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Liebe muss nicht perfekt sein. Nur richtig. Jane ist allein. Weil ihre Mutter plötzlich gestorben ist. Weil ihr Bruder sie belogen hat. Und weil es ein Geheimnis gibt, von dem niemand erfahren darf. Da sie momentan nicht nach Hause will, schläft sie heimlich in dem Diner, in dem sie arbeitet. Zumindest lenkt der Job sie ab. Vor allem wenn Alex da ist. Alex, der arrogant, ironisch und aufbrausend ist. Und der sie trotzdem fasziniert. Denn nach und nach fällt ihr auf, dass der gutaussehende Politikstudent nur in bestimmten Situationen so bissig reagiert. Er scheint andere Menschen mit Absicht auf Distanz zu halten. Und als Jane den Grund dafür erfährt, bricht ihr das Herz … Das Finale der zweibändigen Paper-Love-Reihe Mit Origami-Faltanleitungen
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Seitenzahl: 560
Nikola Hotel
Roman
Liebe muss nicht perfekt sein. Nur richtig.
Jane ist allein. Weil ihre Mutter plötzlich gestorben ist. Weil ihr Bruder sie belogen hat. Und weil es ein Geheimnis gibt, von dem niemand erfahren darf. Da sie momentan nicht nach Hause will, schläft sie heimlich in dem Diner, in dem sie arbeitet. Zumindest lenkt der Job sie ab. Vor allem wenn Alex da ist. Alex, der arrogant, ironisch und aufbrausend ist. Und der sie trotzdem fasziniert. Denn nach und nach fällt ihr auf, dass der gutaussehende Politikstudent nur in bestimmten Situationen so bissig reagiert. Er scheint andere Menschen mit Absicht auf Distanz zu halten. Und als Jane den Grund dafür erfährt, bricht ihr das Herz …
Das Finale der zweibändigen Paper-Love-Reihe
Mit Origami-Faltanleitungen
Nikola Hotel hat eine große Schwäche für dunkle Charaktere und unterdrückte Gefühle. Obwohl sie auch schon romantische Komödien geschrieben hat, hängt ihr Herz daher vor allem am New-Adult-Genre. Und das merkt man ihren ebenso gefühlvollen wie mitreißenden Liebesgeschichten an. Seit 2020 gelang jedem ihrer Bücher unmittelbar nach Erscheinen der Einstieg auf die Spiegel-Bestsellerliste. Ihre Veröffentlichungen umfassen «It was always you» und «It was always love» um die Blakely-Brüder Asher und Noah. Beide Romane wurden von Carolin Magunia mit Handetterings illustriert. Auch die Paper-Love-Reihe («Ever» und «Blue») ist mit Daumenkinos und Origami-Faltanleitungen aufwendig ausgestattet. Aktuell schreibt Nikola Hotel an ihrer neuen Reihe «Dark Ivy», die mit Dark-Academia-Motiven spielt. Sie lebt mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Söhnen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bonn und gewährt auf Instagram allerlei Einblicke in ihren Schreiballtag. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage zu finden: www.nikolahotel.de
Sometimes to keep yourself together
You must allow yourself to leave,
Even if breaking your own heart
Is what it takes to let you breathe.
Ember Holmes
Therefore I Am – Billie Eilish
Get Home – Bastille
Mother & Father – BROODS
Haunt (Demo) – Bastille
Beggin’ – Måneskin
Follow You – Imagine Dragons
Peace Like A River – Beautiful Chorus
Dancing in the Moonlight – Yonder Mountain String Band
Bad Decisions – Bastille
In The Blood – John Meyer
Those Nights – Bastille
You Know My Name – Chris Cornell
Slow Motion – Jarryd James
Boys Will Be Boys – Dua Lipa
4AM – Bastille
Wonder – Shawn Mendes
Summer Of Love – Shawn Mendes
Easy – Troye Sivan, Kacey Musgraves (feat. Mark Ronson)
Follow Your Arrow – Kacey Musgraves
A Little Less Conversation – Elvis Presley
Give Me The Future – Bastille
DAVID: Wo warst du letzte Nacht?
DAVID: Bist du immer noch sauer? Gib wenigstens ein Lebenszeichen von dir, ich will nur wissen, ob es dir gut geht.
Die erste Nachricht von meinem Bruder ist von heute Morgen. Die letzte Nachricht kommt, unmittelbar bevor ich zurück an die Arbeit gehe. Und anscheinend schreibt er gleich die nächste, denn meine Hosentasche vibriert, kaum dass ich das Handy weggesteckt habe. Maximal eine Minute war ich auf der Toilette, weil ich Chase nicht so lang allein lassen wollte. Der Diner ist heute Mittag ungewöhnlich voll. Fast jeder Tisch ist besetzt. Selbst wenn ich wollte, hätte ich keine Zeit, meinem Bruder zu antworten.
Ich hetze von Tisch zu Tisch, immer am alten Frank vorbei, der mit seiner Schiebermütze wie festgewachsen unter dem Filmplakat von Katharine Hepburn sitzt. Es ist verdammt warm. Wahrscheinlich stimmt was mit der Klimaanlage nicht, denn sie läuft eigentlich auf höchster Stufe, deshalb verteile ich zum frischen Kaffee auch gleich Eiswasser. Drei weitere Bestellungen kritzle ich auf einen Zettel und sammle Geld und leere Gläser ein, bis sich wieder die Gelegenheit ergibt, einen kurzen Blick auf mein Handy zu werfen.
DAVID: Es tut mir leid, Jane. Du hast recht. Mit allem. Ich weiß nicht, wie ich mich noch bei dir entschuldigen soll. Bitte rede mit mir!
Ich überlege ernsthaft, meinen Bruder zu blockieren, weil … Seine Nachrichten tun einfach nur weh. Aber es ist David. Ich weiß, dass es ihm leidtut. Dass es ihm wirklich leidtut. Wahrscheinlich bringt sein schlechtes Gewissen ihn gerade um. Trotzdem möchte ich ihn aktuell in einem Sack im Contoocook-River versenken, weil er …
«Hey.» Eine Hand erscheint in meinem Blickfeld, und ich bleibe ruckartig stehen. Als meine Augen auf dem dazugehörenden Typ mit den dunklen Haaren und dem blauen Poloshirt landen, ziehen sich ganz automatisch meine Brauen zusammen.
Alex Garland. Oder auch der Poloshirt-Idiot, wie ich ihn nenne.
«Zwei Gläser Eistee ohne Zitrone bitte.»
Zwei Gläser? Soweit ich das sehe, ist er allein hier. So wie sonst auch. Wahrscheinlich hat er keine Freunde. Was auch nicht verwunderlich ist, wenn man so ein Ekelpaket ist wie er. «Beide auf einmal?», frage ich und verfluche mich im nächsten Moment selbst. Fragen beantwortet dieser Idiot in neun von zehn Fällen mit irgendeinem ätzenden Kommentar.
«Wird ganz offensichtlich länger dauern, bis du wieder vorbeikommst.»
Mist, hat er schon gewartet? Chase besteht darauf, dass jeder Gast sein erstes Getränk nach spätestens drei Minuten hat. Mein Gesicht läuft heiß an. Ich will Alex’ überheblichen Tonfall nicht persönlich nehmen, aber das funktioniert nicht. «Bringe ich dir sofort», quetsche ich durch zusammengebissene Zähne heraus.
Alex senkt den Blick auf den Laptop vor sich, und eine dunkle Haarsträhne fällt ihm in die Stirn. Seine Finger fangen schon an zu tippen, als er leise vor sich hin murmelt. «Womöglich haben wir beide nicht dasselbe Zeitempfinden.»
So ein Arschloch. «Du siehst ja, was hier los ist.» Mein entschuldigendes Lächeln ist vermutlich mehr ein Zähnefletschen, aber das ist eh egal, weil er mich keines Blickes mehr würdigt. Alex Garland ist nicht nur immer allein hier, ich glaube langsam, er ist mit Absicht ein Arschloch, damit er nur ja mit niemandem reden muss und in Ruhe arbeiten kann. Scheint zu funktionieren.
Auf dem Weg zur Theke halten mich noch zwei weitere Gäste an und bestellen Getränke und Burger. Ich arbeite erst seit einem Monat hier im Diner. Es ist also nicht so, als hätte ich wahnsinnig viel Routine in diesem Job, aber bisher bin ich immer mit meinem Enthusiasmus, einem Lächeln und Augenzwinkern durchgekommen. Außer bei Alex Garland – dem Idioten, der mehrmals die Woche immer in schicken Poloshirts und Chinohosen hier auftaucht, als käme er gerade von einer Gartenparty. Wahrscheinlich wurde ihm dieser Dresscode schon auf seine Geburtsurkunde gedruckt.
Um ihm nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten, nehme ich mir vor, dem Poloshirt-Idioten seine Getränke als Allererstes zu bringen. Aber als ich an die Theke komme und meinem Boss die nächsten Zettel mit den Bestellungen rüberreiche, sieht er mich besorgt an.
«Du musst auch mal was trinken, Jane.» Chase klingt so streng, als wäre er persönlich dafür verantwortlich, dass ich nicht dehydriere.
