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Man kann Theodor Fontanes wohl bekanntesten Roman EFFI BRIEST als radikale Gesellschaftskritik lesen, als Kritik an der preußischen Gesellschaft seiner Zeit. Es sind deren Regeln, die dazu führen, dass das Schönste, was eine Gesellschaft hat, ein lebensfrohes, hellwaches, offenherziges Mädchen, zerstört wird - ohne dass jemand ihm ernsthaft etwas Böses will. Nur die geltenden Normen werden befolgt. Welche Rolle spielt dabei ihr Ehemann, der bei Fontane seltsam blass gebliebene Beamte Geert von Innstetten? Inwieweit ist er Täter? Oder Werkzeug? Oder selbst Opfer gesellschaftlicher Zwänge? Innerhalb der Spielräume, die die Handlung des Fontaneromans lässt, wird die Geschichte dieses Mannes erzählt. Von Ehrgeiz und Pflichtgefühl bestimmt lebt er in dem Bewusstsein, er könnte seine Gefühle dem Lebensplan unterordnen, den er sich im Rahmen der gesellschaftlichen Erwartungen gegeben hat. In der Beziehung zu Effi stößt er freilich schnell an seine Grenzen. Während auf der einen Seite der berufliche Erfolg einen festen Rahmen zu geben scheint, werden auf der anderen Seite Unsicherheiten und Fehleinschätzungen immer bestimmender für sein Leben. Bis eine tiefe Krise seinen Horizont erweitert.
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Prolog
Kapitel
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Nachwort
Geert von Innstetten, 20 Jahre, Leutnant mit guten Karriereaussichten, näherte sich dem Eingang des Herrenhauses, wie er es in den letzten Monaten oft getan hatte. Sein Herzklopfen war immer das gleiche geblieben, seit er bei seinem Antrittsbesuch im Hause Belling der Tochter Luise begegnet war.
Bei der ersten Begrüßung, als er ihr ins Gesicht schaute, bereits da begann Aufregung in seinem Körper zu arbeiten. Er sprach wenig, es kam ihm jedoch vor, als ob sie seine bescheidenen Einwürfe ins Gespräch besonders schätzte und ihn beim Abschied länger ansah als die anderen.
Am Abend stand er dann in seinem spartanischen Quartier am Fenster. Die Kaserne war ruhig geworden. Da wurde ihm das ganze Ausmaß seiner Erschütterung bewusst. Die Aufregung war unvermindert wieder da und Sehnsucht schien ihm auf die Kehle zu drücken. Zugleich aber fühlte er sich leicht, fast als ob er schwebte. Das war es also! Verliebt.
Innstetten besuchte Luise oft, auch als keiner der Kameraden ihn mehr begleitete. Er verzichtete auf größere Gesellschaften, wenn Luise nicht teilnahm. Und war sie dabei, tanzte er jeden Tanz mit ihr.
Am schönsten aber war es, wenn sie allein miteinander reden konnten. Und es gab nichts, was sie nicht begeisterte. Der kleine Park, der das Gutshaus an seiner Rückseite schmückte und an dessen Anlage Luise hatte mitwirken können, war ihnen Metapher für Schönheit und Kunst. Sie sprachen über die Romane von Walter Scott und Gustav Freytag und über die Antikengalerie in Berlin. Zum ersten Mal erlebte Innstetten, dass seine Liebe zu Kunst und Literatur geteilt, ja dass sein Wissen neid- und rückhaltlos bewundert wurde.
An Blicken und scheinbar unabsichtlichen Berührungen merkte er, dass sein Gefühl erwidert wurde. Nie sprachen sie über die Zukunft. Sie lebten, als ob es immer so weitergehen könnte. Bis er eines Tages nicht von ihr, sondern von der Bellingschen Hausmamsell empfangen wurde: Das gnädige Fräulein könne ihn nicht mehr sehen, es sei seit gestern mit dem Herrn von Briest verlobt, der auf Hohen Cremmen ein Rittergut besitze. Noch als sie sprach, war Luise dann doch erschienen. Sie hatte Tränen in den Augen. „Wie lange hätte ich auf Sie warten müssen“, sagte sie nur. „Fünfzehn Jahre? Zwanzig Jahre?“
Nachdem die Tür geschlossen war, stand Innstetten noch Minuten. Er versuchte sich zu ordnen, aber es gelang ihm nicht. Mit einer übertriebenen Geste schickte er den Burschen mit den Pferden zurück. Er ging zu Fuß, den ganzen Weg zur Kaserne. Er schrie den Himmel und die Bäume an und weinte, während er sich vorwärts schleppte. Am Eingang der Kaserne brach er zusammen. Friedrich, sein Bursche, hatte auf ihn gewartet und trug ihn hinein.
Fünfzehn Jahre später saß Friedrich in der Küche einer Berliner Bürgerwohnung. Vor sich auf einem Brett hatte er ein Stück Schinken liegen, nicht sehr groß, aber wunderbar. Und wenn er eine Scheibe davon in den Mund gleiten und dort ein wenig ruhen ließ, dann wusste seine Zunge sehr wohl das Rauchige vom Salz und dieses vom zarten Fett zu unterscheiden, was im Zusammenspiel einen Wohlgeschmack erzeugte, der alle Versprechungen vom himmlischen Paradies für eine Weile vergessen machte.
