Inselmotiv mit Herz - Rita Roth - E-Book
SONDERANGEBOT

Inselmotiv mit Herz E-Book

Rita Roth

5,0
0,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein halbes Jahr auf Norderney. Nichts weiter als Strand, Meer und Möwengeschrei. Textildesignerin Ellie sehnt sich nach Ruhe und Inspiration, um ihre Enttäuschung hinter sich zu lassen. Als sie deswegen für ein halbes Jahr auf das idyllische Norderney zieht, begegnet sie dem leidenschaftlichen Hobbyfotografen und Elektriker Enno, der ebenfalls seine eigenen Wunden trägt. Doch das Schicksal hält einige Überraschungen bereit: Ellie und Enno sind Konkurrenten auf Instagram, ohne es zu wissen. Bei der Jagd nach dem perfekten Inselmotiv finden Ellie und Enno jedoch nicht nur Freundschaft, sondern auch eine tiefe Verbundenheit. Da ist allerdings auch noch Ellies Nachbar Oliver. Der Schriftsteller schleicht sich langsam mit seinem unaufdringlichen Charme und süßem Lakritz in ihr Herz. Vor der traumhaften Kulisse der Nordsee-Insel muss sich Ellie ihren Gefühlen stellen und lernen, sich auf den Wellengang des Lebens einzulassen – und dass es manchmal ganz guttut, wenn der Wind sich dreht.   Eine herzerwärmende Geschichte von Freundschaft, Liebe und der Magie des Unbekannten vor der malerischen Kulisse der ostfriesischen Insel. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
5,0 (2 Bewertungen)
2
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
aberthoud

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

gediegen angehen man möchte das Buch nicht beiseite legen
00



1

Der Geschmack von Salz auf meinen Lippen kommt nicht nur von der salzhaltigen Nordseeluft oder den aufspritzenden Gischtfontänen. Es sind die Tränen, die ihre Spuren auf meinem Gesicht hinterlassen, ehe sie in meinem Wollschal versickern, in den ich mit zittriger Stimme flüstere: »Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen.«

Es ist mir egal, ob mich jemand heulen sieht. Man wird denken, es sind die eisigen Windböen, die mir das Wasser in die Augen treiben. Auf dem oberen Deck der Norderneyfähre hält sich sowieso keine Menschenseele auf, denn das Wetter ist saumäßig. Es passt perfekt zu meiner Stimmung.

Vor ungefähr zwanzig Minuten haben wir den Hafen von Norddeich Mole hinter uns gelassen und schippern nun durch die wilde Nordsee. Nur die Windräder, die wie warnende Zeigefinger in den Himmel ragen, lassen die Küste erahnen. Ich winke ihnen zu, schniefe erneut und wische mir mit einem zaghaften Lächeln die Tränen fort. Alles, was meiner Entscheidung für eine Auszeit auf einer Insel vorausgegangen ist, hat mich unzählige schlaflose Nächte gekostet. Doch jetzt spüre ich eine unbändige Vorfreude, die sich immer stärker in mir ausbreitet. Ich sehne mich danach, mein altes Leben, meine Grübeleien und die Erinnerungen an André, meinen Ex-Freund, für immer hinter mir zu lassen.

Oben in der Luft zieht eine Möwe majestätisch ihre Kreise. Mit ihren schneeweißen Schwingen hebt sie sich wunderschön gegen den düsteren Himmel ab, während sie elegant und scheinbar schwerelos dahingleitet. Doch von einem Augenblick auf den anderen kommt sie mit rasender Geschwindigkeit auf mich zugeschossen, als wollte sie mich angreifen. Schützend halte ich einen Arm vor mein Gesicht und gehe in Deckung, während ich mein gerade ausgepacktes Butterbrot eilig in der Papiertüte verschwinden lasse. Dem dreisten Federvieh gefällt das überhaupt nicht. Es quittiert meine Reaktion mit einem dicken Möwenschiss, der voll auf meine nagelneue Mütze aus kostbarer Kaschmirwolle platscht. Das teure Accessoire ist nun ruiniert und kann nicht mehr getragen werden. Der unverschämte Vogel erhebt sich daraufhin triumphierend mit schadenfrohem Gezeter zurück in die Lüfte und segelt elegant davon.

»Igitt!«, erklingt plötzlich eine Stimme aus nächster Nähe. »Saufrech, diese Möwen.«

Als ich mich umdrehe, blicke ich in ein blasses Mädchengesicht mit Zahnspange, das mich schadenfroh angrinst.

»Hast Glück gehabt«, erklärt das Mädchen kichernd. »Sie hätte dich auch im Gesicht treffen können. Mir ist das schon einmal passiert. Das ist so was von fies, das kannst du dir nicht vorstellen. Du hast echt Schwein gehabt.«

Na super. Fräulein Neunmalklug kennt sich anscheinend bestens aus.

»Übrigens, schöne Mütze«, meint sie. »Wenn du den Dreck nicht sofort auswäschst, kannst du sie direkt über Bord schmeißen.«

Verblüfft betrachte ich die Göre mit der klobigen schwarzen Brille, hinter der mich ihre schelmischen graublauen Augen anlachen. Zumindest sie hat ihren Spaß an meinem Missgeschick.

»Du kennst dich mit Möwen ja ziemlich gut aus. Wohnst du auf der Insel? Bist du ein Inselkind?«, frage ich sie freundlich, schließlich kann sie nichts dafür, dass das Federvieh es auf mich abgesehen hatte. Außerdem bin ich von Natur aus nett, umgänglich und vorwiegend heiter, so wie es im Allgemeinen von einer sommersprossigen, rothaarigen Frau erwartet wird. Es sei denn, man gehört zu dem Frauentyp, der supersexy ist, zu dem ich definitiv nicht zähle. »Also, bist du eine Einheimische? Eine echte Insulanerin?«, wiederhole ich meine Frage mit etwas mehr Nachdruck.

