19,99 €
»Joy Williams ist ein Geschenk.« Bernd Ulrich, Die Zeit Kate flieht – vor der unnachgiebigen Liebe ihres Predigervaters und um ihr Leben zu finden, die Wirklichkeit. An der sonnendurchglühten Golfküste jobbt sie als Kellnerin, schläft mit namenlosen Bekanntschaften. Im Herbst geht sie aufs College und tritt einer Studentinnenverbindung bei. Da ist, lebenszugewandter als sie, die Schar ihrer Mitstudentinnen, da ist ihr einziger Freund Corinthian Brown, der als Nachtwächter in einem schäbigen Zoo arbeitet. Und da ist Grady, ihr Mann. In einem Wohnanhänger im Wald schaffen sich die beiden eine bröckelnde Idylle, während Kate ihr erstes Kind erwartet. Was ist es, das sie ihm dort gesteht? Entkommt sie ihren Erinnerungen? Immer tiefer führen diese Fragen ins labyrinthische Innere eines Romans, der auch Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner dunkel gleißenden Intensität verloren hat. Mit Storieshat Joy Williams im Frühjahr 2023 begeistert. Nun erscheint erstmals in deutscher Übersetzung ihr Debütroman: so fesselnd wie zeitlos in seiner vollkommenen Originalität. »Joy Williams ist die vielleicht bedeutendste Schriftstellerin dieser Zeit. Schwer zu sagen, was schockierender ist: ihre historische Unersetzlichkeit oder ihr Talent.« The New York Times »Der beste Roman des Jahres.« Truman Capote »›In der Gnade‹ ist mir noch lange nachgegangen.« Jonathan Franzen
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 412
Kate flieht – vor der unnachgiebigen Liebe ihres Predigervaters und um ihr Leben zu finden, die Wirklichkeit. An der sonnendurchglühten Golfküste jobbt sie als Kellnerin, schläft mit namenlosen Bekanntschaften. Im Herbst geht sie aufs College und tritt einer Studentinnenverbindung bei. Da ist, lebenszugewandter als sie, die Schar ihrer Mitstudentinnen, da ist ihr einziger Freund Corinthian Brown, der als Nachtwächter in einem schäbigen Zoo arbeitet. Und da ist Grady, ihr Mann. In einem Wohnanhänger im Wald schaffen sich die beiden eine bröckelnde Idylle, während Kate ihr erstes Kind erwartet. Was ist es, das sie ihm dort gesteht? Entkommt sie ihren Erinnerungen? Immer tiefer führen diese Fragen ins labyrinthische Innere eines Romans, der auch Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner dunkel gleißenden Intensität verloren hat.
Joy Williams
Roman
Aus dem Englischen von Julia Wolf
So wie du hier dein Leben ruiniert hast,
in diesem kleinen Winkel,
hast du es auf der ganzen Welt verdorben.
KonstantinosKavafis
Ein Morgengrauen gibt es hier nicht. Kaum zu glauben, dass es bis zum Golf von Mexiko und dem unglaublichen, schwindelerregend weißen Licht dort nur zwanzig Meilen sind. Denn hier herrscht Dunkelheit. Wenn man hier den Himmel sehen kann, ist er meist blau, aber das Laub der Bäume ist so dicht, dass nichts hindurchdringt. Weder Sonne noch Wind. Und der Boden trocknet nie. Das Gelände vor dem Wagen ist morastig und geht nahtlos ins Flussufer über. In unseren Fußabdrücken schwimmen winzige Fische. Die Bäume sind groß und sehen immer feucht aus, als hätte sie jemand in Öl getaucht. Viele Magnolien und Eichen. Dazwischen hängen Schoten, Nüsse und spanisches Moos in ausladenden Girlanden. Der Fluss bietet das perfekte Bild eines Südstaaten-Flusses: schmal und hell, sumpfig, etwas schmuddelig und warm. Er ist in jedem Erdkundebuch abgebildet. Hat mich nicht geschockt, ihn da zu sehen. Gefreut hat es mich allerdings auch nicht, obwohl der Fluss wirklich hübsch ist.
Das rauchgrüne Moos sieht unwirklich aus. Das haben wir einer uralten Legende zu verdanken. Das Moos ist das Haar eines Mädchens, das sich das Leben nahm, weil ihr Vater ihren Geliebten getötet hat.
Das Moos fühlt sich an wie die Hände meines Vaters, die ohne erkennbaren Grund immer sehr rau waren. So viele Dinge sind gleich beschaffen. So viele Ansichten. Beinahe alle Lippen und Arme und Mittage sind gleich, Wut fühlt sich immer gleich an, und Liebe auch. Es ist anstrengend, Freude oder auch nur ein höfliches Interesse zu zeigen. Kein Wunder, dass wir alle so gereizt sind.
Die Stille hier ist schön, aber sie schrillt in meinem Kopf. Wenn ich rechtzeitig aufwache, sehe ich manchmal den Nebel vom Boden aufsteigen und zwischen den Bäumen hindurch zum Fluss schweben. Mitunter überkommt mich das Gefühl, an einem gefährlichen Ort zu leben. Der Fluss besteht nur aus dem Nebel, der auf ihm davongleitet.
Für gewöhnlich werde ich früh wach. Ich versuche mich zu erinnern, was ich ihm erzählt habe. Ich kann mir nicht sicher sein, wie viel er weiß. Manchmal, wenn wir zusammen durch den Wald laufen, bin ich völlig im Reinen mit mir und der Welt, dann glaube ich sogar, dass all die schreckliche Angst, die ich bis dahin empfunden habe, nur meinem Zustand geschuldet war. Ich weiß, dass er nachdenkt. Ich weiß, dass er überlegt, was er tun soll. Ich warte auf seine Entscheidung, denn von ihr hängt alles ab. Er hat die Wahl zwischen Leben und Tod, zwischen Erneuerung und Fortbestand. Ich habe keine Angst vor ihm. Wir sind verliebt. Natürlich wäre es das Beste, wenn er uns tötet, also Daddy und mich. Ich werde nämlich das verrückte Gefühl nicht los, dass wir sonst ewig so weitermachen. Aber dafür ist es nun zu spät. Ich muss realistisch sein. Selbst wenn er hinführe, er würde Daddy nicht finden. Und selbst wenn er ihn fände, wenn Daddy in Erscheinung träte, würde er nicht mit ihm fertigwerden. Immerhin hat Daddy die Religion auf seiner Seite, und damit Gott und den Teufel.
Ich habe nicht angeboten, zu gehen und er käme nie auf die Idee, mich fortzuschicken. Er hat schon mehrfach vorgeschlagen, dass wir zusammen an einen weit entfernten Ort reisen. Ich wäre mit allem einverstanden, aber noch bevor er sie ganz ausgesprochen hat, verwirft er seine Vorschläge gleich wieder, als kämen sie gar nicht von ihm. Und mir stehen keine Optionen offen. Wie gesagt, ich warte. Und die Zukunft wartet mit mir. Gefährtinnen wider Willen, das waren wir beide schon immer.