«Mache ich später, wenn es nicht mehr so voll ist.» Kaum habe ich abgelehnt, bereue ich es, weil meine Kehle so trocken ist wie das Brot, das ich heute Morgen aus der Küche des Diners gemopst habe. Ich habe letzte Nacht hier in Chase’ Büro geschlafen. Heimlich. Das Brot dürfte niemand vermissen, weil es schon hart war. Wir können den Gästen ja schlecht etwas servieren, woran man sich beinahe die Zähne ausbeißt. «Oder vielleicht doch», rudere ich zurück. «Gibst du mir ein Wasser?»
Chase nickt erleichtert. Er schenkt mir ein Glas ein, und als ich es gerade an den Mund setze und für eine Sekunde den Blick durch den Raum schweifen lasse, trifft er prompt auf Alex’ dunkle Augen und seine hochgezogenen Brauen. Na wunderbar. Jetzt hat er mich auch noch dabei erwischt, wie ich noch vor ihm etwas trinke.
Sofort stelle ich das Wasser ab. «Kannst du mir zuerst die zwei Eistee machen?»
Mit einem Nicken füllt Chase Eiswürfel und je eine Zitronenscheibe in die Gläser, gießt sie bis zum Rand mit Tee auf und garniert das Ganze mit Minze, bevor er sie auf mein Tablett stellt. Ich schnappe mir die Getränke, damit ich das schnellstmöglich hinter mich bringe, und bahne mir meinen Weg zurück zu Alex’ Tisch. Als ich dort ankomme, fragt ihn gerade ein Gast vom Nebentisch, ob er einen seiner freien Stühle haben kann. Alex nickt, aber als der Mann den Stuhl schwungvoll wegzieht und aus Versehen gegen den Tisch kracht, zuckt Alex sichtlich zusammen und beißt die Zähne aufeinander.
«Tut mir leid, dass du so lange warten musstest», sage ich schnell, weil er so angespannt aussieht.
«Das ging schneller als erwartet.»
Soll das ein Lächeln sein? Nein, das ist sicher nur eine unwillkürliche Muskelkontraktion. «Wie schön, dass ich dich noch überraschen kann.» Ich verdrehe kurz die Augen, aber sofort reiße ich mich wieder zusammen. So unfreundlich zu einem Gast zu sein, geht gar nicht, zumal Alex auch noch mit Chase befreundet ist. Aber seine arrogante Art treibt mich einfach in den Wahnsinn. «Möchtest du noch etwas bestellen? Einen Bagel vielleicht?» Die isst er öfters. Nur nicht am Wochenende. Da bestellt er immer etwas Süßes … Und warum habe ich mir das überhaupt gemerkt?
Alex wirkt abgelenkt. Der Mann von eben versucht gerade, das Teelicht anzuzünden, das in einem Glas auf dem Tisch steht, und Alex’ Blick geht immer wieder genervt zu ihm. Verflixt, die Kerzen hätte ich eigentlich anzünden sollen, aber ich hab’s heute Morgen offensichtlich vergessen.
«Im Augenblick nichts, danke.» Alex’ Stirn ist gerunzelt, als er schließlich auf die beiden Gläser guckt.
Na großartig. Das bedeutet, dass ich jetzt alle paar Minuten nach ihm sehen darf, falls er doch noch was bestellen will. «Dann melde dich einfach.» Ich nicke ihm noch einmal zu und wende mich schon ab, da hält Alex mich zurück.
«Sorry, wenn meine Bestellung zu komplex war, aber ich wollte den Eistee eigentlich ohne Zitronenscheiben.»
«W-was?» Ruckartig fahre ich zu ihm herum.
Er hebt seine Augenbrauen an. «Der Eistee.» Er deutet auf die Gläser. «Ich habe ihn ohne Zitrone bestellt. Zitrone – kennst du vielleicht. Gelbe, längliche Frucht, saures Fruchtfleisch …»
Verdammt.
Ich erinnere mich tatsächlich, dass er das gesagt hat. Warum um Himmels willen habe ich dann nicht aufgepasst und es an Chase weitergegeben? Mit glühend heißem Gesicht strecke ich die Hand aus, um die Gläser wieder mitzunehmen, da sagt Alex: «Der Weg ist anscheinend recht lang. Soll ich es dir vielleicht besser aufschreiben?»
Ich weiß nicht, was in diesem Moment in mir vorgeht, aber irgendwas verschiebt sich in meinem Gehirn. Vielleicht, weil der Streit mit David mich so belastet. Vielleicht auch, weil ich so schlecht geschlafen habe und mir auf dem schmalen Sofa in Chase’ Büro fast das Kreuz gebrochen habe. Vielleicht aber auch, weil meine Mom vor gerade einmal vier Monaten gestorben ist und ich immer noch Angst habe, bei den unpassendsten Gelegenheiten in Tränen auszubrechen. (Und vor Alex in Tränen auszubrechen wäre mein größter Albtraum.)
Vielleicht ist es aber auch gar nichts davon. Vielleicht liegt es einfach daran, dass Alex mich immer spüren lässt, für wie unzulänglich er mich hält. Er ist zweiundzwanzig und kurz davor, seinen Bachelor in Politikwissenschaften zu machen, hat Chase mir erzählt, und ich habe mein Stipendium für die UNH abgelehnt, damit ich dieses Jahr Vollzeit arbeiten und meinen Bruder unterstützen kann. Übermorgen habe ich wieder einen Termin bei der Zulassungsstelle, weil ich mich erneut beworben habe, aber ich fühle mich von Alex behandelt wie ein Mensch zweiter Klasse, nur weil ich hier im Diner arbeite. Und jetzt, in dieser Sekunde, ist mir das einfach zu viel.
«Danke, aber das kann ich mir auch so merken», sage ich seltsam ruhig. Ich ziehe die beiden Gläser zu mir ran, aber anstatt sie einfach mitzunehmen und ihm neue zu bringen, fische ich mit den Fingern die erste Zitronenscheibe aus dem Glas. Dann die zweite. Das Herz hämmert mir dabei bis in den Hals. Das hast du nicht wirklich getan, Jane!? Du hast nicht wirklich mit deinen Fingern in das Glas gefasst!
Gott, hoffentlich hat Chase das nicht gesehen. Mit einem Gefühl im Bauch, das eine perfekte Mischung aus Trotz und Angst vor der eigenen Courage ist, schiebe ich die Gläser zurück zu Alex. «So besser?»
Ich warte darauf, dass er jetzt ausflippt. Oder lauthals nach meinem Boss ruft. Aber Alex sagt kein Wort. Er öffnet den Mund zwar, schließt ihn dann aber wieder, um zu schlucken. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Schließlich greift er nach dem rechten Glas.
«Viel besser, ja.»
«Etwas zu trinken, Ms. …» Die gerunzelte Stirn taucht erst wieder über dem Rand des Papiers auf, als Mrs. Paige meinen Namen gefunden hat. «… Rivers?»
«Sehr gerne.»
Seit einer Viertelstunde sitze ich im Zimmer der Beraterin der Zulassungsstelle und starre auf das Familienfoto von Mrs. Paige, während sie meine Bewerbungsunterlagen durchgeht.
Ihre Stirnfalten sind inzwischen so tief, wahrscheinlich braucht sie am Ende des Tages Botox, wenn sie mich weiter so ansieht. Sie schenkt mir ein Glas Wasser ein, und als ich die Hand ausstrecke, um es entgegenzunehmen, verrutscht der weite Ausschnitt meines piekfeinen weißen Blusenkleids. Schnell ziehe ich den Stoff am Halsausschnitt zurecht und hoffe, Mrs. Paige hat die Narbe nicht gesehen. Nicht dass sie besonders auffällig wäre oder ich mich für sie schämen würde, aber … ich will nicht darauf angesprochen werden.
«Sie haben im Frühjahr ein Stipendium angeboten bekommen, es dann aber abgesagt. Jetzt bewerben Sie sich erneut für das nächste Jahr. Wieso wollen Sie jetzt doch studieren?»
Okay, darauf will ich eigentlich auch nicht angesprochen werden.
Weil ich jetzt genug Geld habe. Weil ich schon immer unbedingt an dieses College wollte. Weil ich inzwischen gelernt habe, dass ein Leben von einer Sekunde auf die andere enden kann. Wie dann die ganze Welt zerbricht und wie schwer es ist, all diese Schnipsel wieder zusammenzukleben. Und jetzt habe ich Angst davor, nicht richtig zu leben. Ich muss diesen Studienplatz haben. Ich will mein Leben selbst in die Hand nehmen und auskosten, was geht. Ich würde alles für diesen Studienplatz tun.
Ganz schlechte Antwort. Auf die Frage, warum ich auf meinen Studienplatz verzichtet habe, bin ich zwar vorbereitet, aber ich bringe die Worte kaum heraus. «Ich … wir hatten einen Todesfall in der Familie», erkläre ich vage. «Das war eine harte Zeit, und ich hätte mich nicht so auf das Studium konzentrieren können, wie ich es vorhabe.»
Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Die letzten vier Monate waren die schlimmste Zeit meines Lebens. Schlimmer als damals, als ich diese Narbe an meinem Schlüsselbein bekam. Schlimmer als alles andere. David und ich waren von einer Sekunde auf die andere auf uns allein gestellt und hatten kein Geld mehr. Damit mein Bruder sein Studium fortsetzen konnte, habe ich das Stipendium abgesagt, um Geld zu verdienen und ihn zu unterstützen, so wie David mein ganzes Leben lang mich unterstützt hat. Er hat alles für mich getan. Er hat mich zum Arzt gefahren, für mich gekocht, meine Wäsche gewaschen, meine Lieblingsklamotten geflickt, Kuchen für meinen Geburtstag gebacken, mir jeden erdenklichen Kram hinterhergetragen und, wenn ich traurig war, die süßesten Origami-Tiere für mich gebastelt. Er …
Verdammt! Ich bin immer noch sauer auf ihn, oder nicht?
Mrs. Paige rückt ihr Familienbild auf dem Schreibtisch gerade, jetzt kann ich ihren Mann und die beiden niedlichen Mädchen darauf nicht mehr sehen. Was vielleicht auch gut ist, dann muss ich nicht daran denken, dass es so ein Familienbild von uns nie wieder geben wird.
Den Gedanken abschüttelnd hebe ich das Kinn und sehe Mrs. Paige in die Augen. «Aber inzwischen bin ich bereit, mich voll auf das Studium an der UNH zu konzentrieren. Meine Lebenssituation hat sich geändert, aber meine Ziele sind die gleichen geblieben.»
«Die gleichen Ziele. Interessant, dass Sie das sagen, Ms. Rivers, denn Sie haben andere Angaben gemacht als bei Ihrer ersten Bewerbung und Ihre Fachauswahl geändert.» Sie blättert durch meine Unterlagen, dann wirft sie den Stapel Papier auf den Tisch. «Ehrlich gesagt habe ich Ihr Motivationsschreiben nur überflogen. Es besteht im Grunde nur aus den üblichen Floskeln, die man auf jeder Ratgeberseite im Netz findet. An unserer Universität prüfen wir Ihren Zulassungsantrag ganzheitlich. Ja, Ihre Noten sind wichtig, aber wir möchten erfahren, wer Sie sind und was Sie zu dieser Community beitragen können. Also: Wieso möchten Sie nun plötzlich Politik im Nebenfach studieren?»
Okay. Einmal Luft holen. Ganz offensichtlich ist Mrs. Paige eine harte Nuss. Warum will ich plötzlich Politik studieren? Das ist eine gute Frage. Aber auch eine, mit der ich gerechnet habe. Nur diesen abweisenden Tonfall habe ich nicht erwartet. Sie war die Einzige auf der Website der Uni, auf deren Profil unter ihrem Namen die Pronomen she/her/hers angegeben waren. Deshalb habe ich den Termin bei ihr gemacht. Weil es zeigt, dass sie tolerant ist. Und fortschrittlich. Dass sie sich Gedanken macht um Menschen, die anders sind. Womöglich habe ich da zu viel hineininterpretiert. Locker ist sie jedenfalls nicht.
«Mir ist bewusst geworden, dass Frauen- und Geschlechterforschung meine Interessen allein nicht abdeckt. Ich will verstehen, wie Politik funktioniert und vor allem wie ich mich selbst engagieren kann. Rassismus, Klassismus und Umweltzerstörung sind so relevante Themen für unsere Gesellschaft, deshalb möchte ich im zweiten Nebenfach auch noch Social Justice Leadership studieren, um mich breiter aufzustellen und die Zukunft aktiv mitzugestalten. Ich interessiere mich für Nachhaltigkeit, für die Umwelt, in der wir leben, und ich will auch anderen Menschen helfen, aktiv zu werden.» Wow, ich bin selbst von mir beeindruckt, wie durchdacht das klingt.
Mrs. Paige empfindet das wohl nicht so, denn sie hakt nach. «Welche Berührungspunkte hatten Sie denn bisher mit Politik? Wofür engagieren Sie sich?» Sie beugt sich vor, und das sieht für einen Moment so aus, als wollte sie ihren großen Busen auf dem Schreibtisch ablegen. «Oder anders gefragt: Haben Sie ein politisches Vorbild?»
Schlägt mein Herz eigentlich noch?
Ein politisches Vorbild?
Erst nach ausgiebigem Räuspern fange ich an zu sprechen. «Ich … ich bewundere Al Gore für sein politisches Engagement für den Umweltschutz, aber … na ja … als Vorbild würde ich ihn nicht unbedingt bezeichnen.» Das war okay. Die meisten Menschen mögen Al Gore, damit lehne ich mich kein bisschen aus dem Fenster. Und ich habe auch nicht rumgeschleimt. Pluspunkt für mich.
Mrs. Paige nickt und kritzelt etwas auf meinen Bewerbungsbogen. «Al Gore stammt aus einer politischen Familie. Wie ist es bei Ihnen, Ms. Rivers? Stammen Sie aus einer politisch aktiven Familie?»
Ich habe überhaupt keine Familie. Ich habe nur David.
Etwas kitzelt mich im Nacken, ich schwitze und würde am liebsten einen ganzen Eimer Wasser trinken. Mit zitternden Händen taste ich nach dem Wasserglas und trinke es in einem Zug leer. Auch um Zeit zu schinden.
Stamme ich aus einer politisch aktiven Familie?
Nein.
Doch.
Vielleicht?
Zählt mein Erzeuger, auch wenn ich ihm noch nie begegnet bin? Wahrscheinlich eher nicht. Ich schlucke mehrmals, obwohl ich gar kein Wasser mehr im Mund habe, und halte mich mit den Augen am Bilderrahmen vor mir fest.
Natürlich stamme ich aus einer politisch aktiven Familie. Mein leiblicher Vater ist Politiker. Sie kennen ihn. Er heißt William Hayden und ist der Kandidat der Demokraten für das Amt des Gouverneurs von New Hampshire. Der aussichtsreichste Kandidat, wenn man den Umfragen glauben darf.
Wie gern würde ich das jetzt sagen und Mrs. Paige damit den Wind aus den Segeln nehmen, aber das kann ich nicht. Niemand außer David und den Haydens weiß davon.
«Na ja», fange ich an und schiele auf das leere Glas. Nein, ich werde nicht über meinen Erzeuger reden. Weil ich es nicht darf. Weil er ein Arsch ist. Weil es seinen Wahlkampf gefährden würde und er sich dafür rächen könnte. Und außerdem weil er nichts von mir wissen will. Vor allem weil er nichts von mir wissen will. «Meine Familie ist eher unpolitisch», erkläre ich und spreche schnell weiter, als Mrs. Paige schon den Mund öffnet. «Aber das ist meiner Meinung nach auch nicht notwendig, um selbst in die Politik zu gehen. Es gibt eine Menge großartiger Politikerinnen, die aus einer unpolitischen Familie stammen. Was ist mit Kamala Harris zum Beispiel?» Ich bin mir ziemlich sicher, damit mache ich einen weiteren Punkt.
«Harris’ Großvater war Beamter in der indischen Regierung.»
Oh.
Ich rutsche auf meinem Stuhl nach vorn. «Dann Alexandria Ocasio-Cortez. Sie ist Kongressabgeordnete und stammt aus einer unpolitischen Familie. Ihr Vater ist Architekt, und ihre Mutter hat Fußböden gewischt und einen Schulbus gefahren. Ich denke, dass diese Erfahrungen und ihr puerto-ricanischer Background sie besonders dafür prädestinieren, sich politisch zu engagieren.» Und dann quatsche ich los und lehne mich plötzlich doch so weit aus dem Fenster, dass ich mich gerade noch mit dem kleinen Zeh am Rahmen festhalten kann. «Meine Mutter ist zwar keinen Schulbus gefahren, aber sie war alleinerziehend, hat ihr ganzes Leben lang andere Leute bedient und unglaublich hart gearbeitet, um meinen Bruder und mich durchzubringen. Mrs. Paige, Sie haben mich nach meinen Vorbildern gefragt, und neben meiner Mutter ist AOC tatsächlich ein großes Vorbild für mich. Spätestens nach ihrer Rede über Sexismus vor dem Kongress, nachdem der Republikaner Ted Yoho sie in der Öffentlichkeit eine fucking bitch genannt hat. Ich fand sie großartig. Und wenn das bedeutet, eine fucking bitch zu sein, dann möchte ich auch eine werden.»
Ich möchte eine fucking bitch werden? Oh mein Gott! Habe ich das gerade wirklich gesagt? Habe ich wirklich diesen Ausdruck in der Zulassungsstelle der UNH in den Mund genommen? Und das auch noch zweimal? Mein Gesicht glüht auf. Wo ist meine Tasche? Eigentlich kann ich auch gleich gehen, bevor sie mich rauswirft. Das war’s jetzt. Ich unterdrücke den Drang, auf meiner Lippe herumzukauen, und beiße stattdessen die Zähne fest zusammen in Erwartung dessen, was nun zweifellos kommen muss.
Aber anstatt mit ausgestrecktem Arm zur Tür zu zeigen, lehnt Mrs. Paige sich entspannt zurück. «Alexandria Ocasio-Cortez ist eine demokratische Sozialistin.»
Sie schmeißt mich nicht sofort raus? Sie gibt mir noch eine Chance? Nur mit Mühe kann ich den Mund wieder öffnen. «Ich … weiß.»
«Und Yoho hat sich hinterher mit den Worten entschuldigt, einfach leidenschaftlich gewesen zu sein. Was halten Sie von dieser Begründung? AOC sollte sie als Entschuldigung akzeptieren. Schließlich ist doch jeder mal leidenschaftlich in einer Debatte, finden Sie nicht, Ms. Rivers?»