Der Genuss freilich hatte seine Voraussetzungen. Man musste sein Zeug in Ordnung halten, das Messer musste haarscharf geschliffen sein, um die Scheiben so fein zu schneiden, dass sich jede einzelne Faser der Zunge anschmiegen konnte. Und man musste früh sein, früher als die Herrschaft aufwachte. Das Wohlgefühl brauchte ungestörte Ruhe. Denn wenn man eine dieser hauchdünnen Scheiben auf der Zunge liegen ließ, bevor man sie kaute und hinunterschluckte, dann wollte man nicht, dass jemand rief.
Früh musste man auch sein, um den Markt in der heiteren Ruhe anzutreffen, die sich einstellte, wenn die allerersten Käufer kamen, während die Bauern noch dabei waren ihre Stände einzurichten. Da war er der Einzige bei der jungen Bäuerin, bei der er oft die Wurst einkaufte. Sie hatte ihre beiden Kleinen dabei, aber das hinderte sie nicht, ihm frei in die Augen zu sehen. Es war ein Moment, in dem beide lächelten. Heute war ihr Lächeln in ein glucksendes Lachen übergegangen, als sie mit einem Augenzwinkern auf diesen wunderbaren Schinken wies, der noch ganz unversehrt hinter dem Kraut zu sehen war. Friedrich konnte nicht anders als zu nicken, und schon hatte sie mit einem Schnitt ein Stück für ihn. Und für ihre Auslage eine glatte, rosigweiße Fläche, die sich einladend dem nächsten Käufer zuwandte.
Friedrich hätte sie umarmen und ihr einen Kuss auf den Mund drücken mögen. Er tat es nicht, legte aber in seinen Dank so viel Nachdruck, dass sie seine Rührung bemerken musste. Jetzt, da er auf dem Schemel am Küchentisch saß, wärmte die Erinnerung noch einmal sein Herz. Er hätte nicht sagen können, was Glück mehr war als ein solcher Augenblick.
*
Der Tag begann auch für die Herrschaft nicht schlecht.
In den hellsichtigen Sekunden des Aufwachens strömte der ganze Unrat seines Amtes auf Innstetten ein: die Vertuschungen und Durchstechereien, Starrköpfigkeit und pure Dummheit, die Macht der Selbstgewissheit und des Reichtums. Ein Dickicht, in dem er sich gefangen zu haben schien. Innstetten kannte das, er kannte die Wucht, mit der die Angst wie ein Fangeisen die Brust umklammern konnte. Jetzt aber, als das Gefühl sich lichtete, öffnete sich ein überraschender Gedanke: Dass nämlich ein Sysiphus nicht unglücklich sein musste.
Friedrich, der ihm den ausgebürsteten Anzug brachte, fand seinen Herrn ein Liedchen summend. Das Frühstück aus einer Schale Gerstenkaffee und einer Scheibe Mischbrot tat gut. Es war wohl der richtige Tag, um eine Nachricht zu erhalten, die das Leben verändert, auch wenn die ganze Bedeutung der Neuigkeit zunächst noch nicht im Entferntesten zu erkennen war.
*
Im Korridor des Ministeriums trat ein Bürodiener auf ihn zu und meldete mit einer knappen Verbeugung, eine wichtige Depesche sei für ihn eingetroffen, sie liege auf seinem Schreibtisch.
Wenn er sich später an diesen Moment erinnerte, kam es ihm vor, als ob der Optimismus der frühen Stunde hier schon an Kraft verloren hätte. Im Augenblick selber war er sich dessen nicht bewusst. Er merkte nur, wie er zögerte, und sah erst einmal nach, wer von den Beamten schon anwesend war. Erst als er sich versichert hatte, dass bis auf wenige Ausnahmen nur das Hilfspersonal in den Räumen anzutreffen war, ging er in sein Büro und öffnete die Depesche. Sie kam vom Präsidenten des Staatsministeriums selbst. Der Inhalt war knapp: Er wurde für den übernächsten Tag, morgens 10 Uhr, ins Staatsministerium einbestellt.
Solch eine Nachricht lässt niemanden kalt. Das Herz klopft. Im Magen wird Leere spürbar. Der Kopf sucht eine Erklärung. Fehler in seiner Arbeit? Hatte er etwas übersehen? Sein Kontakt mit den Kollegen war nicht der beste, hatten sie ihm etwas verschwiegen? Ihm eine Falle gestellt? Wurde seine Art, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, als unangemessen angesehen?
Es hielt ihn nicht im Gebäude, dem Bürodiener gab er Anweisungen, er sei bis Mittag außer Hause, am Nachmittag wieder zu sprechen. Dann ließ er eine Kutsche kommen und sich zum Tiergarten fahren. Dort lief er zwei Stunden durch die um diese Zeit wenig bevölkerten Wege, ohne einen einzigen Gedanken, der ihn weiterführte. Erst als er so etwas wie Leere in seinem Kopf spürte, war ihm wohler.