Und indessen verstreicht wie üblich die Zeit, oder sie bleibt stehen. Äußerlich scheint es, als würde alles seinen Gang gehen. Wir haben unsere kleinen Eigenarten und Macken. Ich habe zum Beispiel fürchterliche Essgewohnheiten. Dafür isst er kaum noch etwas. Eine Zeit lang hat er sich immer Teile von einem riesigen Wildschwein abgesäbelt, das er selbst erlegt hatte, und das Fleisch auf verschiedene Arten zubereitet. Doch die Sau ist jetzt weg, ebenso wie der Grund, sie zu töten. Wir haben uns gerne vorgestellt, er würde das Tier verspeisen, das unseren Hund zerfleischt hat. Dabei wimmelt es in den Wäldern nur so vor Wildschweinen, unter ihrem fiesen Grunzen und Brunsten erbebt die Erde. Aber die Sau ist ja jetzt weg, ebenso wie der Hund und unsere Hoffnung, einfach nur vom Land und von unserer Liebe zu leben. Früher aß er gern Grütze mit Sirup und Pekannüssen, die wir vom Baum geschüttelt haben, aber nicht einmal Erinnerungen können ihn jetzt noch stärken. Ich hingegen habe schrecklichen Hunger. Und ich liebe schlechtes Essen. Cornflakes, Törtchen, Fertigkuchen und dieses wunderbar pappige Toastbrot, Marke Dixie Darling, o ja, zwei Packungen für nur 21 Cent. Ich habe mich mal drei Wochen lang von Fruit Loops ernährt, das war, bevor ich hier rausgezogen bin. Nach ein paar Tagen fing ich an zu halluzinieren. Kann passieren. Wenn du zu viel Basilikum einatmest, wächst in deinem Kopf ein Skorpion heran. Und wenn du zu viel Rogen isst, stirbst du wahrscheinlich. Warum auch nicht? Ich musste die Fruit Loops absetzen. Alles war so groß, und ich wurde immer kleiner. Mein Zahnfleisch blutete. Die Mädchen wurden plötzlich gierig, völlig außer Rand und Band waren die, dabei war ich ja auch neugierig auf sie. Alles roch ranzig in dem großen Haus, obwohl die Lebensmittel in Einmachgläsern aufbewahrt wurden und die Mädchen sich ständig wuschen. Die immer mit ihrer öden Körperhygiene, ihren Haaren und Nägeln. Gesund waren sie wohl. Mösenstöpsel im Einsatz, garantiert fusselfrei! Und überall standen Schachteln mit gefühlsechten My-Lady-Einweg-Einführhilfen herum …
Einmal habe ich gegen die Hausordnung verstoßen und musste die Abflüsse in den Duschen reinigen. Die Betten musste ich auch alle frisch beziehen …
Hier im Wald mache ich nicht viel. Ich nehme die Stille in mich auf. Wir führen ein karges Leben, mit einigen protzigen Ausnahmen. Ich habe meine Dixie Darling-Produkte, die mich im Übrigen nie enttäuscht haben, er hat seinen Jaguar. Ein unzuverlässiger und unvernünftiger alter Sportwagen, schwarz, perfekt erhalten und so schnell. Sein Innenraum ist eine warme Höhle, in der es köstlich duftet. Der Jaguar steht neben unserem Wohnwagen, und nachmittags gehe ich oft raus, setze mich ins Auto und genehmige mir einen Drink. Das beruhigt mich. Das Leder ist tiefgelb von all der Sattelseife, mit der er es einreibt. Es riecht nach Zitrone und gutem Zaumzeug.
Nach jenem Unabhängigkeitstag hatte Daddy kein Auto mehr, auch wenn es einmal zwei gewesen waren. Daddy und ich sind überallhin gelaufen. Sonntags fuhren wir mit den Schlittschuhen über den See zur Kirche – zwei Turteltauben, meine Hand in seiner, im anderen Handschuh hielt ich zehn Pennys für die Kollekte. Eissplitter flogen unter meinen Rock, meine Augen tränten. Schnell glitten wir an diesen Sonntagmorgen dahin, ernst und leicht zugleich, und hinterließen kaum eine Spur auf dem Eis …
Er liebt seinen Jaguar – um an solch einem Wagen Freude zu haben, braucht es Geschick und Wertschätzung. Er, das ist Grady. Das sollte ich klarstellen. Grady, mein Ehemann, ein Junge vom Land, dem das verfilzte blonde Haar in die Stirn fällt. Seine Hände und das Gesicht sind gebräunt, alles andere an ihm ist lang, dünn und weiß. Er hat Ahnung vom Jagen und Fischen und von Motoren. Er liebt seinen Jaguar und auch der feuchtkalte Wohnwagen, der ihm gehört, bereitet ihm verschämtes Vergnügen. Zehn Dollar hat er gekostet. Grady hat ihn von Sweet Tit Sue gekauft, die jetzt ein Stück flussaufwärts wohnt. Sie hat ihm eine Verkaufsurkunde ausgestellt, die wir in Rimbauds Illuminationen aufbewahren. Momentan markiert sie die bekannte Stelle undschließlichfühlstduHungerundDurstistdorteinerderdichverjagt. Da steckt sie nicht immer. Zum Zeitvertreib legen wir sie auch zwischen andere Seiten und sagen einander so die Zukunft voraus. Früher hat ihm das Spaß gemacht. Die Wörter so bedrohlich, aber letztlich ohne Bedeutung. Er hat immer geglaubt, der Wald hier würde uns Glück bringen.
Jetzt wird er oft wütend auf mich. Ich fürchte, das liegt an meiner Art, den Haushalt zu führen. Nämlich gar nicht. Sein Gesicht verhärtet sich und dann spricht er so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Wir finden nichts mehr in unserem Wohnwagen, so unordentlich ist es. Und es müffelt. Mich stört das nicht. Wozu soll Ordnung schon gut sein?
Morgens habe ich immer Heißhunger. Mit einem Paar seiner Socken an den Füßen sitze ich im Schein einer Lampe und esse. Überall liegen Mäuseköttel, im Waschbecken und in unseren Schuhen und im Hundenapf. Mich stört das nicht.
Ich kaue auf dem Brot herum … wenn ich ehrlich bin, esse ich diesen Müll, um mich selbst zu beleidigen. Wie wir uns ernähren, so denken wir auch. Menge und Geschmack haben Auswirkungen auf unser Gehirn. Ich will, dass meine Gedanken immer langsamer werden und irgendwann einfach aussetzen. Ich strebe ein Gehirn an, das so freundlich und homogenisiert ist wie Süßkartoffelkuchen.
Wenn ich frühmorgens allein dasitze und esse, schiebe ich die Vorhänge zurück und beobachte die Vögel. Die Vorhänge sind alt und von der Sonne gebleicht. Sie müssen vorher an einem anderen Ort gehangen haben. Der Stoff ist mürbe und scheint unter meinen Händen zu zerfallen. Ich benutze unseren Feldstecher. Fischadler erkenne ich natürlich, Blaureiher, Spechte, Meisen und Eisvögel. Mit Enten und Habichten habe ich mehr Probleme. Ich besitze einen Vogelführer. Ich habe Listen und Tabellen, kenne die Verbreitungsgebiete und die korrekten Bezeichnungen. Und trotzdem kann ich nur wenige Vögel bestimmen. Die Vögel, die ich sehe, finden sich nicht in dem Buch. Da ist der Augenring nicht geschlossen, die Färbung der Handschwingen nicht ganz richtig, oder die Flugformation. Mitunter stimmt alles, bis auf die Silhouette. Das ist ärgerlich, aber keine große Überraschung. Vielleicht hat der Künstler, der all die bunten Bilder in meinem Buch gezeichnet hat, kein Talent, oder er ist einfach Anarchist.
Ich mag Vögel, auch wenn mir klar ist, dass sie nicht sonderlich intelligent sind. Genau darum mag ich sie. Vögel lassen sich von ihrer Umgebung nicht beeinflussen und reagieren stets gleich. Das entspricht meiner Idealvorstellung. Mit meinen unflexiblen Instinkten ähnele ich den Vögeln. Auch ich scheine nicht improvisieren zu können. Ich habe das hier ja schon einmal erlebt. Ich habe all das schon mal gesehen …
… es ist wichtiger, die Bedeutung von Dingen zu verstehen, als sich um ihre Wahrhaftigkeit Gedanken zu machen. Nach diesem Grundsatz habe ich mein Leben gelebt, aber wie effektiv das ist, kann ich nicht beurteilen. Am Ende eines Tages lässt sich nur schwer sagen, ob du ihn überstanden hast, weil du dir eine Strategie zurechtgelegt hast, oder weil du eben musstest. Ich versuche nicht zu urteilen, auch weise ich die Verantwortung für gewisse Geschehnisse von mir. Und ich versuche keine Entscheidungen zu treffen. Das führt oft zu Problemen. So bin ich zum Beispiel im fünften Monat schwanger. Noch ist es gerade so groß wie die Handfläche eines Mannes, aber es frisst und dreht sich unerbittlich in meinem Inneren. Man sieht mir nicht an, dass ich schwanger bin, und ich selbst wäre auch nie auf die Idee gekommen, aber mir wurde glaubhaft versichert, dass es so ist. Ich habe in einen Pappbecher gepinkelt und jetzt weiß ich es.