Mrs. Paige sieht mich erwartungsvoll an. Was will sie jetzt von mir? Soll ich ihr zustimmen? Wenn sie mich nicht empfiehlt, dann bekomme ich diesen Studienplatz niemals. Aber wenn ich ihr einfach nur zustimme, dann hätte ich diesen Studienplatz auch gar nicht verdient – finde ich zumindest.
«Nein, ich denke nicht, dass diese Entschuldigung ausreicht», sage ich, und mir wird fast schwindelig dabei. «Yoho ist ein unhöflicher, sexistischer Politiker. Der unsinnigerweise argumentiert, er sei ein anständiger Mann, weil er Frau und Töchter hat. Aber er hat sich mit dieser respektlosen Beleidigung selbst entlarvt. Menschen derart anzugreifen hat nichts mit Leidenschaft zu tun. Er hat es gesagt, weil sie eine Frau ist, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt. Und mit seiner fadenscheinigen Entschuldigung legitimiert er es, jede andere Frau und jedes Mädchen so zu nennen. Es ist sexistisch.» Gott, ist mir heiß! Ich glühe innerlich wie äußerlich und wische mir die Strähnen aus dem Gesicht, die wieder einmal aus meinem Zopf gerutscht sind und mir an der Stirn kleben wie zu weich gekochte Spaghetti.
Mrs. Paige nickt. «Sie meinen also, Menschen mit Respekt zu behandeln, macht einen anständigen Mann aus?»
«Ganz genau. Und auch eine anständige Frau.» Ich denke an die Pronomen auf ihrer Profilseite und füge hinzu: «Und auch alle anderen Menschen. Egal ob sie sich einem bestimmten Geschlecht zugehörig fühlen.»
Jetzt lächelt sie. «Ich muss sagen, Sie haben eine enthusiastische Art, Ms. Rivers.»
Ist das gut? Heißt das, sie wird mir helfen? Meine Augenbrauen gehen fragend nach oben.
«Damit will ich sagen, dass mir gefällt, wie inbrünstig Sie Ihren Standpunkt vertreten. Unabhängig davon, ob ich Ihre Meinung teile oder nicht.»
«Und bedeutet das, dass Sie meine Bewerbung unterstützen?»
«Genau das bedeutet es.»
Ich kann mein Glück kaum fassen. Yesss! Ohne nachzudenken, habe ich den Arm hochgerissen und meine Hand zu einer Faust geballt. Nun lasse ich sie langsam wieder sinken und schiebe sie unter den Tisch. Mein Grinsen kann ich trotzdem nicht unterdrücken. «Danke, Mrs. Paige.»
«Das ist noch keine Zusage», kommt es nüchtern von ihr. «Über die Aufnahme wird noch entschieden. Den Todesfall in Ihrer Familie können wir dabei nicht berücksichtigen, es tut mir sehr leid. Aber Ihre frühe Bewerbung für das nächste Jahr zeigt ein starkes Interesse an der UNH.»
Sie nimmt meinen Bewerbungsbogen wieder auf und malt irgendein Symbol in die rechte obere Ecke. Ich gehe davon aus, es ist so was wie ein «Daumen hoch». Dann leiert sie einen Informationstext herunter. «Ihren Antrag auf staatliche Studienhilfe stellen Sie bitte frühzeitig. Nachdem Ihre Angaben überprüft wurden, sendet das Financial Aid Office Ihnen eine E-Mail, in der Sie darüber informiert werden, ob und, wenn ja, welche Hilfe Sie erwarten können.»
«Ähem.» Mit einem Räuspern versuche ich, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, aber Mrs. Paige schiebt meinen Antrag schon in eine braune Mappe, die sie auf ihre überfüllte Ablage fallen lässt. «Es ist so, dass ich diesmal keine Studienhilfe beantragen werde, weil … sich meine finanzielle Situation geändert hat.» Weil meine Halbschwester Abbi mir gegen den Willen ihres Vaters Geld aus dem Erbe ihres – unseres – Großvaters überschrieben hat, als sie von meiner Existenz erfahren hat. Und nun bin ich unabhängig. Genau genommen sogar vermögend, wenn auch nicht aus gutem Hause. Seit ein paar Wochen besitze ich Anteile an der Hayden Paper Group, eines der größten Papierfabrikanten des Landes. Anteile an der Firma meines Erzeugers, worüber er sicher nicht erfreut ist.
Ich brauche keinen Studienkredit.
Wow. Dieser Fakt ist so unglaublich, dass ich immer noch nicht damit klarkomme. Mein ganzes Leben musste meine Familie für alles schuften. Und jetzt, wo ich mir vieles ohne Probleme leisten könnte, traue ich mich nicht, auch nur einen Cent von dem anzurühren, was Abbi mir überwiesen hat. Außer für das Kleid, das ich gerade trage. Ich will dieses Studium so sehr, da werde ich keinen Dollar für sinnloses Zeug verplempern. Jeden einzelnen verdammten Cent werde ich in das allerwichtigste Projekt meines Lebens stecken. Und das allerwichtigste Projekt meines Lebens …
… bin ich.
«Gut.» Mrs. Paige schaut nicht einmal auf. «Reichen Sie bitte einen Nachweis über Ihre Finanzierung nach. Wir sind dann fertig.»
Ihr Tonfall weht mich fast schon zur Bürotür. Nachdem ich mich für ihre Zeit bedankt habe, schließe ich die Tür, trabe wie in Trance den Flur hinunter und raus aus dem Gebäude. Mit jedem Schritt werde ich schneller. Ich kann kaum glauben, dass ich das Gespräch tatsächlich hinter mich gebracht habe. Das alles ist komplett surreal. Und erst als mir draußen die Sonne ins Gesicht knallt, kommt es in meinem Gehirn an, wie gut das Interview gerade gelaufen ist. Ich werde studieren! Ich werde wirklich und wahrhaftig studieren! Laut fange ich an zu lachen, tanze wie eine Verrückte im Slalom über den Steinweg, und es ist mir total egal, ob mich jemand dabei sieht.
Mrs. Paige wird mich empfehlen, ich muss diesen Studienplatz einfach kriegen. Ich werde ihn kriegen! Oh Gott, ich muss dringend mit jemandem darüber reden. Ich könnte platzen vor Aufregung. Völlig außer Atem halte ich in meinem Tschakka-Tanz inne und ziehe mein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Mein Daumen berührt ganz automatisch den obersten Namen, der mit einem Stern als Favorit gekennzeichnet ist, und ich klebe mir das Handy ans Ohr. Ohne zu klingeln, ertönt sofort eine Ansage: «Diese Nummer ist leider nicht vergeben.»
Nein.
Nein-nein-nein-nein-nein.
Mir bleibt mein Lachen im Hals stecken. Für einen Moment bin ich wie gelähmt, und nachdem sich die Ansage wiederholt hat, drücke ich panisch auf das rote Hörersymbol.
Sofort fangen meine Augen an zu brennen. Ich habe es vergessen, aus meinem Bewusstsein verbannt. Wie konnte mir das nur passieren? Schon wieder. Am Anfang ist das öfter vorgekommen, aber jetzt noch? In der ersten Zeit, als der Handyvertrag noch aktiv war, habe ich manchmal sogar auf die Mailbox gesprochen, weil ich es für einen Moment – einen winzigen glückseligen Moment – verdrängt habe.
Alles.
Was passiert ist.
Dass David und ich allein sind.
Dass nichts mehr so sein wird wie zuvor.
Aber ich dachte, über diesen Punkt wäre ich inzwischen hinaus. Es ist jetzt vier Monate her, doch in diesem Augenblick schlägt es wie ein Meteorit in mich ein, als wäre es gestern erst passiert. Oh Gott, wieso habe ich die Nummer nicht längst gelöscht? Wieso habe ich sie nur gewählt? Wieso schmerzt es so sehr, obwohl ich doch weiß, dass sich am anderen Ende der Leitung nie wieder jemand melden wird?
Nie. Wieder.
Ich muss mich zwingen, den Bildschirm erneut zu entsperren. Es tut weh. Dieses Profilbild zu sehen, tut einfach nur weh. Weil sie darauf lacht, weil sie glücklich und sorgenfrei aussieht und dieser Moment nur so kurz gedauert hat. Aber ich kann diesem Schmerz, der ganzen Trauer nicht wieder nachgeben. Nicht mehr. Nicht jetzt. Ich werde studieren. Ich werde ein ganz neues Leben beginnen und muss damit abschließen.
Mein Magen krampft sich zusammen, als ich den Kontakt erneut aufrufe und auf «Bearbeiten» gehe. Langsam löse ich den Blick von ihrem lachenden Gesicht und scrolle nach unten, bis ich beim Punkt «Kontakt löschen» angekommen bin. Ich tippe ihn an.
Sicher, dass Sie «Mom» löschen möchten?
Ja.
Ich habe meine Mom gelöscht. Mein Herz fühlt sich an, als wäre es einmal in der Mitte auseinandergerissen und nur notdürftig zusammengeflickt worden. Meine Augen brennen. Ich habe die ganze Fahrt zum Diner über geheult. Mein Hals ist so eng, dass ich glaube, an allem, was passiert ist, ersticken zu müssen. Und jetzt würde ich so gerne Davids Stimme hören.
