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In "Alaska Kid" zeichnet Jack London ein lebendiges Porträt des Klondike zur Zeit des großen Goldrausches. Smoke Bellew, ein Zeitungsjournalist aus San Francisco, folgt dem Ruf des Abenteuers in den eisigen Norden. Aus dem städtischen Greenhorn wird schnell "Alaska Kid" – ein Mann, der lernt, in einer Welt zu bestehen, die keine Fehler verzeiht. Auf seinen Reisen durch die verschneite Wildnis trifft Smoke auf Goldsucher und Fallensteller, Glücksritter und Verzweifelte. Er durchquert gefrorene Pässe, trotzt hungrigen Wölfen und lernt die ungeschriebenen Gesetze des Nordens: Hier überlebt nur, wer seine Hunde richtig führt, ein Feuer auch im Schneesturm entfachen kann und weiß, wem er vertrauen darf. Eine Abenteuergeschichte aus einer Welt, in der die Grenze zwischen Leben und Tod oft nur eine falsche Entscheidung breit ist – erzählt von einem Mann, der den Goldrausch selbst erlebt hat und die wilde Schönheit Alaskas wie kein zweiter beschreibt.
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Seitenzahl: 270
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Jack London
Alaska Kid
Erzählung über den Goldrausch in Alaska
Copyright © 2024 Novelaris Verlag
First edition
ISBN: 978-3-68931-121-6
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Cover
Table of Contents
Text
Ursprünglich hieß er Christoffer Bellew. Als er die Universität besuchte, wurde er zu Chris Bellew. Später bekam er in den Kreisen der San Franciscoer Bohème den Namen Kid Bellew. Und schließlich kannte man ihn nur noch unter „Alaska-Kid“. Und die Geschichte, wie sich sein Name entwickelte, ist zugleich die Geschichte seiner eigenen Entwicklung. Es wäre aber nie so geworden, hätte er nicht eine nachgiebige, schwache Mutter und einen eisenharten Onkel gehabt und wäre kein Brief von Gillet Bellamy gekommen.
„Ich lese soeben eine Nummer der Woge“, schrieb Gillet aus Paris. „Selbstverständlich wird O’Hara sich damit durchsetzen. Er macht aber, scheint’s mir, einige Schnitzer.“ (Hier folgte eine genaue Aufstellung aller Verbesserungen, die ihm für die neue mondäne Zeitschrift notwendig erschienen.) „Besuch ihn doch mal. Laß ihn aber in dem seligen Glauben, dass es Deine Anregungen seien - er darf um Gottes willen nicht ahnen, dass sie von mir stammen! Sonst macht er mich zu seinem Pariser Korrespondenten, und das kann ich mir nicht leisten, weil die großen Magazine mir ja menschenwürdige Honorare für meine Aufsätze zahlen. Vor allem darfst Du nicht vergessen, ihm zu sagen, dass er den langweiligen Affen, der die Musik- und Kunstkritiken schreibt, hinausschmeißen soll. Und noch eins: San Francisco hatte früher immer seine eigene Literatur von besonderem Charakter. Das ist augenblicklich nicht der Fall. Sage ihm, dass er irgendeinen gutmütigen Trottel ausfindig machen muss, der eine lange, lebendige Erzählung schreiben soll, in die er den ganzen romantischen Zauber und die schillernde Farbenpracht San Franciscos hineindichten kann.“
Seinen Instruktionen getreu, wanderte Kid brav und bieder zum Redaktionsbüro der Woge. O’Hara lauschte mit Interesse auf seine Ausführungen und erklärte sich mit ihnen einverstanden. Er entließ auch sofort den langweiligen Affen, der die Kritiken schrieb. Aber O’Hara hatte außerdem seine ganz besondere Art, die Gillet selbst in Paris, soweit vom Schuss, fürchtete. Wenn O’Hara sich nämlich etwas in den Kopf setzte, war keiner seiner Freunde imstande, es ihm auszureden. Er war so liebenswürdig und gleichzeitig so eindringlich, dass man ihm einfach nicht widerstehen konnte. Noch ehe Kid Bellew die Redaktion verließ, war er Mitredakteur geworden, hatte versprochen, einige Kritiken zu schreiben, bis man eine brauchbare Feder gefunden hätte, und hatte sich endlich verpflichtet, eine lange, spannende San Franciscoer Erzählung in wöchentlichen Fortsetzungen von je tausend Zeilen zu schreiben… alles, ohne einen Heller dafür zu erhalten. Die Woge könne noch nichts zahlen, erklärte O’Hara. Und ebenso überzeugend legte er dar, dass nur ein einziger in ganz San Francisco imstande sei, diese Erzählung zu schreiben… und dass dieser einzige zufällig Kid Bellew sei…
„Du mein Gott, ich bin also selbst der gutmütige Trottel gewesen“, seufzte Kid vor sich hin, als er die schmale Treppe hinabstieg.