Ich würde gerne mit Grady losziehen, immer an seiner Seite sein, doch mir mangelt es an Mut, oder auch nur der nötigen Kraft. Wie das Baby hat auch Grady eine Reise vor sich. Ich werde keinen von beiden begleiten. Ich halte still, so viel kann ich sagen. Ich versuche mich nicht einzumischen. Ich verhalte mich nicht nur vorsichtig, sondern so gut wie gar nicht. Wer könnte beweisen, dass solch ein Geschöpf gelebt hat? Und wer würde es leugnen wollen?
Ja, Grady und das Baby, all diese Leute mit ihren Plänen, sie bewegen sich durch Landschaften, fallen Kulissen zum Opfer. Selbst Daddy ist irgendwann einmal verreist. Und auch ich bin vor vielen Jahren verreist, ich kann das aber nur schwer rekonstruieren. Ich glaube, ich war damals ziemlich krank. Das war im Bus. Ich habe im Bus 47 Stunden lang geschlafen. Auf dem Sitz neben mir hatte jemand eine Plastikorange liegen gelassen, so ein Flakon mit ekligem Parfüm, wie man sie an Raststätten kaufen kann. Und einen gratis Watteballen. Ich setzte mich ein paarmal um, meist, um unangenehme Sitznachbarn loszuwerden. Einer war ein sonnengebräunter Mann, der laut aus der Bibel vorlas. Ein richtiger Doppelgänger, nur ein bisschen verwahrlost, außerdem hatte er einen Sprachfehler. »Denk daran, dass mein Leben nur ein Hauch ist«, wie Semmeln vom Vortag servierte er uns die Stelle immer wieder. Nur ein Hauch, das haben wir doch alle schon mal gehört. Aber jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen.
Hier weht nicht der leiseste Hauch. In dem Waldstück, in dem Grady und ich leben, geht kein Lüftchen. Kein Wind, keine Geräusche, nichts regt sich. Mein junger Ehemann liegt flach und sittsam unter seiner Bettdecke. Er sieht zweidimensional aus. Wenn er die Augen aufschlägt, sehe ich womöglich, dass sie nur aufgemalt sind. Vielleicht kann ich ihn anziehen, ich schneide einfach Hosen, ein Hemd und eine Jeansjacke aus Papier aus, und damit alles hält, knicke ich an seinen Fußgelenken, Hüften, Taille und Schultern die Papplaschen um. Vielleicht kann ich ihm auch etwas Tee einflößen oder mit ihm an die Küste fahren und ihn in die Sonne legen. Ich schaue ihm nicht gern beim Schlafen zu, ich verlasse immer gleich das Zimmer. Sein Anblick verwirrt mich, mit ausgetrockneten Mundwinkeln liegt er da, Schaumstoff aus einem aufgerissenen Kissen um seine feuchte Wange.
Die Zeit steht hier still. Ich verändere mich nicht. Nur das Baby verändert sich. Ich will sie alle los sein. Ich will die schreckliche Zumutung loswerden, mich erinnern zu müssen.
Was man nicht alles will … früher habe ich ständig gelogen, aber ich versichere Ihnen, das mache ich heute nicht mehr.
Ich höre viel Radio. Nachts schlafe ich nur ein paar Stunden, die restliche Zeit lausche ich dem Äther. Mein Radio ist winzig, ein Transistorgerät, und der Empfang ist ziemlich schwach. Ich bekomme nur einen Sender rein. Von Mitternacht bis morgens um sechs höre ich »Action Line«. Leute rufen beim Sender an, fragen irgendetwas, reden über Gott und die Welt. Zwischendurch läuft Musik und Werbung für eine bestimmte Marke Rindfleischeintopf. Eine Frau ruft an, mit erstickter Stimme fragt sie: »Können Sie mir vielleicht sagen, warum die Füllung in meiner Zitronen-Baisertorte nicht stockt?« Leute melden sich, weil sie obszöne Werbung in ihren Briefkästen finden. Andere wollen wissen, wo sie die kleinen Fahnen kaufen können, mit denen bei der Militärparade alle wedeln.
Und da ist ein Mann, der alle Fragen beantwortet, meist prompt und live auf Sendung.
Eine Frau ruft an. Ja? »Können Sie uns sagen, wie die Spendenaktion für das Dialysegerät läuft«, fragt sie, »wie viele Betty-Crocker-Coupons brauchen wir noch?« Kann der Mann, macht er auch. Er beantwortet die Frage der Dame. Er kommt ihrer Bitte nach. Erstaunlich.
Manchmal glaube ich, dass der Mann auch mir helfen kann.
Und ich wohne beim Flughafen, was prasselt da bitte auf mein Haus, was regnet da beim Start auf mein Dach? Wir hören es doch. Ich will wissen, was für ein Dreck das ist. Meine Pflanzen sind grün, der Fernsehempfang ist auch in Ordnung, aber da geschieht etwas ohne mein Einverständnis und mir geht es nicht gut, meine Frau hatte einen Schlaganfall, außerdem wurde meine Briefmarkensammlung gestohlen und zwanzig Silberdollar auch noch.
Ja, na ja, jeder Flecken Erde hat seine dunkle Seite. Irgendwann nimmt etwas Schaden und dann ist das Land nicht mehr sicher. Es erodiert. Wenn Sie tief genug graben, um Ihren Samen zu versenken, finden Sie unter der Erdkruste eine Leere, die dem Himmel gleicht. Nein, auf lange Sicht ist nichts mit dem Leben vereinbar.
Nächster Anrufer, bidde.
Sehen Sie, hören Sie, fange ich an, das ist alles so offensichtlich. Ich will ihm schmeicheln. Unser Gespräch wird vorher aufgezeichnet, die können das also rausschneiden, aber immerhin habe ich jetzt sein Ohr. Für den Moment gehört er ganz mir. Ich verstehe Sie so schlecht, sagt er. Ich spreche deutlicher. Sehen Sie, hören Sie. Eben noch ist die Lederjacke durch die Gegend gerannt, hat das Schnitzel sein Junges gestillt, stand das Sandwich auf der Weide. An den Umhängen aus Robbenbabyfell klebt Blut. Dass die Gerüche überwältigend sind, wissen wir. Die Gliedmaßen, die in den Verbrennungsöfen der Krankenhäuser treiben. Auf der Jährlingsauktion futtern Männer in Anzügen Rennpferd-Pastete.
Okay, sagt er.
Und die Bäume verarbeiten sie zu Lügen, die sie dann publizieren, sage ich. Der Humbug, auf dem die wachsen …
Da muss ich Sie korrigieren, sagt er. Das ist Humus. Ganz wichtig für die Erde, macht sie fruchtbar. Humus.
Ich begreife, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Er schweift ab. Hören Sie, sage ich, die Spinalpunktion war kein vollständiger Erfolg, jetzt bin ich vom Knie abwärts, bis zum Fuß gelähmt, und von der Hüfte aufwärts, bis zur Nasenspitze. Eine Klage würde nichts bringen, immerhin haben sie mir nichts versprochen, auch wenn sie viel und lange geredet haben.
Sie werden sich daran gewöhnen, sagt er.
Ich dachte halt, ich wäre schon gestorben, aber der Tod ist für eine kleine Korrektur zurückgekehrt, sie haben mir eine Spritze in die Hornhaut gegeben und jetzt sind nur noch meine Augen und der Liebesapparat nutzlos. Alles, was ich vorher nicht machen konnte, kann ich nun wieder ohne Probleme tun. Ich kann essen und trinken, an den Nägeln kauen, spazieren gehen, mich zum Gebet und zum Pinkeln bücken. Sie sind sehr zufrieden mit mir.