»Sehe ich so aus?«, fragt sie zurück und grinst noch ein bisschen breiter. »Wasch lieber das Dreckzeugs aus deiner Designermütze und schnack nicht so viel.« Sie schaut mir teils frech, teils amüsiert in die Augen und erkundigt sich nach meinem Befinden.

»Musst du spucken?«, fragt sie.

»Spucken?«, wiederhole ich, denn ich habe keine Ahnung, was sie damit meint.

»Reihern, kotzen«, übersetzt sie allgemein verständlich. »Ist ja mal ganz schön stürmisch heute. Bist du deshalb hier oben?«

»Habe ich noch nicht drüber nachgedacht«, entgegne ich. »Ich glaube nicht.«

Mit spitzen Fingern zerre ich das beschissene Wollteil von meinen Locken. Angewidert betrachte ich die Bescherung, ehe ich dem Mädchen die Mütze gebe.

»Schenke ich dir«, sage ich großzügig zu der Kleinen, die ich auf elf oder zwölf Jahre schätze, vielleicht ist sie auch erst zehn.

Die Lütte schaut erst verwundert drein, dann strahlt sie mich freudig an. »Echt jetzt?«

Schneller, als ich gucken kann, läuft sie zur Treppe und verschwindet nach unten.

Ohne Kopfbedeckung ist es fies kalt und auch feucht. Mit geübten Handgriffen versuche ich, meine vom Wind zerzauste Mähne mit einem Haargummi zu bändigen. Als ich das geschafft habe, zurre ich meine Kapuze am Kopf fest. Ich bin nicht scharf darauf, mir ausgerechnet jetzt eine Erkältung einzufangen. Noch einmal stelle ich mich an die Reling und schaue den Wellen dabei zu, wie sie sich krachend am Rumpf der Frisia brechen. Das Schaukeln der Fähre wird immer heftiger, ich sollte besser hineingehen.

Einem plötzlichen Impuls folgend, laufe ich dann aber zur Vorderseite des Schiffs. Nur ein einziges Mal möchte ich wie die Schauspielerin Kate Winslet auf der untergehenden Titanic am Bug stehen, meine Arme ausbreiten und nachempfinden, was das für ein Gefühl ist.

Den Blick starr aufs Meer gerichtet, hebe ich meine Arme und spanne sie bis in die Fingerspitzen an. Ich atme die raue Seeluft tief ein, schließe meine Augen und frage mich, ob ich wohl untergehe oder ob meine Inselzeit der Beginn von etwas komplett Neuem ist. Einen Augenblick lang verharre ich in dieser Position, schmecke das Salz und spüre die Kälte auf meinem Gesicht, höre das Tosen der Wellen, das Gekreisch der Möwen und nehme auch das Schaukeln der Fähre wahr. Es macht mich schwindelig, mir dreht sich alles und mir wird übel.

Das war keine wirklich gute Idee. Schwankend stemme ich mich dem Sturm entgegen, klammere mich an allem fest, was ich zu fassen kriege, und verlasse das Deck. In der unteren Etage geht es mir gleich besser. Ich hocke mich auf den nächstbesten Platz und wärme mich auf, dankbar, wieder in Sicherheit zu sein.

Nach ein paar Minuten suche ich die Waschräume auf und hoffe, das Mädchen auf dem Weg wiederzusehen. Sie ist jedoch wie vom Erdboden verschwunden, nirgends kann ich Fräulein Neunmalklug entdecken. Ich hätte sie wenigstens nach ihrem Namen fragen sollen. Habe ich aber nicht, weil ich viel zu sehr mit mir beschäftigt war, mit meiner Wut und meinem Selbstmitleid. Es ist gut möglich, und ich hoffe es sehr, dass wir uns beim Auschecken noch einmal über den Weg laufen. Oder später, irgendwo auf der Insel. So groß ist sie ja nicht, mit ihren vierzehn Kilometern Länge und gut zweieinhalb Kilometern Breite.

»In wenigen Minuten erreichen wir unser Ziel«, tönt die Durchsage des Kapitäns aus den Lautsprechern. Wie auf Kommando kommt Bewegung in die Fahrgäste. Es wird unruhig und wuselig. Menschenmassen schieben sich an mir vorbei, wuchten ihre Koffer aus den Ablagen und drängen vollbepackt in Richtung Ausgang. Es ist unglaublich, wie viele Touristen Ende Februar nach Norderney reisen. Ich frage mich, ob das alles Urlauber sind oder auch Saisonkräfte, die am Ersten eine neue Stelle antreten.

Gemächlich folge ich der Menschentraube zu der Luke, die uns auf die Insel entlässt. Ich bin nur froh, dass ich meinen schweren Koffer vorausgeschickt habe. Er wartet bereits in der Wohnung auf mich, die für die nächsten sechs Monate mein Zuhause sein wird. Als eine der letzten Passagiere gehe ich von Bord. Ich bin angekommen. Ich habe es nicht mehr eilig.

2

Ach, du Schreck!, denke ich, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe und ein Schild mit meinem Namen entdecke. Das ist ja ein seltsamer Empfang. Unwillkürlich muss ich an eine Situation denken, als ich noch ein Kind war und aus dem Spieleparadies abgeholt werden sollte. Den Kinderschuhen bin ich mit meinen zweiunddreißig Jahren längst entwachsen. Nur ganz selten schlüpfe ich hinein und bin dann leichtsinnig und albern. Das Willkommensplakat ist mir wahnsinnig peinlich. Es würde mich nicht wundern, wenn jetzt auch noch eine Lautsprecherdurchsage ertönt, die sämtliche Aufmerksamkeit auf meine Person lenkt.

