Mexiko - Rolf Schmidt - E-Book

Mexiko E-Book

Rolf Schmidt

4,8

Beschreibung

Das Buch beginnt mit einem Albtraum: Europa ist unbewohnbar geworden, nur ein Teil der Menschen hat die Katastrophe überlebt. Einige von ihnen entschließen sich den Kontinent zu verlassen. Aber wo geraten sie hin? Was wird aus ihnen? Können sie mit Mut und Tatkraft ein neues Leben finden? Um Bruno Feder sammelt sich eine Gruppe, der es gelingt auf einem Containerschiff eine Passage über den Atlantik zu bekommen. Für sie ist Mexiko das "Gelobte Land", das den Flüchtlingen eine Zukunft verspricht. Doch die meisten von ihnen landen in den Fängen einer mafiösen Organisation. Der Roman verfolgt die Spur dieser Menschen in einer fremden, für sie kaum durchschaubaren Welt, schildert Mühen und Hoffnungen, Freundschaft und Sklaverei, Liebe, Wut und Tod. So wird von Bruno und den anderen aus seiner Gruppe erzählt, die nichts weiter wollen als ihr eigenes, selbst bestimmtes Leben. Von der New Yorker Journalistin Sonja, die über Flüchtlinge berichtet und sich in eine von ihnen verliebt. Von Beatriz, der abgelegten Ehefrau eines Mafiabosses, die sich einen der geflüchteten Europäer als Lover holt und einiges mit ihm erlebt, womit sie nicht gerechnet hätte.

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Inhaltsverzeichnis

Europa

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Mexiko

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Venezuela und USA

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Europa

I

Das Fundament war fast unversehrt geblieben. Eine enorme Druckwelle musste das Mauerwerk mit allem, was im Haus gewesen war, in den Garten geschoben haben. Bruno scheute sich, dorthin zu schauen, starrte vielmehr auf die Kellerdecke, die flach und kahl vor ihm lag, nur an einigen Stellen waren Reste des alten Fußbodens zu sehen, bläuliche Kacheln und Spuren von Parkett. Wo das Treppenhaus gewesen war, lagen Steine und Mörtelstücke noch ein wenig aufgehäuft, wie wenn man das Loch hätte lückenlos auffüllen wollen.

Er entdeckte, dass der Beton an zwei Stellen beschädigt war. Eine Ecke des Fundaments zur Straße hin war abgestoßen, so dass ein kopfgroßes Loch klaffte, und über dem Kellerfenster auf der Seite des Nachbargrundstücks war ein größeres Stück herausgerissen.

Er musste sich setzen. Spürte jetzt die Müdigkeit. Wie viele Tage er gebraucht hatte um die Stadt zu finden, wusste er nicht mehr. Er war einfach immer weitergelaufen, hatte kaum einmal jemanden getroffen, den er fragen konnte. Hatte sich an verbogenen Hinweisschildern orientiert, die er manchmal an der Straße fand. Sicherlich war er mehrmals in die Irre gegangen, und wenn er mit der Kälte der Morgendämmerung hinter einem Windschutz erwacht war, hinter den er sich für die Nacht geduckt hatte, war es ihm so vorgekommen, als ob er dieses Stück Straße, diese Abzweigung, diesen Blick über ein zerfahrenes Feld schon lange kennen würde.

Schließlich war er doch in der Stadt angekommen. Er erkannte sie nur, weil sie ihm so vertraut war. Und er erkannte sie, man könnte sagen, auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick sahen die Trümmer überall gleich aus, man musste genauer hinschauen, um ihren Ursprung zu erkennen. Am Ortseingang deuteten Teile einer rotgelben Lichtreklame darauf hin, dass dort einmal eine Tankstelle gestanden hatte. Und als er gleich daneben zersplitterte Holzbalken sah, die offenbar von dem hohen Stapel einer Holzhandlung bis auf die Straße geschoben worden waren, wusste er, wo er war.

Auf dem langen Weg hatte er oft an die Stadt gedacht. Sie war ein Ziel gewesen, an dem er etwas erreicht haben würde. Das hatte etwas Tröstliches gehabt. Es würde besser werden, zumindest etwas vorwärts gehen. Hatte er geglaubt. Jetzt aber war es so, als ob die Stadt ihn nicht haben wollte. Auf der Straße lagen meterdicke Trümmer, Metallteile undefinierbarer Herkunft türmten sich auf, Gebilde aus bizarr geformtem Plastik starrten ihm entgegen. Der Boden war mit Bruchstücken aller Art übersät.

Er setzte mit Mühe seine Schritte, zögerte schon, weil nichts diese Anstrengung zu lohnen schien, und hätte vielleicht aufgegeben, wenn er nicht aus der Ferne menschliche Stimmen gehört hätte.. Offenbar eine größere Menschenmenge. Zum ersten Mal seit Langem.

Bruno spürte, wie sein Herz schlug. Und bald sah er die Menge. Es mussten Dutzende sein, vielleicht Hunderte von Menschen. Auf dem Gelände eines Supermarktes. Viele saßen, einige standen, unterhielten sich, riefen sich etwas zu oder starrten vor sich hin. Ein paar von ihnen hatten den Ankömmling beobachtet. Als er näher kam, guckten sie weg. Er ging an ihnen vorbei, quer über den Platz. Aus Trümmerbrocken, Stücken von Palletten, Drahtkörben und Pappen hatten sie sich Unterstände gebaut. Einige Feuer brannten. Der Geruch gekochter Nudeln überdeckte den allgegenwärtigen Hauch von Gas.

Wenn er in die Unterstände schaute, sah er Dosen und Pakete mit Lebensmitteln, heile und beschädigte. Sie hatten alles genommen, nichts war mehr übrig, nicht einmal ein Pappkarton lag herum. Für Bruno war es zu spät.

Seinen Hunger hatte er seit Tagen vergessen, jetzt fühlte er plötzlich, wie schwach er war. Er beschloss hier zu übernachten, fand ein Stück Mauer, dessen Südseite noch frei war, und sank zusammen.

Am nächsten Morgen in aller Frühe und ohne mit jemandem zu sprechen machte er sich auf, sein Haus zu suchen. Er brauchte Stunden. Zwar reichte der Blick kilometerweit, aber es gab nichts mehr, das ihn festhalten konnte. Bäume waren umgeknickt, alle Gebäude zerstört. Immer wieder musste er stehenbleiben und sich vorstellen, wie es früher gewesen war. Wo ein Hochhaus gestanden hatte, ein Laden, ein Café, ein kleiner Park gewesen war.

Er hatte das Haus also gefunden, so, wie es jetzt war. Hatte eine längere Zeit gesessen und sich ausgeruht. Die Neugier und ein Rest jener Genugtuung, die man hat, wenn man von langer Reise nach Hause kommt, – beides bewegte ihn dann, aufzustehen und zu dem Loch über dem Kellerfenster zu gehen um es in Augenschein zu nehmen. Er fand die Öffnung groß genug als Einstieg, steckte den Kopf hinein und sah graues Dunkel. Er warf einen Stein hinunter, anscheinend war es trocken. Vorsichtig, mit den Füßen zuerst, ließ er sich hinabgleiten, rutschte mit den Händen ab und fiel das letzte Stück.

Der Keller war nicht so dunkel, wie er gedacht hatte, weil auch durch das andere Loch Licht hereinfiel. Er sah einiges herumstehen: Holzkisten, ein Regal, Getränkekästen aus Plastik. Auf dem Boden lagen Scherben. Es roch dumpf, ganz anders als draußen. Nicht unangenehm. Kartoffeln! Es roch nach alten Kartoffeln.

Mit einem Schlag war der Hunger da. Er konnte nicht anders und ging dem Geruch nach, bis er an einer Wand einen kleinen Sack mit gekeimten Kartoffeln fand. Er bückte sich, nahm eine davon und ging zur Öffnung ans Licht. Die Keime waren schon lang, aber die Kartoffel hatte noch Substanz, sie war nicht ganz weich. Er holte sein Messer aus der Tasche, das einzige Werkzeug, das ihm geblieben war, schnitt die Keime heraus und kratzte behutsam die Erde von der faltigen Haut. Er schnitt ein Stück ab, legte es auf die Zunge, spürte die Feuchtigkeit. Dann schloss er den Mund und kaute gründlich. Das Kauen tat gut, er spürte, wie sein Gesicht lebendig wurde. Nach einer unendlichen Zeit schluckte er hinunter. Da war er schon dabei, das nächste Stück abzuschneiden. Wieder kaute er lange. Aber schon während er dann schluckte, kam der Brechreiz. Er würgte und spuckte den sauer stinkenden Schleim auf den Boden.

