nun, sich mit mutterlosen Kindern zu beschäftigen, das ist nichts für Graf Whitehawke«, bemerkte Peter zynisch. »Er zieht sich lieber eine junge Braut und eine prächtige Burg an Land. Ihr, mein Lord, habt es nicht so gut getroffen.«

»Kaum«, brummte Nicholas. Der König hatte ihm das Sorgerecht für die drei jüngeren Ashbournes übertragen. Beinahe hätte er laut aufgestöhnt: Kindermädchen von königlichen Gnaden, was für eine Schmach für einen Ritter.

»Wo zum Teufel steckt er bloß«, knurrte er und suchte noch einmal die Straße ab. »Es ist schon später Nachmittag.«

»Vielleicht hat ihm ein Feind am Wegesrand aufgelauert«, sinnierte Peter und zwinkerte dabei fröhlich mit seinen azurblauen Augen.

»Spar dir deine Spötteleien, Perkin. Dazu bin ich heute nicht aufgelegt«, kanzelte ihn Nicholas ab. »Außerdem weißt du ganz genau, daß mein Vater keinen Fuß in einen Wald setzt, solange es einen Weg außenherum gibt. Er verspätet sich ständig wegen seines dämlichen Aberglaubens. Der Krieger, der er einst war, wird langsam zu einem alten Mann.« Er streckte sich auf seinem Pferd. »Wenn er nicht demnächst auftaucht, werde ich die ganze Geschichte hier abblasen, und zwar mit Freuden, das versichere ich dir.«

»Und Ihr werdet mit zunehmendem Alter immer ungeduldiger, Mylord. Aber für ein ausgeglichenes Wesen seid Ihr ja noch nie bekannt gewesen«, feixte Peter. Dann drehte er sich unvermittelt um und kniff die Augen zusammen. »Seht! Dort auf der alten Römerstraße nähert sich Euer erlauchter Vater.«

Die alte Handelsstraße schlängelte sich wie ein blasses Band durch das weite, grasbedeckte Hügelland. Eine Gruppe Reiter näherte sich in leichtem Galopp. An der Spitze, auf einem mächtigen weißen Streitroß, ritt ein großer Mann in schwarzer Rüstung, sein langes, schlohweißes Haar wehte in der Luft wie ein seidenes Banner.

»Na endlich!« brummte Nicholas.

»Wer reitet denn da mit ihm? Ein Trupp von dreißig Männern – nein, vierzig sind das mindestens. Ha, wenigstens hattet Ihr soviel Anstand, nur mit acht Leuten zu kommen. Und – verflucht, da ist …«

»Hugh de Chavant.«

»Dieser froschäugige Bastard«, schnaubte Peter. »Was hat der denn hier zu suchen?«

»Wie kannst du dir erlauben, so von meinem Herrn Cousin zu sprechen? Er ist jetzt der Anführer der Soldaten meines Vaters.«

Peter warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Dann hat er sich also das Vertrauen von Graf Whitehawke erschlichen.«

»Das hat er schon immer gehabt. Mein Vater hat ihm erst kürzlich eine kleine Baronie an der walisischen Grenze vermacht, doch da wohnt kaum einer. Daher muß er sich seinen Lebensunterhalt immer noch als Söldnerführer verdienen.«

»Nun, da tut er mir ja direkt leid. Als Euer Söldnerführer habe ich bis jetzt noch kein Vermögen angehäuft, Mylord«, meinte Peter nachdenklich. »Ja, als grundbesitzloser jüngerer Sohn bin ich eben gezwungen, mein Glück in der weiten Welt zu suchen«, fügte er hinzu und verdrehte dabei die Augen gen Himmel, eine jener dramatischen Gesten, die er so liebte.

»Du könntest zum Beispiel auch ins Kloster gehen und Mönch werden«, gab Nicholas zurück.

»Mein Schwert ist viel zu glücklich an meiner Seite«, lachte Peter. »Und ich sehne mich nach einem eigenen Stück Land. Die Turniere haben mir bisher nur zwei kleine Rittergüter eingebracht. Ich muß mich wohl härter ins Zeug legen, wenn ich meinen Lebensabend in Luxus und Reichtum verbringen möchte.«

»Ich würde dir liebend gerne meine Position als Whitehawkes Erbe abtreten. Erst neulich kurz vor Weihnachten hat er mich mal wieder enterbt. Aber letzten Monat, als wir wegen des Königs mit lächelnden Gesichtern gute Miene zum bösen Spiel machen mußten, erklärte er mir, daß ich nun doch auf alle Zeiten sein Erbe sein würde. Zumindest bis er wieder einen anderen Dämon in mir zu entdecken glaubt, schätze ich mal.«

Peter warf ihm einen ernsten Blick zu. »Laßt uns hoffen, daß er nicht den wahren Teufel in Euch entdeckt, Sire.«