„Nein“, sagte Innstetten, „das machen wir nicht.“ Levetzow, der mit übereinander geschlagenen Beinen in einem Sessel am anderen Ende des Raumes saß, antwortete nichts. Sein Lächeln war Zustimmung und ironische Überhebung zugleich.
Die Sache war die: Einige Gutsbesitzer hatten in den vergangenen Jahren entlang der Trasse eines von Berlin zur Ostsee und den östlichen Gebieten des Landes geplanten Kanals Land erworben und forderten nun, da die Planung in die entscheidende Phase kam, beträchtliche Entschädigungen. Der inzwischen umfängliche Briefwechsel und die persönliche Vorsprache einiger Beteiligter im Handelsministerium sorgten dort für einige Unsicherheit. Einen Präzedenzfall gab es nicht, und allgemein war man der Meinung, je mehr Zeit bis zu einer definitiven Entscheidung vergehe, umso günstiger seien die Aussichten der Grundbesitzer.
„Wir werden das nicht tun“, wiederholte Innstetten, „und wenn ich die Angelegenheit dem Staatsministerium vorlegen muss. So durchsichtig, wie das Geschäft angelegt ist, wird niemand das Spekulative leugnen können.“
„Kommt darauf an“, sagte Levetzow, „bei wem du beliebt sein willst. Gramkows Verbindungen bei Hofe sind bekannt.“
Er saß da in seiner souveränen Weltläufigkeit. Gardeoffizier mit besten Aussichten, dabei Erbe eines der einträglichsten Güter in Vorpommern.
Innstetten schaute aus dem Fenster. Es war die Gattin seines Freundes, die unvermittelt seine Gedanken einnahm. Sophie von Levetzow. Auf einem Offiziersball hatte er sie kennen gelernt, und es war das erste Mal seit seinen Jugendjahren, dass ihn beim Anblick eines Menschen Wärme durchflutete. Sie hatte bei der Begrüßung gelächelt. Als sie mit gleichgültiger Geste den Arm ihres Mannes ergriff, der sie zum Tanz führte, war ihr Blick noch eine Weile bei ihm geblieben.
„Ich höre“, sagte Levetzow in die Stille hinein, „du bist ins Staatsministerium geladen. Der Präsident selber soll dich sehen wollen. Was liegt denn vor?“
„Ich weiß es nicht. Möglich, dass es mit der Kanalsache zusammenhängt.“
„Wenn es sich um eine Maßregelung handelte, würde schwerlich der Präsident selber sich damit abgeben.“ Levetzow wurde ernster: „Dir ist doch bewusst, dass in diesen Monaten über deine Zukunft entschieden wird. Man hört von Positionen, die vakant geworden sind. Wenn sich jetzt nichts ändert, wirst du ewig an diesem Schreibtisch kleben. Ein Streit, in den womöglich die allerhöchste Ebene hineingezogen wird, kann dir dabei den Hals brechen. Und unterschätze den Gramkow nicht, er wird sich nicht von einem Beamten wie dir seine Geschäfte durchkreuzen lassen. Er wird seine Verbindung zum Prinzen nutzen.“
Innstetten versuchte sich klar darüber zu werden, ob er dem Freund für sein Interesse dankbar oder ob er ärgerlich war. Seine Entscheidung war getroffen. Jetzt noch daran herum zu deuteln, wäre ihm billig und klein vorgekommen. Warum also noch darüber reden?
Innstetten ließ die Mietdroschke im Wedding am Nettelbeckplatz halten. Er wollte nicht, dass sein Ziel bekannt würde, und er mochte es auch, noch etwas Zeit zu haben seinen Gedanken nachzuhängen, während er durch die Straßen ging. Er ging oft zu Marie. Ohne dass er es recht bemerkt hatte, war sie ein Teil seines Lebens geworden. Es gefiel ihm, wie sie seine Sinne reizte und dabei weich und anschmiegsam blieb. Das gab ihm Ruhe. Für eine Weile.
Wie wenig er über Marie wusste! Nie hatte er gefragt, woher sie kam, wie sie zurechtkam, was sie vom Leben erwartete. Erst kürzlich hatte er erfahren, dass sie eine Tochter hatte. Er bog in eine schmale Straße, in der auf beiden Seiten noch kleine Kolonistenhäuser standen. Die Gärten waren allerdings zu einem großen Teil von den Hinterhäusern der Mietskasernen weggefressen, die man in den letzten Jahren gebaut hatte.
Als er vor der schmalen Tür des Häuschens stand, spürte er, dass der Ärger und die Erregung noch in ihm waren, die das Gespräch mit Levetzow entzündet hatte. Natürlich würde sich etwas ändern, vielleicht würde nichts bleiben, wie es war. Ein paar Augenblicke stand er da. Dann klopfte er an.
