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Am Rande des Abgrunds kann man manchmal nichts anderes tun, als zu springen … Weg. Einfach nur weg. Das ist Aubrees einziger Gedanke, als sie nach einer Studentenparty von der Uni fliegt. Sie kauft sich ein uraltes Auto, schmeißt die wenigen Dinge, die sie besitzt, in den Kofferraum und flieht zu ihrer besten Freundin Ivy nach New Hampshire. Dort will sie nichts anderes, als sich die Decke über den Kopf ziehen und an nichts mehr denken. Nicht an diese Nacht. Nicht an die Party. Und vor allem nicht an das Foto, das seitdem von ihr im Internet kursiert. Doch das funktioniert nicht. Denn statt ihrer Freundin trifft sie auf Noah, Ivys Stiefbruder. Mit seiner impulsiven, aber überraschend sensiblen Art ruft Noah Gefühle in ihr hervor, die sie gerade gar nicht gebrauchen kann. Und die sie trotzdem mit sich reißen wie ein Sturm … Das Finale der zweibändigen Reihe um die Blakely-Brüder Asher und Noah. «Ich liebe die Bücher von Nikola Hotel, denn sie schafft es wie kaum eine andere Autorin, in ihren Geschichten Tiefgang und Humor mit Herzklopfen zu vereinen.» Katharina Herzog, Spiegel-Bestsellerautorin Wunderschön gestaltet mit 20 ganzseitig illustrierten Sprüchen im Innenteil.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 575
Nikola Hotel
Roman
Am Rande des Abgrunds kann man manchmal nichts anderes tun, als zu springen …
Weg. Einfach nur weg. Das ist Aubrees einziger Gedanke, als sie nach einer Studentenparty von der Uni fliegt. Sie kauft sich ein uraltes Auto, schmeißt die wenigen Dinge, die sie besitzt, in den Kofferraum und flieht zu ihrer besten Freundin Ivy nach New Hampshire. Dort will sie nichts anderes, als sich die Decke über den Kopf ziehen und an nichts mehr denken. Nicht an diese Nacht. Nicht an die Party. Und vor allem nicht an das Foto, das seitdem von ihr im Internet kursiert. Doch das funktioniert nicht. Denn statt ihrer Freundin trifft sie auf Noah, Ivys Stiefbruder. Mit seiner impulsiven, aber überraschend sensiblen Art ruft Noah Gefühle in ihr hervor, die sie gerade gar nicht gebrauchen kann. Und die sie trotzdem mit sich reißen wie ein Sturm …
Mit 20 ganzseitigen Handletterings illustriert
Nikola Hotel hat eine große Schwäche für dunkle Charaktere und unterdrückte Gefühle. Obwohl sie auch schon romantische Komödien geschrieben hat, hängt ihr Herz daher vor allem am New-Adult-Genre. Und das merkt man ihren ebenso gefühlvollen wie mitreißenden Liebesgeschichten an. «It was always you», der erste von zwei Bänden um die Blakely-Brüder Asher und Noah, stieg unmittelbar nach Erscheinen auf die Spiegel-Bestsellerliste ein. Das Buch wie auch der Nachfolger «It was always love» wurden aufwendig von Carolin Magunia mit Handletterings illustriert. Nikola Hotel lebt mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Söhnen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bonn, arbeitet aktuell an ihrem nächsten Projekt und tauscht sich auf Instagram (@nikolahotel) gern mit ihren Lesern und Leserinnen aus. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage zu finden: www.nikolahotel.de
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Sämtliche Handletterings © Carolin Magunia
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Handlettering: Carolin Magunia; Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00667-6
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für Marah
But how am I supposed to love you
When I don’t love who I am
And how can I give you all of me
When I’m only half a man
Dean Lewis
Teeth – 5 Seconds of Summer
Old Town Road – Lil Nas X, Billy Ray Cyrus
The Night We Met – Lord Huron, Phoebe Bridgers
Drink – Jamie Cullum
Bad Liar – Imagine Dragons
Nice To Meet Ya – Niall Horan
SLAVES OF FEAR – HEALTH
Crush – Cigarettes After Sex
What If – Rhys Lewis
bury a friend – Billie Eilish
Nothing’s Gonna Hurt You Baby – Cigarettes After Sex
Die A Little – YUNGBLUD
No Shame – 5 Seconds of Summer
Apocalypse – Cigarettes After Sex
Half A Man – Dean Lewis
Blood//Water – grandson
i love you – Billie Eilish
Easier – 5 Seconds of Summer
Cry – Cigarettes After Sex
Don’t Let Me Go – Cigarettes After Sex
Sanctify – Years & Years
She’s Always A Woman – Billy Joel
Mit einem mulmigen Gefühl starre ich auf das Formular. Ich balanciere das Klemmbrett jetzt schon seit zehn Minuten auf den Knien und habe noch nicht mehr eingetragen als meinen Namen, und selbst der ist nicht korrekt.
Natascha Romanoff. Ich hoffe, der Arzt bemerkt es nicht, und wenn doch, dann hat er hoffentlich Sinn für Humor.
Der Kugelschreiber tippt gegen meine Unterlippe, während ich darüber nachdenke, ob ich diese Untersuchung wirklich will. Will ich wissen, was passiert ist? Ich könnte jetzt aufstehen und gehen. Bisher habe ich nur mit der Sprechstundenhilfe gesprochen, und sie hat mir, das Telefon unter dem Kinn festgeklemmt, nur genervt zugenickt und das Formular über die Theke geschoben. Wenn ich jetzt gehe, könnte ich immer noch so tun, als wäre gar nichts geschehen, als hätte es diese Nacht nicht gegeben. Ich kann mich sowieso an nichts erinnern.
Aber … das Foto.
Dieses eine Foto auf meinem Smartphone sorgt dafür, dass mein Puls in die Höhe schnellt und ich keine Luft bekomme, wenn ich nur daran denke. Auch wenn Instagram es inzwischen entfernt hat – ich kann es nicht einfach aus meinem Album löschen und so tun, als hätte es nie existiert. Es dauert sowieso keine Viertelstunde, bis die nächste Nachricht auf meinem Handy eintrifft und mich wieder daran erinnert – was der Grund ist, warum ich alle Benachrichtigungen ausgestellt habe. Mit schweißnassen Fingern ziehe ich nun das Gerät aus der Tasche und entsperre den Bildschirm. Ich reibe mir die Handflächen am Stoff meiner Jeans trocken, bevor ich meinen Daumen über dem Instagram-Logo schweben lasse. Nein, ich will nicht sehen, wie viele Privatnachrichten ich von irgendwelchen Arschlöchern bekommen habe, die sich hinter einem Pseudonym verstecken. Und ich will auch nicht sehen, wie oft sie versucht haben, mich zu markieren. Beim letzten Nachsehen waren es mehr als fünfzig Anfragen. Ich lösche die App, ohne sie noch einmal zu öffnen, und rufe den Internetbrowser auf.
Hallo aubree.speaks.softly, wir bedauern, dass du dein Konto löschen möchtest. Wenn du eine Pause einlegen möchtest, kannst du stattdessen dein Instagram-Konto jederzeit vorübergehend deaktivieren.
Vorübergehend. Mein Magen zieht sich zusammen, weil sich das hier nicht nach einer vorübergehenden Sache anfühlt. Nichts geht vorüber.
Warum möchtest du dein Konto löschen?
Datenschutzbedenken
Anfängliche Schwierigkeiten
Möchte etwas löschen
Zu beschäftigt/zu viel Ablenkung
Zu viele Werbeanzeigen
Zweites Konto erstellt
Ich finde keine Personen, denen ich folgen kann
Instagram bietet mir nur diese Auswahlmöglichkeiten an. Diejenige, die auf mich zutrifft, ist nicht dabei: weil ich nicht mehr existieren will. Nicht auf Instagram und auch nicht am Brooklyn-College. Ich wünschte, ich könnte meine Identität genauso leicht löschen wie mein Instagram-Konto.
Ich atme tief ein, setze mein Häkchen bei «ein anderer Grund» und gebe mein Passwort ein, bevor ich das Gerät wieder wegstecke. Dennoch spüre ich keine Erleichterung. Ich weiß, dass sich nichts ändert, nur weil ich nicht mehr erreichbar bin. Sie werden trotzdem über mich reden. Ich bin trotzdem vom College geflogen. Meine Mom wird es trotzdem erfahren.
Der Kuli zittert zwischen meinen Fingern. Ich setze ihn erneut auf dem Papier an und kreuze bei allen Krankheiten nein an, auch wenn ich mir nicht sicher sein kann. Die Felder mit den Kontaktdaten lasse ich bis auf eine fiktive E-Mail-Adresse frei und stehe auf. Als ich an die Theke trete, sieht die Frau dahinter nicht einmal auf.
«Liegt eine Schwangerschaft vor?»
«Nein», krächze ich. Oh Gott, das wäre … Oh Gott, bitte nicht!
«Dann nehmen Sie noch einen Augenblick Platz, Sie werden aufgerufen.»