Und damit begann seine Sklaverei für O’Hara und für die unersättlichen Spalten der Woge. Woche für Woche saß er auf seinem Stuhl in der Redaktion, hielt dem Blatt mühselig die Gläubiger vom Leibe, schlug sich mit den Druckereien herum und schüttelte jede Woche zweitausendfünfhundert Zeilen verschiedensten Inhalts aus dem Ärmel. Und seine Arbeit wurde durchaus nicht leichter mit der Zeit. Die Woge war nämlich ein ehrgeiziges Blatt. Sie verlegte sich auf Bebilderung. Leider aber waren die Reproduktionsverfahren recht kostspielig. Folglich hatte das Blatt nie Geld, um Kid Bellew zu bezahlen, und aus eben demselben Grunde konnte es sich auch keine Erweiterung des Redaktionsstabes leisten.
„So geht es, wenn man ein guter Kerl ist“, brummte Kid Bellew eines Tages.
„Gott sei Dank, dass es gute Kerle gibt!“ rief O’Hara und drückte Kid Bellew mit Tränen in den Augen die Hand. „Du allein, wirklich nur du allein, Kid, hast mich gerettet. Wärest du nicht gewesen, so wäre ich schon längst pleitegegangen. Jetzt gilt es nur noch ein bisschen durchzuhalten, lieber Junge, dann wird alles schon leichter werden.“
„Nie“, klagte Kid. „Ich kann mein Schicksal schon voraussehen. Ich werde mein Leben lang hierbleiben müssen.“
Kurz darauf glaubte er einen Weg gefunden zu haben, auf dem er entschlüpfen konnte.
Er benutzte einen Augenblick, da O’Hara zugegen war, um über einen Stuhl zu stolpern. Einige Minuten später stieß er gegen eine Ecke des Schreibtisches und griff mit unsicher suchenden Händen nach dem Kleistertopf. „Spät nach Haus gekommen?“ fragte O’Hara.
Kid rieb sich die Augen und starrte ihn ängstlich an, ehe er antwortete.
„Nee, das ist es leider nicht… es ist etwas mit den Augen… sie sind, scheint’s, nicht mehr so gut wie früher. Das ist alles.“
Mehrere Tage stolperte er herum und stieß gegen die gesamte Einrichtung im Büro. Aber O’Haras Herz ließ sich nicht erweichen.
„Ich will dir mal was sagen, Kid“, meinte er eines Tages. „Du musst sehen, dass du zu einem Augenarzt kommst. Geh zu Dr. Hassdapple - das ist ein verdammt tüchtiger Bursche. Und es braucht dich nichts zu kosten - wir werden ihm ein paar Inserate dafür geben. Ich werde selbst mit ihm sprechen.“
Und seinem Versprechen getreu, schickte er Kid zu dem Doktor.
„Ihre Augen sind ja ganz in Ordnung“, lautete das Urteil des Arztes, nachdem er ihn eingehend untersucht hatte. „Ihre Augen sind tatsächlich ganz hervorragend… nicht ein Paar unter einer Million sind so wie die Ihrigen.“
„Bitte, erzählen Sie das nicht O’Hara“, bat Kid. „Und verschreiben Sie mir eine Brille.“
Die Folge war nur, dass O’Hara sehr liebenswürdig wurde und mit glühender Begeisterung von dem Tage sprach, an dem die Woge imstande sein würde, auf eigenen Beinen zu stehen.
Glücklicherweise besaß Kid Bellew eigenes Vermögen. Wenn es auch nur klein war - im Vergleich mit vielen andern -, so war es doch jedenfalls groß genug, um ihm zu ermöglichen, Mitglied verschiedener Klubs zu sein und sich ein eigenes Atelier im Künstlerviertel zu leisten. Seit er Mitredakteur der Woge geworden war, hatten sich seine Ausgaben zweifellos bedeutend verringert. Er hatte nämlich einfach keine Zeit mehr, Geld auszugeben. Er besuchte nie mehr sein Atelier und lud nie mehr die Künstler des Viertels zu seinen berühmten und sehr lustigen Abendessen ein. Und dennoch war er jetzt völlig auf den Hund gekommen, denn die Woge, die immer am Rand der Pleite stand, zog nicht nur Vorteil aus seinem Gehirn, sondern auch aus seiner Brieftasche. Da waren die Zeichner, die in bösartiger Stimmung ablehnten, weiterzuzeichnen, die Buchdrucker, die es ebenfalls hin und wieder ablehnten zu drucken, und endlich der Bürojunge, der sehr häufig erklärte, die Arbeit niederlegen zu wollen. Bei all diesen Gelegenheiten verließ sich O’Hara auf Kid, und Kid tat, was von ihm erwartet wurde.
Als der Dampfer „Exzelsior“ aus Alaska kam und die ersten Nachrichten von den Goldfunden in Klondike brachte, die das ganze Land verrückt machten, unterbreitete Kid O’Hara einen durchaus nicht ernst gemeinten Vorschlag.