*
„Seit Sie kommen, Herr Baron“, sagte Marie, nachdem sie den letzten Knopf am Mieder geschlossen hatte, „hab ich’s mit keinem anderen gemacht. Das sind nun fast zwei Jahre.“ Sie stand vor ihm, schaute hoch, ihre Handflächen lagen auf den Falten ihres Rocks. „Es reicht nicht mehr. Das Geld. Lene wird dreizehn. Sie braucht anständige Sachen. Und Schuhe.“
Innstetten zögerte. Als ob ihm erst jetzt klar geworden wäre, dass er Marie bezahlte. Er hätte nicht sagen können, was ihn daran störte. Einen Moment schaute er an ihr vorbei aus dem Fenster. Dann sah er sie an. Sie stand noch mit herunterhängenden Armen, ihr Kopf war etwas tiefer zwischen die Schultern gesunken.
Innstetten antwortete spät und in einem Ton, in dem man über Verpflichtungen spricht:
„Ja, selbstverständlich. Du hast sicher Recht.“
Er griff ihn seine Jacke, holte die Brieftasche heraus und gab ihr ein paar Scheine.
„Danke“, sagte sie und lächelte ein wenig. Die Anspannung war nicht aus ihrem Körper gewichen.
Innstetten spürte jetzt seine eigene Verlegenheit. Seine Gedanken waren nicht hier.
„Ich verstehe dich schon“, sagte er, „du musst für deine Tochter sorgen. Lene heißt sie? – Ein schöner Name.“
Aber das nützte nichts. Ihr Lächeln war gezwungen, als sie sich verabschiedeten. Und seine Gedanken waren schon wieder im Ministerium, als er auf der Straße war und zum Nettelbeckplatz ging.
Der Ministerpräsident hatte eine Ausstrahlung, die sein ganzes Umfeld in Anspruch nahm, und dies, obwohl er nur selten jemanden anschaute, ja geradezu in sich gekehrt wirkte. Diese Aura verdankte wohl er der absoluten Bestimmtheit seiner Äußerungen, alles um ihn herum schien ständigem Zweifel unterworfen, er nicht.
Innstetten war von einem Behördendiener in den Saal geführt worden, in dem das Staatsministerium tagte. Man wies ihm einen Platz in der Stuhlreihe an der Wand zu, in der neben ihm einige jüngere Männer saßen, offensichtlich Assessoren und Referendare, denen gute Beziehungen hier einen Platz verschafft hatten. Am langen Verhandlungstisch erkannte Innstetten Minister, höhere Ministerialbeamte und eine Reihe von Landräten, woraus er schloss, dass auch die übrigen Anwesenden Landräte waren.
Als der Ministerpräsident eintrat, erhoben sich alle. Er setzte sich mit einem kursorischen Blick auf die Anwesenden und begann nach kurzer Begrüßung seinen Vortrag:
Die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung auf dem Lande habe zum Ziel gehabt, Umfang und Bedeutung der Bürokratie zu verringern. Das Gegenteil sei eingetreten. Die Zahl der Beamten und ihre Geschäftslast sei durch die Korrespondenzen und Friktionen mit den Organen der Selbstverwaltung vom Provinzialrat bis zur ländlichen Gemeindeverwaltung erheblich gesteigert worden.
Vorher habe der Landrat den Abschluss der Bürokratie nach unten gebildet. Er habe eine Art Januskopf getragen, ein Gesicht der Bürokratie, eines dem Lande zugewandt. So habe er dem Staate und der Bevölkerung gleich nahegestanden. Heute sei er im Wesentlichen Kontrollorgan des Staates, das die subalternen Behörden, namentlich die Amtsvorsteher, unter Androhung disziplinarischer Strafen anhalte, im Sinne der staatlichen Hierarchie die Bevölkerung mit Listen, Meldungen und Zumutungen zu belästigen. Früher seien die Landräte, aus dem Kreise stammend und in der Regel entschlossen, dort ihr Leben zu verbringen, mit den Leiden und Freuden des Kreises vertraut gewesen. Auf der Grundlage dieser Kenntnis seien ihre Entscheidungen zwar nicht immer unparteiisch, aber aus den Verhältnissen begründbar und selten unangemessen gewesen.
Heute sei der Landratsposten die unterste Stufe der höheren Verwaltungslaufbahn, gesucht von jungen Assessoren, die den berechtigten Ehrgeiz haben, Karriere zu machen. Dazu bedürften sie der ministeriellen Gunst mehr als des Wohlwollens der Kreisbevölkerung und suchten erstere nicht nur durch hervorragenden Eifer zu gewinnen, sondern auch indem sie die örtlichen Behörden, namentlich die Amtsvorsteher bei Durchführung zum Teil auch minderwertiger bürokratischer Versuche für ihre Zwecke einspannten. Darin liege ganz wesentlich der Anlass zur Überlastung ihrer Untergebenen in der angeblichen Selbstverwaltung. Diese sei also Verschärfung der Bürokratie, Vermehrung der Beamten, ihrer Macht und ihrer Einmischung ins Privatleben.
Der Ministerpräsident machte eine kurze Pause, schaute die Reihen am Tisch entlang, dann auf die Stuhlreihe an der Wand und ließ, bevor er weitersprach, seinen Blick einen Moment auf Innstetten ruhen.