Ich setze mich wieder auf den Metallstuhl im Wartezimmer. Ich könnte immer noch gehen. Wenn der Arzt mich nicht in den nächsten siebzehn Minuten aufruft, dann nehme ich das als Zeichen und verschwinde. Siebzehn ist die Seite in meinem Bullet Journal, die ich zuletzt bemalt habe. Siebzehn ist eine gute Zahl.
Aber das Wartezimmer ist so gut wie leer. Deshalb dauert es auch nur vierzehn Minuten, bis ich aufgerufen werde, und ich schlucke, weil es jetzt kein Zurück mehr gibt. Die Praxis ist klein und nicht besonders modern ausgestattet, was daran liegen muss, dass der Arzt noch jung ist und erst einmal andere Sorgen hat als neue Möbel. Im Internet habe ich eine Bewertung über ihn gelesen, die mich glauben lässt, dass er genau der richtige Arzt für mich ist. Ich lese immer nur die negativen, um sicherzugehen. Dr. Ward hat eine Frau ewig im Wartezimmer sitzen lassen, weil eine junge Latina mit unklaren Unterbauchbeschwerden in seine Praxis gekommen ist. Er hat sie vorgezogen, obwohl sie nicht krankenversichert war. Die wartende Frau hat seine Praxis deshalb mit einem Stern bewertet. Da war mir klar, dass ich zu ihm gehen würde.
Außerdem liegt seine Praxis in Hartford, auf halber Strecke zwischen New York und Hanover, wo Ivy inzwischen in Dartmouth studiert. Ich konnte nicht in Brooklyn bleiben, deshalb bin ich jetzt auf dem Weg zu ihr. Hier in Hartford zum Arzt zu gehen hat den Vorteil, dass ich weder ihm noch seinen Angestellten jemals wieder über den Weg laufen werde.
«Ms. … Romanoff?»
Mit wackeligen Beinen richte ich mich auf und folge dem Arzt, der eine Tür für mich aufhält. «Setzen Sie sich.» Er deutet auf einen filzbezogenen Stuhl, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Dr. Ward hat seinen Abschluss erst vor vier Jahren an der Tufts in Boston gemacht, das sehe ich an seinem Diplom, welches schief an der Wand hängt. Ich schiebe meine Hände zwischen die Oberschenkel und presse die Knie zusammen.
«Bevor ich Sie frage, warum Sie gekommen sind, muss ich noch eine Sache klären. Sie haben Selbstzahler auf dem Formular angekreuzt.» Er sieht auf mein Anmeldeformular hinab und runzelt die Stirn. «Wir haben hier besondere Sprechzeiten für Frauen, die nicht über ihren Arbeitgeber krankenversichert sind. Jeden Donnerstag ab ein Uhr mittags bis in die Abendstunden. Es gibt einen Verein, der uns finanziell unterstützt. Wenn es also kein Notfall ist … Ich könnte Sie am Donnerstag über die Leute vom Verein abrechnen.» Er hebt den Blick und lächelt mich aufmunternd an.
«Danke, aber ich möchte selbst bezahlen. Ich habe das Geld. Hier», füge ich hinzu und klopfe mit der Hand auf meine schlichte Tote Bag, deren Stoffhenkel ich über die Stuhllehne gehängt habe.
«Der Verein ist vertrauenswürdig. Sie nehmen keine Personalien auf, wenn das das Problem sein sollte …» Seine wachen Augen huschen über das Formular. «… Natascha.» Ich kann sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet und dann, wie es um seinen Mundwinkel zuckt. «Black Widow, die sowjetische Agentin aus den Marvel-Comics, richtig?»
Ich hätte mir denken können, dass er zu jung ist, um damit durchzukommen. Wenigstens ist er nicht sauer. «Ich möchte selbst bezahlen», wiederhole ich schnell. «Sie müssen doch trotzdem nicht wissen, wie ich heiße, oder?» Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her. Dr. Ward sieht nett aus. Sein mittelbraunes Haar hat er heute Morgen sicher ordentlich gekämmt, jetzt ist es jedoch zerzaust und fällt ihm ins Gesicht, das vor Sommersprossen nur so wimmelt.
«Worum geht es denn? Was haben Sie für Beschwerden?» Er lenkt den Blick zurück auf die Akte mit meinen spärlichen Angaben und hält den Stift darüber in der Schwebe. Ich bin zwar froh, nicht in sein Gesicht sehen zu müssen, aber einfacher macht es die Sache nicht.
«Also, vor ein paar Tagen … ich … also da hat mir eigentlich alles weh getan.» Und mit alles meine ich wirklich alles. Ich bin aufgewacht und hatte das Gefühl, in der Nacht überfahren worden zu sein. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper musste sich scheinbar erst wieder an die richtige Stelle schieben. Und mir war so schlecht, dass ich mich mehrmals übergeben musste. Ich hatte Muskelkrämpfe, und vor Schwindel konnte ich kaum zwei Schritte gehen. Es hat Stunden gedauert, bis ich wenigstens ein paar Schlucke Tee drin behalten konnte. «Können Sie mich bitte untersuchen?»
Er kritzelt etwas in die Akte. «Was ist denn passiert?»
Ich hole tief Luft. «Das weiß ich nicht.» Oh Mann, das klingt so erbärmlich. «Ich weiß nicht, was passiert ist, weil … Ich kann mich an nichts erinnern.» Das ist das Schlimmste. Ich habe keine Ahnung, was in der Nacht passiert ist. Ich weiß nur noch, dass ich mit Ginnifer und ein paar Kommilitonen zu dieser Party gegangen bin. Die Erinnerung an die Vorfreude ist noch da. Ich weiß noch, wie wir uns bei ihr im Zimmer zurechtgemacht haben. Wir haben laut zu Teeth von 5 Seconds of Summer gegrölt und einem Senior zwei Flaschen Bier abgeschwatzt. Auf dem Weg zur Party habe ich meiner besten Freundin Ivy noch eine Nachricht aufgesprochen. Danach weiß ich nichts mehr.
Aber ein Bild sagt sowieso mehr als tausend Worte. Ich hole mein Smartphone heraus und öffne den Ordner mit den Fotos. Als ich das leicht verschwommene Bild anklicke, wende ich den Blick ab, weil ich es nicht noch einmal sehen will, dann lege ich das Handy auf den Tisch und schiebe es zu Dr. Ward hinüber. «Das ist auf Instagram aufgetaucht.»
Der Arzt nimmt es auf. «Okay», sagt er gedehnt. «Ich glaube, ich verstehe.» Er schiebt das Gerät zu mir zurück. «Und Sie können sich nicht daran erinnern, wie dieses Foto entstanden ist?»
Ich schüttele den Kopf. In seinem Gesicht kann ich nicht lesen, ob ihn das schockiert. Was muss er jetzt von mir denken? Nervös zähle ich sechs Sommersprossen allein über seiner linken Augenbraue und beiße mir auf die Lippe.
«Haben Sie Drogen konsumiert?»
Über der anderen Braue sind es bloß fünf. Okay, jetzt kann ich mir ungefähr vorstellen, was er von mir denkt.
«Nein, noch nie. Zumindest weiß ich nichts davon.» Und ich weiß auch nicht, wer die andere Person auf dem Foto ist. Man kann auch nicht wirklich viel von ihm erkennen. Nur die Hände auf meinem nackten Oberkörper. Es sind Männerhände. Mein Magen revoltiert, deshalb stecke ich das Smartphone hastig zurück in meine Tasche.
«Haben Sie die Polizei informiert?»
Ich schüttle langsam den Kopf.
«Ich würde Ihnen dringend empfehlen, den Vorfall zu melden. Nur so kann die Polizei ermitteln. Wenn Sie keinerlei Erinnerung daran haben, ist wahrscheinlich mehr im Spiel gewesen als Alkohol.»
Das, was er da andeutet, ist mir nach dem ersten Blick auf das Foto schon klar gewesen, aber das kann ich auf keinen Fall melden. Wegen meiner Mom. «Ich möchte das alles einfach nur vergessen.»
«Das kann ich gut verstehen. Aber Sie sollten das für sich tun. Auch wenn Sie damit vielleicht nicht verhindern können, dass dieses Bild weiterverbreitet wird, ist eine Anzeige die Voraussetzung für eine Bestrafung des Täters.»
«Ich denke darüber nach.» Nicht. In Gedanken füge ich das noch hinzu. Ich will nie wieder darüber nachdenken.
«Hatten Sie Blutungen?», fragt er. «Haben Sie sich selbst untersucht, nachdem es passiert ist?»
«Ich … ich wusste ja nicht … Erst gestern, als mich jemand auf das Foto angesprochen und es dann an mich weitergeleitet hat, wurde mir klar, dass sich an dem Abend mehr abgespielt haben muss, als ich dachte. Ich hatte keine Blutungen, aber ich habe … mich gewaschen und dabei … ich weiß auch nicht …»
«Sie trauen Ihrem eigenen Körpergefühl nicht mehr», beendet Dr. Ward meinen Satz. «Ich verstehe.» Er steht auf. «Dann gehen wir nach nebenan in den Behandlungsraum, damit ich Sie untersuchen kann.» Er öffnet eine Tür zu einem Nebenraum und lässt mir den Vortritt. Hinter einem Paravent ziehe ich meine Jeans und den Slip aus. Ich zerre mein Oversized-Shirt so weit es geht nach unten und klettere dann auf den Behandlungsstuhl. Dr. Ward zieht Handschuhe über und klappert mit einem metallenen Untersuchungsinstrument, das ich nicht sehen kann. «Nicht erschrecken, es wird jetzt kurz kalt.»