»Ja.« Nicholas’ Miene verhärtete sich, als er sein Pferd antraben ließ. »Geb’s Gott, daß es dazu nicht kommt.«

Die gellenden Schreie kamen aus einer kleinen Schlafkammer und mischten sich jetzt mit einem noch lauteren Wutgebrüll. Emlyn blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen und stieß dann eine Holztür auf. Obwohl Isobels Gezeter aus einer tiefen Fensterlaibung heraustönte, stellte Emlyn mit geübtem Blick fest, daß sich das Kind nicht in Gefahr befand. Weiteres Gebrüll kam aus dem Bett. Emlyn schob die Vorhänge zur Seite und holte zunächst einmal den kleinen Harry heraus. Sie setzte ihn sich auf die Hüfte, schnalzte beruhigend mit der Zunge und wandte sich dann den zwei anderen Schreihälsen zu.

»Christien! Isobel! Hört sofort auf mit dem Gekreische«, befahl sie mit strenger Stimme. Klein-Harry schluchzte in ihren Armen und schlang seine warmen, dicken Beinchen um ihre Hüfte.

Christien, mit einem Holzschwert bewaffnet, hatte sich vorsorglich in eine Ecke verzogen, als seine ältere Schwester das Zimmer betrat. Mit einem einfältigen Schafsblick ließ er jetzt das Schwert sinken. Emlyn ging wortlos an ihm vorbei.

Isobel lag zusammengeringelt in der tiefen Fensternische und brüllte mit der Inbrunst einer Sechsjährigen, den Rücken an die kreuzförmige vergitterte Maueröffnung gepreßt, die im Falle eines Angriffs als Schießscharte diente. Die Öffnung in der Mauer war groß genug, um Luft und Sonne hereinzulassen, dabei aber so schmal, daß ein Kind höchstens einen Arm oder ein Bein durchstecken konnte. In früheren Jahren hatte ihr Vater dort das eiserne Kreuz anbringen lassen, zum Schutze der Kinder, die gemeinsam mit Tibbie in diesem Zimmer schliefen.

»Komm raus da«, sagte Emlyn und half der schniefenden Isobel aus dem engen Loch, worauf diese sich sofort umdrehte und ihrem Bruder einen anklagenden Blick zuwarf.

Christien stand jetzt mit gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen mitten im Zimmer. Er war stämmiger als seine zartgliedrige Zwillingsschwester, sein honigbraunes Haar schimmerte um etliches heller als ihre glänzenden, dunklen Locken, doch beide hatten sie dieselben kornblumenblauen Augen. Harry, der sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte, starrte neugierig von einem Geschwister zum anderen; seine weißblonden Locken hüpften dabei im Takt seines Schluckaufs.

»Sie ist meine Gefangene«, erklärte Christien mit ernster Miene. »Weil sie eine sarazenische Kriegerin ist!«

Isobel, die sich erstaunlich schnell erholt hatte, stampfte wütend mit ihrem kleinen Fellschuh auf. »Ich bin eine Sarazenenprinzessin! Außerdem erheben Ritter niemals ihr Schwert gegen Damen und schubsen sie auch nicht aus Fenstern!«

»Ich hab’ dich nicht geschubst! Du hast gebrüllt, weil ich dich besiegt habe. Und du bist auch keine Prinzessin!«

»Dann bist du König Richard, und ich bin deine Königin!« ereiferte sich Isobel.

»Ich will aber keine Königin!« maulte Christien zurück.

Emlyn trat zwischen die beiden Streithähne. »Schluß jetzt, ihr zwei! Das hier ist keine Bühne, sondern ein Schlafzimmer. Ihr habt Harry aufgeweckt. Und ihr wißt genau, wie gefährlich Fenster sind. Christien, du bist für deine Schwester verantwortlich. Du bist der Ältere von euch, um einige Minuten wenigstens, und wirst eines Tages zum Ritter geschlagen werden. Kein Ritter behandelt eine Lady derart respektlos. Nicht einmal eine sarazenische Lady.«

»Kriegerin«, schmollte Christien trotzig.

Emlyn sah ihren kleinen Bruder an und seufzte: »Du brauchst wirklich dringend ein paar Jungs zum Spielen. So, jetzt entschuldige dich bei deiner Schwester und vergiß nicht, deine Schandtaten in dein Nachtgebet einzuschließen.« Sie strich ihm eine weiche Haarsträhne aus der Stirn. »Und bitte den heiligen Georg, daß er dir ein bißchen mehr Anstand beibringt.«

»Jawohl, Emlyn«, brummte er und murmelte eine Entschuldigung.