Und dann sehe ich, dass unter meinem Namen auch noch mein Heimatort vermerkt ist. Auf der Stelle möchte ich im Boden versinken! Hoffentlich sieht niemand zu, wenn ich zu der hektisch herumhüpfenden Frau gehe, die nach mir Ausschau hält.

Ellie aus Bielefeld!

Mit einem fetten Marker auf braunem Karton sticht das sofort ins Auge. Um mich herum wird es überschaubar, die meisten Reisenden eilen zu den bereitstehenden Bussen oder zu einem Taxi. Nur noch wenige warten im Eingangsbereich. Nun hat die Empfangsdame mich entdeckt und kommt mit großen Schritten auf mich zugeeilt.

Wir kennen uns lediglich aus dem Internet. Dort habe ich sie bei meiner Suche nach einer Wohnung für eine längere Aufenthaltsdauer gefunden. Die Schlüsselübergabe sollte eigentlich vor dem Hochhaus stattfinden, in dem sich ihre Wohnung befindet.

»Ellie?«, spricht sie mich an.

Ich nicke. »Dann bist du Nele? Ist etwas passiert?«

Ihre Nervosität springt auf mich über. Sie macht mich kirre, ich werde auch schon ganz kopflos. Was ist, wenn sie es sich anders überlegt hat und einen Rückzieher machen will? Wir kennen uns ja so gut wie gar nicht. Von meiner Vermieterin Nele Neise weiß ich nicht viel mehr, als dass sie für ein halbes Jahr zu ihrem Freund nach Süddeutschland ziehen will. Die zwei haben sich über eine Dating-App kennengelernt, und es hat gleich voll gematcht, hatte sie geschrieben. Nach einigen Treffen an den Wochenenden wollen sie nun austesten, wie es mit dem Zusammenleben im Alltag klappt.

Was ist, wenn der Kerl sich plötzlich von ihr getrennt hat? Wenn ich auf der Stelle wieder zurück nach Bielefeld muss? Dann bringe ich ihn um! Zumindest in meiner Fantasie. Seit Wochen freue ich mich schon auf Norderney. Das darf mir doch jetzt nicht kaputtgemacht werden.

»Nein«, beruhigt sie mich, als könnte sie Gedanken lesen. »Es ist nichts Schlimmes passiert.«

Mein Gott! Bin ich erleichtert.

»Ich hab’s nur wahnsinnig eilig. Der Fährverkehr wird wegen einer Unwetterwarnung eingestellt. Das ist jetzt die letzte Fähre, die heute noch geht. Mit der muss ich aufs Festland übersetzen.« Sie spricht genauso hastig, wie sie von einem Bein auf das andere tritt. »Hier ist der Schlüssel. Siebter Stock. Aber das weißt du ja bereits. Ich habe dir einen Umschlag auf den Esstisch gelegt. Darin findest du alles, was du wissen musst. Außerdem haben wir ja unsere Kontaktdaten. Du kannst mich immer anrufen, wenn du ein Problem mit der Wohnung oder im Haus hast. Steht aber auch alles in meinen Notizen. Hab ne geile Zeit auf meiner Insel«, wünscht Nele, drückt mir einen Schlüsselbund in die Hand und auch den Stab mit dem Schild. »Da vorne steht dein Bus. Beeil dich, damit du noch mitkommst. Der will sofort los.«

Ich wünsche ihr auch eine superschöne Zeit und bin mir ziemlich sicher, dass Nele die haben wird. Dann stürme ich los, zur Buslinie Nummer eins.

Der Motor läuft bereits, die Türen sind aber noch geöffnet. Der Busfahrer grinst mich komisch an, als ich ein Ticket lösen will.

»Moin Ellie«, sagt er. »Ich dachte immer, Bielefeld gibt‘s gar nicht.«

Nicht schon wieder dieser Spruch! Ich rolle nur mit den Augen und suche nach einer Gelegenheit, das doofe Schild loszuwerden. Leider erfolglos. Die anderen Fahrgäste verfolgen amüsiert unser Geplänkel. Kaum bin ich drin, ist der Busfahrer nicht mehr der Einzige, der mich mit meinem Namen anspricht. So funktioniert das also, wenn man berühmt werden will. Dem Blödmann hinterm Steuer würde ich am liebsten die Zunge rausstrecken, so genervt bin ich. Doch da ruckelt der Inselbus auch schon los, und ich suche mir schnellstmöglich einen sicheren Halt.

3

Als ich schnaufend die Treppen bis in den siebten Stock bewältigt habe und Neles Wohnungstür aufschließe, weht mir ein feiner Zitrusduft in die Nase, bei dem mir das Wasser im Munde zusammenläuft.

In einer bauchigen Schale auf dem Tisch sind leuchtende Orangen so perfekt arrangiert, dass ich nicht anders kann, als hinzugehen und zu fühlen, ob sie echt sind. Das sind sie, es ist keine Deko. Das Orange ist, abgesehen von meinem grünen Koffer, der einzige Farbtupfer in dem kleinen Wohnraum mit integrierter Küchenzeile. Die beiden knalligen Farbtupfer beleben die in Grau- und Weißtönen gestaltete Wohnung, in der nur wenige hochwertige Holzmöbel für eine behagliche Atmosphäre sorgen. Mein Koffer wirkt in der Umgebung völlig deplatziert, den lasse ich sofort im Schlafzimmer verschwinden.