Ich nicke und richte den Blick nach oben. Jemand hat zur Ablenkung ein Poster an die Decke geklebt, das man zwangsläufig ansehen muss, wenn man hier liegt. Darauf ist eine Treppe abgebildet, eine optische Täuschung, weil man das Gefühl hat, dass sie sich bewegt. Lenkt es mich ab? Kein bisschen.
Ich bin dem Arzt dankbar, dass er kein großes Drama macht. Wenn er jetzt übertrieben vorsichtig wäre und mich wie ein rohes Ei behandelte, würde ich zusammenbrechen. Aber alles an mir ist verkrampft. Ich muss versuchen, mich zu entspannen, weil es sonst unangenehm wird, das weiß ich, aber ich zucke dennoch zusammen, als er mich zwischen den Beinen berührt. Es drückt, etwas kratzt, und ich sehe, wie er ein Wattestäbchen ablegt.
Er zieht das Instrument heraus. «Ist gleich geschafft, Natascha.»
«Aubree», sage ich und blinzle eine Träne weg. «Ich heiße Aubree.»
«Okay, Aubree. Ich taste Sie nur noch kurz ab.» Er drückt von oben auf meine Bauchdecke, und dann ist es nach wenigen Sekunden vorbei. Nachdem er die Handschuhe abgezogen hat, nickt er mir aufmunternd zu. «Sie hatten wahrscheinlich keinen Geschlechtsverkehr.» Er fährt mit dem Hocker zurück. «Ihr Jungfernhäutchen ist noch intakt. Es ist zwar möglich, dass es trotz Penetration nicht reißt, aber bei Ihnen gehe ich nicht davon aus.»
Ich stoße hart die Luft aus, die ich in den letzten Sekunden angehalten habe, und richte mich auf. «Ich war mir nicht sicher, ob es sich noch genauso anfühlt wie vorher. Ich hatte einfach überall … Mir hat alles weh getan, deshalb …» Vor Erleichterung und Dankbarkeit könnte ich heulen. Aber ich heule nicht, ich schlucke alles herunter und starre auf einen Punkt an der Wand, wo seltsame rote Linien über die Tapete laufen, als hätte ein Kind sich dort mit Wachsmalkreide ausgetobt.
«Es ist gut, dass Sie hergekommen sind.» Er dreht sich von mir weg, untersucht den Abstrich mit einem kurzen Blick durch ein Mikroskop, bevor er seine Ergebnisse in die Akte einträgt. «Zur Sicherheit nehmen wir trotzdem Blut ab, um Geschlechtskrankheiten auszuschließen, und ich lasse Ihnen von meiner Kollegin noch einen Becher geben und würde Sie bitten, eine Urinprobe und eine Haarprobe abzugeben. Mit etwas Glück können wir noch nachweisen, welches Mittel man Ihnen verabreicht hat.»
«Sie denken also auch, dass man mir irgendwelche Drogen gegeben hat.»
«Diese Art Blackout bekommt man nicht allein von einem Alkoholrausch. Das erreicht man nur mit einem Betäubungsmittel. Benzodiazepine, Barbiturate, Liquid Ecstasy oder andere Mittel. Und es ist wichtig, das zu dokumentieren, falls Sie sich das mit der Anzeige doch noch überlegen. Dann würden auch die Kosten für die Tests übernommen. Die Polizei braucht objektive Beweismittel. Das Foto allein reicht nicht aus, weil es auch mit Ihrer Einwilligung entstanden sein könnte.»
Mit meiner Einwilligung, klar. Ich presse die Lippen zusammen, rutsche vom Behandlungsstuhl herunter und husche hinter den Paravent, um mich wieder anzuziehen. Es tut gut, den Stoff wieder über meinen Körper zu streifen, und ich fühle mich danach gleich weniger unsicher.
«Kann man Sie über diesen Mail-Account erreichen, oder ist das eine Fake-Adresse?»
Mein Gesicht wird heiß, und ich bin froh, dass er mich hinter dem Wandschirm nicht sehen kann. «Ich … habe sie mir ausgedacht.»
«Dann tun Sie mir einen Gefallen und geben Sie uns eine richtige Adresse. Ich schicke Ihnen dann das Ergebnis der Tests in den nächsten Tagen per Mail zu.»
«Okay.»
Ich trete hinter dem Paravent hervor und korrigiere meine Daten auf dem Anmeldeformular in der Patientenakte, bevor ich mir von ihm Blut abnehmen lasse.
Als der Arzt mir zum Abschied die Hand hinstreckt, sieht er mich eindringlich an. «Lassen Sie sich niemals einreden, dass etwas von dem, was passiert ist, Ihre Schuld ist, Aubree.K.-o.-Tropfen werden immer unbemerkt verabreicht, um jemanden wehrlos zu machen. Das ist ein Verbrechen. Haben Sie mich verstanden? Sie können nichts dafür, also fühlen Sie sich bitte nicht schuldig.»
Ich nicke und fühle mich schuldig. Hätte ich dort nichts getrunken, dann hätte man mir auch nichts von diesem Zeug unterjubeln können. Wäre ich nicht auf diese Party gegangen, wäre ich nicht so vertrauensselig gewesen …
«Es ist ganz egal, was bei diesem Test rauskommt. Selbst wenn es nur der Alkohol gewesen wäre: Sie haben zu nichts ja gesagt. Nur weil Sie sich nicht wehren konnten, haben Sie das nicht erlaubt. Schweigen ist keine Zustimmung, Aubree. Niemals.»
«Ja.»
«Wenn irgendwas sein sollte, kommen Sie jederzeit wieder.»
«Danke, Dr. Ward.» Ich bin erleichtert, als er mit seiner Rede endlich fertig ist und ich das Untersuchungszimmer verlassen kann.
Die Sprechstundenhilfe wirft einen Blick auf die Unterlagen, die ihr der Arzt hingelegt hat, bevor er den nächsten Patienten aufgerufen hat, dann öffnet sie eine Maske auf ihrem Bildschirm und tippt in ihre Tastatur. Als ich zu ihr an die Theke trete, beschriftet sie zwei Plastikbecher und reicht mir einen davon. «Ein, zwei Haare reichen.» Sie beugt sich mit einer Pinzette über den Tresen, und im nächsten Moment ziept es an meinem Kopf. «Die Toilette finden Sie rechts neben dem Behandlungsraum. Stellen Sie den Becher nachher einfach auf den kleinen Tisch im Flur.»
«Danke.»
Nachdem ich vom Klo zurückgekommen bin, bezahle ich bei ihr meine Behandlung und die Tests.
Sponsored by Mom.
Auch wenn meine Mom das nicht weiß und denken wird, dass ich mit dem Geld Bücher für meine Kurse kaufe. Aber die werde ich jetzt nicht mehr brauchen. Weil ich nichts mehr brauche, was mit New York zu tun hat.
Es beschert mir ein schlechtes Gewissen und lässt das Blut in meinen Kopf schießen. Ich muss meine Mom anlügen, damit sie sich keine Vorwürfe macht. Sie fühlt sich seit Jahren schuldig, weil sie zu wenig Zeit für mich hat und denkt, dass ihr Promistatus mir Schwierigkeiten bereitet. Ich kann ihr unmöglich sagen, wie richtig sie mit dieser Vermutung liegt. Aber ich schäme mich nicht nur dafür, sie anzulügen, sondern auch, weil ich Grund dazu habe. Weil ich in diesem Zustand gewesen bin und Gott weiß wie viele Menschen nun dieses Foto gesehen haben. Ich schäme mich, weil ich nicht weiß, was die Hände auf diesem Bild mit mir gemacht haben und wo sie mich überall angefasst haben. Ich schäme mich, weil ich mich nicht gewehrt habe. Aber das ist etwas, was ich mit mir allein ausmachen muss, und es ist ganz egal, ob Dr. Ward oder irgendjemand anderes mich dafür verurteilt oder nicht. Ich verurteile mich selbst.
Ich trete nach draußen, wo mir ein frischer Herbstwind ins Gesicht bläst, und schließe die Tür des alten Ford auf, den ich für fünfhundert Dollar gekauft habe und der seine Aufgabe erfüllt haben wird, sobald ich in Hanover ankomme. Die Tür ist so rostig, dass man sie nur mit Gewalt aufbekommt. Die Mühe, ihn abzuschließen, hätte ich mir gar nicht machen müssen. Niemand wäre so verrückt, diese Karre zu klauen. Allein schon, weil der Innenraum riecht, als wäre auf dem Rücksitz mindestens ein Nagetier verwest.