Das kann ich mir vorstellen, sagt er.
Ich wurde sofort entlassen, sage ich eilig. Nicht einen Tag lang war ich auf der Intensivstation, die ist auch für ambulante Patienten reserviert, gewöhnliche Seemänner, Phronemaphobiker und solche Leute.
M-hm, sagt er. Es brummt und rauscht in der Leitung. Während er mir zuhört, läuft in der Sendung das Musik-Rätsel, und ich könnte ihm sagen, dass es sich bei dem Lied um »Sapphire« handelt und zwei Karten fürs Autokino gewinnen. Aber ich will gar nicht ins Kino. Ich will wissen, wann meine Stunde kommt! Wann wird mein letztes Stündchen schlagen und wann erfahre ich die Wahrheit?
Die Wahrheit, wieso, sagt er, die war da, als Sie gerade geschlafen haben. Hat gesehen, dass Sie träumen, und ist gleich wieder umgedreht.
Manche Erinnerungen haben keine Vergangenheit. Diese Kleinstadt zum Beispiel, unser Schauplatz. Der Rahmen, in dem Grady und ich steckten, ich erwähnte ihn bereits. Oft sah man dort Ziegen in den Bäumen herumklettern. Sie bevorzugten die Lebenseichen, wegen ihrer kräftigen, tief hängenden Äste. Das ist nicht sonderbar. Immerhin befinden wir uns in einer unsichtbaren Landschaft. In ihr ist fast alles unsichtbar.
Zieh nicht so ein Gesicht. Es ist ja alles vorbei. Das hier ist der Ort. Hier haben wir Gradys Wald und seinen Fluss. Dort den Waldweg. Klapperschlangen gleiten die bunten Schluchten hinab. Aus klaren gelben Tümpeln wachsen Rohrkolben empor. Da ist die Asphaltstraße, die zur Küste führt. Entlang der Straße leben die Schwarzen in niedrigen, klapprigen Häusern mit Ziegeldächern. Meertraubenbäume vor den Fenstern schirmen die Sonne ab. Die Menschen bestellen das Land. Sie haben ein paar Kälber und Hühner. Bei Ebbe wird das Vieh an den Hinterläufen an den Stegen festgebunden. Die Kormorane ruhen sich auf den Pfählen aus und lassen ihre Flügel trocknen. Überall liegen unnatürliche Berge glitzernder Austernschalen. Sie kullern auch auf die Straße, zersplittern unter den Rädern der Autos, glänzen wie Öl. Hier gibt es Wahrsager, Bars und Spaghetti-Restaurants. Ein Schild zeigt den Weg zu BRYANT’S BEASTS an. Ein anderes zeigt in Richtung College. Das alles ist nutzlos und bedrückend – eine Einfallstraße in den Südstaaten. Es ist heiß. Die Stadt ist leer. Riesige Ventilatoren wirbeln die Luft in den Restaurants auf. Im Vorbeigehen siehst du, wie sie sich drehen. Die Stadt ist unvereinbar mit ihrer Umgebung. Denk nicht weiter darüber nach. Denk an die billigen Motels, wenn es sein muss, an den Imbiss in der Drogerie, das Krankenhaus. Früher liefen mehr Katzen als Ärzte über die Flure. Denk an die Bars, an den leeren Bahnhof von De Chirico und die von Gras überwucherten Gleise, die sich gen Norden verlieren. Denk an den Highway, der an andere Orte führt.
Jetzt werde nicht ungeduldig. Den Ort haben wir, fehlt noch die Zeit. Es ist spät im Jahr, aber bald kommt der Sommer. Dein Freund Corinthian Brown verlässt ein kleines Café. Er verdaut gerade das Mittagsmenü, Pizza, Hühnchen, ein Brötchen und Kartoffeln. An der Wand neben der Kuchenvitrine hängt eine Uhr. Sie ist in einen Wasserfall eingebettet. Glänzend neonblau fällt das Wasser von den holzschnittartigen Bergen, begleitet vom Klackern und Brummen der Elektrik. Wegen der Wasserfalluhr ist Corinthian Kunde dieses Cafés. Sie gefällt auch anderen Gästen und ist oft Gegenstand von Spekulationen. »Das sind die Adironeracks«, sagt jemand. »Ich war 1953 mal in der Gegend. Ganz sicher sind das die Adironeracks. Das Wasser ist da so kalt, da frierts dir den Schniedel ab.«
Es ist früh am Morgen. Vom Vortag ist die Pizza noch kalt. Corinthian hat ein Buch bei sich, Herz der Finsternis. Wahrscheinlich hast du es ihm gegeben. Er geht zum Autoschrottplatz von Al Glick, wo er arbeitet. Gegenstände zu bewachen, die niemand mehr behelligen will, ist eine viel zu große Aufgabe für einen einzelnen Mann. Das sieht Corinthian ein. Er sieht ein, dass insbesondere Schrott zu bewachen die Aufgabe von Präsidenten sein sollte, von Kongressmännern, von Leuten, die viel mächtiger und einflussreicher sind als er. Das ist keine Aufgabe für einen mittellosen Kerl wie ihn, dessen Drohungen nicht greifen, und für den in dieser Sache nichts auf dem Spiel steht. Und doch werden jene, die am besten für diesen Job geeignet wären, nicht gerufen. Oder sie antworten einfach nicht. Also dient Corinthian. Im Gegenzug darf er schlafen, wo er will, und Al Glick lässt ihn auch seine Kochplatte benutzen. Das Angebot mit der Kochplatte nimmt Corinthian aber nie wahr, er will es nicht übertreiben. Einige der Autowracks sind sehr gut ausgestattet, und er genießt es, besonders an regnerischen Tagen, auf den vornehmen Sitzen zu sitzen und das ein oder andere gute Buch zu lesen. Einige dieser Autos sind Corinthian ans Herz gewachsen. Schließlich ist er genauso kaputt wie diese Maschinen. Nur verheizt er sich immer noch, während die Autos schon vor langer Zeit den Geist aufgegeben haben. Was nicht heißen soll, dass Corinthian Kapital aus dem Ende schlägt. Wer könnte das schon von sich behaupten? Er beschützt einfach die Dinge, die bereits besiegt und zerstört wurden. Wie wir hält er unachtsam Wache, völlig eins mit den ruhenden Gegenständen.
Aber halte dich nicht mit Gegenständen auf. Vergiss sie. Denk lieber an Corinthian Brown, wie er jetzt losrennt, er ist spät dran. In Gedanken ist er noch bei den Tieren, von denen er sich gerade verabschiedet hat. Corinthian schuftet rund um die Uhr. Bei Bryant’s Beasts arbeitet er nämlich auch noch. Ein fürchterlicher Job, der ihn sehr mitnimmt. Er macht sich Sorgen, dass er dem Strauß nicht genug Wasser gegeben hat. Er liebt die Augen des Vogels, die langen, dichten Wimpern. Er liebt seine kläglichen Flügel. Denk an Menschen, die lieben. Mit ihnen beginnen Geschichten.
Ein Morgen in den Südstaaten, an der Golfküste. Am leeren Strand zwei Mädchen. Sie essen mit Zucker bestäubte Donuts. Eine von ihnen ist oben ohne und hübsch. Sie liegt auf dem Rücken und isst. Zucker fällt auf ihre Brust. Das andere Mädchen entfernt die Krümel, manchmal mit ihrem befeuchteten Finger, manchmal mit dem Mund. Eine offensichtliche Anspielung auf eine unaussprechliche Praktik. Die Hübsche hat einen verbissenen und aufrichtigen Ausdruck im Gesicht. Die andere ist entzückt. Ihr Name ist Cords. Beiläufig küsst sie das Haar der Freundin. Aus dem Landesinneren rauscht ein Helikopter an die Küste. Er fliegt dicht über die Mädchen hinweg, dreht um, schwebt über ihnen. Sie sehen die Marinesoldaten im Helikopter, Cords winkt ihnen mit gestrecktem Mittelfinger. Wütend rattert der Helikopter am Himmel.