Ich muss die Kartoffeln kochen, dachte er. Zu seinem Erstaunen stellte sich der Hunger nicht wieder ein. Aber jetzt, wo er etwas gefunden hatte, würde er über kurz oder lang essen müssen. Er begann den Keller zu durchsuchen. Die Räume mit den Löchern in der Decke waren hell genug, in den anderen tastete er sich mit einer Latte vorwärts. Viel fand er nicht, schon vor der Katastrophe war wohl einiges herausgeschafft worden. Er fand mehrere Holzkisten, alte Zeitungen in Pappkartons, leere Gläser und Flaschen, einen Vorhang aus Wollstoff, einen Plastikeimer, einen Besen, eine Aluminiumleiter und eine beschädigte Dose Ravioli, aus der der Schimmel quoll.

Er stellte die Leiter an der Zugangsöffnung auf, nahm die Dose und trug sie hinaus. Mithilfe des Messers gelang es ihm den Deckel zu entfernen, dann reinigte er die Dose gründlich mit Wasser und sandiger Erde. Zum Glück war genug Regenwasser da, es hatte sich in einer Zinkwanne gesammelt, die früher im Garten gestanden hatte und nahe am Haus stehen geblieben war. Das Wasser machte einen sauberen Eindruck.

Nun brauchte er Feuer. Streichhölzer oder ein Feuerzeug hatte er nicht gefunden. Wo sollte er suchen? – Zum ersten Mal blickte er über die Nachbargrundstücke. An einigen Stellen hatten sich kleine Hügel aus Steinen, Beton und Möbeln gebildet, aber sonst waren die Trümmer über die Fläche verteilt. Er konnte nichts von dem erkennen, was er von früher in Erinnerung hatte, blickte in alle Richtungen, suchte die Nachbarschaft ab und fand keinen Hinweis auf irgendein Werkzeug um Feuer zu machen. Er richtete den Blick auf den Horizont, drehte sich, sah wieder nach allen Richtungen. Was suchte er überhaupt? Er nahm sich vor, nicht aufzugeben. Einfach weitersuchen. Er strich über die Fläche, die hinter den Nachbargrundstücken lag. Ließ den Blick langsam kreisen. Und da sah er – natürlich konnte es eine Sinnestäuschung sein – in einiger Entfernung eine dünne Rauchfahne.

Obwohl die schmale Straße von Trümmern bedeckt war, war es doch besser dort zu gehen, anstatt den geraden Weg über das Trümmerfeld zu wählen, mit der Gefahr, irgendwo einzubrechen und sich zu verletzen. Also kletterte er zur Straße, ging zunächst in die Richtung, aus der er gekommen war, dann bog er ab und sah den Rauch jetzt etwas näher. Kein Zweifel mehr, er schritt schneller voran, setzte über die Reste einer Betonmauer und bemerkte, dass die Trümmer hier anders aussahen. Es schien einen größeren Brand gegeben zu haben. Jedenfalls gab es neben verrußten Steinen und schwarzen Balken und Möbelteilen bei näherem Hinsehen mehrere kleine und eine größere Stelle, an denen feiner Rauch aus der Asche quoll.

Es war wunderbar. Wieder ein Ziel erreicht. Für Minuten stand er reglos. Sein Verstand setzte für diese Zeit aus, er stand nur da. Dann schaute er sich um, fand ohne größere Umstände zwei gebogene Stücke Kupferblech –Teile einer Regenrinne – und begann sehr behutsam an der größeren Stelle die Glut freizulegen. Er schob vorsichtig ein Blech darunter, trug von zwei anderen Stellen die Glut mitsamt der Asche hinzu und legte sie darüber. Das schien ihm genug zu sein und er bedeckte das Ganze mit dem zweiten Blech, damit der Wind die schützende Asche nicht davonwehte.

Die Bleche wurden warm, aber nicht so heiß, dass er sie nicht hätte tragen können. Nur musste er sie sorgsam über die Hindernisse hinwegheben. Er ging genau den Weg, den er gekommen war, nahm sich die Zeit, obwohl ihm klar war, dass die Glut nicht ewig halten würde. So fand er seinen Keller ohne Umwege wieder und es gelang ihm, sein Paket mit der Glut über die Leiter hinunterzubringen, ohne dass etwas verlorenging. Unter der kleineren Deckenöffnung legte er es ab. Er schnitt Späne von einer Holzkiste, nahm das obere Blech von der Glut, blies vorsichtig die Asche herunter und legte die Späne darauf. Als die ersten Flammen hochzüngelten, freute er sich wie ein Kind.

Das Weitere war leicht: die Holzkiste zerschlagen, einige Bretter aufs Feuer legen, damit es sich entwickeln konnte, Kartoffeln von den Keimen befreien, sie in die Blechdose geben, diese draußen mit Wasser auffüllen, Steine mitbringen und sie so ins Feuer legen, dass er die Dose daraufstellen konnte. Es fiel ihm auch nicht schwer die Zeit zu warten, bis das Wasser endlich kochte, und weitere Minuten, bis die Kartoffeln gar waren. Sein Kopf war voller Gedanken, von denen er keinen festhalten konnte. Er aß nicht mehr als eine Kartoffel, biss kleine Stücke ab, die er mit der Zunge am Gaumen zerdrücken konnte, danach noch gründlich kaute. Es gab keinen Brechreiz mehr, aber eine überwältigende Müdigkeit. Er schlief bis zum frühen Morgen.

II

Als er die Kälte spürte, schreckte er auf. – Das Feuer! – Er sah sofort, dass es weit heruntergebrannt war, aber unter der Asche funkelte es noch. Er wollte es schon anblasen, besann sich jedoch und suchte erst nach Holz, um Späne herauszuschneiden. Dann blies er ganz vorsichtig die Asche weg, schichtete einige Späne auf die Glut, und es ging schnell, bis kleine Flammen kamen und er weiteres Holz auflegen konnte. Er würde das Feuer besser pflegen, abends mehr Holz auflegen müssen.

Er aß zwei der kalten Kartoffeln, freute sich an ihrem süßen, vollen Geschmack und fühlte sich so kräftig wie lange nicht mehr. Dennoch blieb er erst einmal sitzen, ließ die Gedanken kommen, die jetzt herandrängten. War er wirklich angekommen, war dies sein Ziel? Dieser Keller? Würde er hier überleben? Ihn drückte das Gewicht der Fragen, kein Zweifel, über kurz oder lang würde er sie beantworten müssen.

Schließlich riss er sich von ihnen los, ging zum Ausgang und stieg die Leiter hoch.

Der Blick auf die Nachbargrundstücke schreckte ihn immer noch. Er wollte nicht sehen, was unter, vielleicht auch zwischen den Trümmern lag. Andererseits: Wo sonst sollte er nach Essbarem suchen? Er ging zur Straße und folgte dem Weg, auf dem er am Tag zuvor die Glut geholt hatte. Diesmal schaute er sich genauer um. Und es war der Anblick eines toten Hundes, der ihm aus seiner Unentschlossenheit half. Der Kadaver lag nur ein paar Meter von der Straße weg, er musste nicht näher herangehen, um ihn gut sehen zu können. Es war ein großer Hund, braunes Fell mit schwarzen Flecken. Wenig schwarzgewordenes Blut war zu sehen, nur die Zunge, die schräg aus der Schnauze hing, zeigte die Schrecklichkeit des Todes.

Auf dem Weg in die Stadt hatte er öfters Tote gesehen und ihr Anblick hatte ihn nicht abgestumpft, sondern im Gegenteil verletzlich, ja panisch gemacht. Wie wenn man die dünne Haut, die sich über einer Wunde gebildet hat, immer wieder abreißt. Jetzt war es anders. Der Anblick des toten Hundes schreckte ihn. Machte ihn auch traurig. Aber er merkte, dass er ihn ansehen konnte, ohne verrückt zu werden. Das machte ihm Mut, sich genauer umzuschauen. Er begann nun mehr zu sehen. Mauerwerk und Betonplatten waren zu Stücken unterschiedlicher Größe und Form zerbrochen und von Staub bedeckt, der alles mit einem stumpfen Grau überzogen hatte.

Die Trümmer, wie sie in ihrer abstoßenden Unförmigkeit dalagen, schienen nur auf den ersten Blick alle gleich. Dazwischen lagen Scherben. Haufen von Scherben, mit Scherben bedeckte Flächen; Scherben von Glas und Porzellan, von Fenstern, Waschbecken, Klosettschüsseln und Badewannen; Scherben, die bizarr hervorragten, und solche, die einen stachligen Teppich bildeten, als ob ein Fakir daherkommen müsste, um im Darüberschreiten seine Kunst zu zeigen. Dazwischen zerrissene Vorhänge und andere Textilien, teils vom Regen aufgeweicht, teils wulstig aufgebläht. Schmutziges Papier flog im Wind herum oder klebte im Staub.

Aus Steinen und Beton schauten an einigen Stellen Elektrogeräte heraus, immer wieder Holzteile von Möbeln. Teile einer Einbauküche schienen am meisten zu versprechen. Bruno ging darauf zu, in die Trümmer hinein, achtete bei jedem Schritt auf den Untergrund. Als er bis auf ein paar Meter heran war, bemerkte er eine Stelle, die ganz mit Nudeln bedeckt war. Offenbar war eine große Tüte geplatzt und der Inhalt hier verteilt. Ein Glücksfall.