Meinen Stoffbeutel werfe ich zum Rucksack auf den Beifahrersitz und schließe den Gurt, obwohl der sowieso spätestens nach fünf Minuten wieder aufspringt, weil der Verschluss total ausgeleiert ist. Die Heizung funktioniert auch nicht mehr, was heute Morgen bei nur sechs Grad schmerzhaft deutlich wurde. Ich rufe das Navi auf meinem Smartphone auf, klemme es in die Plastik-Halterung und drehe das Radio auf. Doch der Billy-Ray-Cyrus-Song, der aus der Box kommt, ruft mir in Erinnerung, dass der Knopf für die Sendereinstellung nicht mehr funktioniert, weshalb ich die letzten zwei Stunden ausschließlich Countrymusic hören musste, und ich hasse Country. Ich stehe auf Jazz und Blues, von mir aus auch stinknormale Popmusik. Ich schalte das Radio wieder aus, lehne mich zurück und presse die Hände vors Gesicht.
Ich bin immer noch Jungfrau, und auch wenn ich darüber unendlich erleichtert sein müsste, ändert es nichts an dem Ekel, den ich empfinde. Vor diesen Händen auf dem Foto. Vor dem Gefühl fremder Finger auf meinem Körper, das wie ein Phantomschmerz ist. Mit einem Schaudern richte ich mich auf und ziehe mein Bullet-Journal aus dem Handschuhfach heraus. Auf Seite 17 ist meine To-do-Liste für den heutigen Tag, und ich hatte mir vier Punkte aufgeschrieben, von denen ich den ersten nun abhaken kann.
Von einem Arzt untersuchen lassen
Ivys Zimmerschlüssel abholen
Mom anrufen und ihr beichten, dass ich vom College geflogen bin
Nicht durchdrehen!
Mein Herz rast. Die beiden letzten Punkte muss ich auf einen anderen Tag verschieben, denn ich spüre, wie meine Hände anfangen zu zittern, jetzt wo ich das Schlimmste überstanden habe. Ich stöpsle meinen schwarzen Stift auf, streiche Punkt drei und vier mit langen Strichen durch und betrachte das Lettering, das ich heute Morgen auf die vorherige Seite gemalt habe:
I’m going to deal with this problem by yelling.
Und genau das ist es, was ich gleich tun werde. Ich starte den Motor und fahre los. Doch erst als ich auf dem Highway bin und der Tacho über 40 Meilen anzeigt, schreie ich die Windschutzscheibe an. So lange und so laut, bis ich keinen Gedanken mehr in meinem Kopf hören kann.
Kings Hall, das Studentenwohnheim, in dem Ivy eine kleine Wohnung hat, liegt auf halber Strecke zwischen dem College-Park und dem Friedhof. Den Wagen habe ich unter einer großen Kastanie auf einem öffentlichen Parkplatz abgestellt, wo er innerhalb einer Woche vom Herbstlaub bedeckt sein dürfte und wo er von mir aus verrotten kann. Ich will nie wieder in dieses Auto steigen. Ich will nie wieder irgendwohin. Wenn ich in Ivys Apartment bin, werde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und so lange schlafen, bis meine Fußnägel mindestens einen Zentimeter gewachsen sind.
Meinen Rucksack habe ich mir auf den Rücken geworfen, ein Stoffbeutel baumelt an meinem Handgelenk, und den großen Karton mit meinem Mikrophon und dem restlichen Technik-Equipment stütze ich auf meiner Hüfte ab, während ich im Halbdunkeln versuche, die Klingelschilder zu entziffern. Noch bevor ich den Namen von Ivys Bruder finden kann, geht das Licht im Hausflur an, und die Tür wird nach innen aufgezogen.
«Danke.» Ich schiebe mich an einem langhaarigen Typen und seiner Freundin vorbei, die mir netterweise die Haustür aufhalten, und gehe zielstrebig zum Aufzug. Mit dem Ellbogen drücke ich auf den Knopf.
Ivys Apartment liegt in der zweiten Etage, aber sie ist vor zwei Tagen nach Hause zu ihrem Stiefvater gefahren, weil der nach einer Operation gerade erst aus der dreimonatigen Reha entlassen worden ist. Obwohl die Herbstkurse bereits angefangen haben, hat sie es nicht über sich gebracht hierzubleiben. Doch ihr Stiefbruder Noah bewohnt ein kleines Zimmer im vierten Stock, und von ihm bekomme ich den Schlüssel.
«Hey, bist du neu hier? Gehörst du zu den Twenty-threes?» Der Typ, der mich reingelassen hat, steht immer noch in der Tür und mustert mich. Seine Freundin kramt in ihrer Handtasche und zieht einen Autoschlüssel heraus. Sie trägt eine dunkel umrandete Brille, dazu auffallend türkisfarbene Ohrringe und einen rot geblümten Rock.
Was auch immer er mit Twenty-threes meint. «Ja, ich bin neu.» Wenn nur der Aufzug schneller kommen würde. Ich wünschte, ich hätte meine Sonnenbrille eben aus dem Rucksack geholt, um mich dahinter zu verstecken, auch wenn es um diese Uhrzeit wahrscheinlich seltsam aussähe. Die Angst, dass jemand mich erkennt, schwingt immer mit, egal, wohin ich gehe. Im Brooklyn College wusste jeder, dass ich die Tochter der Schauspielerin Bridget Sturgess bin. Das letzte Jahr hat mich das nicht gestört, aber nun ist durch dieses Foto alles anders. Weil meine Mom davon erfahren könnte. Weil dieses Foto sie zerstören würde.
«Wie kann es sein, dass du ein Zimmer bekommen hast? Das Kings ist nur für höhere Semester, und ich warte seit mehr als elf Monaten darauf, hier eins zu kriegen.»
«Ist doch egal, Ken. Komm, wir sind schon spät dran.» Seine Begleiterin zieht ihn am Ärmel.
«Ich besuche nur eine Freundin», sage ich und drücke noch einmal auf den Knopf, als würde das den Aufzug beschleunigen.
«Und dafür hast du so viel Zeug dabei?» Er checkt mein Gepäck ab. «Verdammt, ich wusste, dass man hier nur verarscht wird. Ich stehe fast jede Woche bei denen auf der Matte, und immer haben sie eine andere Ausrede. Mir reicht’s.»
Wieso muss ausgerechnet ich an jemanden geraten, der meint, sich bei mir über sein Schicksal beschweren zu müssen? Ich habe mit mir selbst genug zu tun. «Ich will nicht einziehen, okay?», versuche ich ihn zu beschwichtigen. «Meine Freundin wohnt hier. Kannst du gerne überprüfen.»
«Wer soll das sein?»
«Ivy Blakely. Aus dem zweiten Stock.» Der Aufzug hängt offenbar in einer höheren Etage fest, und ich überlege, ob ich es schaffe, meinen Kram zu Fuß bis nach oben zu schleppen, um schneller hier wegzukommen. Unschlüssig schaue ich zum Treppenhaus. Im Notfall lasse ich den Karton erst mal hier stehen.
Das Mädchen nickt. «Ich kenne Ivy. Sie ist aber vorgestern nach Hause gefahren.»
«Ich weiß. Aber ich darf trotzdem hier wohnen. Den Schlüssel bekomme ich von ihrem Stiefbruder.» Genau genommen weiß Ivy noch gar nicht, wie lange ich wirklich hierbleiben will. Ich weiß es ja selbst noch nicht. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich dringend für ein paar Tage rausmuss, weil mir in New York alles auf den Kopf fällt, und nicht, dass ich meinen gesamten Besitz in den Kofferraum meiner neuen Schrottkarre geräumt habe, weil ich nie wieder in dieses Zimmer zurückwill. Ich wollte sie am Telefon nicht verrückt machen. Da sie sich zurzeit ziemlich Sorgen um ihren Stiefvater macht, hat sie zum Glück nicht weiter nachgehakt.
«Okay.» Der Typ gibt ein Seufzen von sich. «Sorry, dass ich dich so angeblafft habe. Vor ein paar Tagen ist Kaia aus dem vierten Stock ausgezogen, und angeblich kann das Zimmer noch nicht vermietet werden, weil es erst renoviert werden muss. Ich wollte einfach auf Nummer sicher gehen.»
«Klar, kann ich verstehen.» Ich drehe mich zum Fahrstuhl um und höre erleichtert, dass sich das Brummen nähert. Aber der Typ ist noch nicht fertig.
«Ich wohne jetzt seit zwei Jahren im Oak Park House, und es ist das letzte Loch. Die Heizkörper klingen in der Nacht wie das Tor zur Hölle, und auf meinen Fußboden haben sich definitiv schon Generationen von Menschen übergeben. Wir haben Gemeinschaftsduschen, und ich muss mir mein Klo mit fünfzehn anderen Leuten teilen.»
Obwohl mir gar nicht danach zumute ist, spüre ich ein Lächeln auf meinen Lippen, das sich ungewohnt anfühlt. «Das tut mir echt leid für dich.»
«Los, Ken, lass uns endlich fahren. Ich habe Maeve versprochen, dass wir um halb neun da sind und ihr beim Aufbau helfen.»
«Sekunde noch.» Er lässt die Haustür los, und sie fällt ins Schloss. «Ich bin Ken Walker. Also eigentlich Kennesaw. Und das ist Jenna Colegrove. Wir sind Mitglieder der NAD.» Seine Hand streckt sich mir entgegen, und ich spanne mich an, aber weil ich beide Hände voll habe, lässt er sie gleich wieder sinken.