Weiter nördlich bewegt sich ein Zug auf die Stadt zu. In diesen Südstaatenzügen fehlt es an allem. Es gibt kein Eiswasser. Kein Fleisch, keine Blumen. Generell gibt es keinerlei Service. Der Zug fährt nicht schnell, aber er ist noch nie nicht angekommen. Es gibt keinen Fahrplan, aber der Zug ist nie zu spät. Der Zug trägt Daddy durch den Sumpf, und mit ihm das Verderben. Teile des Sumpfs stehen in Flammen. Es riecht nach Toast. Vor dem Speisewagen hat sich eine Schlange gebildet.
Die Sonne steigt noch ein bisschen höher, aber das alarmiert niemanden. Ladenbesitzer sitzen auf den Bürgersteigen vor ihren Geschäften und naschen Rosinen. Im Krankenhaus werden die Neugeborenen zum Stillen aus dem Säuglingssaal gerollt. Sie sehen aus wie kunstvolles Gebäck, das in Metallkörbchen serviert wird. Die Mütter auf der Station versuchen, geistreich zu sein, aber welche Gedanken sollten ihnen kommen? Unten im Keller, in der Notfallambulanz, verpasst ein schlecht gelaunter Assistenzarzt ein paar College-Studentinnen Tetanusimpfungen. Der Assistenzarzt ist verstimmt, weil er nur einen Hoden hat. Die Studentin, die er gestern Abend ausgeführt hat, hat auf den Anblick erstaunt reagiert. Den ganzen Abend über hat sie eine kühle Missbilligung an den Tag gelegt, und auch diese Überraschung verschlug ihr nicht die Sprache. »Ah, wie interessant«, sagte sie. »In der Mensa legen sie mir immer zum Spaß das Gemüse auf den Teller, das wie männliche Genitalien aussieht, aber so etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.« Dabei hatte er ihr so viel Shrimps gekauft, wie sie nur essen konnte, fünf Brandy Alexander hatte er ihr ausgegeben und sich die Litanei ihrer endlosen, endgültigen Ansichten angehört. Ein Mädchen mit einer wunderschönen, welligen Mähne und teuren Kleidern. Ihre Tante war Mehrheitseignerin der größten Firma für Backnatron im Land. Sie hatte ihr eine Reise nach Venedig spendiert, erfuhr er, aber ausgerechnet, so ein Pech, im Jahr der Flut. »Es war schier unglaublich«, erzählte sie. »Nicht mal Tampons konnte ich kaufen. Nirgendwo gabs Tampons.« Sie war so schön, er hatte sie mit nach Hause genommen und seine Boxershorts heruntergelassen. »Na, das ist ja irre«, hat sie gesagt und es nicht nett gemeint.
Wütend impft der Assistenzarzt eine weitere Studentin, während er seinen finsteren Gedanken nachhängt. Seine Patientinnen haben die Wagen für die große Homecoming-Parade der Universität gebaut und sich dabei an Nägeln und Maschendraht verletzt. Die meisten von ihnen sind energiegeladene Mädchen mit delligen Oberschenkeln und strahlenden, aufgesetzten Lächeln. Die Festzugswagen stehen aufgereiht in einer Sackgasse, mit Fallschirmen abgedeckt, und warten auf den morgigen Tag.
Die weiße Sonne verliert an Kraft. Grady kuppelt zwischen, als er auf den Waldweg einbiegt. Er wird noch langsamer und der Jaguar poltert dumpf über eine alte Holzbrücke. Ein Junge, ungefähr in seinem Alter, wirft seine Angel aus. Die Wasserhyazinthen färben den Fluss lila. Das Auto des Jungen, ein klappriger Ford mit verbeultem hinterem Kotflügel, parkt am Ufer. Auf dem Kotflügel steht AUTSCH geschrieben. Grady kaut auf dem süßen Ende eines Grashalms. Er fährt in die Stadt und findet einen Parkplatz vor dem Kino. Auf dem Plakat, das den Film ankündigt, sind keine Bilder. Auf den Gehweg wurden schwarze Sterne gemalt. Gähnend liegt der Tag vor Grady. Vielleicht geht er sich einen Film anschauen, nicht heute, aber bald. Er weiß nicht, wohin mit sich, fühlt sich nutzlos und nur allzu menschlich. Das Kino wirkt noch verwaister als er selbst. Die Wände sind schimmelig. Im Eingangsbereich riecht es wie bei einer frischen Ausgrabung. Grady kämmt sich die Haare mit den Fingern zurück und zieht weiter.
Nun liegt der Morgen fast hinter uns und der Verlust wiegt nicht mehr so schwer. Eine Gruppe der Landjugend sitzt auf einer Bank vor dem Supermarkt und trinkt Kakao. Eines der kleinen Mädchen hat den Ochsen aufgezogen, der beim Jahrmarkt den höchsten Preis erzielt hat. Sie sind gerade von einer Fleischfabrik zurückgekehrt. Ein Kind sagt: »Da hat er gehangen, dein alter Scoobie-Doo.« »Da hing er.« Das kleine Mädchen kichert.
Auf eine Berührung hin entfaltet sich der Mittag. Zwei Damen in knallbunten Schürzenkleidern werden von einem Mann, der so klein ist, dass sein kahler Kopf über der Rückenlehne des Fahrersitzes kaum zu sehen ist, in den Garten der ewigen Ruhe gefahren. Im Garten gibt es keine Grabsteine oder nutzlose Skulpturen. Er ist eine weite, grasbewachsene Oase an der Hauptstraße, gesprenkelt von hübschen Bäumen. Der Wagen hält. Seine Insassinnen lassen ihre Blicke über das beeindruckende Areal schweifen. Langsam steigen die Frauen aus. Eine hält ein Blatt Papier in den Händen, doch die Information darauf scheint ihnen keine Orientierung zu bieten. Auf der Straße zieht der Verkehr vorbei. Eine Oleanderhecke hält die Lebenden von den Toten fern. Höchst giftig, aber hübsch. Kinder sind schon daran gestorben, dass sie die Blumen beim Spielen im Mundwinkel herumgetragen haben. Eine sehr effiziente Hecke. Dahinter ist es fast gänzlich still. Die Frauen laufen unsicher und ungelenk auf ihren hochhackigen Schuhen. Eine singt einige Zeilen eines alten Kirchenlieds:
Doch keiner dort oben wusst es je,
in welch tiefe Kluft Er ging,
noch wie bitter und schwer war das Todesweh,
das den Hirten für uns umfing.
Sie hustet. Die beiden sind Baptistinnen, die einem entfernten Verwandten einen Topf Geranien bringen wollen. Auf einem schnurrenden Wagen gleitet ein Aufseher heran. Sie reichen ihm das Blatt Papier. Er liest, was darauf steht, dreht sich auf dem Sitz seines Rasenmähers um und deutet in Richtung eines Baums, der in Form eines im verzweifelten Gebet gebeugten Menschen zurechtgestutzt wurde. Die Frauen wackeln davon und stellen ihre Pflanze ab. Im leuchtenden Gras wirkt sie mit einem Mal blass.
Hier geht keiner verloren. Dafür solltest du dankbar sein. Absichten werden verfolgt, aber noch wird nichts angezettelt. Alles begann vor langer Zeit.
… denk doch, wie köstlich es wäre, aufzubrechen in die Ferne und dort gemeinsam zu leben! … Das ist nicht von mir. Ich bereite die nächste Lektion vor. Übersetzen. Mehr schlecht als recht, aber trotzdem schön. Tatsächlich wurde mir gesagt, ich wäre ganz gut darin, Texte neu zu übertragen. Ein Talent, das im direkten Verhältnis zum Lebensalter wächst. Im Hebräischen werden Vokale nicht ausgeschrieben, das habe ich neulich erst erfahren, und Sie können sich vorstellen, wie sehr mich die Erkenntnis verstört hat, bedeutet das doch, dass Vaters Heilige Schrift auf Konsonanten beruht. Höchst problematisch, auch wenn es natürlich einiges erklärt. Ungestört uns zu lieben, zu lieben und zu sterben in einem Lande, das dir gleicht! Wenn nur meine Ohren nicht so schlecht wären. Meine Zunge spielt auch nicht mit. In Frankreich klänge ich wie ein Kretin. Sie würden mich missverstehen. Aus lauter Verwirrung und Angst würden sie mir die einfachsten Wünsche verwehren.