Als der Bus auf die Straße zu Chase’ Diner abbiegt, wird mir erst bewusst, wie sehr. Mom hat bis vor Kurzem noch hier gearbeitet. David und ich sind sonst immer zusammen hierhergefahren und haben alles in diesem Diner besprochen. Der Diner ist so was wie unser zweites Zuhause. Ich wünschte, wir hätten uns nie gestritten. Oder dass ich ihm einfach so verzeihen könnte. Dann würde ich ihm jetzt erzählen, dass ich aus Versehen Moms alte Nummer gewählt habe und wie schrecklich das ist. Ich würde ihm berichten, wie mein Interview gelaufen ist. Er ist der einzige Mensch, den das wirklich interessiert. Der sich für mich interessiert. Ich würde ihm meinen peinlichen Fucking-bitch-Aussetzer beichten, und er würde entsetzt «Verdammt, Jane!» rufen und dann in Gelächter ausbrechen. Und dann würde er mir sagen, dass sie mich trotzdem nehmen werden, weil ich clever bin, und dass er an mich glaubt.
Ich schlucke und dränge den Schluchzer zurück, der sich schon wieder seinen Weg aus meiner Kehle bahnen will. Ich muss mich zusammenreißen. Der erste Gast wartet bereits vor dem Diner, als ich aus Richtung der Bushaltestelle um die Ecke biege. Ich werfe einen schnellen Blick auf die Uhrzeit auf meinem Handy und zucke zusammen. Ich bin viel zu spät dran, obwohl ich heute aufschließen sollte. Außerdem sehe ich mit vom Heulen verquollenen Augen vermutlich schrecklich aus. Toll. Chase wird stinksauer sein, wenn er davon erfährt.
Mit beiden Händen rubble ich mir über das Gesicht, hole mehrmals tief Luft und streiche mein Kleid glatt. Der Stoff klebt mir am Rücken, weil es selbst für August zu schwül ist und die Klimaanlage im Bus nicht funktioniert hat. In meinen Sandalen hetze ich zum Eingang, wo ein alter Herr seine Schiebermütze in den Händen knetet. Meine Stimme habe ich noch nicht voll im Griff und presse ein heiseres «Hi, Frank» heraus. Dabei bin ich verdammt froh, dass er da ist. Ich bin froh über diesen Job, weil ich deshalb keine Zeit habe, noch länger an Mom zu denken. Oder an David, der mich so enttäuscht hat. «Tut mir total leid, dass Sie warten mussten. Dafür lade ich Sie gleich auf einen Kaffee ein, einverstanden?»
Als Antwort bekomme ich nur ein Grunzen, denn Frank redet nie viel. Eigentlich redet er gar nicht. Er ist Stammgast und kommt beinahe jeden Tag. Früher hat er bei einem Radiosender gearbeitet und wahrscheinlich da alle Worte aufgebraucht. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Die Schlüssel stoßen klirrend gegen den Rahmen, als ich die Tür aufschließe und ihm aufmunternd zunicke. Viel aufmunternder, als mir zumute ist. Aber das hier ist mein Job. Es geht darum, dass die Gäste gern kommen und zufrieden wieder gehen. Und ich will das gut machen. Wenigstens eine Sache will ich richtig gut machen.
Frank folgt mir in seinem typischen Schlurfgang und steuert zielstrebig seinen Lieblingsplatz an. Die Wände des Diners sind mit Filmplakaten und sonstigen Fundstücken gepflastert. Autogramme, Schnappschüsse von alten Filmstars und die ein oder andere Filmklappe, die Chase ersteigern konnte. Ich gehe direkt zu der riesigen verchromten Kaffeemaschine, die fast zehn Minuten braucht, um warm zu laufen, bevor ich mit einer weiteren Entschuldigung nach hinten verschwinde, um in der Küche Licht anzustellen und den Teig aus der Kühlung zu holen.
Es fühlt sich gut an, etwas zu tun zu haben. Leyla, unsere Köchin, hat heute Morgen einen Arzttermin und kommt erst um elf. Aber sie hat mir vor ein paar Tagen gezeigt, wie man Pancakes und Omeletts macht, deshalb hoffe ich, dass ich das auch allein hinkriege. Solange es keinen untypischen Ansturm gibt und niemand Extrawünsche hat. Und solange der Poloshirt-Idiot nicht auftaucht. Ich hab keine Ahnung, ob ich es heute ertrage, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Weil dieser Tag echt hart angefangen hat. Aber ich werde diesen Studienplatz kriegen, und bis dahin habe ich diesen Job. Ich mag ihn. Chase ist ein netter Chef. Zumindest bis er erfährt, dass ich heute zu spät gewesen bin und Frank vor der verschlossenen Tür warten musste. Ausgerechnet heute, wo Leyla beim Arzt ist.
Ich habe noch nicht mehr geschafft, als meine Hände zu waschen, da vibriert mein Handy. Das Foto meines Bruders erscheint auf dem Display, als ich es aus der Tasche ziehe. David. Hinter meinen Rippen ringen zwei Gefühle miteinander. Ich bin immer noch so wütend auf ihn, und gleichzeitig vermisse ich ihn so sehr, seine ruhige Art, seine Verlässlichkeit, dass ich ihm am liebsten alles verzeihen würde. Ich komme nicht dagegen an. Mit dem dritten Vibrieren gehe ich ran.
«Ja.» Mehr bringe ich nicht über die Lippen. Drei Tage. Drei Tage habe ich nicht mit ihm geredet, nachdem er mir gestanden hat, dass er letzte Woche bei meinem leiblichen Vater in Hopkinton gewesen ist. Auf seinem Grundstück, in seinem Haus. Weil er meine Halbschwester Abbi dorthin begleitet hat. Weil er sie liebt. Und dass sie dort zusammen Pressefotos für Haydens Wahlkampf gemacht haben. Drei verdammte Tage, und ich kann es immer noch nicht fassen.
David klingt atemlos. «Gott sei Dank! Bitte leg nicht direkt wieder auf, Jane. Ich habe mir echt Sorgen gemacht. Geht es dir gut? Ist alles okay mit dir?»
Ich warte lange mit meiner Antwort. Dann sage ich: «Natürlich geht’s mir gut. Ich habe die letzte Nacht im Diner geschlafen.» Weil ich es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten habe. David hat sich immer wieder entschuldigt, und ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte – ich musste – weg.
«Gott.» An seiner Stimme höre ich, dass er gleichzeitig entsetzt und erleichtert ist. «Etwa auf dem schmalen Sofa in Chase’ Büro?»
Mit den Fingern fahre ich den Rand des Eimers mit dem Pancake-Teig entlang, ziehe den Deckel ab und versuche, Ruhe zu bewahren. Dabei möchte ich ihn am liebsten anbrüllen. «Wo bitte sonst? Und ja, es war genauso ungemütlich, wie du dir das jetzt vorstellst.» Mit einer Kelle attackiere ich den Teig, obwohl der gar nicht so kräftig gerührt werden müsste, aber wenn ich nicht irgendetwas tue, flippe ich gleich aus.
Wahrscheinlich bin ich gar nicht sauer auf ihn. Ich bin sauer auf mein Leben, auf alles! Auf Mom, weil sie einfach so gestorben ist, und auf mich, weil ich so dämlich war, mein Stipendium aufzugeben, um zu jobben. Ich bin nicht sauer, weil David sich ausgerechnet in meine Halbschwester verlieben musste. Oder weil er mir so lange verheimlicht hat, dass er meinen leiblichen Vater kennengelernt hat. Das habe ich ihm verziehen. Aber die Sache mit dem Familienfoto? Gott verdammt! Damit komme ich nicht klar. Familienfotos sind meine Achillesferse. Familienfotos machen mich fertig.
«Das ist doch scheiße, Jane. Du musst nicht im Diner schlafen. Ich kann …» Er stockt. «Wenn es so schlimm ist … ich meine, ich kann verstehen, wenn du gerade nicht mit mir zusammenwohnen willst. Aber das hier ist auch deine Wohnung, und wir haben von Moms letztem Geld nicht das ganze Jahr im Voraus die Miete bezahlt, damit du im Diner schläfst. Ich … Ich kann auch ausziehen.»
Er will ausziehen? Und wohin? Etwa zu Abbi und ihren Eltern? Zu meinem leiblichen Vater? Das überlebe ich nicht.
«Bitte komm wieder nach Hause», sagt er. «Es tut mir leid. Es tut mir total leid, dass ich es dir nicht vorher gesagt habe.»
«Und wenn du es vorher gesagt hättest, und ich wäre nicht damit einverstanden gewesen, was dann?», fauche ich. «Wärst du dann etwa nicht nach Hopkinton gefahren? Hättest du dich dann etwa nicht mit Abbi und ihren Eltern fotografieren lassen?»
«Jane, ich …»
«Ach, hör auf! Ich weiß, was du sagen willst. Du konntest nicht wissen, dass sie dieses beschissene Familienfoto mit dir machen würden. Und du hättest dich auch nicht weigern können. Du hast das nur Abbi zuliebe gemacht.» Ich stoße ein Schnauben aus, dabei ist mir eigentlich zum Heulen. David würde wahrscheinlich alles für Abbi tun. Deshalb ist er auch mit ihr zu ihren Eltern gefahren, obwohl er mir gesagt hat, dass er dieses Haus nie wieder betreten wird. Okay, nein, das stimmt nicht. Er hat es nie gesagt. Ich bin einfach davon ausgegangen, weil es anständig gewesen wäre.