Er erwarte von seinen Landräten eingehendste Kenntnis der Verhältnisse in ihren Kreisen und die Bereitschaft, korrekte, aber wohlwollende Beziehung zu den Amtsträgern und anderen Personen von Einfluss zu pflegen. Vor allem jedoch erwarte er die Fähigkeit, anstehende Entscheidungen eigenständig, zügig und wohlbegründet zu treffen. Auf der anderen Seite verlange er von der Ministerialbürokratie die Bereitschaft, den Landräten, wenn sie denn einmal für fähig erachtet worden seien, ebenjene Freiheit der Entscheidung auch einzuräumen.
Zum Schluss seiner Ansprache führte er mehrere Beispiele für ein erfolgreiches Zusammenwirken von Staats- und Kommunalverwaltung aus, fasste abschließend den Kern seiner Forderungen zusammen, schaute noch einmal in die Runde der Anwesenden und verließ nach einem knappen Nicken den Saal, ohne dass jemand anders zu Wort gekommen wäre.
Innstetten hatte den Blick des Ministerpräsidenten nicht deuten können. Zweifellos fiel er als älterer in der Reihe der Assessoren und Referendare auf, aber begründete das so viel Aufmerksamkeit? War er hier eine Art Fremdkörper? Oder erinnerte sich dieser Mann, der heute nicht nur Präsident des preußischen Staatsministeriums, sondern Kanzler des ganzen Reiches war, tatsächlich noch an die kurze Begegnung in Paris während des Krieges? – Flüchtige Gedanken, die schnell unterbrochen wurden. Unmittelbar nach dem Abgang des Ministerpräsidenten trat der Diener wieder auf ihn zu und bat, ihm zu folgen.
Ein veränderter Ministerpräsident empfing ihn. Er hatte sich mit seiner ganzen Person dem Gast zugewandt, bat mit moderater Wärme in der Stimme am Rauchtisch Platz zu nehmen, ließ zwei Gläser Portwein bringen und man trank sich zu, in einer Weise, als gäbe es einen Erfolg zu feiern.
„Ich brauche jemanden mit langem Atem“, begann er, „Ihre Behandlung der Kanalsache hat mir gefallen, und ich betrachte es als einen günstigen Umstand, dass die Kessiner Landratsstelle vakant wird.“ Er erläuterte in knapp die Situation des Landkreises und die in seiner peripheren Lage begründeten besonderen Umstände. „Sie sehen“, schloss er, „in ungewöhnlich hohem Ausmaß sind hier Kenntnisse und Einsatz des höchsten Kreisbeamten vonnöten. Sie sind der richtige Mann dafür. Zu den Einzelheiten fragen Sie Wüllersdorf, er kennt sich vorzüglich aus.“
Einen Augenblick kam es Innstetten vor, als ob alles gesagt wäre, ihm nichts mehr zu sagen übrigbliebe. Dann fiel ihm Gramkow ein und er nahm die Gelegenheit wahr, von dessen energischer Einflussnahme zu berichten. Der Ministerpräsident blieb eine Weile stumm. Als er dann sprach, war die Wärme aus seiner Stimme gewichen: „Es ist unumgänglich“, sagte er, „die beteiligten Personen ihrem Gewicht nach in Betracht zu ziehen.“
Man verabschiedete sich ohne weitere Umstände.
*
Unbändige Freude, Triumph, in Allmacht schweben, das Gefühl, als ob sich der Brustkorb öffnete: Innstetten merkte kaum, wie er die Stufen der breiten Freitreppe hinab schritt. Ein wenig überraschte es, dass nicht der weite Sternenhimmel sich über ihm wölbte, sondern eine fahle Mittagssonne schien.
Er war schon einige Straßen weiter und gerade auf den Gendarmenmarkt eingebogen, als er zum ersten Mal wieder etwas außerhalb seiner selbst wahrnahm. Es war ein luxuriöses Cabriolet, das auf dem Platz gehalten hatte, um ein elegantes Paar aufzunehmen. Sophie von Levetzow hatte kurz zu ihm herübergeschaut, sich dann abrupt ab und ihrem Begleiter zugewandt, einem Offizier, der ihr mit Gesten der Vertrautheit in den Wagen half.
Stella hatte eine Kammer für sich, auf halber Treppe. Das war ihr wichtig, denn seit sie begonnen hatte, eine Frau zu werden, hatte sie gelernt. Gelernt, dass allein ihr schöner Name niemanden dazu veranlasste, sie glücklich zu machen.
Der Mutter war das Kind ein Juwel gewesen, das ihrem Leben ein Ziel gab und das sie mit ihrer Arbeit als Kneipenbedienung durchbrachte. Das änderte sich, als Stella gerade vierzehn geworden war und die Mutter nach ihrer Arbeit gegen drei Uhr morgens das gemeinsame Zimmer leer vorfand. Den Rest der Nacht lief sie im Viertel herum, bis sie Stella allein und frierend auf dem Marktplatz fand. Sie war so glücklich, dass sie nicht einmal schimpfte, und Stella hatte es auch nicht böse gemeint. Sie war neugierig geworden auf die Welt.