Wie geht der alte Witz noch mal? Kommt ein Mann ins Geschäft und will zu Ehren seiner kürzlich verstorbenen Frau une capote noire kaufen. Ich wette, darüber lachen sie heute noch. Ich habe ihn zum ersten Mal gehört, als ich neun war, eine süße Maus mit einer Flasche Ventilöl und einem Malbuch in ihrem Trompetenkoffer, das einzige Mädchen im Orchester. Wir spielten patriotische Lieder und es war der erhabene Herrscher über den Sebago-Lake-Abschnitt Nr. 614 des Ordens der Elche, BPOE, der die Geschichte unablässig zum Besten gab. Sie war natürlich nicht für unsere Ohren gedacht. So oder so hätten wir sie eh nicht verstanden. Ich erinnere mich ja auch bloß an den Moment.
Ich war die zweite Trompete und durfte fast nie die Melodie spielen. Der Junge, der die erste spielte, hat sich Jahre später am Unabhängigkeitstag das Gemächt weggeballert.
Aimer à loisir. Hübsch, nicht wahr. Ich sitze in der Hollywoodschaukel auf der Veranda des Wohnheims und schlage die Zeit tot. Auf dem anderen Ende der Veranda fläzt sich eine Schwester, sie liest ein Buch über Proteine und Periodentabellen. An ihrem aufgestellten Oberschenkel hat sie Pickel, aber ihr Gesicht ist glatt wie eine frisch gewachste Motorhaube. Eine komplizierte, gepolsterte Konstruktion, die sie unter ihrer Bluse an ihren BH geschnürt hat, soll Schweißflecken verhindern. Die Sonne ist wie Zitronensaft, der über den Himmel gespritzt wurde. So allgegenwärtig, dass sie unsichtbar ist.
Die Schwester isst Cocktailkirschen aus einem Glas. Ich habe ihr schon oft gesagt, dass die Kirschen noch ihr Verderben sein werden. Sonst reden wir eigentlich nicht miteinander. Aber ich sage ihr immer, dass man ihr wegen der Kirschen eines Tages alles herausschneiden wird – Schließmuskel, Eierstöcke, Nieren. Dann ist sie innen matschig, wie eine Birne. Das sieht sie nicht so. Sie mag die Kirschen, weil sie keine Steine haben. Die Veranda ist übersät von Stielen und Ameisen.
Ich habe Schwierigkeiten mit ton souvenir en moi luit comme un otensoir. Ich schlage das Buch zu und betrachte träge die Straße, die sich zu den Collegegebäuden hinaufschlängelt. Ich bin zufrieden hier, warm und benommen von der Sonne. Im Haus werden die Ventilatoren angeschaltet und Wollmäuse und kleine Haarknäule schweben zur offenen Tür heraus. Das Licht strömt durch die Blätter der Orangenbäume. Die Post wird gebracht. Die Hausmutter erscheint, sammelt die Briefe ein und sortiert sie. Sie lässt die Schultern kreisen, dann wendet sie vorsichtig den Kopf von links nach rechts. Es sieht aus, als wären die Knochen in ihrem Hals miteinander verwachsen. Ich bekomme keine Post. Niemand weiß, wo ich bin. Die Hausmutter hat eine kleine Schachtel mit Waschmittel erhalten und einen Coupon für Cornflakes. Sie ist ungeheuer dick. Da muss ich gleich an den Spruch denken »in jedem dicken Mann steckt ein dünner, der raus will.« Habe ich nie verstanden. Nicht nur das, ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass das einfach nicht stimmt. Es geht nicht darum, rauszukommen. Man muss sich fragen, wer man wirklich ist. Und dann geht es darum, die eigene Rolle auch zu spielen.
Der Hund der Hausmutter frisst Ameisen. Sie schiebt ihn mit dem Fuß weg, Seite an Seite betreten sie wieder das Haus. Ihr Kleid ist so groß wie ein Bettbezug. Darum leben nicht mehr nur wir, sondern Gott lebt in uns, hat Vater immer gesagt. Die Hausmutter und ihr dünner Gott ziehen sich zurück.
Ich schaukele in der Schaukel. Ich langweile mich ein bisschen, aber das ist in Ordnung. Es ist meine zweite Saison hier. Man könnte sagen, ich bin auf der Flucht. Eine Urlauberin aus der Zukunft. Eine Aussteigerin, die womöglich nie wieder einsteigt. Ich komme zu Kräften, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich befinde mich in einer etwas heiklen Situation, müssen Sie wissen. Mein erster Gedanke als Kind war nicht erleuchtet, daher müssen auch alle folgenden Gedanken unwahr gewesen sein. Aber jetzt geht es mir sehr gut, danke. Mein Realitätssinn kehrt langsam zurück. Im Wohnheim waschen wir Mädchen uns gegenseitig die Haare und spielen Karten. Bridge, das soll gut für den Kopf sein. Wir schmeißen Partys und Tanzabende und so weiter, und im Keller halten wir Versammlungen nach parlamentarischem Prozedere ab. Unsere Farben sind Kastanienbraun und Weiß, unsere Anstecknadel ein auf dem Kopf stehendes Dreieck mit einem kleinen Diamanten an jeder Ecke – moralisch, sozial, intellektuell, gute Taten, Weiblichkeit, Ordnung –, eine Vulva aus Plastik, vor der niemand Respekt hat. Unser Motto lautet
MÖGEN WIR REIN GENUG FÜR IHN SEIN
Die Schwestern ficken alle wie die Kaninchen.
Nach dem Abendessen trainieren sie, schwitzen und hecheln. Versuchen, sich selbst zu finden. Ich bin schon oft über sie gestolpert, bei ihren nächtlichen Übungen. Ein Auge verdreht, zitterndes Handgelenk, zuckender Fuß … die Ernsthaftigkeit, mit der sie die Sache angehen, ist geradezu beängstigend.
Einmal haben sie versucht, einen Jungen einzuschmuggeln, der es uns allen besorgen sollte. Am Ersten des Monats, zusammen mit den Rechnungen und der Lebensmittelbestellung. Kein völlig unangenehmer Kerl, nur seine Nasenlöcher waren etwas zu groß. Wenn er sich für einen Kuss hinabbeugte, wogten seine Nasenhaare wie Weizen im Wind. Irritierend. Und dann war da dieses Pfeifen, als verliefen in seinem Inneren Rohrleitungen. Ich weiß nicht. Die Schwestern beschwerten sich und nahmen seine Dienste bald gar nicht mehr in Anspruch. Es hat einfach nicht gepasst. Liebe ist für diese Mädchen nämlich Voraussetzung. Eine Weile haben sie den Jungen noch hingehalten, aber er wurde immer mürrischer. Das war vor meiner Zeit. Jetzt ist er weg. Und wir sind zum guten alten Fingerballett zurückgekehrt.
Ein Jahr und einen Tag war ich fort, wie im Märchen. Im ersten Monat war die Hitze wunderbar. Ständig bin ich ohnmächtig geworden. Meine Seele erschauderte, mein Herz schwitzte und schrumpfte in meiner Brust zusammen. Ich verwandelte mich in bloße Materie, üppig, frei von Schuld, ich wurde zur Sonne. Ich war das perfekte, mutterlose Kind gewesen, und nun war ich die ideale junge Frau. Reines Fleisch, sonnengebräunt, unbeschwert und gefügig. Und doch ertappe ich mich dabei, wie ich versuche, seine Erwartungen zu erfüllen. Dabei befasse ich mich eigentlich nicht mehr viel mit Vater. Seiner Sprüche bediene ich mich noch, das lässt sich auch kaum vermeiden. Aber er ist so beharrlich. Unterbricht seine Heimsuchungen gerade lang genug, dass ich weiß, er wird immer in meinem Kopf sein, und in meinem Herzen.