Voller Neugier sehe ich mich dann in dem Apartment um. Ich werfe einen Blick in jede Nische, von denen es zu meinem Erstaunen mehr als eine in dem kleinen Wohnraum von höchstens dreißig Quadratmetern gibt. Das Domizil ist ein bisschen verbaut, für so etwas habe ich einen Blick. Im vergangenen Jahr habe ich mit meinem Ex-Freund zahlreiche Immobilien besichtigt. Wir sind aber nie auf einen Nenner gekommen, unsere Ansprüche sind zu gegensätzlich.

Ich wollte auf alle Fälle ein Zimmer, in dem ich mein Homeoffice einrichten konnte, außerdem habe ich auch ein Kinderzimmer berücksichtigt. Solange noch kein Nachwuchs in Sicht war, sollte das unser Gästezimmer sein. André fand jedoch immer etwas zu mäkeln, sobald ich mich für ein Objekt begeisterte. Im Nachhinein bin ich dem Universum unendlich dankbar, dass wir nicht zusammengezogen sind. Was hätte das für ein Theater gegeben.

Trotz der eigenwilligen Aufteilung ist das Apartment genial möbliert. Diese vier Wände lassen keine Wünsche offen, hier werde ich mit Freude arbeiten, essen und chillen. Alles ist modern, gemütlich und lädt zum Wohlfühlen ein. Ein Teil der Möbel, die aus einem schwedischen Kaufhaus stammen, kommt mir aus meiner eigenen Wohnung bekannt vor.

In dieser Umgebung wird es mir leichtfallen, mich inspirieren zu lassen und hübsche Designs für meinen Arbeitgeber zu entwerfen. Am Strand spazieren gehen und das Leben genießen stehen ganz weit oben auf meiner Liste. Nicht einen Gedanken werde ich an das Gewesene und an André mehr verschwenden. Meinen gesammelten inneren Müll habe ich bei der Überfahrt über Bord gekippt und meinen Ex bei einer fiesen Orkanböe ohne Rettungsring gleich hinterher.

Während ich noch über die drei Hochhäuser sinniere, die schon von Weitem zu sehen sind, wenn man auf die Insel zufährt, fällt mein Blick auf eine kleine glänzende Kaffeemaschine, die mich sofort anlockt. Leider ist es kein Vollautomat, sondern so ein Ding, für das man Kapseln benötigt. In einem gläsernen Behälter daneben sehe ich nun auch eine bunt zusammengewürfelte Mischung von Kaffeekapseln. Mit geschlossenen Augen greife ich hinein wie in eine Glückstrommel. Als ich sie wieder öffne und in meine Hand schaue, muss ich lachen. Mit sicherem Griff habe ich die Sorte erwischt, die einen extra starken Koffeinkick verspricht. Den kann ich jetzt auch brauchen.

Umgehend setze ich die Kaffeemaschine in Gang und kann es kaum erwarten, bis die schwarzbraune Flüssigkeit meinen Becher füllt. Wieder fällt mein Blick auf die Früchte. Die Kombination von Kaffee und Orangen finde ich sehr gelungen. Nele hat voll meinen Geschmack getroffen, allerdings wäre eine Tafel Schoko auch nicht schlecht gewesen.

Solange der Kaffee in den Becher tröpfelt, schäle ich mir eine Frucht, deren Saft mir voll ins Gesicht spritzt. Mit der Zunge versuche ich, ihn abzulecken, und muss dabei an die Zeit zurückdenken, als ich noch glaubte, dass man mit Zitronensaft Sommersprossen bleichen kann.

Als Teenager litt ich unsagbar unter den vielen Sprenkeln in meinem Gesicht, ich ließ nichts unversucht, das zu ändern, und probierte natürlich auch diese Methode aus. Meine unzähligen Tupfen sollten, verdammt noch mal, unsichtbar werden. Die Hänseleien meiner Mitschüler reichten mir, sie bezeichneten meine Pigmentflecken als ›Rostflecken‹ und nannten mich ›Rostbeule‹. Aber auch nach etlichen Versuchen, in denen ich das Zeug auch nachts draufließ, wollten sie nicht verschwinden. Mittlerweile sind wir Best Friends, meine Sommersprossen und ich. Ich mag sie, finde sie lustig und habe sogar mal angefangen, sie zu zählen. Es sind aber so viele, dass ich nach über hundert aufgegeben habe.

Mit einem Küchentuch wische ich mir die Saftspritzer von der Haut und tupfe auch den Briefumschlag trocken, auf dem der Saft seine Spuren hinterlassen hat.

›Für Ellie‹, steht auf dem Umschlag. Ich nehme an, es sind die Hinweise und Instruktionen, von denen meine Vermieterin gesprochen hat. Das hat noch Zeit, beschließe ich. So etwas Wichtiges wird sich wohl nicht darin finden, ich muss mich erst einmal um mein leibliches Wohl kümmern. Mit dem Kaffeepott in der Hand gehe ich zum Kühlschrank und inspiziere ihn. Sehr übersichtlich sieht es darin aus. Für einen kleinen Imbiss und das Frühstück sollte es jedoch reichen.