Die Mutter wusste nun, dass sie das Juwel nicht würde im Schatzkästlein halten können, und machte sich auf die Suche nach einer Stellung für sie, als Dienstmädchen. Aus einem Grund, den sie selbst nicht hätte sagen können, wollte sie sie nicht in einen großen Haushalt geben. Sie fand die Familie eines Technikers für Elektromotoren, die sich nur einen einzigen Dienstboten leisten konnte.
Es dauerte Wochen, bis Stella das Unglück der Trennung von der Mutter überwunden hatte. Die Hausfrau war streng, aber nicht ungerecht. Öfter gab es Schläge auf die Hände und einmal sogar den Rohrstock aufs Hinterteil. Aber Stella begann zu lernen, und das Wichtigste, was sie lernte, war, dass niemand außer ihr selbst für ihr Glück sorgen würde.
So kam es, dass sie eines Morgens auf dem Markt einem Mann zulächelte. Er war bestimmt schon über dreißig und hatte etwas von einem Ulanen. Der Mann lächelte zurück und am nächsten Morgen war er wieder da. Er hatte ein großes Praliné dabei, das er mit seinem Messer in der Mitte zerteilte und das sie gemeinsam lächelnd genossen. Am Abend sah sie ihren Ulanen unten auf der Straße. Sie wartete ungeduldig, bis die Herrschaft zu Bett ging, gab dann vor, noch einmal nachzusehen, ob die Haustür verschlossen sei, und ließ ihn ein.
Ihr Herz klopfte und sie war froh, auch bei ihm Aufregung zu spüren. Oben in der Kammer fand sie ihn zarter und weniger ungeduldig, als sie es von einem Mann erwartet hätte. Und als sein Samen sich auf ihren Bauch ergoss, stießen beide einen herrlichen Seufzer des Wohlbehagens aus – wo doch keiner sie hören durfte.
Wenn die Lust ihn antrieb und der Dienst es erlaubte, war Friedrich unten auf der Straße und Stella gab ihm Zeichen am Fenster. Nach einigen Wochen wurde er hellhörig, als er herausfand, dass sie eine Marie kannte. Man redete über sie. „Die hat einen Herrn, einen Baron“, hieß es. Stella hatte ein bisschen Neid und einen Anflug von Mitleid in der Stimme, wenn sie davon sprach. „So hat sie genug Geld für sich und ihre Tochter. Aber was ist, wenn der Baron nicht mehr da ist? – Ich bin wenigstens noch Dienstmädchen, wenn du einmal weg bist.“ Friedrich wollte genauer wissen, wie es mit dieser Marie und seiner Herrschaft stand, und sprach so lange davon, bis Stella bereit war sich zu erkundigen.
In Charlottenburg, nicht weit vom Schloss, stand in einer Seitenstraße ein kleines Palais. Seine wohlproportionierte Fassade wirkte anheimelnd und entbehrte mit ihren Stuckornamenten, kleinen Löwen und riesigen Pinienzapfen, nicht einer gewissen Ästhetik. Wäre man, was so gut wie nie vorkam, um das Gebäude herumgegangen, hätte sich ein ganz anderer Anblick geboten. Dort wo früher ein kleiner Park das Anwesen abgerundet hatte, türmten sich jetzt bis zu zwei Stockwerke hohe, grobe Backsteinmauern. Eine noch genauere Betrachtung hätte gefunden, dass in scheinbar willkürlicher Anordnung, immer wieder Innenhöfe freilassend, ein Anbau nach dem anderen dem ursprünglichen Gebäude angefügt worden und so ein Areal entstanden war, dessen Gestaltung nur noch aus der Vogelperspektive zu erkennen gewesen wäre.
Als Besitzer eingetragen war ein gewisser Alexander Heinze, doch war es in der Tat seine Ehefrau Elfriede, genannt die heftige Friede, die in dieser labyrinthischen Welt das Regiment führte.
Ihr Ehrentitel begründete sich nicht nur durch die Herrschergewalt über das zahlreiche Personal, sondern auch in Anbetracht der Gäste, unter denen insbesondere einige hochgestellte Herren von der Ausübung ihrer Heftigkeit nur schwer lassen konnten und dem einen Besuch so schnell es ging einen nächsten folgen ließen.
Im Entree dieses Etablissements fand Innstetten sich gegen zehn Uhr abends in Begleitung seines Freundes Levetzow. Er hatte diesen am frühen Abend in seiner Stadtwohnung aufgesucht, und angesichts der ebenso bedeutenden wie beglückenden Neuigkeit hatte es angestanden – wie Levetzow sich ausdrückte – „nicht nur einen Schampus aufzumachen“. Die Baronin hatte sich mit Kopfweh entschuldigen lassen und Innstetten hatte darauf verzichtet, von der kurzen Begegnung am Mittag zu berichten.