Ja, ich beginne mein zweites Jahr. Wie Alkoholiker altere ich durch die Abstinenz schneller. Die ein oder andere harmlose Sache habe ich bereits gelernt. Über den Sommer habe ich in der schmutzigsten Eisdiele der ganzen Gegend gearbeitet. Was ich da alles gesehen habe! Mein Gott. Danach habe ich in einem der besten Restaurants der Stadt gekellnert. Dort ging es noch schlimmer zu. Einmal habe ich mitbekommen, wie sie in den Weißwein gepisst haben. Wichse in der Béchamelsauce. Eiter in der Kirschtorte. Ich ließ es geschehen. Wer bin ich, hohe Wellen zu schlagen? Ich hatte nur Sorge, dass Vater hereinkommt und von mir bedient werden will. Er schickte seine Stellvertreter, das weiß ich, aber er kam nie selbst. Was macht denn ein hübsches Mädchen wie du an solch einem Ort, sagten sie. Genau genommen habe ich noch keinen Mann getroffen, der ihm auch nur entfernt ähnlich sieht, aber wenn Vater der Hirte ist, sind wir alle seine willigen Lämmer.
Du hast ein hübsches Gesicht, Süße, sagten sie. Du erinnerst mich an ein Mädchen, das ich geliebt und verloren habe. Was machst du, wenn der Laden hier schließt und du deine reizenden Hände gewaschen hast?
Immer die gleichen Routinen … Über Hauptgang Nummer Sechs hatten sie alle etwas zu sagen: Fisch, Klöße und Krautsalat, unser Mittagsmenü für nur 1 Dollar 35. Auch ihr Aufzug war stets identisch – Seersucker-Jacke, schwarze Hosen, weißes Hemd – und in ihren flusigen Jackentaschen steckten dieselben Kleinigkeiten. Kamm, Nagelclip und eine Rolle Life-Savers-Lutschbonbons in verschiedenen Farben. Ich bin mir sicher, in Amerika werden 98 Prozent aller Live Savers an nicht mehr ganz junge Männer auf Abwegen verkauft. Wenn nicht sogar mehr. Mir will nicht in den Kopf, warum Gott jede winzige Schneeflocke unterschiedlich geschaffen hat, aber all diese Männer gleich.
Und trotzdem kümmere ich mich um sie, irgendwie muss ich mir ja die Zeit vertreiben, während ich genese. Ich versuche nur, wieder gesund zu werden. Ja, wir sind ausgegangen, diese Kunden, diese Konsumenten, und ich. Zur Pferdrennbahn, und da dann eine Flasche Mums. Wie sie unter dem Tisch im Klubhaus an mir kratzten, als wäre ich ein Floh. Jedes Mal, wenn sie aufstanden, zogen sie ihre Manschettenknöpfe unter den Jackenärmeln hervor, streiften mich im Vorbeigehen. Vater sieht das alles. Und bildet sich ein, es ginge von mir aus. Früher habe ich ihn überall gesehen, muss ich zugeben. In Telefonzellen, in den herzförmigen Amuletten meiner Schwestern. An manchen Morgen, wenn die Luft sehr klar ist, an schwülen, windstillen Morgen, wenn ich spüre, wie mein Kopf angestrengt versucht, sich selbst zu reparieren, höre ich, wie er mich verfolgt. Ein Geräusch wie ein Choral. Trüb. Rechtschaffen. Und dann verzweifele ich, weil ich erkenne, dass ich nur verlieren kann, selbst wenn ich schummele.
Doch der Sommer ist vorbei, jetzt ist es Herbst. Als wäre dies mein Lebensabend, schaukele ich in meiner Schaukel und beobachte die Leute, die nach dem Unterricht ins Freie drängen, wie eine hübsche Amöbe schwemmen sie die Wege, nehmen Abkürzungen über Rasenflächen, die wie Kekse in Form von griechischen Buchstaben ausgestochen sind.
Der Rasen ist äußerst akkurat, kein Unkraut, die Wurzeln und Rhizome liegen fein säuberlich im Rinnstein aufgestapelt. Das ganze Anwesen, die Fläche, auf der das College steht, hat einmal einem Verrückten gehört. Er hatte einen Zirkus, der hier residierte. Auf dem Betonrand des Schwimmbeckens ist noch der Abdruck einer Löwentatze zu sehen. Und noch ganz andere, skurrilere Dinge, auch ein paar weniger skurrile. Was für Nummern es gab! Elefanten, Bären und siamesische Zwillinge, die wirklich aus Siam kamen. Scherenschnittkünstler und Wahrsagerinnen. Ein Mann mit tätowiertem Auge und ein anderer, dem ein Organ aus dem Ohr wuchs. Eigentlich sah es eher aus wie ein Babyschnuller, aber wer würde sich das anschauen wollen? Also haben sies als sein Organ angekündigt.
Er lebt immer noch hier, der Glücksritter.
Und viele der alten Zirkusleute kehren wieder. Kleinwüchsige und wunderschöne Damen. Der Nudelmann kam zurück, bevor er endgültig nach Fez gegangen ist. Fast drei Meter groß, ganze hundertdrei Pfund. Er ging in die Kantine auf dem Campus und trank eine Tasse Tee. Ich habe ihn aber verpasst. O ja, sie lieben es, zurückzukehren, auch wenn es ihnen das Herz bricht. Ein richtiger Friedhof ist das hier. Überall sind Zirkustiere verscharrt. Und trotzdem sind alle Gebäude in bunten Farben gehalten. Sie wurden frisch gestrichen, aber die alte Farbe leuchtet unter der billigen neuen durch.
Jetzt sehe ich einen Luftakrobaten, der seine Dobermannhündin Gassi führt. Die Hündin ist läufig, streckt alles und jedem ihr Hinterteil entgegen. Der Akrobat ist alt, er sieht gut aus mit seiner Glatze. Vielleicht ist er auch Jongleur, er trägt eine paillettenbesetzte Hose. Er kommt sehr nah am Haus vorbei. Er hat Löcher in den Ohren, aber keine Ohrringe. Die Hündin zieht ihn aufgeregt hinter sich her. Sie wird ihn überleben. Ich frage mich, was nach seinem Tod mit ihr geschieht.
Eine schöne Meute ist jetzt auf den Straßen unterwegs. Jungs mit bunten Bandanas wie Apachen. Mädchen in Tennisröcken. Die Mittagssirene der Feuerwehrstation beginnt zu heulen. Alles ist in Sonnenlicht getränkt. Wie auf dem Rummel! In der Luft Drachen und Tennisbälle und der Geruch von chemischen Experimenten. Und inmitten des Trubels Vater. Langsam schlendert er dahin, als wolle er sich nur ein wenig amüsieren. Ich erschrecke nicht, ich habe ja gewusst, dass er kommt. Furchteinflößender Vater, er ist es wirklich. Augenlidloser Daddy. Unnötig, mich zu vergewissern. Ich renne von der Veranda hinauf in mein Zimmer und hole meine Kamera. Nicht mal eine halbe Minute ist verstrichen. Ich bin kein Jahr alt, nein, ich bin keinen Tag älter. Jetzt bin ich nur noch ein winziger Gedanke, der in seinem Sperma hin- und herschaukelt. Und dann gehe ich noch weiter zurück, bin nur noch blutlose Wärme, wie der heiße gelbe Schnabel eines Vogels.
Er blickt in Richtung Veranda, zu der noch immer hin- und herschwingenden Hollywoodschaukel. An seiner alten, zerbeulten Ledertasche hängt ein rotes Gepäckschild. Sein Mantel ist zerknittert. Er richtet seinen lidlosen Blick auf mich.
Le temps gagne sans tricher. C’est la loi.
Und ein weiteres Mal gehe ich zu ihm, verschämt wie eine Braut.