Eine Flasche Prosecco, extra für mich, ist auch darin. Das ist ja mega lieb von Nele. Ob ich die zur Feier des Tages öffnen sollte? Nach den ersten zwei Schlückchen habe ich wahrscheinlich einen Schwips und falle noch vor dem Sandmännchen ins Bett. In letzter Zeit habe ich so gut wie keinen Alkohol getrunken. Nur zu besonderen Anlässen mal ein Gläschen. Heute ist ohne Frage so ein Tag, der gefeiert werden sollte. Außerdem, wenn ich mir einen zwitschere, wird das Heulen des Sturmes bestimmt erträglicher. Vom Bett aus könnte ich noch eine schöne Serie gucken und dabei ein Glas Sekt trinken und dann schlafen. Ich glaube, das ist ein guter Plan.

4

Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt, die Matratze getestet habe und unter der Dusche war, rolle ich meine Yogamatte aus. Im Schlafanzug mache ich meine Yogaübungen, zuerst den Sonnengruß, dann den Krieger, den Helden und weitere Asanas, die ich ohne Anleitung beherrsche.

Nach dem Workout bin ich total entspannt, nun habe ich Lust, meine Ankunft mit einem Prosecco zu feiern. Erst jetzt schnappe ich mir den Umschlag von Nele und lümmle mich aufs Sofa. Draußen pfeift der Sturm irrsinnig laut um die Ecken, und überall klappert etwas. Ich versuche, das Heulen und Pfeifen mit Musik von meiner Lieblingsplaylist zu übertönen, da das Radioprogramm mit den vielen Unwetterwarnungen nicht zum Aushalten ist. Was habe ich ein Glück gehabt, dass ich noch vor dem Orkan und der Sturmflut angekommen bin und das WLAN erfreulicherweise sehr gut funktioniert. Ohne Internet ist es unmöglich, meinen Job auch von hier aus zu erledigen.

»Cheers«, proste ich mir zu. »Auf mich und meine Inselzeit.« Der Prosecco ist richtig lecker. »Und darauf, dass der Sturm mich nicht weggeweht hat.«

Ich kichere in mich hinein und komme auf die Wahnsinnsidee, den Balkon zu begehen. Ich will doch unbedingt vom siebten Stock aus aufs Meer schauen. Mich einmal so richtig durchpusten lassen. Dass die Wucht einer Böe im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend sein kann, habe ich dabei nicht bedacht. Zum Glück habe ich mich nicht verletzt, die Aktion war echt leichtsinnig und dumm von mir. Auf allen Vieren muss ich über die Steinfliesen zurückkrabbeln. Und nur mit Anstrengung ist es mir nach mehreren Versuchen gelungen, die Tür wieder fest zu verschließen.

Darauf leere ich das Glas in einem Zug und nehme mir dann das Kuvert vor, in dem drei eng beschriebene DIN-A4-Seiten stecken. Die Schrift ist klein und krakelig, und das oberste Blatt sieht aus, als wäre ein Tier, eine Katze, darübergelaufen. Mir fährt ein Schreck in die Glieder, hat Nele Neise nicht etwas von einem Kätzchen erwähnt? Die Tinte an den Abdrücken der Tatzenspuren ist verwischt, ihr Geschreibsel ist kaum zu entziffern.

Wo mag der kleine Kater, den ich jeden Abend, wie vereinbart, kraulen und natürlich auch versorgen soll, denn bloß stecken? Auf den ersten Blick kann ich ihn nicht entdecken. Bestimmt ist er scheu und hat Angst vor mir, er kennt mich schließlich nicht.

»Pedro«, rufe ich zaghaft. Nichts passiert. Kein leises Maunzen und auch kein böses Fauchen. Vorsichtig schaue ich unters Sofa, gehe ins Bad, hebe die Bettdecke an, kann ihn aber nirgends orten. Meine Stimme überschlägt sich bald, als ich ihn erneut rufe. Wesentlich lauter. Mein Gott, wenn er sich auf leisen Sohlen auf den Balkon geschlichen hat, als ich draußen war? Ich presse meine Nase gegen die Scheibe, halte die Hand über die Augen und starre in die dunklen Wolken, die tief am Himmel hängen. Der Balkon bietet keine Möglichkeiten, sich zu verstecken. Er ist noch nicht einmal mit einem Netz geschützt, wie ich das von einer Nachbarin in Bielefeld kenne.

Katzen haben sieben Leben, rede ich mir ein und schenke noch einmal nach. Wohl ist mir nicht bei der Vorstellung, dass das arme Tier irgendwo da draußen ist. Noch einmal kann ich es aber nicht riskieren, auch nur die kleinste Luke zu öffnen.

»Auf dich, Pedro, mögest du sieben Leben haben und Flügel. Und einen Schutzengel!« Mit dem Finger fahre ich die Katzentatze auf dem Schriftstück nach, und dann gönne ich mir noch einen Prosecco, aus Erleichterung darüber, dass ich lese, dass Nele es nicht übers Herz brachte, den getigerten Kater zurückzulassen. Sie hofft, ihr Bayer verliebt sich auch in den verschmusten Racker. Zusammen mit einem Hicks entweicht mir ein abgrundtiefer Seufzer, ein Stein fällt mir vom Herzen. Mein Hicks entwickelt sich zu einem hartnäckigen Schluckauf, der mich in immer kürzer werdenden Abständen schüttelt. Luft anhalten zeigt keinen Erfolg, auch nicht die vielen anderen Weisheiten, die man für einen Hicks im Laufe seines Lebens mitbekommt. Ich probiere alles aus, doch nichts hilft.

Als ich auf Seite zwei angekommen bin, halte ich verwundert den Atem an, sodass selbst mein Hicks verstummt.