Er würde einen Topf suchen müssen. Ein Fund machte den nächsten notwendig. Es wurde ihm jetzt klar, dass es nicht nur ums Essen ging, er würde in den Trümmern einen ganzen Hausstand finden können. Wie Robinson Crusoe, der mehrfach zum Schiffswrack schwimmt und dort Dinge findet, die er auf der Insel brauchen kann. Erst einmal ergriff ihn die Vorstellung, einen Topf zu finden und Nudeln zu kochen. Die Süße der Kartoffeln war in seiner Erinnerung noch ganz nah, und Nudeln versprachen noch mehr zu sein, geradezu eine Steigerung des Genusses. Er würde Salz brauchen.

Die Suche nach Topf und Salz gestaltete sich aber langwierig. Er fand vieles, auch vieles Nützliche. So war in der Nähe ein zerborstener Kleiderschrank, dessen Inhalt sich großenteils verteilt hatte, der aber noch Stücke enthielt, die nicht zerrissen waren: eine Jacke, die ihm passen konnte, Wäsche, Handtücher. Unter den Kleidungsstücken, die auf den Trümmern herumlagen, fand er eine Hose und einen Mantel, beide nur leicht beschädigt. Er schichtete die Kleidung zu einem Haufen, den er gut wiederfinden konnte, und ging weiter, auf der Suche nach einem Topf.

Er entfernte sich immer mehr von der Straße. Aus dem Spalt zwischen zwei zerbrochenen Betonplatten schaute eine große Rohrzange heraus, die er mitnahm, und in einem Kissen steckte eine Schere. Dann aber stieg ihm ein abstoßender Geruch in die Nase, ihn schauerte und er machte kehrt, um die Funde in seinen Keller zu tragen.

Sein Keller! Sein Haus! Er sah nach dem Feuer, legte Holz nach, setzte sich dazu und starrte vor sich hin. Zu müde zum Denken. Der Hunger und die Anstrengung hatten ihn ausgezehrt. Er brauchte mehr als eine Stunde, um Kraft für einen neuen Aufbruch zu haben.

Er nahm den Eimer mit, für die Nudeln, ging aber zunächst in einer anderen Richtung los. Auf keinen Fall wollte er wieder auf den unangenehmen Geruch stoßen. Stattdessen suchte er stadtauswärts die Trümmer nach Anzeichen ab, die auf eine Küche deuteten. Er wusste, dass er hier vorsichtiger sein musste, irgendwo musste der Bach sein, und erst als er die Reihe umgeknickter Bäume sah, die den Verlauf des Bachbetts markierte, konnte er sich auf seine Suche konzentrieren. Von da an war es leicht, an mehreren Stellen ragten pastellfarbene, kunststoffbeschichtete Küchenmöbel aus den Steinen. Und als er an das nächstgelegene heranging und durch die zerbrochene Schranktür griff, tastete er Papier und Pappe. Es waren nur kleine Päckchen, aber als er sie herausnahm und betrachtete, wusste er, dass er Glück gehabt hatte: es waren Rosinen, Gewürze, ein Rest Salz und etwas Waschpulver in einer Kartonecke.

Den Topf fand er dann leicht, er musste nur weitergehen, weiter weg von der Straße. Er fand sogar einen Deckel, der einigermaßen passte, und steckte dazu noch zwei Löffel und eine Kuchengabel in den Eimer, war schon auf dem Heimweg, in Gedanken schon bei den Nudeln, als er das Marmorgesicht sah. Er war um einen Trümmerhaufen herumgegangen und an eine Stelle gekommen, an der die Steine wie flaches Geröll lagen. Da sah er es, mitten auf dieser Fläche. Es war das Gesicht einer Frau. Zwischen den Steinen, als wäre es einer von ihnen. Die Züge fein, wie von einem großen Künstler in den Stein geschnitten. Nur das Gesicht. Kein Hals, keine Haare. Bläulich weiß, der Mund blass, die Augen geschlossen. Auch Wimpern und Augenbrauen hoben sich kaum ab.

Ein friedlicher Tod? Was, wenn die Augen sich jetzt öffneten, der Tod sich mit Leben maskierte. Bruno flüchtete. So schnell es zwischen den Steinen möglich war, lief und stolperte er zur Straße und zu seinem Keller zurück. Erst als er sich auf das Fundament gesetzt hatte, schüttelte es seinen Körper. Und so wie der Brechreiz die Konvulsion des Magens einige Sekunden vorher ankündigt, spürte er die Vorboten der Tränen. Dann ließ er alles los. Er weinte, weinte heftig und lange, bis er ganz ruhig war und nur noch sein Kopf schmerzte.

Er blieb noch längere Zeit sitzen, fühlte sich müde, aber sicher. Er würde vorsichtiger sein, wenn er in Zukunft in unbekannte Trümmer ging, aber die Angst war nicht mehr da, dass der Anblick des Todes ihn verletzen könnte.

Vor Anbruch der Dunkelheit schaffte er es noch die Nudeln zu holen, dann jedoch war er zu müde um sie zu kochen. Er aß die letzte Kartoffel, schichtete genügend Holz aufs Feuer, nahm die Decke, legte sich hin und fiel in eine Art Halbschlaf. Immer wieder drängten Bilder in sein Bewusstsein, als ob sie Macht über ihn hätten. Es waren die Gärten, wie sie damals gewesen waren, und die Gesichter der Nachbarn. Und tief unten, sozusagen im Basso Continuo seines Bewusstseins, wurde das Marmorgesicht auf ungeklärte Weise Teil seiner Erinnerung.

Gegen Morgen schlief er fester. Er erwachte mit dem Gedanken an Robinson Crusoe. Es war ein beruhigender Gedanke, so, als müsste es möglich sein, dass auch er allein überlebte. Mehr noch, dass er sich eine Welt gestalten könnte, in der er – jedenfalls aufs Ganze gesehen – Befriedigung fände. Eine Weile gab er sich dem hin. Dann aber beschloss er, diesem Gedanken nicht weiter zu folgen, zu ungewiss war alles, was er über die Zukunft wissen konnte. Er stand auf, legte Holz nach und holte Wasser, um es zum Kochen aufzusetzen. Dann trug er die Nudeln im Eimer hinaus und wusch sie.

Es war schon später Vormittag, als er die Nudeln aß. Er hatte sich nur eine kleine Menge aus dem Topf genommen, die er sorgfältig kaute. Aber sein Hunger war jetzt größer geworden, so dass er dieselbe Menge noch einmal nahm. Beim Kauen stellte er sich Weizenkörner vor und glaubte, das Aroma des Getreides zu schmecken. Er dachte daran, als Nachtisch noch Rosinen zu essen, unterließ es aber, um den feinen Geschmack zu erhalten. Mit Phantasien von Sättigung und Zufriedenheit schlief er ein.

Vielleicht war es die Kälte, die ihn aufwachen ließ. Das Feuer war heruntergebrannt. Er nahm es wahr, aber seine Glieder waren schwer und er musste sich überwinden, um aufzustehen und Holz zu holen. Als die Flammen wieder hochschlugen, hatte er seine Trägheit überwunden, sein Blick fiel auf die Kleidung, die er am Vortag mitgebracht hatte, und es reizte ihn, sie genauer anzusehen. Er trug sie hinaus, schüttelte so gut es ging den Staub heraus und sah sie prüfend durch. Was die Passform betraf, durfte er nicht kleinlich sein. Es wäre einfach angenehm, etwas Frisches anzuziehen.

Er schöpfte Wasser und trug es zum Feuer – er würde einen zweiten, größeren Topf besorgen müssen. Jetzt blieb ihm nichts übrig, als die Nudeln in die Blechdose umzufüllen, wenn er Wasser heiß machen wollte um sich zu waschen. Er aß die Nudeln, während das Wasser zum Kochen kam. Dann mischte er das heiße Wasser mit dem kalten im Eimer, trug ihn hinaus, zog sich aus und schöpfte das warme Wasser mit den Händen, erst auf sein Gesicht, dann über den Körper. Er stieg in den Keller und holte das Waschpulver. Das strich er über die nasse Haut – sofort nahm er den eigentümlich frischen Duft wahr - und spülte es mit dem Rest des warmen Wassers ab.

Wie lange hatte er seinen Körper nicht mehr gespürt? Jetzt hatte er sogar ein Handtuch. Und es war ihm, als ob er das Reiben des rauen Stoffes auf der Haut zum ersten Mal in seinem Leben spürte. Sorgsam zog er die neuen Kleider an und nach langer, langer Zeit breitete sich etwas in ihm aus, das man als Wohlbehagen bezeichnen könnte. Er blieb draußen, bis es dunkel wurde. Schaute in den dunstigen Himmel. Dann stieg er hinunter, legte sich hin und schlief gut in dieser Nacht. Als er am Morgen aufwachte, war das Feuer erloschen.