Um sieben rein, um elf wieder raus, heißt es bei den Waschfrauen. Wir müssen um zwölf aus dem Zimmer sein, sonst berechnen sie uns eine weitere Nacht. Vom Fenster aus sieht man die Straße. Wenn Umzüge stattfinden, führen sie hier vorbei, und bald ist es wieder so weit. Das hier ist kein schickes Hotel. Eine Unterkunft für Leute, die sich nicht vergnügen wollen, sondern einfach nur ausruhen. Eine Durchgangsstation für Reisende, die schon länger nicht mehr aufgebrochen sind. Eine andere Liga als die Motels am Strand mit ihren Hawaii-Bars und Swimmingpools. In einer Ecke vom Hof steht eine Tischtennisplatte. Über der Tür zum Büro hängt ein Schild: WIR LADEN SIE HERZLICH EIN, UNSER HOTEL ZU INSPIZIEREN. Was seltsam ist, denn sicher gibt es in Amerika viele Leute, die alles abchecken, ehe sie einchecken, aber die kommen nicht hierher. Fliesenleger steigen in diesem Hotel ab, Zeitungsreporter, die abends auf der gesteppten Tagesdecke Hühnchen essen und Wein trinken, und die Jungs, die auf den Partybooten die Haken mit Ködern versehen. Das hier ist kein Ort für begnadete Liebhaber wie uns.
Die Lampen verströmen orangefarbenes Licht, um die Insekten fernzuhalten. Vater packt seinen Koffer nicht aus. Er zieht nur heimlich Dinge daraus hervor. Ich hatte noch nie ein eigenes Geheimnis. Alle haben sie Vater gehört, er hat sie für uns beide gehütet.
Wo Grady ist? Ich habe ihn noch nicht kennengelernt. Er ist in Werkzeugkunde 1, unten auf dem Campus, und studiert. Bald wird er mich lieben wollen. Seine Hände greifen nach meiner Hüfte, seine Lippen streifen über meinen Bauch …
Verzeihen Sie, Identität war noch nie meine Stärke. Ich stelle mich ungeschickt an. Warum ist dieses Mädchen hier? War sie ein Findelkind? Ist sie krank gewesen? Sie saß auf der Bettkante. Vater stand neben dem Münzfernseher. War er zu Besuch? Oder sie? Die Adern in ihren Augenhöhlen waren weiß, ihre Nagelhäute farblos. Sie ist krank gewesen. Nicht einmal mehr genug Blut für einen Blutsturz. Prä-purulente Pubertät. Wie bei einem Zitronenbäumchen breitet sich der Verfall schleichend aus. Erst nach Jahren stirbt die Pflanze.
Und Vater sagt: »Komm mit mir nach Hause, da gehörst du hin. Lass doch die verrückten Träumereien. Du bist von mir und aus mir.«
»Ja, Daddy«, sage ich, »du kennst mich besser als Gott selbst.«
»So ist es«, sagt Vater. »Mein süßes, liebes, träumendes Mädchen. Ich war bei dir, als du geboren wurdest, ich weiß alles über dich.« Ein freudloser Triumph in seinem frommen Blick, enttäuscht sieht er mich an. Er lässt seine langen Finger über meine Wange gleiten, als würde er etwas Schlaf aus meinen Wimpern wischen. »Was ist deine Freiheit schon wert, wenn sie uns beiden nichts als Kummer bereitet?«
Ich blicke hungrig zu dem Obstkorb, der aus irgendeinem Grund in unserem Zimmer auf der Fensterbank steht und die Jalousie gegen das Fenster drückt. Vater hat ihn mitgebracht. Entfernten Verwandten würde man so einen Korb schenken, oder jemandem, den man im Krankenhaus besucht. Bananen, Äpfel, Weintrauben, Birnen, Orangen, die Früchte sind künstlich nachgefärbt und liegen plump in einem Bett aus Papiergras.
Auch eine Flasche Sekt ist dabei. Vater trinkt nicht, aber er öffnet sie für mich.
Wir sitzen in Fred’s Sunnyside Motel. Vor unserem Zimmer inspiziert Fred seine umfangreiche Hängepflanzensammlung.
Vater sagt: »Wer im Besitz der Wahrheit ist, braucht keine Freiheit.«
»O ja, Daddy, da stimme ich dir zu.«
»Was solltest du suchen, mein Liebling, was dich von mir fortführt?«
Ich mache es kurz. »Das sage ich dir, Daddy: Liebe. Ich habe Liebe gesucht.«
So viel Güte liegt jetzt in seinem Blick. Aber er ist müde von der langen Zugfahrt. Ein Auge schließt sich, das kaputte bleibt offen und gleitet mit einem sanften, vagen Hauch über mich hinweg. Wenn ich nur wüsste, was ich vor so langer Zeit schon gewusst habe … und was kann man schon von den Blicken des eigenen Vaters erwarten? Die flüchtige Berührung eines Schattens in den tapezierten Wänden des Geists. Er schüttelt so langsam den Kopf, dass ich ein Foto davon schießen könnte, ich fummele nach der Kamera, die alles ist, was ich dabeihabe. Nur ich und meine defekte Kamera, herrenlos wie ein neugeborenes Baby habe ich dieses Zimmer betreten. Ich musste mir die Zähne mit dem Finger putzen, mir die Nägel an der Betonwand kürzen, und ich sitze hier in Unterwäsche, weil meine Wäsche auf der Stange des Duschvorhangs trocknet.
O wie wohlwollend er mich anschaut. Wenn ich das nur festhalten könnte! Die Entfaltung eines Rendezvous. Damit ließe sich ein Vermögen verdienen, man müsste nur die Abläufe perfektionieren. Ich habe meine Kamera, aber in der Linse ist Schimmel – Schaffell, verdeckt und enthüllt, ein Gleichnis – das kommt vom Leben am Meer, zu viel Feuchtigkeit. Ich trage die Kamera trotzdem mit mir herum, in der hilflosen Hoffnung, dass sich der Defekt selbst korrigiert. Aber nicht einmal der Film in der Kamera taugt noch. Er ist schon alt. Ich bin darauf reingefallen, KAUF MICH ZUERST, ICH BIN REIF, darauf falle ich immer rein. Schließlich habe ich ein Gewissen. Ich habe den Film in einem heruntergekommenen Laden von einem heruntergekommenen Mann gekauft, ganz blond war der, im Gesicht und auf dem Kopf, wegen seiner Leber. Hat wie Sülze gezittert, als er meine Einkäufe in die Tüte packte. Sechs Rollen Film, eine gebrauchte 35-mm-Yashika, und nichts davon funktioniert. In dem Moment, in dem ich den Laden verließ, war der Film schon zu nichts mehr zu gebrauchen. Kommt wohl öfter vor, ich hatte nur noch nie davon gehört.
Nebenan geht die Klospülung, Kichern und Geraschel ist zu hören. Wir haben die beiden aus der Nummer 6 gesehen, zwei trottelig grinsende Teenager, tragen die gleichen Klamotten, sind aber nur im Sternzeichen Zwillinge. Was für eine Arbeit das sein muss, an einem Ort wie diesem auch nur die Sanitäranlagen instand zu halten!
Vater tritt sehr nah an mich heran. Kühl liegt der Blick aus seinem eingefrorenen Auge auf mir. »Hier wirst du nur Schaden anrichten, Süße«, sagt er. »Das ist eine fürchterliche Stadt, hier gibts nur Verschwendung und Hass. Ich habe es sofort erkannt. Irgendein Unglück wird hier geschehen. Ich sehe die Erwartung in ihren Gesichtern. Warum hast du hier haltgemacht?«
»Ich wollte weiterfahren.«
»Du hast auf mich gewartet.« Vater legt die Hand auf mein Haar. »Ich habe mich um dich gekümmert. Du warst so ein hinreißendes Kind. Damals habe ich dir die Haare gewaschen und gebürstet. Du wolltest immer, dass ich dir die Haare bürste. Möchtest du, dass ich dir jetzt die Haare bürste?«
»Ich habe auf meine Weiterreise gewartet«, sage ich.