«Abbi musste für diese Homestory dabei sein. Sie hat es ihren Eltern versprochen, weil sie Haydens Wahlkampf nicht torpedieren will. Das war auch für sie eine Scheißsituation. Und als Hayden mich vor den Journalisten gefragt hat, ob ich mit aufs Bild komme, was hätte ich tun sollen? Ihm eine Szene machen? Hast du echt von mir erwartet, dass ich Abbi allein gehen lasse?»
«Ja», platze ich heraus, nur um mich im nächsten Moment zu korrigieren, weil das eine richtig fiese Antwort ist. «Nein, natürlich erwarte ich das nicht. Ich finde es nur so verdammt … ungerecht, dass du immer das Richtige tust. Weil …» Ich suche nach Worten. «Es ist für dich und Abbi das Richtige, das weiß ich. Aber für mich ist es einfach nur schrecklich. Du fährst mit ihr nach Hopkinton, damit die Haydens sich als glücklich-intakte Familie präsentieren können. Als Vorzeigefamilie eines Vorzeigedemokraten, ohne eine uneheliche Tochter wie mich, die in einem Diner arbeitet. Und dann stellst du dich noch dazu, als wärst du so was wie der geliebte Schwiegersohn. Er nutzt dich für seinen verdammten Wahlkampf aus, weil du gut neben seiner Tochter aussiehst.»
David klingt gequält, als er mir darauf antwortet. «Ich weiß, wie scheiße das war und dass es für dich wahrscheinlich keinen Unterschied macht, aber ich habe es nicht für Hayden getan, sondern für Abbi. Glaub mir, sie hasst es genauso wie du. Sie will diese Heimlichtuerei nicht. Sie wünscht sich, dass du ihn kennenlernst. Dass …»
«Das kann sie vergessen. Du weißt genau, dass ihr Vater mich nicht kennenlernen will. Und selbst wenn: Ich will mit diesem Mann nichts zu tun haben.»
Abbi versucht seit Wochen, ihren Vater dazu zu überreden, dass er mich trifft. Ihren Vater. Unseren Vater. Keine Ahnung, was sie sich davon verspricht. Aber das Schlimmste daran ist, dass es mir wehtut. Zu wissen, dass Abbi ihn überhaupt überreden muss. Das bohrt sich wie ein Stachel in mein Fleisch. Obwohl es das nicht sollte. Es sollte mir nichts ausmachen, was in einem Mann vorgeht, der vor hundert Jahren mal eine Affäre mit meiner Mutter gehabt hat. Er kennt mich nicht. Er weiß überhaupt nicht, wer ich bin. Es sollte mir egal sein. Aber das ist es leider nicht. Und dieses Familienfoto mit meinem Bruder … Es hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich hoffe, dass ich es niemals sehen muss. William und Maree Hayden neben Abbi und meinem Bruder und darunter dann die Namen von links nach rechts … Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, weil es die pure Heuchelei ist.
«Du kannst nicht so tun, als wäre das alles normal, Dave.» Ich flüstere, weil die Tür zum Gastraum offen steht und mir jetzt erst bewusst wird, dass Frank das alles mitbekommen muss.
«Das weiß ich, verdammt.» Er atmet geräuschvoll aus. «Es ist beschissen, und es tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen.»
Das glaube ich ihm. Ich bin mir sogar absolut sicher, dass es ihn fertigmacht. Aber das ändert nichts daran, dass David sich an Haydens Regeln hält und in seiner Gegenwart so tun muss, als würde es mich gar nicht geben.
Die Türglocke bimmelt, und ich zucke zusammen. Überrascht lasse ich die Kelle fallen, mit der ich immer noch im Teig gerührt habe, und fette Teigspritzer landen auf meinem Kleid. Na toll! Das auch noch!
Durch den Türspalt erkenne ich einen Mann mit Karohemd. «Ich kann jetzt nicht weiterreden, es sind schon Gäste da.» Das Handy unters Ohr geklemmt, knöpfe ich das Kleid auf, weil ich darunter glücklicherweise noch Leggings und ein kurzes Top trage. Das ist wenigstens sauber. Und ich kann auch noch ein T-Shirt vom Diner überziehen.
Ich will schon auflegen, da sagt David: «Wie war dein Termin heute in der Uni? Du hattest doch um acht das Gespräch in der Zulassungsstelle.»
Er hat es nicht vergessen. Natürlich nicht. Wahrscheinlich hat David sich eine Erinnerung auf sein Handy eingestellt. Er vergisst nie einen Termin von mir, weil er sich immer um mich kümmern musste. Weil er immer noch denkt, dass ich es allein nicht hinkriege.
Eigentlich wollte ich nichts sehnlicher, als ihm davon zu erzählen. Aber der Gedanke, dass er sich immer noch für mich verantwortlich fühlt, lässt ein bitteres Gefühl in mir aufsteigen. «Es war gut», sage ich knapp. «Mrs. Paige wird mich empfehlen.»
«Wirklich? Wow, das ist großartig.»
«Das ist noch keine Zusage», wiederhole ich ihre Worte, weil ich es auf einmal kaum ertragen kann, wie sehr er sich freut. Als wäre es eine totale Überraschung, dass ich das allein geschafft habe. Na herzlichen Dank auch. Ich kann mein Leben selbst regeln, ich bin erwachsen.
David atmet hörbar aus. «Das hört sich aber verdammt danach an, würde ich meinen. Sie wären blöd, wenn sie dich nicht nehmen.»
Ich weiß genau, welchen Gesichtsausdruck er bei diesen Worten macht, und habe direkt wieder einen Kloß im Hals. «Ich kann nicht länger reden, Dave, ich muss arbeiten.»
«Alles klar. Kommst du heute Abend nach Hause?»
«Ich weiß noch nicht.» Aber was ich eigentlich mit meiner Antwort meine, ist: Ich weiß nicht, ob ich noch länger mit ihm in einer Wohnung leben will. Nicht so. Ich würde alles dafür tun, wenn es zwischen uns wieder so sein könnte wie früher. Als Mom noch gelebt hat. Aber so wird es nie wieder zwischen uns sein. «Wahrscheinlich nicht.»
Er seufzt.
«Bis dann.» Ich lege auf.
Und dann drücke ich den Rücken durch, weil jetzt Schluss ist. Ich habe keine Lust, mich noch länger selbst zu bemitleiden. «Morgen, Randy», rufe ich dem Mann im karierten Flanellhemd zu, der eben hereingekommen ist. Er ist unrasiert und wahrscheinlich schon seit ein paar Stunden unterwegs. «Kaffee zum Mitnehmen?»
«Wenn du schnell machst. Mein Welpe da draußen scharrt mit den Pfoten.»
Ich kenne Randy schon länger und weiß, dass er mit «Welpe» seinen Sattelschlepper von knapp neun Metern meint, den er liebevoll «Pup» nennt.
«Ich beeile mich», sage ich, was wahrscheinlich ein leeres Versprechen bleibt. Die blöde Kaffeemaschine blinkt leider immer noch, das kann ich von hier aus sehen. Schnell reiße ich ein frisches T-Shirt aus einem Schrank unter der Theke, da klingelt die Türglocke erneut. Ich springe auf, mein Blick schießt zur Tür, und das Herz sackt mir in die Hose. Okay, in meine Leggings, denn ich habe ja nicht mal eine Hose an.
Dunkle Haare, Chinohosen, ein Poloshirt und eine Reisetasche über der rechten Schulter. Alex Garland.
Bitte nicht.
Nicht gerade jetzt. Nicht an einem Tag, wo ich mich mit Pancake-Teig bekleckert habe und aussehe, als käme ich grad aus dem Fitnesscenter, anstatt professionell meinen Job zu erledigen.
Gott muss mich wirklich hassen.
Warum sonst sollte er mir jemanden wie Alex vorbeischicken? Er kommt bestimmt viermal pro Woche, und jedes Mal gibt er mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Dafür muss er nicht mal etwas sagen, das strahlt er mit jeder arroganten Faser seines Körpers aus.
Gott, der Mistkerl kann mich mal. Ich bin Jane Rivers, ich bin clever, und ich bin eine fucking bitch. Nur bin ich auch unvorbereitet und gestresst und total labil, weil mein Leben eine einzige Katastrophe ist. Aber ich kriege das hin, ich werde einfach alles an mir abprallen lassen, was der Poloshirt-Idiot ausstrahlt oder sagt. Ich werde geradezu überfreundlich zu ihm sein, sodass ihm seine Scheißarroganz im Hals stecken bleibt.
Cool bleiben, Jane. Du hast schon ganz anderes hinter dich gebracht.
Randy sagt irgendwas, was ich nicht höre, weil ich bereits ganz auf den Mann im Poloshirt konzentriert bin. Meine Augen kleben an dem Emblem auf seiner Brust fest, das nur ein Wort rausschreit: teuer! Alles an ihm sieht teuer und irgendwie sauber und glatt aus. Als würde er im Gegensatz zu mir Stunden damit verbringen, seine Klamotten zu bügeln. Und nun geht er an uns vorbei und sagt nicht mal Guten Morgen. So ein Arsch. Gewaltsam reiße ich den Blick von Alex Garland los und wende mich an Randy. «Was?»