»Was ist denn das für ein bescheuerter Deal?«, murmle ich und zweifle ein wenig an meiner Wahrnehmung. Steht das da wirklich so geschrieben, oder habe ich zu viel getrunken? Die Flasche ist noch halb voll, daran kann es also nicht liegen. Augenblicklich stelle ich sie zurück in den Kühlschrank. So geht das nicht, mein Gleichgewichtssinn droht mich im Stich zu lassen. Ich habe aber auch den ganzen Tag über so gut wie nichts gegessen. Meine Stulle fällt mir wieder ein, die ich vor der Möwe retten konnte. Und auch das Mädchen mit seiner vorwitzigen Art. Ob sie den Möwenschiss wohl vollständig auswaschen konnte? Das würde mich schon interessieren.

Mein Brot, das dick mit Käse, Tomate und Ei belegt ist, sieht immer noch sehr appetitlich aus, hungrig falle ich darüber her. Gleich fühle ich mich gestärkt und greife erneut zu Seite zwei von Neles Aufzeichnungen. Laut lese ich nun, was sie geschrieben hat.

»Kleine Änderungen unseres Vertrags! Um Pedro musst du dich doch nicht kümmern, was dir vielleicht ganz lieb ist. An deiner Miete ändert sich dadurch aber nichts, da kann ich dich beruhigen. Dir jetzt mit einer Zuzahlung zu kommen, wäre unfair. Die Norderneyer Mieten sind unverschämt hoch, und bei dir bin ich ans unterste Limit gegangen, weil du ordentlich rechnen musst, um dir den Aufenthalt leisten zu können. Hoffentlich hast du jemanden gefunden, dem du deine Wohnung für den Zeitraum untervermieten konntest!«

Belustigt schüttle ich den Kopf. So einfach ist das nicht, zumindest nicht in der westfälischen Stadt, über die ständig dumme Sprüche gemacht werden.

»Letztens, als ich wieder einmal nicht einschlafen konnte, bin ich auf eine, wie ich finde, geniale Idee gekommen, wie du deine Mietkosten reduzieren kannst. Das ist eine einmalige Chance, und ich hoffe sehr, du magst dich darauf einlassen.«

Noch einmal hole ich tief Luft, dann lese ich weiter. Sie macht es ja spannend. Als ich begreife, was das für mich bedeutet, halte ich die Idee für gar nicht mal so schlecht. Im Gegenteil, das ist ein interessantes Angebot. So üppig verdiene ich in meinem Job als Textildesignerin nun auch nicht. Um das zu ändern, könnte ich nebenberuflich Aufträge auf Honorarbasis annehmen. Bislang habe ich mit meinem Chef aber noch nicht über meine Pläne gesprochen.

Also, was soll ich tun? Was will sie von mir? Aufmerksam lese ich Wort für Wort Neles Vorschlag. Es sieht so aus, als ob ich als Gegenleistung für eine Mietkürzung ihren Instagram-Account pushen soll. Es scheint da einen Konkurrenzkampf zu geben, und sie glaubt, dass ich dafür geeignet sein könnte, ihren Konkurrenten, der unter dem Hashtag #on_ney_forever bekannt ist, abzuhängen.

»Für fünfzig neue Follower erlasse ich dir jeden Monat zehn Euro. Je mehr hinzukommen, desto weniger Miete zahlst du! Na, ist das ein Deal? Du bist ja noch so jung, ich bin sicher, du kennst dich mit Instagram aus und schaffst das.«

Ups. Nun genehmige ich mir doch noch ein letztes Gläschen, packe mein iPad aus und suche auf Instagram nach Neles Konkurrenz. Wow! Der hat ja jede Menge Fans, die ihm folgen. Anschließend sehe ich mir Neles Seite an, die ebenfalls ganz nett aussieht. Sie hinkt allerdings weit hinter ihm her. Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll!

Aufgeregt lese ich den Rest ihres Schreibens. Sie will mich auch noch kontrollieren und täglich nachsehen, wie der Stand der Dinge ist. Als wenn ich nichts Besseres zu tun habe, als mich ständig auf die Suche nach megaschönen Inselmotiven zu machen. Ich kenne Norderney ja nicht einmal, war ein einziges Mal auf Klassenfahrt dort, und das liegt ungefähr zwanzig Jahre zurück.

Bevor ich mich für Norderney entschieden habe, habe ich viele Stunden im Internet auf der Insel verbracht, auch auf Instagram. Ich mag es ja gar nicht sagen, aber ich bin auch eine der Fans von Neles Konkurrenten. Dann muss ich ihm wohl wieder entfolgen, ist mein erster Impuls, den ich aber sofort wieder verwerfe. Ich muss ja im Bilde sein, wenn er etwas veröffentlicht hat. Und ich muss es irgendwie hinkriegen, schneller zu sein und die Leute für meine Beiträge zu begeistern. Ich habe keine Ahnung, was ich alles anstellen soll, damit ich mit der Aktion ein paar Kröten einsparen kann. Natürlich kann ich auch Nein sagen, aber irgendwie mag ich die Herausforderung. Es ist total verrückt, völlig abgedreht, aber ich sehe es sportlich. Es ist nichts anderes als eine Challenge, die mich auf andere Gedanken bringt. Deshalb bin ich schließlich hier.

Auf der dritten Seite finde ich alle möglichen Kontakte, für den Fall, dass ich mal einen Handwerker oder einen Arzt brauche. Auch ein paar Strandlokale empfiehlt Nele mir, neben allerlei Tipps, welche Sehenswürdigkeiten ich mir unbedingt anschauen sollte. Das ist doch purer Egoismus von ihr, sie will, dass ich überall dort mit der Kamera unterwegs bin. Zum Schluss schreibt sie, dass sie sich täglich ansehen wird, was ich gepostet habe. Das ist echt heftig.