III

Er glaubte es nicht. Wollte nicht. Konnte nicht. Ganz behutsam schob er mit den Fingern die Asche zur Seite. Wenn es nur ein einzelnes Fünkchen wäre! – Nichts. Er blies auf den Boden, der noch ein wenig Wärme ausstrahlte, obwohl er wusste, dass es nichts nützte. Aber er musste etwas tun.

Draußen stieg er auf einen Betonklotz und schaute über die Trümmer, er entdeckte nichts, entschloss sich, zu der Stelle zu gehen, an der er das letzte Mal fündig geworden war. Aber dort war jetzt alles kalt. Er stand eine Weile. Nirgendwo in den Trümmern hatte er etwas zum Feuermachen gefunden. Wo sollte er noch suchen? Was ihn jetzt ergriff, war Verzweiflung. Er sank auf den Boden. Saß, den Kopf zwischen den Knien. Stunden ohne Kraft.

Das blasse Tageslicht, begann bereits abzunehmen, als ein paar Gedanken sich einstellten und mit ihnen ein wenig Kraft. Mühsam stand er auf, ging einfach los, suchte planlos in den Trümmern. Bis er Hunger bekam. Er ging zurück in seinen Keller, aß freudlos den kalt gewordenen Rest der Nudeln und schlief im Sitzen ein.

Er schlief unruhig, aber am Morgen hatten seine Gedanken sich zu einem Entschluss verdichtet: Es gab nur eine Möglichkeit, er würde zum Supermarkt gehen und dort auf irgendeine Weise Feuer besorgen. Also schlug er den Weg ein, den er vor drei Tagen gekommen war, die Orientierung war leichter als gedacht. Unterwegs hielt er die Augen auf, um etwas zu finden, das er tauschen konnte. Er fand eine stark beschädigte Werkzeugtasche, die noch einige gute Stücke enthielt. Er steckte ein Klappmesser und eine Kombizange ein. Die Tasche und einen Kochtopf, der etwas abseits gelegen hatte, stellte er an die Straße, um sie auf dem Rückweg mitzunehmen. Den Weg zum Supermarkt, der ihm damals so lang vorgekommen war, hatte er in weniger als einer Stunde zurückgelegt.

Wieder hörte er schon von weitem das Stimmengewirr. Es war, als ob es eine Art Abwehrschirm gäbe, der es ihm schwer machte, sich der Menschenmenge zu nähern. Er würde mit Leuten sprechen müssen, auch wenn sie ihn nicht einmal anschauten. Es war so lange her, dass er mit jemandem gesprochen hatte, und jetzt würde er umherlaufen müssen, fragen, angewiesen auf das Entgegenkommen von Unbekannten.

Auf dem Gelände des Supermarktes schien sich kaum etwas verändert zu haben. Leute saßen vor ihren Verschlägen, unterhielten sich oder starrten vor sich hin. In der Mitte des Platzes stand eine Gruppe junger Männer, aus der in kurzen Abständen ein explosionsartiges Lachen aufschallte. Es waren vor allem Mädchen und junge Frauen, die mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt schienen. Eine von ihnen kam quer über den Platz und er ging auf sie zu. Er musste sich räuspern, seine Stimme klang rau und fremd.

„Ich suche Feuer“, sagte er. Sie deutete auf ein Feuer, das an einem der Unterstände brannte.

„Nein“, sagte er und seine Stimme kam jetzt flüssiger, „ich suche etwas, womit ich Feuer machen kann.“ Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.

Er wandte sich zu dem Unterstand, bei dem das Feuer brannte, aber auch dort konnte ihm niemand helfen. Sie hätten ihr Feuer von einer anderen Gruppe geholt.

Als er sich umdrehte, sah er in das Gesicht eines Mannes. Er stand ein paar Meter weg und betrachtete ihn aufmerksam. Es war das erste Mal, dass ihn jemand anschaute.

„Bist du neu hier?“, fragte er. Seine hellen, blauen Augen zeigten Aufgeschlossenheit, nüchterne, etwas distanzierte Neugier.

Bruno nickte. „Ich will nicht hierbleiben. Ich suche nur etwas zum Feuermachen, Streichhölzer. Oder ein Feuerzeug.“

„Schwierig“, sagte der andere, „aber komm mit.“

Während sie den Platz überquerten, stellte er sich als Marco vor. Er hatte dunkelblondes gekräuseltes Haar, das Gesicht war breit und scharf geschnitten. Sein Alter war schwer einzuschätzen, vielleicht Mitte dreißig. Er schien gut bei Kräften zu sein, ging zielgerichtet und mit federnden Schritten. An einer geschützten Stelle trafen sie auf eine ältere Frau, die auf einem Stück dickem Schaumgummi saß und ein Buch mit verkohltem Einband in der Hand hielt. Sie schaute auf.

„Das ist Bruno“, sagte Marco, „er sucht nach einem Feuerzeug. Hattest du nicht einen Gasanzünder?“

Die Frau sah Bruno an, ohne dass ihr Gesicht die Antwort auf Marcos Frage verraten hätte. Bruno zog die Kombizange aus der Tasche und sah eine Bewegung in den Augen der Frau, sie öffneten sich ein klein wenig weiter und ein vorsichtiges Lächeln stellte sich ein. Die Frau stand auf, ging zum benachbarten Unterstand und kam mit einem elektrischen Gasanzünder zurück, einem Modell, das vor langer Zeit gängig gewesen war.

„Wie alt ist denn die Batterie?“, fragte Bruno. Achselzucken. Er ließ sich das Gerät geben, drückte auf den Knopf und sah, dass der Glühfaden gut sichtbar aufleuchtete. Er nickte und gab der Frau die Kombizange, die sie gleich an Marco weiterreichte. Dann setzte sie sich wieder zu ihrer Lektüre.

Bruno wollte weg, zurück zu seinem Keller. Es waren zu viele Leute gewesen.

„Ist das deine Mutter?“, fragte er, als sie wieder auf dem Weg zur Straße waren. Marco nickte.

„Liest sie viel?“, fragte Bruno. Und Marco sagte: „Sie ist eine sehr gute Mutter.“

Sie vereinbarten, bei Gelegenheit weitere Tauschgeschäfte zu machen. „Die Vorräte aus dem Supermarkt werden nicht ewig halten“, sagte Marco noch.

IV

Wenn Bruno später an diesen und die folgenden Tage dachte, war ihm klar, dass seine Vorstellung, wie Robinson leben zu können, sich schon zu diesem Zeitpunkt als undurchführbar erwiesen hatte. Jetzt aber, als er aus dem Gewimmel des Supermarktes zu seinem Keller zurückgekommen war, erschien der ihm als Oase der Sicherheit und Ruhe. Er hatte zu diesem Zeitpunkt keine anderen Wünsche. Wochen des Umherirrens in leergefegten Landschaften und Trümmerwüsten, in denen es nicht das kleinste Fleckchen der Geborgenheit gab, hatten den Horizont seiner Erwartungen so klein werden lassen, dass er gar nicht mehr den Wunsch hatte darüber hinaus zu schauen. Schon der Gedanke, den Umkreis seines Hauses zu verlassen, war ihm unangenehm.

Nachdem der Schrecken überwunden war, den ihm der Verlust des Feuers verursacht hatte, füllte ihn die Suche nach Nahrung wieder ganz aus. Zwar nahm er gerne mit, was er auf seinen Streifzügen an Werkzeugen, Küchengeräten und akzeptabler Kleidung fand, doch war es der Fund eines Säckchens Kartoffeln, der ihn glücklich machte.

Bald kannte er sich besser aus in der Trümmerlandschaft. Er fand heraus, dass es in der näheren Umgebung Häuser gab, in deren Überresten er alles finden konnte, was er brauchte, wenn er nur genau genug hinschaute. Orte auch, an denen er dem Anschein und Geruch nach keine schrecklichen Funde zu befürchten brauchte. Er richtete sich ein, nicht nur mit einem bescheidenen Hausstand, sondern auch in der Aufteilung des Tages. Zweimal am Tag ging er auf Suche und in einer langen Mittagspause ruhte er aus, manchmal sank er dabei in einen leichten Schlaf.

Es war der Prozess einer Rekonvaleszenz. Von einer Krankheit, die nicht einfach zu beschreiben ist. Körperlich hatte er die Zeit nach der Katastrophe besser überstanden, als man hätte denken können. Die nächtliche Kälte hatte bis auf einen leichten Husten, der schnell wieder verschwunden war, keine Folgen hinterlassen, und die Vorsicht, mit der er die erste Nahrung zu sich genommen hatte, hatte sich gelohnt, denn der Verdauungstrakt hatte seine Arbeit schnell wiederaufgenommen.