«Musst du noch die Kuh melken, oder warum dauert das so lang?» Ungeduldig trommelt er mit einem Kaffeelöffel auf die Theke.
Alex hat es gehört. Natürlich hat er es gehört. Ich sehe, wie sich seine Augenbrauen im Vorbeigehen unzufrieden zusammenziehen, und das reicht aus, meinen Puls in die Höhe schnellen zu lassen. «Du weißt schon, dass ich dir nie Kuhmilch in deinen Kaffee gieße, oder, Randy?»
«Was? Bist du bescheuert?» Randy lässt den Löffel fallen. «Was für eine Milch denn? Dieses Haferzeug oder was?»
Weil er so entsetzt aussieht, muss ich plötzlich grinsen. «Nein, Soja.»
«Du verarschst mich doch. So was kannst du einem doch nicht einfach so in den Kaffee kippen, davon wachsen einem Brüste, verdammt!»
Ich setze eine besonders unschuldige Miene auf und lasse ganz viel Zucker in meine Stimme rieseln. Vielleicht auch, weil ich hoffe, dass Alex das mitbekommt. «Du stehst doch auf Brüste, dachte ich. Außerdem ist das mit den Hormonen totaler Blödsinn. Kuhmilch ist voller Wachstumshormone. Das ist nicht gesund.» Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick Alex folgt, der sich einen Platz weiter hinten sucht. Ich gebe mir einen Ruck und biete Randy einen frischgepressten Orangensaft und einen Bagel an, um ihn bei Laune zu halten, bis die Kaffeemaschine bereit ist. Dann streife ich schnell das Diner-Shirt über mein Top, weil ich die Begegnung mit Alex am besten direkt hinter mich bringe. Wenn er samstags kommt, nimmt er normalerweise Pancakes mit extra viel Ahornsirup und eine Tasse Kaffee. Dass ich das so genau weiß, sollte mir vielleicht zu denken geben. Aber vielleicht bin ich auch einfach nur eine gute Kellnerin. Eine aufmerksame Kellnerin. Nur dass der Poloshirt-Idiot das nicht zu würdigen weiß.
Gespielt fröhlich bahne ich mir meinen Weg durch die Tische. Alex hat seine Reisetasche abgestellt und irgendwelche Bücher von der Uni auf dem Tisch verteilt. Ich habe ihn noch nicht ganz erreicht, da sehe ich, wie er eine Zeitung ausbreitet. Eine Tageszeitung.
Meine Kehle wird schlagartig trocken, als ich die Titelseite sehe. Oh nein. Nein, nein, nein. Oben prangt ein Bild von William Hayden, meinem leiblichen Vater. Und darunter zieht sich über die gesamte Seite das Foto. DAS Foto. Hayden steht mit seiner Frau, seiner Tochter Abbi und meinem Bruder David in seinem Garten in Hopkinton und lächelt in die Kamera. Und mein eigenes Lächeln, das ich mir so mühsam aufs Gesicht gezwungen habe, friert auf der Stelle ein.
LUKE: Wir sehen uns gleich, Schlappschwanz.
Die SMS landet geräuschlos im Papierkorb. Den Ton habe ich abgestellt, weil das Saugen der verschwindenden Nachricht zu den Geräuschen gehört, die mich irremachen. Und das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen, denn dank Luke wird dieses Wochenende ohnehin zum Kotzen. Ich darf schon wieder zu Hause antanzen, obwohl ich eigentlich an meinem Essay arbeiten müsste, und jetzt weiß ich, dass mein Bruder auch da ist und nicht bei irgendeiner seiner Freundinnen pennt. Das potenziert den gewöhnlichen Familienhorror locker mit fünf.
Einen Fluch auf der Zunge, ziehe ich den Reißverschluss des Weekenders auf, um den Inhalt zu kontrollieren, bevor ich ihn mir über die Schulter wuchte. Uralte Wrangler, zerknittertes Jeanshemd, Arbeitsstiefel, alles klar. Die Klamotten werde ich gleich auf dem Diner-Klo wechseln müssen, denn so, wie ich jetzt aussehe – frisch gebügeltes Poloshirt und Stoffhose –, kann ich keinesfalls bei meiner Familie aufkreuzen. Luke würde sich vor Lachen in die Hosen pinkeln.
Aber bevor ich fahre, brauche ich was zu essen. Und Kaffee. Vor allem Kaffee. Ich klemme mir die Zeitung, die ich eben gekauft habe, unter den Arm und schließe möglichst leise den Kofferraum. Weil es auf einmal zu nieseln anfängt, lege ich den Weg zum Diner auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Sprint zurück.
Chase hat frei. Das merke ich, sobald die Türglocke bimmelt, weil ich noch keinen Kaffee rieche. Ich Glückspilz. Außerdem bin ich nicht allein. Der alte Frank sitzt wie immer auf einem Barhocker direkt vor dem Bild von Katharine Hepburn, als würde er zum Inventar gehören. Außerdem ist da noch ein Typ im Flanellhemd, der mit einem Löffel auf die Theke trommelt. Das Geräusch ist grenzwertig, aber ich kann das ausblenden, wenn es nicht zu lange anhält.
In diesem Moment richtet sich jemand mit einem roten T-Shirt in der Hand hinter der Theke auf.
Jane.
Verdammt, es ist Jane.
Der Gedanke kommt automatisch, als wäre das ihr Name – Verdammt-es-ist-Jane –, obwohl mir klar war, dass sie heute arbeitet. Weil … Verdammt, es ist Jane! Jane, die heute hautenge Leggings und nur ein kurzes Top trägt. Eine Tatsache, die mich kurzzeitig aus dem Konzept bringt, weswegen ich den Mund nicht aufkriege und nicht mal Guten Morgen sage. Großartig. Womit ich mal wieder bewiesen hätte, dass ich der unfreundlichste Kerl der Welt bin. Ich muss echt an mir arbeiten.
«Musst du noch die Kuh melken, oder warum dauert das so lang?», fragt der Typ sie gerade.
Ich atme langsam aus. Einen weiteren Neandertaler im Karohemd kann ich heute echt nicht gebrauchen. Ähnliche Sprüche werde ich mir nachher noch genug anhören dürfen, und dafür benötige ich meine ganze Selbstbeherrschung. Außerdem ist es offensichtlich, dass Jane den Laden gerade erst aufgeschlossen hat. Die Kaffeemaschine blinkt und muss sich noch aufwärmen.
«Du weißt schon, dass ich dir nie Kuhmilch in deinen Kaffee gieße, oder, Randy?»
Die beiden diskutieren weiter. Ich unterdrücke ein Grinsen, weil der Typ jetzt in Schnappatmung verfällt, und gehe unauffällig an ihnen vorbei. Trotzdem bekomme ich noch mit, wie Jane ein unschuldiges Gesicht aufsetzt und ihm erklärt, dass ihm von der Sojamilch keine Brüste wachsen werden.
Ihre Stimme klingt dabei zuckersüß. Mit mir redet sie nie so.
Ich suche mir einen Platz möglichst weit weg von der Theke und versuche, den Fernfahrer mit seinem Klopfen zu ignorieren. Bis zu einem gewissen Grad kann ich seine Ungeduld sogar verstehen. Keine Ahnung, wieso Jane immer so spät dran ist. Keine Ahnung, warum Chase sie überhaupt eingestellt hat, denn mir fällt niemand ein, der so wenig in diesen Diner passt wie sie. Mit den langen dunklen Haaren, die sie zu einem unordentlichen Knoten hochgebunden hat, und den Sportklamotten sieht sie eher aus, als käme sie gerade aus einem Yogastudio. Wenn sie sich nicht in diesem Augenblick das T-Shirt mit den roten Diner-Farben überziehen würde, hätte ich mir beim Bestellen gleich ihren Bauchnabel angucken können. Nicht dass ich scharf drauf wäre. Definitiv nicht.
Jane hat etwas an sich, das mich ständig auf die Palme bringt. Sie ist zu allen Menschen ausgesprochen nett und gut gelaunt. Außer zu mir. Wir sind deshalb schon mehr als einmal aneinandergeraten, weil ich leider auch nicht der Typ bin, der ein Feuer austritt, wenn es vor ihm auflodert. Dass jemand, der so clever ist wie sie und echt was erreichen könnte, nur als Kellnerin in einem Diner arbeitet, will nicht in meinen Kopf. Dieser Laden ist Chase’ Leben, okay, aber was ist er für Jane Rivers? Chase hat mir erzählt, dass sie eigentlich ein Stipendium für die UNH hatte, es aber abgesagt hat und jetzt nur noch hier arbeitet. Das ist etwas, was ich einfach nicht kapiere.
Als Jane nun um die Ecke tänzelt – eine andere Art zu beschreiben, wie sie sich vorwärtsbewegt, fällt mir nicht ein –, kann ich an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, wie sehr sie sich freut, mich zu sehen. Sie schafft es nicht, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten. Ein paar Schritte von mir entfernt frieren ihre Mundwinkel auf halber Höhe ein. Sie wirkt, als müsste sie sich zwingen, näher zu treten. Läuft bei mir.