Heftig ist aber auch der Lärmpegel des Orkans, der draußen herrscht und alles mit sich reißt, was nicht angekettet ist. Mir kommt es vor, als würde er auch im Treppenhaus wüten, deswegen gehe ich mal eben nachsehen. Kaum habe ich die Tür einen Spaltbreit geöffnet, streift etwas mein Bein. Ich zucke zusammen, trete vor die Tür und bin beruhigt, als ich sehe, dass im Flur alle Fenster verschlossen sind.

Mir kommen Zweifel, als ich wieder drin bin, ob da etwas war. Zu sehen ist nichts, aber die seltsamen Geräusche sind verstummt. Ein Einbrecher kann es nicht gewesen sein. Ist mir auch egal. Ich habe inzwischen die nötige Bettschwere, der Tag war aufregend, und der Fernseher im Schlafzimmer übt einen enormen Reiz auf mich aus. Bevor ich aber ins Bett verschwinde, räume ich noch schnell auf, baue meinen Laptop auf und bereite alles für den nächsten Tag vor. So mache ich es zu Hause auch immer.

Laut Wetterbericht soll der Sturm noch bis in die Nachmittagsstunden des folgenden Tages toben. Aber das stört mich nicht, dann beginnt mein Abenteuer eben erst etwas später.

Erschrocken fahre ich zusammen, als es an der Tür klingelt. Das kann nicht für mich sein, trotzdem schleiche ich mich Richtung Wohnungstür und betätige die Sprechanlage.

»Nein, ich stehe schon vor der Tür«, vernehme ich vom Flur her und linse vorsichtig durch den Spion. Viel kann ich nicht erkennen, nur den Schriftzug auf einem Hoodie. Irgendwas mit ›Insel‹. Ohne die Sicherheitskette vorzulegen, öffne ich und will die Tür sofort wieder zuschlagen. Mein Herz pocht wie verrückt, da steht ein Unbekannter mit einem Lächeln, das mich aus den Puschen haut.

»Nicht erschrecken. Ich bin Oliver, und du musst wohl die neue Langzeitmieterin sein. Ellie, richtig?«

Einigermaßen sprachlos starre ich den Typen an und nicke. »Was ist los? Was willst du von mir? Wie bist du ins Haus gekommen?«

Meine Sätze sind unzusammenhängendes Gestammel, kein Wunder, denn der Alkohol hat mich benebelt.

»Ich wohne auch hier. In der fünften Etage«, erklärt Oliver grinsend, »und ich suche meinen Mitbewohner.«

»Ach? Ausgerechnet bei mir?«

»Freut mich, dich und Minnie-Maus kennenzulernen.«

Verdammt, warum habe ich mir nicht wenigstens eine Jacke übergeworfen? Der Kerl hängt mit seinen Augen immer noch auf meinem Pyjama, auf Minnie-Maus.

»Verschwinde«, zische ich und greife nach meinem Regenmantel an der Garderobe.

»Steht dir«, lästert Oliver unbeeindruckt weiter und macht keine Anstalten, meine Wohnung zu verlassen. »Findus! Wo hast du dich denn verkrochen? Komm schön her, ich habe auch ein Leckerli für dich.« Zielsicher schreitet Oliver an mir vorbei und geht ins Schlafzimmer, als wäre er hier zu Hause.

»Findus?«

»Wer ist Findus, und was fällt dir ein, mich hier so zu überfallen?«

»Hab ich mir doch gedacht.« Oliver lacht und hebt die Bettdecke an. »Du kleiner Schlawiner!« Er holt einen Hundekeks aus seiner Hosentasche, mit dem er den kleinen Hund aus seiner Höhle lockt.

»Für dich habe ich auch ein Leckerli«, meint er nun an mich gewandt, das kleine Fellknäuel auf dem Arm. »Der hatte solche Angst und ist einfach ausgebüxt. Unser Findus wohnt normalerweise hier oben, es ist Neles Hund. Sie hat mich aber beauftragt, mich gut um ihn zu kümmern. Sie meinte, für dich hat sie einen anderen Auftrag, und beides zusammen könnte dich überfordern.«

»Sehr fürsorglich«, kann ich da nur sagen. »Nele Neise hat ja alles perfekt durchorganisiert.«

Oliver stimmt mir zu. »Sie ist der Perfektionismus in Person. Mir wäre so eine Frau zu anstrengend, aber manche Männer brauchen ja genau das.«

»Und was brauchst du?«, kommt es unwillkürlich über meine Lippen, wofür ich mir auf die Zunge beißen könnte. Ich hab es nicht sehr laut ausgesprochen, aber an Olivers Reaktion kann ich ablesen, dass er es verstanden hat. Für einen schnellen Moment zieht sich seine Augenbraue in die Höhe, und seine Augen versprühen einen winzigen Funken, der mich verunsichert und bei mir kleine Alarmglocken läuten lässt.

»Magst du auch ein Leckerli«, fragt er, immer noch mit einer Hand den Hund kraulend. Mit der anderen greift er in die Bauchtasche seines Kapuzenpullis und zaubert ein Tütchen meiner Lieblingslakritze hervor. Beim Anblick dieser dunklen Kugeln fällt es mir schwer, Nein zu sagen. Ich tue es aber trotzdem, weil ich genau weiß, dass es nicht bei einer von den dänischen Lakritzen bleiben würde, wenn ich erst einmal damit anfange. Komisch, in diesem Licht haben Olivers Augen die gleiche braune Farbe wie seine Leckerlis, die mich verführerisch anlachen.

»Sehr verlockend.« Ich strecke schon die Hand aus und will sie im selben Augenblick wieder zurückziehen, was Oliver allerdings verhindert.