Was noch eine Weile blieb, war eine allgemeine Schwäche, und deren Ursachen waren zweifellos nicht nur körperlich, auch wenn es der Körper war, der ihm seinen Zustand zeigte. Er wurde schneller müde, als er es gewohnt war, und wenn er sich ausgeruht hatte, fiel es ihm oft schwer aufzustehen und etwas zu unternehmen. Manchmal blieb er einfach liegen, döste, schlief vielleicht sogar für eine Zeit wieder ein, bis seine kleine Welt unter einem Schleier der Unwirklichkeit zu liegen schien und er das Gefühl hatte, überhaupt nicht mehr aufstehen zu können. – Hätte man dem Zustand einen Namen geben müssen, hätte man wahrscheinlich von einer leichten Depression gesprochen. Immerhin gelang es ihm jedes Mal – wenn auch mit erheblicher Anstrengung – sich aus dieser Passivität zu lösen und – selbst wenn es schon Abend war – noch irgendetwas Nützliches zu tun.

Nach vielen Tagen, die vorbeizogen und von denen keiner mehr Bedeutung hatte, als das bloße Überleben zu bezeugen, löste sich auch die Depression und ganz allmählich kam ihm zum Bewusstsein, dass die bislang selbst gewählte Einsamkeit möglicherweise gar nicht mehr wollte. Dass ihm das Absuchen der Trümmer nach Lebensmitteln und nützlichen Utensilien als wichtigster Lebensinhalt nicht mehr genügte, war ein erster Schritt dazu. Er begann sich Gedanken zu machen, wie sein Tag komfortabler gestaltet werden könnte, und fing an sich entsprechende Einrichtungen zu bauen. Mithilfe eines Gartenschlauches, den er aus mehreren unbeschädigten Stücken zusammensetzte, gelang es ihm Wasser von weiter entfernt gelegenen Stellen zu seinem Haus zu leiten. Es war nicht leicht das nötige Gefälle zu erreichen, mehrere Tage war er beschäftigt, aber dann hatte er ein großes Reservoir zur Verfügung, ohne das Wasser mühsam über die Trümmer tragen zu müssen. Ein Bett war aus verschiedenen Polster- und Matratzenfunden leicht hergestellt, länger arbeitete er an einem bequemen Sitz, den er neben dem Eingang oben auf dem Fundament aufbaute und auf dem er nachts gern saß, wenn in der Feuchtigkeit und Kälte der Dunst sich lichtete und er ab und an die Sterne sehen konnte.

Natürlich blieb weiterhin die Suche notwendig, insbesondere die nach Lebensmitteln. Dabei mied er Kühlschränke, von denen er nur stinkende Fäulnis erwarten konnte. Frisches Gemüse war natürlich nirgendwo mehr zu finden, aber einige wenige unbeschädigte Konserven. Und die Versorgung mit Kohlhydraten war für die nächste Zeit gesichert: Nudeln, Reis, Kartoffeln, Weizenmehl. Aber schon bei letzterem war ein Manko zu spüren, wenn er nämlich zu seiner Verarbeitung Fett benötigte. Reste von Speiseöl in Glasscherben führten nicht viel weiter und ein Viertelliter Olivenöl, das er in einer noch intakten Dose fand, konnte nicht lange reichen. Salz und Gewürze waren genug zu finden, sogar Marmelade, Honig und Süßigkeiten, aber der Mangel an Fett würde bald zum Problem werden. Es kam vor, dass ihm beim Absuchen der Trümmergrundstücke das Wasser im Mund zusammenlief, wenn er an den Fund einer Dose Ölsardinen auch nur dachte.

Ausschlaggebend für die endgültige Abkehr von den Robinsonträumen war dann ein Erlebnis, das eigentlich nicht hätte überraschend sein dürfen, dessen naheliegende Möglichkeit er aber die ganze Zeit über nicht hatte wahrhaben wollen. Er hörte sie, noch bevor er sie sah: nicht weit von seinem Keller, sogar beängstigend nah tauchten Menschen auf. Eine ganze Gruppe, er zählte fünf Personen, drei Männer und zwei Frauen. Natürlich duckte er sich sofort hinter einen Mauerrest, auf keinen Fall wollte er selbst gesehen werden. Aber aus der Deckung heraus beobachtete er sie, ließ sie nicht aus den Augen, als ob er von ihrem Tun fasziniert wäre.

Ganz offensichtlich taten sie das, was er selber machte, sie suchten in den Trümmern nach brauchbaren Gegenständen und wahrscheinlich auch nach Nahrung. Dabei gingen sie mit einer gewissen Systematik vor, verteilten sich in der Fläche, ohne sich aber allzu weit voneinander zu entfernen. Ab und zu riefen sie sich etwas zu oder versammelten sich, wohl um etwas Gefundenes zu begutachten. Bruno konnte es nicht genau sehen, aber wenn sie etwas zur Straße trugen, legten sie es immer an derselben Stelle ab. Sie schienen dort irgendein Gefährt zu haben, mit dem sie ihre Beute transportierten.

Das Wort „Beute“ fand sich in der Tat in Brunos Gedanken und es dauerte eine ganze Weile – so als wäre es eine befremdliche Vorstellung –, bis er sich das Selbstverständliche klarmachte, dass nämlich jeder dasselbe Recht zur Suche in den Trümmern hatte wie er. Und als er sah, dass auch größere Möbelstücke zur Straße getragen wurden – zum Teil mussten alle mit anfassen –, fragte er sich, ob bereits mit dem Wiederaufbau der Häuser begonnen worden war, für deren Einrichtung sie jetzt Möbel suchten.

Bruno beobachtete die Leute, bis sie sich an der Straße sammelten und dann aus seinem Gesichtsfeld verschwanden. Nur eines prägte sich ihm ein: Eine der Frauen trug ein Kleid, ein gelbes Kleid.

Er ging zu der Stelle, an der sie den Wagen abgestellt haben mussten. Dort standen noch eine Reihe Möbel und Elektrogeräte. Die Leute hatten nicht alles mitnehmen können, sie würden wiederkommen, das war sicher.

In der Nacht träumte Bruno von der Frau im gelben Kleid. Für einen Augenblick hatte sie die Gesichtszüge seiner Mutter, dann nahm sie die geheimnisvoll erotische Physiognomie einer Frau an, die er nie gekannt hatte. Sie kam auf ihn zu, lächelte ihn an. Er spürte ihre Haut und ihre Wärme. Er selbst schien sich dabei aufzulösen. Dann erwachte er mit einer Erektion.

V

Im Lager am Supermarkt hatte man sich nicht bemüht, die Unterstände auszubauen oder zu verbessern. Lediglich der eine oder andere Karton stand jetzt leer herum. Kaum etwas Buntes war zu sehen, alles erschien in einem uniformen Grau und Braun. Alles hatte den Anschein von Nachlässigkeit und Traurigkeit. Auch die Menschen schienen weiterhin nur mit sich selbst beschäftigt und hatten keinen offenen Blick. Bruno selbst erkannte auch niemanden wieder, und wenn er sich an seinen letzten Besuch am Supermarkt zu erinnern versuchte, hatte er nur noch Marco und seine Mutter im Gedächtnis.

Er fragte nach Marco, man kannte seinen Namen, aber niemand schien zu wissen, wo er war. Schließlich fand er seine Mutter, sie lächelte, als sie ihn sah.

„Ich habe deinen Namen vergessen“, sagte sie, „aber ich weiß noch, dass du letztens mit Marco hier warst.“

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Bruno. Es kam ihm unbeholfen vor, aber sie ging sofort darauf ein:

„Man ist schon froh, wenn man lebt in diesen Tagen“, sagte sie, „wenn man gesund ist und zu essen hat. Aber ich weiß nicht, wann das einmal anders werden soll.“

Bruno erinnerte sich an ihre Lektüre und überlegte, ob er sie danach fragen sollte. Sie kam ihm zuvor.

„Ich lese viel. Das Leben findet im Kopf statt.“ Und nach einer Pause: „Marco ist anders. Er macht viel. Redet mit Leuten. Gerade ist er bei Wellington.“

„Wellington?“

„Wellington lebt nicht hier beim Supermarkt. Er lebt irgendwo draußen, Marco weiß wo. Er geht öfters hin. Wellington ist klug, man sagt, er hat ein Satellitentelefon oder so etwas und weiß, was in der Welt geschieht.“

Bruno schaute fragend.

„Ich weiß“, sagte sie, „was nützt es uns, wenn wir das wissen? Aber Marco interessiert es, er will alles wissen. Deswegen ist er oft dort. Obwohl Wellington nicht viel redet. Marco sagt, er muss ihm zehn Fragen stellen um eine Sache zu erfahren. – Er wird bald zurück sein.“ Mit einer Handbewegung lud sie Bruno ein, sich zu ihr zu setzen. Sie saßen, jeder in seinen Gedanken, bis Marco kam.

Bruno stand auf und ging ihm entgegen. Marco begrüßte ihn mit Handschlag.