«F…freut mich, Kennesaw.» Mein Tonfall klingt viel zu nervös, das merke ich selber. Wenn ich das nicht in den Griff bekomme, kann ich mir gleich das Wort Opfer auf die Stirn tätowieren lassen. «Ich bin … Aubree.» Ich lasse den Karton zu Boden gleiten und schiebe ihn mit dem Fuß zur Seite.
«Du hast keine Ahnung, wer die NAD sind, oder?»
Wenn er denkt, mein seltsames Verhalten käme daher, werde ich ihm nicht widersprechen. «Nicht wirklich.»
Er stöhnt. «Schon wieder jemand, der noch nie von uns gehört hat. Das kotzt mich mittlerweile echt an.»
«Krieg dich wieder ein.» Jennas Brille ist auf der Nase nach unten gerutscht, jetzt schiebt sie sie mit zwei Fingern wieder nach oben. «Wenn sie erst mal ein paar Wochen hier ist, wird sie das schon mitkriegen.»
«Ich find’s trotzdem scheiße.» Sein Blick schwenkt zurück zu mir. «Native Americans of Dartmouth. Das ist eine Studentengruppe für alle, die an der Native Community interessiert sind. Wir organisieren Diskussionsforen, Partys und Vorträge. Wenn du Lust hast, kannst du gerne mal dazustoßen.»
«Klar.» Ganz sicher nicht. Es liegt nicht am Thema, aber Veranstaltungen mit mehr als vier Menschen sind einfach nicht mehr mein Ding. Nicht nach dieser Nacht. Womöglich wird dabei auch noch gefilmt oder fotografiert. Nein danke.
Jetzt grinst Kennesaw, und plötzlich bemerke ich, was für unglaublich schöne Zähne er hat und dass er für einen Mann fast zu hübsch ist. Er hat extrem glattes Haar, das ihm bis über die Brust fällt, und sein Gesicht gehört eigentlich in Marmor gemeißelt. «Würde mich echt freuen, wenn du mal mitkommst.»
«Also mich hat es gefreut, Aubree», fährt Jenna dazwischen. «Aber wir müssen jetzt wirklich los. Vielleicht sehen wir uns ja mal. Ich habe auch ein Apartment auf der Zwei, genau wie Ivy.»
Ich nicke, ziehe die Aufzugtür auf und schiebe meinen Umzugskarton mit dem Fuß voran in die enge Kabine.
Kennesaw hebt eine Hand. «Und falls du was hörst von Kaias Zimmer, sagst du mir Bescheid, okay? Oak Park House», erinnert er mich. «Ich wohne im Erdgeschoss mit dem Fenster zum Straßenlärm. Frag einfach nach dem miesesten Dorm des ganzen Campus.»
«Mach ich.» Schnell nicke ich den beiden noch einmal zu, bevor ich in den Aufzug steige und die Vier drücke. Als sich die Tür geschlossen hat und der Aufzug hochfährt, lehne ich mich erleichtert mit dem Kopf an die Rückwand. Die beiden scheinen wirklich nett zu sein. Aber Tatsache ist, dass mich jedes Gespräch unendlich anstrengt. Ich habe Angst, etwas Falsches zu sagen, mich irgendwie zu entlarven. Niemand hier kennt mich, und das soll auch so bleiben. Ich werde mich auf keinen Fall mehr mit meinem Nachnamen vorstellen. Jedenfalls nicht mit dem, der jeden Tag auf Millionen Bildschirmen im Abspann einer Netflix-Serie zu sehen ist.
Da der Aufzug zu eng ist, um sich darin zu bücken, schiebe ich den Karton auf demselben Weg hinaus, wie er hineingekommen ist. Der Flur ist dunkel und ohne Fenster, deshalb taste ich mit der flachen Hand über die Stelle der Wand, wo ich den Lichtschalter vermute, bis ich ihn endlich finde und gelbe Lampen die Wände erhellen. Ivy hat mir genau beschrieben, wo das Zimmer ihres Stiefbruders liegt, deshalb gehe ich zielstrebig den Flur runter bis zur vorletzten Tür auf der linken Seite. Er hat kein Namensschild angebracht, aber an der Wand lehnen völlig verdreckte Stiefel, die aussehen, als hätte er damit einen Stall ausgemistet. Im Schaft steht mit schwarzem Filzstift sein Name.
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Seit Ivy wieder Kontakt zu ihrer Familie hat, habe ich mir sein Profil auf Instagram ein paarmal angesehen, deshalb werde ich ihn wohl wiedererkennen. Aber das, was Ivy mir über ihren zweiten Stiefbruder erzählt hat, ist nicht unbedingt vertrauenerweckend. Er veröffentlicht ziemlich viele Fotos, schlägt regelmäßig über die Stränge und ist überall tätowiert. Unwillkürlich fasse ich mir an den Bauch. Ich brauche diesen verdammten Schlüssel. Warum habe ich Ivy nicht gesagt, was wirklich los ist? Dann hätte sie ihn einfach unter die Fußmatte gelegt, und ich müsste mich nicht mit ihrem Bruder auseinandersetzen. Aber das stimmt nicht. Wenn ich Ivy die Wahrheit gesagt hätte, dann wäre sie sofort zu mir gefahren und hätte ihren Stiefvater im Stich lassen müssen. Und ich weiß, wie viel ihr an ihm liegt und dass ihre Beziehung zu ihm immer noch zerbrechlich ist.
Okay, Noah Blakely. Ich hoffe, du bist nicht ganz so anstrengend, wie du in Social-Media auf mich wirkst. Sei bitte nett zu mir, denn alles andere kann ich heute nicht mehr ertragen.
Ich drücke auf die Klingel. Und warte. Hinter der Tür tut sich nichts, deshalb klingele ich noch ein zweites Mal. Und warte wieder. Als ich nach zwei Minuten immer noch nichts höre, hämmere ich gegen das Türblatt und klingele Sturm. Verdammt. Dieser Kerl ist gar nicht zu Hause! Da fahre ich den halben Tag von New York bis nach New Hampshire, will mir nur einen Schlüssel abholen, und dieser Idiot geht einfach aus? Er wusste doch von Ivy, dass ich komme.
Vor Wut und Enttäuschung schießen mir Tränen in die Augen. Nein, ich werde jetzt nicht zusammenbrechen. Aber ich brauche eine Pause. Etwas Zeit für mich allein nur mit einer warmen Decke und Dunkelheit. Tja, die Dunkelheit bekomme ich sofort, denn in der nächsten Sekunde geht die Flurbeleuchtung aus. Ich drücke auf den Lichtschalter unterhalb der Klingel und ziehe mein Handy heraus. Langsam lasse ich mich auf den Boden sinken und lehne mich gegen den Umzugskarton. Mir werden mehrere Anrufe in Abwesenheit angezeigt, als ich den Bildschirm entsperre. Einer von Taylor, mit dem ich in New York mehrere Kurse belegt hatte, und auch welche von meiner Mom. Und kaum scrolle ich meine Favoriten nach Ivy durch, klingelt es auch schon. Ich kann meine Mom nicht wegdrücken, denn dann würde sie sich sofort verrückt machen, deshalb stelle ich das Klingeln nur auf stumm und warte, bis sie aufgibt und ihr Foto erlischt. Dann schicke ich eine Nachricht an Ivy.
Aubree: Ich stehe vor Noahs Apartment, aber er macht nicht auf. Weiß er, wann ich kommen wollte?
Die Häkchen daneben färben sich schon nach wenigen Sekunden blau.
Ivy: Habe ihm geschrieben, dass du zwischen 6 und 8 da bist. Ich kläre das, melde mich gleich wieder.
Mein Blick verharrt auf ihrer Antwort, da kündigt mir ein einzelner Ton eine neue Nachricht von einem unbekannten Teilnehmer an. Weil ich die Benachrichtigungen abgestellt habe, schiebt sich nicht sofort ein dunkelgraues Banner von oben in meinen Bildschirm. Aber es ist wie ein Sog. Wie ferngesteuert tippe ich auf die blaue Eins des neuen Chats, um die Nachricht anzusehen, obwohl ich genau weiß, dass ich das nicht tun sollte.
Unbekannt: Slut!
Ich zucke zusammen und schiebe reflexartig die Nachricht weg, bevor ich den Absender blockiere. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Inuit hundert Wörter für Schnee verwenden, doch das ist nichts im Vergleich zur Menge an sexuell abfälligen Schimpfwörtern, die es für Frauen gibt. Schlampe ist davon das, was ich im Augenblick am meisten zu hören bekomme, und es tut jedes Mal weh. Ich weiß, dass ich das nicht an mich heranlassen sollte. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Aber dennoch zieht sich alles in mir zusammen. Warum tun Menschen das? Warum wollen sie einen unbedingt wissen lassen, dass man für sie der letzte Dreck ist? Keiner von denen hat eine Ahnung, was passiert ist. Ich weiß es ja nicht mal selbst.