In diesem Augenblick rauschte Tibbie mit wogendem Busen ins Zimmer. »Beim Horn des Moses! Was treibt ihr zwei denn hier oben? Sarazenen gegen Christen hetzen und dabei den armen Harry aufwecken! Und wo ist die kleine Dienstmagd, die ich euch mitgeschickt habe, als ihr ins Backhaus gingt?«

Isobel und Christien warfen sich einen schuldbewußten Blick zu und stellten sich Schulter an Schulter nebeneinander. »Die haben wir dort gelassen. Sie stopft sich mit Honigkuchen voll.«

»Ich werde sie mit in mein Zimmer nehmen, dann kannst du den Kleinen in Ruhe schlafenlegen«, sagte Emlyn und übergab ihr Harry, der sogleich sein Köpfchen an Tibbies Schulter bettete und den Daumen in den Mund steckte.

Emlyn scheuchte die beiden größeren hinaus, einen kurzen Korridor entlang in ihr eigenes Zimmer. »Wenn ihr leise seid, dürft ihr mir bei der Arbeit zusehen.«

Begeistert stürmten die beiden in Emlyns Schlafkammer, einen kleinen Raum mit dicken Steinmauern, und ließen sich auf eine gepolsterte Bank vor dem Fenster fallen, während Emlyn ihr nasses Gewand auszog und in ein blaues Wollkleid schlüpfte. Dann legte sie einen bestickten Gürtel an und kniete sich hin, um unter dem Bett nach ihren Fellschuhen zu suchen.

Tibbie mißbilligte die Unordnung in Emlyns Schlafzimmer zutiefst, sie aber liebte ihr kleines Tohuwabohu. Selbst die Jahre im Konvent hatten ihr ihre Neigung zur Schlamperei nicht auszutreiben vermocht. Sie hatte sich nie ganz der rigorosen Disziplin des Klosters fügen können, weshalb ihr die Nonnen oft Ungeduld vorwarfen und rieten, sie solle Gott um mehr Gleichmut bitten. Obwohl die klösterliche Abgeschiedenheit Emlyns Bedürfnis nach Ruhe und Frieden gefördert hatte, konnte sie jedoch gegen ihren mangelnden Sinn für Ordnung nichts ausrichten.

Nachdem Emlyn fertig angekleidet war, setzte sie sich ebenfalls ans Fenster und öffnete ihre dicken Zöpfe, um sich die Fichtennadeln auszukämmen. Die vom Flechten gewellten seidigen Strähnen schimmerten in verschiedenen Farbtönen: Mattes Flachsgelb mischte sich mit goldenem Weizenblond, aufgelockert durch walnußbraune Glanzlichter, dem Farbton ihrer schnurgeraden Augenbrauen. Ausgekämmt fiel ihr das Haar nun in duftigen Kaskaden über den Rücken bis zu den Hüften. Sie nahm sich nicht die Zeit, es neu zu flechten, sondern legte nur einen hauchdünnen weißen Baumwollschleier um den Kopf, der von einer seidenen Kordel gehalten wurde. Tibbie, dachte sie, würde bestimmt wieder über ihr offenes Haar meckern.

Die späte Nachmittagssonne fiel durch die bogenförmigen, mit Pfeilern versehenen Fenster und griff mit ihren goldenen Fingern nach den weinroten Brokatkissen auf der Fensterbank. Eine leichte Brise wehte herein und brachte den süßen, würzigen Duft der Obstbäume mit sich.

Emlyn atmete die kühle Luft ein, lehnte den Kopf an den Fensterpfosten und ließ den Blick über das grüne Blätterdach des Waldes und das sanft gewellte Hügelland schweifen, das die Burgmauern umschloß. Dort draußen, dachte sie, lag die unbeschränkte, wilde Freiheit, die nur wenige Männer und noch weniger Frauen erleben durften. In der Gewißheit, daß sie diese Freiheit nie würde genießen können, fragte sie sich oft, wie ein Leben ohne Mauern, Wächter und die einengenden Pflichten wohl sein mochte.

»Du hast das Nachtmahl verpaßt«, stellte Isobel fest.

»Ja, ich war im Forst und habe Bogenschießen geübt.«

»Im Forst? Allein? Eine Lady sollte nie ohne Begleitung ausgehen!«

»Es ist Frühling, und da geht der Grüne Mann um«, setzte Christien mit ernster Miene hinzu. »Paß auf, sonst haut er dir den Kopf ab mit seiner Axt.« Dazu schielte er gräßlich und ließ die Zunge aus dem Mund hängen. Isobel quiekte auf.

»Ich sollte euch in Zukunft nicht mehr so schaurige Geschichten erzählen wie die vom Grünen Ritter. Vielleicht besser die von Bevis von Hampton. Er hat gegen einen Drachen gekämpft.« Christien riß die Augen auf und nickte begeistert.

»Aber fürchtet euch nie vor dem Wald, meine Lieben. Das ist ein wunderbar friedlicher und schöner Ort.«

Meistens, korrigierte sie sich im stillen, obgleich sie beschlossen hatte, demnächst wieder in den Forst zu gehen, um ihre noch so klägliche Fertigkeit im Bogenschießen zu vervollkommnen. Ganz gleich, ob ihr wieder so ein Ritter in die Quere kam oder nicht.