„Komm“, sagte er sofort, „komm, ich will dir etwas zeigen.“

Er ging voran in einen Teil des Lagers, den Bruno noch nicht kannte. Etwas außerhalb des Areals, das von Verschlägen und Unterständen eingenommen war, lag der Stamm eines umgestürzten Baumes. Eine dicke Eiche. Ungefähr in der Mitte zwischen der Krone und dem aus dem Boden ragenden Wurzelstock saß eine Frau, um sie herum eine Gruppe von Kindern.

Die Frau, vielleicht auch ein heranwachsendes Mädchen, war schlank, abgemagert. Sie hatte die Knie angezogen, darauf den Kopf gelegt, den sie mit ihren Armen umfing, um ihn zu schützen. Einer der Jungen, die dabeistanden, versuchte sie mit einem Stock zu einer Bewegung zu reizen. Andere bewarfen sie mit Holzstücken und Steinen. Aber sie bewegte sich nicht.

Als die beiden Männer herankamen, versuchte der Junge mit dem Stock sich zu rechtfertigen:

„Sie rührt sich einfach nicht. Das ist doch nicht normal.“

„Haut ab!“, sagte Marco, „lasst sie in Ruhe!“ Aber die Kinder wollten nicht. Er musste seinen Worten mit entschlossenen Gesten Nachdruck verschaffen, bis sie sich umdrehten und langsam zum Lager zurückgingen.

Bruno hatte sich unterdessen an die junge Frau gewandt.

„Was ist mit dir?“, fragte er. Sie antwortete nicht, hob nur den Kopf.

„Sie redet nicht“, sagte Marco, „sie heißt Vera, hat jemand gesagt. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Hat sicher Schlimmes erlebt. Vielleicht vergewaltigt worden.“

Sie schauten jetzt beide die Frau an. Deren Blick war in ein Nirgendwo gerichtet.

„Es kann nicht so weitergehen mit ihr, hier im Lager“, sagte Marco nach einer Weile, „kannst du sie mitnehmen?“

Wie konnte das gehen? Bruno hatte kurz den Impuls wegzulaufen. Das ging natürlich nicht. Er sah erst Marco an, dann wieder die Frau. Sie war ganz fremd, ein fremdes Wesen. Zugleich erregten ihre feinen Gesichtszüge, der kleine Mund, die schönen Augen eine Art von Sympathie, die er lange nicht erlebt hatte. Ohne weitere Überlegung sagte er:

„Wir können es ja mal versuchen“, war sich aber sofort darüber im Klaren, dass es sich um ein bloßes Ausprobieren nicht handeln konnte, ein einfaches Zurück würde es nicht geben.

„Komm!“, sagte er und versuchte ihr in die Augen zu schauen. Sie rührte sich nicht. Langsam ging Marco zu ihr hin, nahm vorsichtig ihren Arm und zog sie von dem Stamm. Scheinbar willenlos ließ sie sich jetzt führen, ging zwischen den beiden Männern, die sie an den Händen hielten und einen Weg um das Lager herum wählten.

Jenseits des Lagers trennten sie sich.

„Danke“, sagte Marco.

Bruno nickte nur. Er führte jetzt alleine die Frau, die ganz plötzlich in seinem Leben war.

Er kannte das. Das Gefühl das Falsche getan zu haben, das vollkommen Falsche, und jetzt die katastrophalen Folgen auf sich zukommen zu sehen. Die Folgen, an die er nicht rechtzeitig gedacht hatte. Vera schaute weiterhin stur geradeaus, zeigte keinerlei Regung, die er auch nur vorsichtig als Signal hätte deuten können. Aber das war es nicht. Das war nicht das Problem. Es ging vielmehr darum, dass er nun nicht mehr allein war, dass er Verantwortung trug, Verpflichtungen auf sich genommen hatte, deren Art und Ausmaß er noch gar nicht kannte. Und das vielleicht für alle Zeiten. Es war niederdrückend. Als wäre ihm der freie Atem genommen.

Aber diese absolute Verzweiflung hielt nicht an. Es gab noch etwas anderes. Wenn er ihr feines Gesicht betrachtete, dann war ihm, als ob er ein Juwel neben sich hätte oder ein Kunstwerk. Etwas Wertvolles. Etwas, das seinen Einsatz lohnte. Sie würde Bedürfnisse haben, ganz normale Bedürfnisse, Essen, Kleidung, etwas worum er sich kümmern konnte, und das würde er gern tun. Ihr Leiden, ihr Trauma, das war nicht etwas, zu dessen Lösung er beitragen konnte. Man musste sehen, was daraus würde.

Als sie an seinem Keller ankamen und er ihr den Eingang zeigte, schien ihr Gesicht noch starrer, womöglich noch abweisender zu werden. An der Art ihrer Bewegung war die Angst zu ahnen. Dennoch folgte sie ihm ohne Zögern hinunter, zog sich gleich in einen der beiden dunklen Räume zurück. Er brachte ihr einen Teil seiner Polster und Decken. Man würde morgen mehr davon suchen und sicherlich auch passende Kleidung finden. Jetzt ging es erst einmal darum, etwas zu essen zu machen.

VI

Bruno konnte nicht einschlafen in dieser Nacht. Dass er ihre Atemzüge hörte, bildete er sich nur ein. Das war ihm klar. Aber dass ein anderer Mensch, ein fremder Mensch, eine Frau, so nahe war, machte doch einen Unterschied. Wieder kam der bedrohliche Gedanke des Ausgeliefertseins. Des Verlusts der Möglichkeit, sein eigenes Leben zu leben. Der Aussicht, auf immer ohne eigene Mitte zu sein. Die Angst bohrte in seinen Eingeweiden. Für eine Zeit war er überzeugt, alle Möglichkeiten zu seinem persönlichen Glück verloren zu haben.

Für eine Zeit. – Dann beruhigte er sich allmählich. Natürlich gab es Gegenargumente. Schließlich war er nicht für die Einsamkeit geboren. Er hatte alles andere nur vergessen.

Er kam nicht dazu, das Für und Wider abzuwägen. Andere Gedanken tauchten auf. Er dachte an die Frau im gelben Kleid. Glaubte für einen Moment die Wärme und Weichheit eines weiblichen Körpers zu spüren. Verlor sich in einem Wohlgefühl, das aber auch nicht lange währte. Mit Vera war es anders. Sie war verschlossen, in einer Weise, die beunruhigte. Sie war ein Rätsel, ein Geheimnis, bei dem man mit allem rechnen musste. Was wäre, wenn eines Tages ihr Leid wie Sprengstoff aus ihr herausbräche? Nein, Vera hatte nichts von Wohlgefühl.

In dem Loch der Kellerdecke erschien die erste Helligkeit, als er begann an den kommenden Tag zu denken. Es würde Neues zu tun geben, Neues zu suchen und Neues zu bauen. Der Tag würde anders werden als alle bisherigen hier in seinem Haus, aber er kannte sich genügend aus, um ihn zu bewältigen. – Der Gedanke beruhigte ihn und er schlief noch ein paar Stunden.

Am Morgen schaute er nach ihr. Sie saß wie ein Schatten in ihrer dunklen Ecke, als hätte sie sich die ganze Nacht nicht bewegt.

„Guten Morgen. Frühstück“, rief er ihr zu, aber sie rührte sich nicht. Er ging zu ihr hin, nahm ihre Hand, half ihr auf und führte sie zum Feuer, wo der Topf mit den kalt gewordenen Nudeln stand. Am Vorabend waren die Nudeln noch heiß gewesen. Dennoch hatte er sie ihr einzeln mit der Hand anreichen müssen und sie hatte jede einzelne genau angesehen, bevor sie sie in den Mund steckte, den Blick immer auf ihre Hände gerichtet. Sie hatte jede Nudel langsam und gründlich gekaut und nach einer kleinen Menge mit einer Geste weitere abgelehnt. An diesem Morgen füllte er eine Handvoll Nudeln auf einen Teller und gab ihn ihr. Sie schaute lange darauf, nahm dann aber selbst eine Nudel nach der anderen und aß sie mit der gleichen Andacht wie zuvor.

Nach dem Frühstück führte er sie in die Trümmer eines Grundstücks jenseits des Baches, auf dem er Kleider gesehen hatte. Es war erstaunlich, wie fügsam sie an seiner Hand ging, und hier in den Trümmern war das nicht einfach, Mauerstücke mussten umgangen, andere Hindernisse überklettert werden. Als sie schließlich anlangten, stand Vera vor einem Loch in den Trümmern eines Hauses, das wohl einmal ein kleines Zimmer gewesen und voll war mit Kleidungsstücken und Wäsche aller Art. Sie stand starr, als müsste sie darüber nachdenken, was das alles bedeutete, und erst als Bruno hinabstieg und ihr einen rosafarbenen Pullover anreichte, schien sie nicht anders zu können, als danach zu greifen.