Zum hundertsten Mal verfluche ich WhatsApp dafür, dass es keine Möglichkeit gibt, unbekannte Nummern grundsätzlich zu blockieren. Ich zucke wieder zusammen, als das Handy summt, aber es ist nur Ivy, die mir schreibt, dass sie Noah erreicht hat und er in einer halben Stunde da sein wird. Erleichtert lehne ich mich zurück und schließe für einen Moment die Augen. Ich blende alles aus, was in den letzten Tagen passiert ist, und konzentriere mich nur darauf, zu atmen. Doch Noah kommt auch nach einer halben Stunde nicht. Irgendwann gebe ich es auf, die Uhr auf meinem Smartphone zu kontrollieren, und als das Flurlicht zum hundertsten Mal ausgeht, schalte ich es nicht wieder ein.
«Hey.» An meiner Schulter spüre ich eine fremde Hand und schrecke ruckartig hoch. Es ist stockdunkel, und ich weiß nicht, wo ich bin. Mir ist kalt, mein Hintern schmerzt vom harten Boden, und mein Kreuz ist völlig verspannt. Aber diese Hand … Sofort blitzt das Foto in mir auf, und ich stoße einen angstverzerrten Schrei aus. Ich schlage die Hand beiseite und will in Panik davon wegkriechen, aber mein Karton versperrt mir den Weg, und so trete ich hilflos nach vorne aus, erwische irgendjemanden am Bein und registriere, dass ich die Stimme, die daraufhin einen Fluch ausstößt, nicht kenne.
«Fuck! Bist du bescheuert? Ich wollte dich nur wecken.»
Keuchend hole ich Luft, was mir noch nie so schwergefallen ist wie in diesem Moment. Es fühlt sich an, als würde mein Brustkorb so sehr zusammengedrückt, dass nichts mehr hineinpasst. Fass mich nicht an!, will ich hinausschreien, aber meine Stimme wird genauso zusammengepresst. Nur ein ersticktes Wimmern entweicht mir.
Der Fremde hört auf zu fluchen und drückt auf den Lichtschalter. «Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken. Das Licht ist gerade ausgegangen, als ich die Hand ausgestreckt habe.» Er verschränkt die Arme vor der Brust und geht einen Schritt zurück. «Schlechtes Timing.»
«B…beschissenes Timing.» Ich zittere am ganzen Körper und kann mich nur mühsam dazu bringen, mich aufzurichten. Die Hand, die sich mir entgegenstreckt, ignoriere ich und drücke mich an der Wand nach oben. Ich kann nicht fassen, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Wie konnte ich so dumm sein? In diesem Hausflur hätte sonst wer vorbeikommen können.
Aber es ist nur Noah. Er sieht im Grunde genauso aus wie in seinem Instagram-Account. Jung und irgendwie … na ja, tätowiert. Er trägt abgewetzte Jeans und ein schlichtes graues Sweatshirt. Jetzt gerade schiebt er seine Hand in die Hosentasche, und damit verschwindet ein Teil der Schriftzeichen, die sich vom rechten Ärmel nach unten bis über sein Handgelenk erstrecken. Er zieht etwas heraus, und ich folge der Bewegung. Ich weiß nicht, warum. Es ist ja nicht so, als würde ich erwarten, dass gleich eine Waffe zum Vorschein kommt, aber ich will einfach nicht wieder überrascht werden.
Er bemerkt meinen Blick. «Nur mein Zimmerschlüssel, okay? Ich habe nicht vor, dich vor meiner Tür zu zerstückeln. Meine Nachbarn reagieren bei Blutflecken im Flur irgendwie empfindlich.» Mit einem Grinsen schließt er auf und tritt an mir vorbei in sein Zimmer.
Ich bin immer noch damit beschäftigt, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mir ist schwindelig. Meine Sinne sind völlig überreizt, was daran liegen könnte, dass mein gewohntes Leben sich in den letzten zwei Tagen vollkommen aufgelöst hat.
Ich reibe mir über die Stirn. Okay, was jetzt? Der Schlüssel! «Kannst du mir Ivys Schlüssel geben? Ich bin echt müde und warte schon seit Stunden.» Glaube ich. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, aber meinen Rückenschmerzen nach muss ich ziemlich lang in dieser unbequemen Position gesessen haben.
«Sorry, ich hatte noch was zu erledigen.»
«Klar, kein Problem. Ich warte gerne in fremden Hausfluren. Ist ja nicht so, als hätte ich mich angekündigt oder so.»
Noah streift seine Schuhe ab und wirft mir einen genervten Blick über die Schulter zu. «Komm rein. Ich habe keinen Bock darauf, dass die Nachbarn sich über den Krach beschweren.»
Mein Blick fällt an ihm vorbei auf einen einzelnen Raum, in den nicht viel mehr als ein Schrank und ein für das Zimmer eindeutig zu großes Bett passt. Meine Füße bewegen sich keinen Zentimeter. Ich starre auf den Rücken vor mir und die locker sitzenden Jeans, aus deren rechter Hosentasche der Rand eines Smartphones herausguckt. Er ist ziemlich durchtrainiert und nicht gerade schmächtig. Auf keinen Fall gehe ich zu einem wildfremden Typen ins Zimmer, da kann er hundertmal Ivys Stiefbruder sein. «Gib mir einfach den Schlüssel, dann bin ich weg.»
Er dreht sich um und schaut mich prüfend an. Sein Blick geht von meinen Sneakers über die enge Jeans nach oben, bleibt kurz an meinen verkrampften Händen hängen, die ich an den Seiten zusammenballe, und landet in meinem Gesicht. Ich presse die Lippen zusammen.
«Vielleicht sollten wir noch mal von vorne anfangen.» Er runzelt die Stirn und legt den Kopf schief. «Tut mir leid, dass du so lange warten musstest. Ich wusste, dass du kommst, aber manchmal passiert einfach irgendein Scheiß, den man nicht planen kann. Also: Ich bin Noah, zwanzig Jahre. Erstes Semester und im Reiterteam von Dartmouth.»
Ich habe nicht vor, darauf zu antworten, schon gar nicht ehrlich, und will noch mal nach dem Schlüssel fragen, aber etwas in Noahs Blick lässt mich zögern. Vielleicht ist es, weil seine Augen im Flurlicht grün schimmern. Die Farbe erinnert mich an Schilf, und ich mag sie seltsamerweise. Vielleicht liegt es auch an seiner Stimme. Sein Tonfall ist weich, aber vor allem spricht er mit einem melodischen Rhythmus. Vielleicht ist es auch nur, weil ich so verdammt müde bin.
«Aubree, neunzehn Jahre. Gerade von der Uni geflogen und im Augenblick quasi obdachlos.» Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, würde ich mir am liebsten vor die Stirn schlagen. Das wollte ich so definitiv nicht sagen. Außerdem stimmt es nicht mal. Ich bin nicht obdachlos, ich will einfach nur nie wieder mein altes Zimmer in New York betreten.
Noah lässt sich nicht anmerken, ob er meine Zusammenfassung genauso erbärmlich findet wie ich. Er zeigt mit dem Daumen auf sich. «Ich habe mein Studium abgebrochen, ein Apartment in Brand gesetzt und mein letztes Auto zu Schrott gefahren.»
Okay, das ist … wow. Mal sehen, ob ich das an Dämlichkeit noch toppen kann. «Ich habe meine Mom angelogen, mir ein schrottreifes Auto gekauft und einen Job abgelehnt, für den ich ausnahmsweise mal gut bezahlt worden wäre.»
«Was war das für ein Job?»
Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich hören will. «Ich sollte Anime-Pornos synchronisieren.»
«Okay», sagt er. «Das ist … interessant.» Jetzt grinst er, und ich kann nichts dagegen tun, dass sich meine Gesichtsmuskeln auch nach oben bewegen. Er streckt die Hand aus, und ich starre so lange darauf, dass er sie eigentlich wieder wegziehen müsste. Ivys Bruder, sage ich mir. Er ist Ivys Stiefbruder. Und da Ivy wie eine Schwester für mich ist, muss ich vor ihm wirklich keine Angst haben. Schließlich lege ich meine Hand in seine. Er hält sie fest, sanft und ohne Druck, so als wäre er extra vorsichtig, weil er mich nicht verschrecken will. Oder er hat Angst, dass ich wieder nach ihm treten könnte. Würde mich nicht wundern, nachdem ich mich gerade als obdachloser Loser vorgestellt habe.
Mein Daumen berührt die Stelle an seiner Hand, wo Daumen und Zeigefinger sich treffen und eine tätowierte Zeile mit dem Wort «always» endet. Ich schlucke und ziehe meine Hand zurück.
«Hallo, Aubree.»
Diese Stimme. Oh mein Gott, er spricht so, wie Jamie Cullum singt. Mit dieser leichten Vibration, wie sie nicht alle Männer hinkriegen. Oft genug habe ich im Tonstudio meine Kollegen dabei beobachtet, wie sie versuchen, ihre Stimme intim und sexy klingen zu lassen. Manche stellen sich dafür etwas zu Essen vor und brummen leise mehrmals hintereinander «Mmh, ist das lecker». Noah hat sich gerade genau so angehört, und das sorgt dafür, dass es in meinem Magen kribbelt.