»Du magst die salzig-süßen Dinger, stimmt’s? Ich sehe es dir doch an. Du sabberst ja schon bei dem Anblick.«

Frech ist der Kerl auch noch! Mir fällt nichts ein, was ich erwidern könnte. Immer wenn ich mal schlagfertig reagieren will, passiert mir das. Mein Nachbar setzt Findus sanft auf den Boden, nimmt ein Lakritz aus der Verpackung, legt es mir in die Hand und schließt meine Finger darum. Er hat Hände, die nicht so aussehen und sich auch nicht so anfühlen, als hätte er jemals damit gearbeitet. Er hält meine Hand immer noch umschlossen, als er mir den Tipp gibt, zuerst daran zu schnuppern, bevor ich die Süßigkeit in den Mund stecke.

»Danke«, murmle ich höflich. »Ich würde ja gerne. Aber die Dinger machen süchtig, und außerdem habe ich mir schon die Zähne geputzt.« Was durchaus der Wahrheit entspricht. Ich war schon im Begriff, ins Bett zu gehen, wie man ja unschwer erkennen kann.

»Ach, echt?«

Bei der Vorstellung, wie ich mich zu Tode erschrocken hätte, wenn mich überraschend eine feuchte Schnüffelnase unter der Bettdecke angestupst hätte, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Du siehst ja süß aus, wenn du so breit grinst. Wie Minnie auf deinem Oberteil«, kommentiert er meine Mimik. »Schade, dass du schon ins Bett willst, ich hätte gern noch etwas mit dir gequatscht.«

Ich winke ab.

»Aber wenn du wirklich schon schlafen willst, dann bin ich der Letzte, der dich davon abhält. Dann komm doch morgen früh zum Frühstück runter. Ich lade dich ein und habe alles da, was dein Herz begehrt.«

»Klingt verlockend. Kannst du auch Rührei?«

»Wenn ich etwas richtig gut kann, dann das. Du wirst sehen, es ist das beste Rührei, das du je gegessen hast«, gibt er mit seinen Kochkünsten an. »Zwei Etagen hier drunter findest du mich. Gute Nacht, Minnie-Maus.«

»Bis morgen. Um zehn?«

Er nickt und nimmt das Hündchen, das überhaupt nicht mehr ängstlich scheint, und will endlich gehen. Findus gefällt das gar nicht, er blickt mich treuherzig an, und dann schlabbert er mir einen feuchten Hundekuss mitten ins Gesicht. Oliver grinst.

»Das würde ich mir niemals erlauben«, raunt mir der nette Nachbar zum Abschied zu. So, wie er mich aber ansieht, meint er wohl das genaue Gegenteil.

5

Bei Oliver ist es ebenfalls sehr gemütlich. Seine Wohnung ist exakt genauso geschnitten wie mein Apartment. Amüsiert beobachte ich, wie er am Herd steht und nervös zu sein scheint. Vermutlich ist er es nicht gewohnt, am frühen Morgen einen Gast zu bewirten. Es ist süß, wie viel Mühe er sich gibt, mich zu beeindrucken. Als er gestern Abend vor meiner Tür stand, ist mir nicht aufgefallen, wie verdammt gut er aussieht. Aber jetzt, bei Tageslicht betrachtet, kann ich es nicht leugnen. Aber auch wenn er wie der letzte Troll aussähe, wäre mir das egal, solange er freundlich ist und mich nicht anbaggert.

Es ist ja nicht wichtig, was man betrachtet, sondern wie man etwas betrachtet. Das gilt nicht nur beim Fotografieren oder Malen, auf den Blickwinkel kommt es bei allem an, was man tut, sieht oder auch denkt. Oliver zu betrachten, ist die reinste Freude. Hinzu kommt noch, dass er tierlieb ist und dass er wirklich ein Rührei zubereitet, bei dem mir schon jetzt das Wasser im Mund zusammenläuft.

Von seinem hübsch gedeckten Küchentisch aus beobachte ich, wie er Eier in die Pfanne schlägt und beinahe meditativ die stockende Masse umrührt. Zum ersten Mal macht er das garantiert nicht, so viel ist sicher. Ich soll mir ruhig noch einen Kaffee eingießen, sagt er, als er einmal kurz von der Pfanne aufschaut. Auf diese Aufforderung habe ich nur gewartet. Morgens brauche ich immer eine ordentliche Koffeindosis. Auch heute, obwohl ich schon fit bin. Trotz der heftigen Orkanböen in der letzten Nacht habe ich tief und fest geschlafen. Das kann natürlich an dem Prosecco und dem würzigen Duft von Lakritz gelegen haben.

»Ich habe deine Lakritze übrigens noch nicht angerührt«, fange ich ein Gespräch an, um überhaupt etwas zu sagen. Oliver ist nicht besonders redselig. Er konzentriert sich voll auf seine Eier. Oder er ist ein Morgenmuffel.

»Echt?«, ist sein einziger Kommentar, der ein wenig erstaunt kling. »Bist du immer so willensstark?«, will er wissen. Ausnahmsweise lächelt er mich jetzt einmal voll an. Dabei fällt mir auf, dass seine Augen bei Tageslicht eine andere Farbe haben. Welche es ist, kann ich nicht feststellen, er hat sich viel zu schnell wieder umgedreht. Das ist aber auch nicht wichtig, Oliver ist ja nur mein Nachbar auf Zeit. Ein sehr angenehmer Hausbewohner allerdings. Seine Frühstückseinladung ist total nett, und es macht Spaß, einen so attraktiven Mann am Herd in Aktion zu erleben.