«M-morgen», stammelt sie. «Kaffee dauert leider noch einen Moment.»
«Hab ich mitbekommen. Und eigentlich erwarte ich bei dir auch nichts anderes», sage ich, weil es mich ankotzt, dass sie mich so ablehnend ansieht. Keine Ahnung, warum ich nicht einfach so tun kann, als wäre es mir scheißegal, dass sie mich nicht leiden kann. Sonst bin ich doch auch trainiert darin, anderen etwas vorzuspielen. Mache ich andauernd. Wenn ich mit meiner Mutter über mein Leben rede beispielsweise. Oder mich vor meinem Vater verstelle oder meinem Bruder Luke. Der Einzige, bei dem ich mich nicht anders geben muss, als ich bin, ist Chase, der Besitzer des Diners. Chase ist einige Jahre älter als ich und kennt mich, seit ich sechzehn bin. Seit er meinen Eltern ein Stück Land abgekauft hat. So was machen Städter, weil sie glauben, sich am Wochenende in der Einöde mit Elchen und Pumas zu entspannen, wäre eine Spitzenidee. Nicht dass es Pumas in New Hampshire gäbe, auch wenn Touristen das ständig behaupten.
«Ich nehme dann die Pancakes», sage ich, bevor Jane wieder verschwinden kann. Ich brauche locker ein ganzes Pfund Zucker, um diesen Horrortag bei meiner Familie zu überstehen, und das wäre ein guter Anfang.
«Ich weiß. Du nimmst samstags immer Pancakes.» Ihre Stimme klingt gepresst, aber dann zwingt sie sich so was Ähnliches wie ein Lächeln ins Gesicht. «Wieder mit einer Extraportion Ahornsirup?»
Überrascht schaue ich an ihr runter und direkt auf das Namensschild, das sie in diesem Moment an ihre Brust pinnt. Als müsste ich mich vergewissern, dass das hier tatsächlich Jane ist und kein Alien.
Sie hat mich noch nie so freundlich angesehen, und das ist … besorgniserregend. Steht heute etwa dick und fett «Bedauernswerter Idiot» auf meiner Stirn? Oder wird der Tag etwa so beschissen, dass ich als Ausgleich eine Portion ungewohnte Nettigkeit von Jane Rivers bekomme? Aber sie hat recht. Ich bestelle wirklich jeden Samstag Pancakes, das war mir gar nicht bewusst.
«Ja, alles, was du hast. Vom Ahornsirup», konkretisiere ich. Mein Blick geht wieder hoch zu ihrem Gesicht und …
… bleibt dort hängen. Normalerweise vermeide ich Ablenkungen, und sich näher mit Jane zu befassen, lenkt definitiv ab! Aber verdammt, sie hat unfassbar blaue Augen. Und dieser ungewohnt intensive Ausdruck darin irritiert mich. Demonstrativ nicke ich in Richtung meiner Zeitung, um ihr zu signalisieren, dass ich kein Interesse an einem Gespräch habe. Aber Jane geht nicht. Ihr Blick folgt meiner Geste, und sie starrt die Zeitung in meinen Händen so angewidert an, als säße eine Vogelspinne darauf. Erst als die Türglocke erneut bimmelt, reißt sie sich davon los.
«Frühstück für euch?», fragt Jane die zwei Studentinnen, die gerade hereingekommen sind, und ich konzentriere mich endlich auf meine Zeitung. Auf der Titelseite ist der Gouverneurskandidat der Demokraten abgebildet, dessen Wahlkampf ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit schon seit Monaten beobachte. In dieser Ausgabe ist ein mehrseitiges Porträt über ihn, was der Grund ist, warum ich mir die Zeitung überhaupt gekauft habe. Das Familienbild interessiert mich nicht, und ich bin kurz davor weiterzublättern, als ich innehalte. Der zweite Mann darauf kommt mir irgendwie bekannt vor. Meine Augen wandern zur Bildunterschrift. William Hayden, seine Ehefrau Maree, Tochter Abigail Hayden mit Freund.
Die Gesichter sind zu klein und das Bild zu verpixelt, um wirklich etwas zu erkennen, deshalb hake ich es schulterzuckend ab. Ich überblättere ein paar Seiten, um zum Artikel zu gelangen, und schaffe es kaum, die ersten beiden Abschnitte zu lesen, da kommt Jane schon wieder zurück und schiebt fahrig Speisekarte und Serviettenständer zur Seite. Das ging schneller als erwartet.
«Dein Kaffee.» Sie beugt sich vor und stellt die Tasse ab. Dann gießt sie mir noch ein Glas Wasser ein, weil das standardmäßig zum Service gehört. Und dabei fixiert sie die aufgeschlagene Seite, auf der William Hayden am Schreibtisch seines Arbeitszimmers in Hopkinton zu sehen ist.
«Ich schätze, das reicht», sage ich, weil sie ganz offensichtlich nicht aufpasst und das Glas gleich voll ist. Aber sie scheint mich gar nicht zu hören. Okay, was ist los? Sekundenschlaf? «Dir ist schon klar, dass da nicht mehr reinpasst?» Das Wasser läuft über den Rand. «Jane.»
Sie zuckt zusammen, als hätte ich sie gerade geschlagen, und stößt dann auch noch mit der Karaffe gegen die Kaffeetasse. Ich reiße die Hand hoch, um die Tasse noch festzuhalten, bin aber zu langsam, und der komplette Inhalt ergießt sich über meine Finger und die Tischplatte.
Fuuuck, ist das heiß! Ich springe auf, damit mir die Brühe nicht auch noch über die Hosen rinnt, reiße meine Bücher vom Tisch und schüttle meine Hand aus. Ich sag’s ja, ich bin ein Glückspilz! Meinen Laptop habe ich Gott sei Dank im Auto gelassen. Verdammt, Jane. «Hätte nicht gedacht, dass Wasser eingießen so anspruchsvoll sein kann.»
Shit. Ich höre selbst, dass ich wie ein Arschloch klinge.
«Tut mir leid.» Jane weicht ruckartig vor mir zurück. Ihr Gesicht hat deutlich Farbe bekommen – auf ihren Wangen sind zwei große rote Flecken zu sehen.
Keine Ahnung, wieso das gerade aus mir rauskam, aber sobald mich etwas überfordert, verfalle ich in Ironie. Und ganz offensichtlich überfordert Jane mich. Was auch der nächste Satz beweist. «Macht nichts», sage ich mit einem Achselzucken. «Ist ja nicht so, dass ich die Zeitung noch lesen wollte.»
Stopp, Alex. Lass die Scheißironie einfach im Sack, okay? Ich hätte das Kommunikationsseminar besser noch ein zweites Mal besuchen sollen. Allerdings habe ich kein Kommunikationsproblem, wenn es um mein Studium oder meinen Job geht. Nur wenn es privat wird oder persönlich, bin ich darin minderbemittelt, und nun suche ich nach Worten, um meine Arschlochigkeit wieder auszubügeln. Jane greift im selben Moment nach meiner feuchten Zeitung, um damit auch noch den Rest der Überschwemmung aufzutupfen.
«Ich hab gesagt, es tut mir leid», wiederholt sie. «Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffst, sogar noch arrogan…» Jane hält so plötzlich inne, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Dann holt sie tief Luft und lächelt wieder gezwungen. «Das war wirklich keine Absicht», sagt sie unerwartet sanft. «Ich bringe dir sofort eine neue Tasse. Vielleicht möchtest du dich lieber an einen anderen Tisch setzen? Ich mach das dann gleich alles in Ruhe sauber.»
Ist doch kein Drama, nur verschütteter Kaffee. Ich schlucke und öffne den Mund, um ihr das zu sagen, aber … arrogant? Wollte sie das sagen, bevor sie sich wie auf Knopfdruck in Zen-Jane verwandelt hat? Sie findet mich arrogant? Okay, das ist neu. Luke ist der Meinung, ich wäre ein Waschlappen, der sich mal ein paar Eier wachsen lassen sollte.
In meinen Schläfen fängt es an zu pochen. In einem möglichst gelangweilten Tonfall sage ich: «Kein Problem, ich bleib gern an diesem Tisch. Sag mir nur Bescheid, wenn du das nächste Mal vorhast, die Getränke großzügig zu verteilen, dann lasse ich mir die Zeitung vorher laminieren.»
Sie runzelt die Stirn und sieht gleichzeitig verletzt und aufgebracht aus. «Ich werde in deiner Gegenwart bestimmt nicht noch mal Fehler machen, keine Sorge.»
Ich nicke. «Ich würde nur an deiner Stelle nicht direkt Wetten drauf abschließen.» In Gedanken verpasse ich mir selbst einen Arschtritt, weil das nun wirklich verdammt herablassend klang.
«Weißt du was?» Sie stellt das Tablett, das sie die ganze Zeit im Arm gehalten hat, eine Spur zu heftig auf den Tisch. «Ich kaufe dir einfach eine neue Zeitung. Du siehst zwar nicht so aus, als würdest du wegen der zwei Dollar fünfzig am Hungertuch nagen müssen, Mr. Alex Ich-trage-achtzig-Dollar-Poloshirts Garland, aber weil ich nett bin, mache ich meinen Fehler sofort wieder gut.»
«Ich glaube nicht, dass du das beurteilen kannst.»
«Was?»
«Ob ich am Hungertuch nage.»