Sie suchte sich dann selbst Kleidung und Wäsche zusammen, Bruno stand dabei und hielt ihre Funde auf dem Arm, damit sie die Hände frei hatte. Den Rückweg ging sie selbständig, nicht mehr an seiner Hand, sie hielt die Wäschestücke in ihren Händen und diese Berührung schien ihr gut zu tun. An Brunos Keller angekommen, breitete sie die Stücke aus und betrachtete sie lange, als müsste sie jedes einzelne von ihnen nun erst erwerben.

Der Moment, in dem sie Bruno zum ersten Mal ansah, war durch diese Betrachtung sicherlich vorbereitet worden, ausgelöst wurde er von etwas anderem: Bruno hatte die Zeit genutzt und im großen Kochtopf Wasser heiß gemacht. In einem Eimer holte er kaltes Wasser dazu. Beides stellte er vor sie hin und brachte noch einige Brocken unterschiedlicher Seife, die er auf seinen Gängen gefunden hatte.

Da schaute sie ihn an. Er war nicht sicher, ob sie ihm in die Augen sah, aber er konnte ihre sehen, die blass blau waren, mit einem leichten grünen und einem noch leichteren braunen Schimmer. Sie sahen sich an, einen Augenblick nur – ihre Lider senkten sich bald wieder. Sicher würde einige Zeit vergehen, bis es wieder zu einem solchen Blick kam, aber es war doch nicht mehr wie vorher.

Während sie bedächtig ihre Körperpflege begann, zog Bruno sich in seinen Raum zurück. Und es dauerte lange, bis die frisch gewaschene und neu eingekleidete Vera in den Keller herunterkam. Bruno konnte nur einen kurzen Blick auf sie werfen, dann verschwand sie in ihrer Ecke. Er verließ darauf den Keller, streckte sich auf seinem Sitz aus und schaute in den Himmel. Der Dunst erlaubte allenfalls eine Ahnung von Sternen, aber er wusste jetzt, dass es kein böses Schicksal war, das ihm Vera beschert hatte.

In der Tat waren es Hunde, deren aufdringliche Anwesenheit einige Tage später eine unverschlossene Seite in Veras Verhalten zutage brachte. Unmittelbar nach der Katastrophe waren alle, Menschen wie Hunde, in der Umgebung der Supermärkte geblieben. Angst lähmte sie, und dank genügender Vorräte an Lebensmitteln bestand ja auch keine Notwendigkeit sich zu entfernen. Erst als die Lebensmittel knapper wurden und der Schrecken der Katastrophe zu verblassen begann, brachen die Unerschrockenen auf, um die Trümmer zu durchsuchen, zuerst die Hunde, dann die Menschen. Selten hatte Bruno auf seinen Steifzügen Menschen gesehen, einzelne Hunde waren ihm öfter begegnet. Er mochte sie nicht in seiner Nähe, es ekelte ihn, wenn sie dasselbe Revier durchkämmten wie er. Deswegen hatte er sie immer durch Zurufe und lautes Händeklatschen vertrieben. Meist waren sie so scheu, dass sie sofort die Flucht ergriffen, und wenn es sein musste, hatte er mit Steinen nach ihnen geworfen.

Dass sie einmal zu seinem Keller kommen würden, hatte er sich nie vorgestellt. Und als es eines Tages geschah, sah es zuerst so aus, als ob nur ein einzelner Hund sich dorthin verirrt hätte. Bruno und Vera waren beide auf dem Fundament. Vera wusch ihre Wäsche in einer Plastikwanne, die sie von weither herangeschleppt hatte, und Bruno packte einen Rucksack mit Werkzeugen, Küchengeräten und Büchern aus den letzten Funden, von denen er hoffte sie bei seinem nächsten Besuch am Supermarkt als Tauschware verwenden zu können. Er hatte nichts gehört, und als er den Hund bemerkte, hatte Vera ihn bereits gesehen. Er hatte die Größe eines kleinen Schäferhundes, aber glattes, hellbraunes Fell, nur um den Hals herum war ein Kranz aus längeren schwarzen Haaren, was ihm ein verwegenes Aussehen gab.

Bruno stieß einen Schrei aus, den er aber sofort abbrach, weil Vera den Arm hob. Es war klar, dass sie das Kommando übernehmen würde, und als in den nächsten Sekunden von verschiedenen Seiten weitere Hunde auftauchten, zeigte sie keine Anzeichen von Überraschung. Die Hunde liefen herum, schnüffelten aufgeregt, offenbar angezogen von der Fülle menschlicher Gerüche. Vera nahm das alles wohl wahr, blickte aber nur den Leithund mit der schwarzen Halskrause an. Sie ging ruhig auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. Da machte auch er ein paar Schritte und begann an der Hand zu schnüffeln. Dann setzte er sich hin, ließ sich streicheln und sofort wurden alle Bewegungen der Hunde ruhiger. Einige ließen sich gleich nieder, andere liefen zu Bruno, um ihn zu beschnüffeln, wieder andere wollten auch von Vera gestreichelt werden. – Zwei Tage blieb die Meute auf dem Gelände, am darauffolgenden Morgen war sie verschwunden.

Das Erlebnis mit den Hunden hatte Vera für Bruno nicht weniger rätselhaft gemacht, aber jede Facette ihres Wesens, die er kennen lernte, machte sie ihm doch ein bisschen weniger fremd. Es entwickelte sich eine gewisse Selbstverständlichkeit in ihrem Umgang miteinander, die Bruno als angenehm empfand. Vera hatte schnell begonnen sich an der Arbeit zu beteiligen. Die regelmäßig anfallenden Arbeiten wie die Vorbereitung der Mahlzeiten oder das Wäschewaschen erledigten sie gemeinsam oder abwechselnd. Einmal, als Bruno gerade dabei war ein Regal zu bauen, um die immer größere Anzahl von Gefäßen und Küchengeräten unterzubringen, reinigte sie den Keller so gründlich, wie Bruno selbst es nie getan hätte.

Auch als der Regen kam, war es gut, dass sie zu zweit waren. Im Gefolge der Katastrophe musste es stark geregnet haben, daher stammten die Wasservorräte, die Bruno vorgefunden hatte. Dann aber hatte es für Wochen überhaupt kein Wetter gegeben, bis der dichte, graue Dunst immer häufiger aufriss und Luftbewegungen wieder spürbar wurden. Und für die Wasserversorgung war es ein Glück, dass eines Nachts ein kräftiger Regen einsetzte. Bruno und Vera kletterten sofort hinaus, stellten, so gut das in der Dunkelheit ging, Wannen, Eimer, Gefäße aller Art auf und verstopften die Kelleröffnungen mit Tüchern und Brettern, die der Wind nicht so leicht fortwehen konnte.

Etwas Besonderes zwischen ihnen war die Art ihrer Verständigung. Weiterhin machte Vera keinerlei Anstalten zu sprechen, aber ihre Körpersprache wurde offener und damit deutlicher, und in einzelnen seltenen Fällen setzte sie nachdrücklich ihre Gestik ein. Bruno war sicher, dass er das Wesentliche mitbekam, und gewöhnte sich seinerseits daran, mit Vera zu sprechen, obwohl sie nicht antwortete. Denn er merkte an vielen ihrer kleinen und größeren Reaktionen, dass sie ihn sehr gut verstand. Manchmal stellte er sich vor, wie merkwürdig ihre Kommunikation für einen Außenstehenden wirken musste, aber Außenstehende waren ja nicht da.

Die Suche nach Nützlichem und Tauschbarem ging natürlich weiter. Grundsätzlich brachen sie zusammen auf, jeder durchkämmte zwar für sich die Trümmer, aber sie blieben in Sichtweite. Es zeigte sich, dass jeder seinen eigenen Blick für den lohnenden Fund hatte: Während Bruno weiterhin in erster Linie nach Lebensmitteln Ausschau hielt, fand Vera immer wieder Textilien, Kleidung und bunte Stoffe, mit denen sie den Keller auskleidete. Beide suchten, jeder auf seine Weise, nach nützlichen Dingen, die sie im Haushalt verwenden oder am Supermarkt tauschen konnten. Einmal fand Vera eine funktionierende Taschenlampe und von da an hielten beide die Augen für Batterien auf.

Auch wenn Bruno, was nicht oft vorkam, zum Supermarkt ging, um Öl und Gemüsekonserven einzutauschen, ließ er Vera nicht allein. Sie kam mit, hielt sich bei den Gesprächen aber ganz zurück, schaute niemanden an, auch Marco nicht, so als wäre sie gar nicht da. Die Nähe der Menschen schien ihr Anstrengung abzuverlangen, und erst wenn sie zurück an ihrem Keller waren, entspannte sie sich wieder.

Die Welt draußen hatte wenig Anziehendes. Eine glaubhafte Zukunftsperspektive war nirgendwo zu sehen. Bei den Besuchen am Supermarkt war immer nur von Fund und Tausch die Rede, nie von Konstruktion und Schaffen. Über die Verschläge und Unterstände hinaus, die Bruno schon bei seiner ersten Ankunft vorgefunden hatte, wurde nichts gebaut, ein Versuch zur Wiederherstellung wenigstens einer Notversorgung mit elektrischem Strom wurde anscheinend nicht erwogen. Vielleicht war es ein kollektives Trauma, das alle Initiative lähmte. Vielleicht war die Katastrophe aber auch auf eine Generation getroffen, die nie gelernt hatte etwas aufzubauen und die durch das Fehlen einer Infrastruktur aus Stromversorgung und Internet all ihrer Möglichkeiten beraubt war.