Hallo. Nur dieses eine Wort, und ich weiß, dass ich ein Problem habe. Ein Mammut-Problem. Wenn das hier eine Graphic Novel wäre, würde in der Gedankenblase über meinem Kopf jetzt genau das hier stehen:
Damn. You had me at hello.
Noah hat widerstandslos den Schlüssel rausgerückt, als ich ihn nach seinem Jamie-Cullum-Hallo darum gebeten habe. Ich bin in Ivys Apartment gestolpert, das im Gegensatz zu Noahs aus zwei Zimmern plus Küche besteht, habe meinen Karton, meinen Rucksack und den Stoffbeutel an der Tür stehenlassen und nur mein Bullet Journal und meine Stifte mit zum Bett genommen, um ein Bild zu skizzieren und den Hallo-Satz darüber zu lettern. Mit einem Hintergrund aus tausend Sternen.
Ivy hat mich noch angerufen, aber ich war zu müde, um mit ihr zu sprechen. Nur ein knappes «Danke, habe den Schlüssel, ich melde mich morgen», habe ich in unseren Chat getippt.
Acht Stunden habe ich geschlafen wie eine Tote, und jetzt sehe ich, dass sie mir in der Nacht noch eine Sprachnachricht geschickt hat. Ich nehme das Handy mit in die kleine Küche und spiele die Nachricht ab, während ich im Schrank nach Kaffeepulver suche.
«Hey, ich hoffe, bei dir ist alles okay. Du warst bei unserem letzten Telefonat so kurz angebunden, und ich mache mir inzwischen echt Sorgen. Ich habe gesehen, dass du deinen Instagram-Account gelöscht hast, und das machst du doch nicht ohne Grund. Was ist passiert? Warum wolltest du aus New York weg? Soll ich kommen? Ich bin noch bei meinem Stiefvater, aber ihm geht es nicht so schlecht, dass ich ihn nicht für ein paar Stunden allein lassen könnte. Ruf mich bitte an.»
Die Kaffeedose noch in der Hand, stehe ich da und starre mein Handy an. Ich würde so gerne mit Ivy reden, aber … ich kann nicht. Wann immer ich über all das nachdenke, blockiert etwas in mir. Mir hat jemand K.-o.-Tropfen verabreicht. Irgendein Arschloch hat mich betäubt und dann wer weiß was mit mir gemacht. Und jetzt kursiert ein Bild, das mich für meine Kommilitonen als Schlampe abstempelt und wegen dem Dekan Strout mich von der Uni geschmissen hat. Was wirklich passiert ist, spielte für ihn überhaupt keine Rolle. Er hat mir nicht mal zugehört. Das Einzige, was für ihn zählt, ist, dass er mich ein zweites Mal wegen ungebührlichen Verhaltens abgemahnt hat – das erste Mal war, als ich hinter der Sporthalle für diesen beschissenen Anime-Porno geübt habe, den ich dann doch abgelehnt habe. Es ist so verdammt unfair, und ich fühle mich einfach nur hilflos.
Das ist das eigentlich Schlimme, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich weiß nur, dass ich nicht das Opfer sein will. Nur ist in mir momentan kaum Platz für irgendetwas außer diesem Gefühl, hilflos und ausgeliefert zu sein, und es ist egal, wie oft ich mich dusche, mir die Haut abschrubbe und das Wasser über den Kopf laufen lasse, es ändert nichts daran, wie ich mich fühle. Weil es immer noch dieses Foto gibt und jeder es sehen kann. Ich bin immer noch Aubree, und Aubree wurde von einem Fremden angefasst.
Ich will Ivy anrufen, aber jetzt wird mir schlecht.
Hastig stelle ich den Kaffee auf den Tisch und laufe ins Bad. Auf den Knien hocke ich vor der Toilette, aber die Übelkeit wird weder schlimmer noch besser. Sie bleibt einfach da. Ich wünschte, ich könnte mich wenigstens übergeben, weil diese Situation einfach nur zum Kotzen ist, doch es kommt nichts raus. Mit Tränen der Wut in den Augen knalle ich schließlich den Klodeckel zu und drehe den Wasserhahn am Waschbecken auf. Das Wasser ist eiskalt, und ich schütte es mir mit beiden Händen ins Gesicht, bis der Rand meines Shirts völlig durchnässt ist.
Im Spiegel sehe ich meine weit aufgerissenen Augen und das braune Haar. Es reicht mir knapp über die Schultern. Das Haar, das er angefasst hat. Das Haar, mit dem man wahrscheinlich nachweisen kann, dass Drogen in meinem Körper waren. Sehe ich noch aus wie ein normales Mädchen? Oder wie ein Mädchen, dem man K.-o.-Tropfen verabreichen und das man begrabschen kann, wenn man Bock darauf hat? Ich weiß es nicht.
Ich atme tief ein und aus, so lange, bis das Beben in mir sich langsam beruhigt und ich wieder klarer denken kann. Ich will nicht mehr so aussehen wie ich. Und vor allem will ich verhindern, dass mich hier irgendwer mit meiner Mutter in Verbindung bringt. Und das schaffe ich nur, wenn ich auch keine Ähnlichkeit mehr mit der alten Aubree habe.
Ich laufe zu Ivys Schreibtisch und suche die Schubladen vergebens nach einer Schere ab. Auch in der Küche finde ich keine. Wieder zurück im Bad, reiße ich den Spiegelschrank auf, doch alles, was mir dort in die Finger kommt, ist eine winzige Nagelschere. Wenn ich es damit versuche, werde ich wahrscheinlich noch bis übermorgen an meiner Frisur sitzen und hinterher aussehen wie Edward mit den Scherenhänden. Vor Verzweiflung könnte ich schreien. Ich brauche etwas, irgendwas! Wenn ich hier nichts finde, werde ich gleich zum nächsten Laden laufen und mir Blondiercreme kaufen. Aber das würde nichts ändern, oder? Die Drogen, oder was auch immer man mir gegeben hat, sind dann immer noch in meinem Haar.
Ich gehe in die Knie und öffne den Schrank unter dem Waschbecken, schiebe Klopapierrollen und Flaschen mit Putzmittel beiseite. Meine Finger stoßen ganz hinten auf ein Kabel. Ich zerre daran, aber es klemmt, da muss etwas hinter den Schrank gerutscht sein. Ich schiebe die Putzsachen zur Seite und ziehe den Schrank ein Stück vor, dann zerre ich noch mal an dem Kabel. Eine Sekunde später halte ich einen Langhaarschneider in der Hand. Er sieht uralt aus und ist völlig verstaubt. Das Überbleibsel eines früheren Bewohners. Ich richte mich auf.
Mein Blick geht zwischen meinem Spiegelbild und der Maschine hin und her. Soll ich es wirklich tun? Ich will es, und … ich will es auch wieder nicht. Wenn ich mir die Haare abrasiere, dann … können das alle sehen. Aber wenn ich es lasse, dann muss ich immer daran denken, dass das Betäubungsmittel noch in ihnen ist.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als es in meine Grübelei hinein plötzlich an der Haustür klingelt. Mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um sofort wieder loszugaloppieren. Unschlüssig starre ich auf die Maschine und dann erneut zur Tür. Wer auch immer das ist, ich werde garantiert nicht aufmachen. Ich will niemanden sehen. Es klingelt noch einmal, und ich sage laut nein zu meinem Spiegelbild. Nein, ich werde nicht aufmachen. Nein, ich bin nicht diese Aubree, nicht diese Opfer-Aubree. Ich will das zurücklassen. Ich will neu anfangen. Und ich will keine Drogen in meinem Haar haben. Direkt nach dem Aufwachen hatte ich neben einer neuen Nachricht von Taylor schon wieder zwei von unbekannten Nummern, die mich beschimpft haben. Ich werde mir eine neue Handynummer besorgen und nie wieder an New York denken.
Mit zitternden Fingern stöpsele ich den Netzstecker ein. Das Brummen des Gerätes hat eine beruhigende, geradezu hypnotische Wirkung. Nur unterbrochen vom sich wiederholenden Klingeln. Da ist jemand verflucht hartnäckig. Aber Ivy ist nicht hier, und die einzigen Menschen, die wissen, dass ich da bin, sind sie und Noah. Okay, und dieser überdrehte Kennesaw mit seiner Freundin Jenna, aber die werden wohl kaum um halb neun nach mir suchen, um mich zu einer Veranstaltung ihrer NAD-Gruppe einzuladen.
Ich setze die Maschine an meiner Stirn an. Tränen treten mir in die Augen, und ich kneife sie fest zusammen, während ich den Aufsatz gegen meine Kopfhaut drücke und nach hinten gleiten lasse. Die Maschine gibt seltsame Geräusche von sich, als wäre sie jetzt schon überfordert. Blind taste ich mit der anderen Hand an die Stelle und fühle kurze Stoppeln. Es funktioniert also. Mit wild pochendem Herzen öffne ich die Augen und starre auf mein Spiegelbild. Und ich … sehe erbärmlich aus. Wie ein umgedrehter Irokese, an den Seiten lang und in der Mitte kahl. Dann sollte ich womöglich doch zu den NAD gehen, überlege ich und spüre, wie ein hysterisches Lachen in mir hochsteigt. Oh Gott, das ist so was von überhaupt nicht lustig.