Er war sich unsicher, wie viel Offenheit und wie viel Vertrauen er dem anderen entgegenbringen konnte. Im Französischen Krieg bei den Perleberger Ulanen waren sie Kameraden gewesen, gemeinsam hatten sie das Eiserne Kreuz bekommen und – sei es durch Zufall oder sei es doch aus einer gewissen Neigung – Levetzow war der einzige unter den Offizierskameraden, mit dem Innstetten noch Umgang hatte. Über dessen Jurastudium, die „Juristerei“, hatte Levetzow zwar immer in einem Ton gesprochen, aus dem man spöttische Überlegenheit heraushören konnte, doch während die anderen Innstetten oft seiner Interessen für Literatur und Malerei wegen als Streber abtaten, hatte Levetzow dem eine Art neugierig distanzierter Wertschätzung entgegengebracht, wenn er sich auch an Innstettens Lektüren und Ausstellungsbesuchen nicht beteiligte. Nur einmal, im eroberten Paris, war er ihm in den Louvre gefolgt und hatte dort einen Großteil der Zeit vor Corregios „Jupiter und Antiope“ gestanden. Beim Verlassen des Museums hatte er ihn freundschaftlich in die Seite gestoßen. „Bist doch ein Schweinigel, Innstetten“, hatte er gesagt. „Hast wohl auch den Hintern von diesem Amor gesehen?“
Es war vielleicht in diesem Augenblick gewesen, dass sie einander am nächsten waren.
Nun war umgekehrt Innstetten ihm gefolgt. Dem Argument, ein solcher Tag verlange etwas Besonderes, hatte er nichts entgegenzusetzen gehabt. „Und das Besonderste vom Besonderen“, war Levetzow fortgefahren, „sind eben hierzulande die Heinzeschen Höfe.“ Innstetten kannte diesen Namen als Fall unter Juristen, wusste dass sich der Geruch von Halbwelt damit verband und der Reiz des mehr oder weniger Verbotenen.
Er sah sich um. Schlanke Damen in Seidenkleidern boten Champagner in hohen Kelchen an. Die Wände waren mit großen Kopien üppiger barocker Bilder geschmückt, von denen er eines als Rubens’ „Raub der Töchter des Leukippos“ erkannte. Der Raum verwirrte. Pralle Versprechungen in der Erotik der Bilder stießen auf die enge Abgeschlossenheit des Raumes, der für einen Bau dieser Art zu klein erschien. Es gab einen Eingang, aber keinen Ausgang, der in weitere Teile des Gebäudes hätte führen können.
Innstetten fühlte sich bedrängt wie einer, der der eigenen Orientierung nicht vertrauen kann. Er spürte den Impuls, durch den Eingang zu fliehen und Levetzow einfach stehen zu lassen. Dieser, ganz in der Rolle des Gastgebers, kam aber bereits mit zwei Gläsern: „Willkommen in den Hallen lockerer Lust und lasterhafter Launen!“, rief er und breitete die Arme aus wie einer, der alle Bedrängnisse lösen kann. Er lächelte, und als sie tranken, schien er ganz und gar in seinem Element zu sein.
Dann löste er das Rätsel des Raumes, indem er den Damen zunickte, die mit eleganten Bewegungen eines der Bilder beiseiteschoben, so dass eine schwere Samtportiere sichtbar wurde. Hintereinander betraten sie einen weiteren Raum, der anders als der erste nur wenig beleuchtet war. In der Mitte war eine goldlackierte Sphinx zu erkennen, die sie aus leblosen Augen ansah. Innstetten blieb stehen und sah aus dem Dunkel der Seitenwand eine Person auf sie zu treten, die Levetzow mit verschmitztem Lächeln und einem anzüglichen Drehen der Hüften begrüßte: ein Mann, nicht mehr jung, in der roten, eng sitzenden Uniform eines Hotelpagen. Die Erscheinung mochte lächerlich wirken, in der Bestimmtheit, mit der er Levetzows Hand ergriff, war jedoch so viel Autorität zu spüren, dass es nicht wunderte, wie dieser ihm ohne Widerstand folgte. In dem Blick, den er Innstetten zuwarf, war Erregung. „Das ist Heinze“, flüsterte er und wies ihn mit einer Geste weiter in das Dunkel auf der anderen Seite der Sphinx. Dann verschwand Levetzow mit seinem sonderbaren Pagen in der Wand.
Einen Augenblick lang genoss es Innstetten allein zu sein. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wollte er sich auf das hier einlassen? Noch war Zeit, durch die Portiere zu verschwinden. Auf Levetzow brauchte er keine Rücksicht mehr zu nehmen. Er konnte Herr seiner Entscheidungen bleiben!
Doch er zögerte zu lange, unwillkürlich war er weitergegangen. Er schaute hoch, und sein Blick fiel auf die schlanke Statue einer schwarzen Frau. Sie war nackt bis auf einen schweren Halsschmuck, die schwarze Haut glänzte. Und sie war schön: feine Züge, stolze Brüste, sanfte Rundung der Hüften. Als sie die Lippen öffnete und lächelte, erschrak er kaum.
Sie stieg von dem kleinen Podest, kam ein paar Schritte auf ihn zu und ergriff seine Hand. Er spürte die trockene, warme Haut und folgte ihr durch einen Gang in ein nächstes Zimmer. Afrikanische Steppe in gleißendem Licht. Das lebensgroße Wandbild ließ den Blick nicht los: Eine weitere Schwarze, üppiger als Innstettens Führerin, steht über einen Holzklotz gebeugt und wendet ihr lustvoll lachendes Gesicht dem Betrachter zu. Ein schnurrbärtiger Kolonialoffizier steht hinter ihr und biegt ihren Kopf in den Nacken, wobei seine Finger in das Kraushaar krallen wie die Klaue eines Greifvogels.