Wie auch immer, es blieb ein Gefühl von Unwirklichkeit, das seine Ursachen in einem allgegenwärtigen Widerspruch hatte: Niemand wollte das Leben, so wie es war, alles war notdürftig, provisorisch, aufs bloße Überleben ausgerichtet. Nichts war bunt, freudvoll, herzerfrischend. Doch zugleich war dieser Zustand auf unendlich geschaltet, ein Ende war nicht nur nicht absehbar, es kam nicht einmal im Denken vor.

VII

Bruno hätte sich gern gegen solche Gedanken gewehrt, aber das ging nicht. Es war klar und es war ernsthaft betrachtet unausweichlich, dass die Bedingungen schwieriger würden, die seine und Veras Existenz bestimmten. So unendlich die Menge von Lebensmitteln, Kleidung und Geräten erschien, die in den Trümmern zu finden waren, sie würden nicht mehr lange ihnen allein gehören, sondern von allen möglichen anderen beansprucht werden. Das war absehbar, und absehbar war auch, dass sich nicht nur die äußeren, sondern auch seine inneren Bedingungen ändern würden: seine Erwartungen an das Leben waren nach der Katastrophe auf das bloße Überleben beschränkt, je mehr sich die Schockstarre löste, umso weniger würde er damit zufrieden sein.

Solchen Gedanken war nicht zu entkommen, aber es gab – gerade in diesen ungeklärten Zeiten – die Möglichkeit sich zu schützen, indem man das Denken immer wieder in einen engeren Horizont zurückführte, nur für den Augenblick dachte, vielleicht für die nächsten zwei, drei Tage. Und wenn das gelang, hatte man das Empfinden, dies sei ein Leben, mit dem man zurechtkam und das die Tage ausfüllte. Bruno hatte, was er zum Überleben brauchte, lebte ohne größere Angst und es gab sogar Momente, die er genießen konnte.

Diese fragile Zufriedenheit hatte eine ganze Zeit lang Bestand. Bis zu einem Ereignis, das dem Leben, das Bruno und Vera führten, ganz radikal die Grundlage entzog. Später war er sich sicher, eine Vorahnung gehabt zu haben, und das war auch keine bloße Phantasie. Denn es hatte Vorzeichen gegeben, die man als Warnsignale hätte verstehen müssen; er hatte sie von sich ferngehalten, als ob sie ihn nichts angingen und eigentlich nur störten. Immer häufiger waren nicht mehr nur Hunde, sondern auch Menschen dem Keller nahe gekommen, fast immer in Gruppen. Man hörte schon von weitem ihre Stimmen, später sah man sie durch die Trümmer klettern, nach vorn gebeugt, die Blicke suchend nach unten gerichtet. Es schien, als ob sie Bruno und Vera gar nicht sähen und nur darauf achteten, den offensichtlich bewohnten Raum zu meiden.

Möglicherweise hätten Gespräche und Austausch mit diesen Leuten Bruno beruhigen können. Er zog es aber vor, so zu tun, als ob es sie gar nicht gäbe. Auch gab er den Grundsatz auf, nur gemeinsam mit Vera den Keller zu verlassen. Immer öfter zog Bruno alleine los, und als er einmal bei der Rückkehr Fremde auf dem Fundament stehen sah, wollte er zuerst an einen freundlichen Besuch glauben.

Einen Augenblick sah es in der Tat wie ein Gespräch unter Nachbarn aus. Aber nur einen Augenblick. Er musste bloß Vera ansehen, deren ganzer Körper Abwehr war. Sie stand kerzengerade, hatte die Arme an die Brust gedrückt, und beim Näherkommen sah er, dass sie einen Stein in den Händen hielt. Er sah dann ihr Gesicht, das mit starren, weit aufgerissenen Augen Wut und Ekel ausdrückte. Aber keine Angst.

Der Mann, der vor ihr stand, trug eine Wollmütze und ein erstaunlich weißes Hemd. Er sprach mit der Gestik des wohlwollenden Pädagogen auf sie ein, brach aber sofort ab, als er Bruno sah. „Komm doch näher!“, rief er leutselig und gab damit den anderen ein Signal, sich Bruno nun auch zuzuwenden. Ein schlanker Mann mit langen Haaren und dünnem Bart stand abseits und betrachtete die Szene, als ob er nicht dazugehörte. Ein dritter fläzte sich auf dem Sitz, den sich Bruno am Kellereingang gebaut hatte. Er hatte in den Himmel geguckt und schaute jetzt über die Schulter zu Bruno hin. Und dann tauchte aus dem Eingangsloch ein Wuschelkopf auf, dessen rundes Gesicht vor Freude strahlte. Triumphierend beförderte er den Topf mit den Pellkartoffeln nach oben, die Vera am Morgen gekocht hatte. Er warf jedem eine zu, auch Vera und Bruno, die sich aber nicht rührten und die Kartoffeln von sich abprallen ließen. Die anderen fingen die Kartoffeln auf und begannen zu essen, alle mit der gleichen Gier, aber jeder auf seine Weise. Der erste biss hastig hinein, aß die Kartoffel mit der Schale. Der Dünnbärtige zupfte mit den Fingernägeln sorgfältig die Pelle ab, um dann gierig in die Knolle hineinzubeißen. Der dritte schien ohne Messer nicht essen zu können, er zerschnitt die Kartoffel und schob sie sich Stück um Stück in den Mund. Währenddessen stieg der Wuschelkopf aus dem Keller, stellte den Topf ab und begann selbst zu essen, eine dicke Kartoffel in jeder Hand.

Bruno stand regungslos dabei, wie wenn man im Traum ein schreckliches Geschehen seltsam ungerührt miterlebt, und als wie ein Überraschungsgast ein weiterer Mann dem Keller entstieg, war es wie ein Erwachen aus diesem Traum. Bruno sah die untersetzte Gestalt, über deren Muskeln die Kleidung spannte, er nahm den nüchternen Gesichtsausdruck wahr und die wachen Augen, die ihn prüfend musterten, bevor sich der Mann aus dem Topf bediente.

Gesprochen wurde nicht, bis alle Kartoffeln gegessen waren. Dann blickte der zuletzt Gekommene in die Runde und die anderen versetzten sich umgehend in eine Art von Aufmerksamkeit, die an einen militärischen Appell erinnerte.

„Alles klar“, sagte der Untersetzte, „gut hier, sehr gut, perfekt. Alles da. Hier bleiben wir.“ Er verzog sein Gesicht und sah zu Bruno hin: „Ihr könnt meinetwegen auch bleiben.“ Er sah zu Vera und sein Grinsen wandelte sich zu einem Lachen, einem Lachen, das dröhnte und in das die anderen ebenso dröhnend einfielen. Es war natürlich Triumph in diesem Lachen, die wilde Freude des Beutemachers. Aber man konnte auch Erleichterung heraushören. Es hatte die Genugtuung des Besitzers gegenüber all den armen Hungerleidern. Es hatte die Aggressivität dessen, der seinen Besitz zu verteidigen entschlossen ist. Und wenn man genau hinhörte, konnte man vereinzelt kleine, wirklich winzige, aber unverkennbare Fetzen von Verlegenheit und Scham erkennen. Mal trat das eine, mal das andere Element dieses Lachens stärker hervor. Es schwoll an und verebbte wieder ein wenig. Es wieherte wie eine schnapsschwangere Stammtischrunde, lief davon und kam wieder zurück und manchmal rang es nach Luft, als ob es riesige Anstrengung kostete. Es donnerte und man glaubte Blitze zu sehen wie bei einem Feuerwerk. Es dröhnte wie aus einem tiefen Schacht und es stand in der Luft wie die Staubsäule eines Wirbelsturms.

Als es endlich zu Ende war, dieses Lachen, hatte Bruno seine Lähmung überwunden. Er ging zu Vera und führte sie an der Hand zur Straße. Sie gingen bis sie nichts mehr hörten, bis sie nichts mehr hätten sehen können. Bis sie alles verloren hatten. Dann suchte Bruno einen Platz, um sich mit Vera hinzusetzen. Sie zitterte jetzt.

„Es ist vorbei“, sagte er. Er wollte sie beruhigen, erst im Nachhinein fiel ihm auf, dass seine Worte doppeldeutig waren. Und in diesem Moment überfiel ihn selbst der Jammer. Er spürte den Druck hinter den Augen und in den Nasenhöhlen und merkte dann, wie sein Gesicht von Tränen nass wurde. Vera sah ihn nicht an, aber sie musste es gemerkt haben, sie rückte ein Stück an ihn heran. So saßen sie lange.