Ich will die Maschine gerade ein zweites Mal ansetzen, als die Person draußen anfängt, auf die Tür einzuschlagen. Was zum …? Das hört sich ziemlich brutal an, und ich schlucke. Was ist denn verdammt noch mal so dringend? Ich ziehe den Stecker aus der Wand und stoße die Badezimmertür auf, als im selben Moment ein splitterndes Geräusch ertönt und jemand durch die Tür bricht.
Oh Gott! Das ist ein Albtraum, das kann nur ein Albtraum sein. In Wirklichkeit stolpert nicht gerade Ivys Stiefbruder Noah durch die kaputte Tür in diese Wohnung und starrt mich mit einem schockierten Gesichtsausdruck an. In der Realität stehe ich auch nicht mit einem Langhaarschneider vor ihm, als würde ich ein Laserschwert halten, und habe dabei eine Frisur wie ein Zombie.
«Fuck», stößt Noah hervor. Und dieses eine Wort vermittelt mir mehr als deutlich, dass das hier doch real ist.
«Fuck», sagt er noch einmal. Dann dreht er sich um und geht entspannt auf den Flur hinaus, als hätte er nicht gerade die Tür eingetreten. Er bückt sich, um eine Papiertüte und einen Karton aufzuheben. Ich stehe da wie festgewachsen, als Noah wieder reinkommt und der Tür einen Tritt gibt, die daraufhin zu- und direkt wieder aufschwingt.
«Du hast die Tür eingetreten.» Ich bin immer noch fassungslos.
«Du hast nicht aufgemacht.»
Das kann doch nur ein Scherz sein. Das muss ein Scherz sein.
«Ich war im Bad beschäftigt.» Mein Herz rast so sehr, dass mir das Blut in den Ohren rauscht. «Wer zum Teufel bricht denn gleich die Tür auf, nur weil er mal ein paar Minuten ignoriert wird?»
Er zuckt mit den Schultern.
«Ich … ich …» Ich kann nicht glauben, dass ich dieses Gespräch mit Ivys Stiefbruder führe. Er gehört zu ihrer Familie, aber … Himmel, wenn er so gewalttätig ist, dass er mal eben eine Tür aufbricht, ist ihm alles zuzutrauen, oder?
Noah klemmt sich den Karton unter den Arm und kratzt sich mit der freien Hand am Hinterkopf. «Ivy hat mich angerufen, als ich gerade Frühstück holen war, und mir gesagt, dass ich ein Auge auf dich haben soll, bis sie hier ist. Sie macht sich echt Sorgen um dich.» Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk, aber da ist keine Uhr. «Sie ist in einer knappen Stunde hier.»
«Und deshalb trittst du die Tür ein?» Hätte ich Ivy doch bloß sofort angerufen und sie beschwichtigt. Jetzt lässt sie wegen mir ihren Stiefvater allein. Scheiße. Meine Finger umkrampfen die Maschine, und unwillkürlich sehe ich mich nach einem Fluchtweg um. Warum hat er das getan?
«Ich habe geklingelt. Ivy meinte, dass es dir wahrscheinlich ziemlich beschissen geht. Außerdem warst du gestern Abend schon so seltsam. Und dann kommen Geräusche aus dem Zimmer, die sich anhören, als würdest du dir … keine Ahnung, gerade irgendwelche Gliedmaßen abtrennen.»
Okay, falls er wirklich vorhätte, mir irgendwie weh zu tun, dann hätte er das inzwischen längst getan. Und er würde sich mit Sicherheit nicht stellvertretend für Ivy Sorgen um mich machen. «Ich wollte mir nur die Haare schneiden.»
«Das sehe ich.» Er mustert nicht meine Frisur, sondern sieht mir geradewegs in die Augen. Das Grün in seinen kommt mir noch intensiver vor als gestern Abend. «Du hast …», eine Hand schwebt über seinem Kopf und macht mit den Fingern seltsam kreisende Bewegungen, «… echt Mut zur Hässlichkeit.»
Ich blinzle gegen die Tränen an. Verdammt. Ich darf nicht heulen. Wenn ich einmal anfange, werde ich nie wieder aufhören.
«Sorry!» Er sieht ehrlich zerknirscht aus. «Scheiße, tut mir leid! Wirklich, Aubree. Lass … lass es mich anders formulieren: Du hast einfach Sinn für Humor?» Er lässt es wie eine Frage klingen. Dann holt er tief Luft und fragt: «Was wird das, wenn’s fertig ist? Denkst du, du kommst in deinem Leben besser klar, wenn du aussiehst wie …» Er wirkt etwas hilflos. «Wie ein … Junge?»
Ich blinzle noch heftiger, um meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ja, genau das ist es. Ich denke, ich komme viel besser klar, wenn ich nicht als Mädchen angeschaut werde. Nicht als Opfer-Aubree.
Er wartet meine Antwort nicht ab. «Kann ich näher kommen, oder streckst du mich dann mit einem Ninja-Schlag nieder, weil ich gerade wie das letzte unsensible Arschloch reagiert habe?»
Ich stocke. Am liebsten wäre es mir, er würde sofort verschwinden und mich mit meinem Elend und der verdammten Haarschneidemaschine allein lassen. Doch dann muss ich gegen meinen Willen lächeln. «Arschlöcher sind draußen eindeutig sicherer.»
«Tja», sagt er. «Ich habe Ivy aber versprochen, dich nicht aus den Augen zu lassen. Und ich habe Donuts mitgebracht. Und Rice Krispies, falls dir das zum Frühstück lieber ist.» Er hält die Tüte hoch und zeigt mir dann den Karton mit dem unverkennbaren Logo, den er unterm Arm getragen hat.
Ich mag Rice Krispies nicht besonders, aber ich mag Donuts. Sehr sogar. Und erst jetzt merke ich, dass in meinem Magen gähnende Leere herrscht und ich tatsächlich Hunger habe. Wahrscheinlich bin ich unterzuckert. Wahrscheinlich bin ich deswegen auf diese blöde Idee gekommen. Wahrscheinlich hätte ich meine Haare in Ruhe gelassen, wenn Noah mit seinen Donuts ein paar Minuten früher an meine Tür geklopft und irgendwelche Scherze gemacht hätte. Wahrscheinlich? Nein, bestimmt! Ich fühle mich hundeelend. «Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll», sage ich ehrlich und drehe den Langhaarschneider unschlüssig in der Hand. «Das war wohl ein Fehler, oder?»
«Jep.» Er nickt, dann stellt er das Essen auf dem Tisch im Wohnzimmer ab. «Bestimmt fühlst du dich jetzt mies. Ich kenne das. Passiert mir ständig. Aber so kann es jedenfalls nicht bleiben. Mit den Haaren kannst du höchstens an Halloween rausgehen.»
«Danke für die aufmunternden Worte.»
«Versteh mich nicht falsch. Es gibt echt Schlimmeres. Zum Beispiel Menschen, die richtige Wichser sind. Die müssen sich eine Tüte über ihren Charakter ziehen. Du hingegen …» Er zuckt wieder mit den Schultern.
Soll mich das jetzt wirklich aufbauen? «Wenn ich irgendwann in meinem Leben mal vorhaben sollte, von einer Brücke zu springen, und mir der letzte Anstoß fehlt, weiß ich jetzt jedenfalls, wen ich anrufe. Vielen Dank.»
«Bring es einfach zu Ende, okay?» Er geht an mir vorbei und zieht die Badezimmertür weit auf. «Manchmal kann man nichts anderes machen als weiter. Also los, es kann nur besser werden.»
«Ist das dein Ernst?»
«Klar. Was willst du sonst machen? Dir die Haare von der Seite rüberkämmen? Wie bescheuert sähe das denn aus?»
Da hat er allerdings recht. Ich marschiere an ihm vorbei ins Bad. Dann werfe ich die Tür zu.
«Ich koche Kaffee», kommt es dumpf durch die Tür.
Ich stütze mich am Waschbecken ab und atme langsam ein und aus, um mich zu beruhigen. Mir bleibt nicht wirklich eine Alternative, als die Sache jetzt durchzuziehen. Er hat recht: So kann ich auf keinen Fall rausgehen. Hätte ich die Maschine an der Seite angesetzt, dann könnte man eventuell einen Undercut daraus machen, aber so? Ich zähle von drei runter, stecke das Gerät wieder ein und schalte es an.
Zieh es einfach durch, Aubree!
Dann fange ich ohne weitere Überlegung an, die nächste Bahn auf meinem Kopf abzurasieren, auch wenn ich dabei am liebsten heulen würde. Es geht nicht leicht, weil die langen Haare sich im Aufsatz verheddern und die Maschine empört brummt. Mehrmals muss ich über dieselbe Stelle fahren, um alles wegzuschneiden, und am Hinterkopf komme ich so schlecht dran, dass es verheerend aussehen muss. Minutenlang bearbeite ich meinen Kopf, bis ich mir eingestehen muss, dass ich es alleine nicht wirklich sauber hinbekomme. Mit den übriggebliebenen Haarsträhnen sehe ich noch mehr wie ein Zombie aus als vorher.