Es dauerte eine Weile, bis Innstetten sich bewusstwurde, wie gebannt er das Bild anstarrte, und sofort wurde ihm klar, wie wenig Widerwillen oder gar Abscheu er empfand. Die Lust, die ihn stattdessen packte, brachte die Gedanken auf seine schlanke Begleiterin. Doch die war verschwunden. Außer ihm war der Raum leer.
Hier konnte er nicht bleiben. Was, wenn ihn jemand hier sähe.
Als Felsen in der glühenden Savanne getarnt fand sich eine Tapetentür, die er vorsichtig öffnete, dahinter schien es dunkel zu sein. Er begann sich zu orientieren: es war die Bühne eines Saales von mittlerer Größe, der Saal war mit einigen Lampen erleuchtet, so dass er auch auf der Bühne einiges erkennen konnte, Personen, die im Schatten auf der anderen Seite der Bühne eilig verschwanden. War Levetzow dabei? Innstetten erkannte Heinze, dessen Uniformhose rot leuchtete. Die Jacke hatte er offenbar abgelegt, der Oberkörper war nackt und athletischer gebaut, als man hätte denken können. Er verließ als letzter die Bühne. – War die Gestalt bei ihm wirklich Levetzow gewesen?
Ein Geräusch von oben, Innstetten blickte hoch, im Schnürboden hockte die schöne Schwarze. Er hörte ihr glucksendes Lachen und sah, wie sie sich erhob, als wollte sie hinunterspringen. Dann wurde es dunkel um ihn.
Es war etwas Weiches, das ihn umgab. Wie Wolle. Ein schwarzes Netz. Er hob es mit den Händen hoch, um darunter hinweg zu kriechen. Plötzlich packte ihn Angst. Immer heftiger wurden seine Bewegungen, je mehr er sich in den Maschen verhakte. Sein Atem ging schwer, er begann zu schwitzen. Als er sich schließlich befreit hatte, fand er sich am Bühnenrand wieder. Er stand auf und lief zum Ende der Bühne, dorthin, wo Heinze verschwunden war.
Im Dunkeln blieb er stehen, um zu Atem zu kommen. Die Angst wich, und er spürte seine Erregung wie lebendige Erinnerung an die glänzende Haut der Schwarzen.
Er ging weiter. Die Erregung begann sich zu mischen. Mit Ärger. Mit Wut. Mit jedem Schritt wuchs die Wut in seiner Brust. Auf Levetzow. Auf Heinze. Auf die Schwarze mit ihrem glucksenden Lachen. Alles war Wut und Jagd. Er würde sie jagen. Beißen. Ins Fleisch beißen, das wäre jetzt das Richtige.
Den Gang hinunter war ein Lichtschein. Jemand verschwand in einer Tür und schloss sie wieder. Er lief hin, atmete durch und entschloss sich den Raum zu betreten. Eine Sattelkammer. An den Wänden Halfter und Lederriemen. In der Mitte stand eine hochgewachsene Frau im Reitkostüm, fahlblondes, streng zurückgekämmtes Haar, ein Gesicht von herber Attraktivität. Mit einer breiten Reitpeitsche deutete sie stumm auf eine weitere Tür.
Als Innstetten sie öffnete, war die Jagd bereits zu Ende. Das helle Licht der Sattelkammer und die Erscheinung im Reitkostüm hatten genügt ihn zu verwirren. Eher getrieben als aus eigener Kraft betrat er einen Salon, dessen edle Möbel mit Polstern aus dunkelrotem Samt und Goldbordüren ihm für einen Augenblick das Gefühl gaben, endlich angekommen zu sein. Nur für einen Augenblick, denn auf einer Chaiselongue lag die Schwarze halb ausgestreckt, in einer Position, als könnte sie sich zwischen Provokation und Unterwürfigkeit nicht entscheiden. Innstetten sah sie zum ersten Mal in vollem Licht. Sie war älter, als er gedacht hatte. Das Gesicht war das einer Frau mit Erfahrung. In ihren Augen standen Müdigkeit und etwas Angst.
Innstetten hatte die Tür hinter sich geschlossen und war dann stehen geblieben. Natürlich war das hier Betrug. Aber was ihn ergriff war nicht nur die Scham, darauf hereingefallen zu sein. Er fühlte Schuld. Das hier war nicht das, was einer wie er tun sollte.
Die Frau rührte keine Miene. Auch Innstetten bewegte sich nicht. Für einen Moment war es ganz still. Dann sah er ihr ins Gesicht, nickte kurz, wie zu einer förmlichen Verabschiedung, drehte sich um und verließ den Raum. Vorbei an der Dame mit Reitpeitsche folgte er dem Gang bis zu einer Tür, die auf einen Innenhof führte. Dort sah er Herren in Abendgarderobe in kleinen Gruppen beieinanderstehen und rauchen. Er hörte Lachen und Reden. Niemand schien ihn zu beachten. Eine schmale Pforte ließ ihn auf die Gasse.