„Sieh mal, O’Hara“, sagte er. „Jetzt wird es ganz toll werden mit der Jagd nach dem Golde - genau wie in der guten alten Zeit von 49. Was meinst du dazu, wenn ich für die Woge mitmache? Ich würde es natürlich auf eigene Kosten tun.“
O’Hara schüttelte den Kopf.
„Unmöglich… ich kann dich nicht in der Schriftleitung entbehren, Kid. Wir brauchen ja auch die Erzählung. Außerdem habe ich vor kaum einer Stunde Jackson gesehen. Er fährt morgen nach Klondike und hat sich bereit erklärt, uns jede Woche Briefe und Fotos zu senden. Ich ließ nicht locker, bis er es mir fest versprochen hatte. Und das Beste ist, dass es uns nicht einen Heller kostet.“
Als Kid am selben Nachmittag in den Klub kam, hörte er wieder Neuigkeiten aus Klondike. In der Bibliothek traf er seinen Onkel.
„Tag, lieber Onkel“, grüßte Kid, ließ sich in einen Ledersessel fallen und streckte die Beine aus. „Trinkst du ein Glas mit?“
Er bestellte sich einen Cocktail, während der Onkel sich mit dem dünnen einheimischen Landwein begnügte, den er stets trank.
Er betrachtete mit erbosten und missbilligenden Blicken erst den Cocktail und dann das Gesicht des Neffen. Kid merkte, dass sich ein Gewitter vorbereitete.
„Ich habe leider nur wenige Minuten Zeit“, sagte er schnell. „Ich muss noch etwas besorgen und mir auch die Keith-Ausstellung bei Ellery angucken und eine halbe Spalte darüberschreiben.“
„Was ist eigentlich mit dir los?“ fragte der andere. „Du bist ja ganz blass. Das reine Wrack.“
Kid antwortete nur mit einem Seufzer.
„Ich werde noch das Vergnügen haben, dich zu begraben, sehe ich schon.“
Kid schüttelte traurig den Kopf. „Ich will nichts mit den Würmern zu tun haben. Für mich Verbrennung!“
John Bellew gehörte zu der eisernen, abgehärteten Generation, die in den Fünfzigern mit ihrem Ochsengespann über die Prärie gezogen war. Er besaß noch die Härte dieser Männer, und eine strenge Kindheit, während der Eroberung des neuen Landes, hatte ihn noch härter gemacht.
„Du führst auch kein vernünftiges Leben, Christoffer“, sagte er. „Ich schäme mich deiner.“
„Weil ich den Blumenpfad des Lasters schreite, meinst du?“ kicherte Kid.
Der alte Mann zuckte die Achseln.
„Schüttle nicht deine blutbesudelten Locken, lieber Onkel. Ich möchte, ich schritte den Blumenpfad. Aber das ist alles schon vorbei. Ich habe einfach keine Zeit mehr.“
„Was ist es denn?“
„Überanstrengung.“
John Bellew lachte barsch und ungläubig.
„Wahrhaftig.“
Wieder lachte er.
„Wir Menschen sind das Resultat unserer Umgebung“, erklärte Kid feierlich und wies auf das Glas des anderen. „Deine Heiterkeit ist dünn und herb wie dein Getränk.“
„Überanstrengung!“ höhnte der Onkel. „Du hast ja noch nie in deinem Leben einen Heller durch Arbeit verdient.“
„Du kannst schwören, dass ich es getan habe… ich bekomme nur das Geld nie. Augenblicklich verdiene ich sogar fünfhundert Dollar die Woche und leiste die Arbeit von vier Männern.“
„Bilder, die du nicht verkaufen kannst? Oder… oder… hm… sonst etwas Verrücktes? Kannst du schwimmen?“
„Ich habe es jedenfalls gekonnt.“
„Auf einem Pferderücken sitzen?“
„Hab’ ich mehrmals ausprobiert…“
John Bellew rümpfte missbilligend die Nase.
„Es freut mich, dass dein Vater nicht erlebt hat, dich im Glanz deiner Verderbtheit zu sehen“, sagte er. „Dein Vater war ein Mann, jeder Zoll ein Mann! Verstehst du, was das heißt? Ein Mann… Ich glaube, er hätte den ganzen künstlerischen und musikalischen Blödsinn aus dir herausgepeitscht.“
„Ach ja, unsere verderbte, heruntergekommene Zeit“, seufzte Kid.
„Ich könnte es noch verstehen und dulden“, fuhr der andere grimmig fort, „wenn du wenigstens Erfolg damit erzieltest. Aber du hast noch nie in deinem Leben einen Heller verdient und nicht ein Lot anständiger Männerarbeit geleistet.“
„Radierungen, Gemälde und Fächer“, bemerkte Kid in einer Weise, die nicht gerade besänftigend wirkte.
„Du bist ein Pfuscher und ein missratenes Subjekt. Was für Bilder hast du denn gemalt? Verrückte Aquarelle und Plakate, die die reinen bösen Träume sind. Du hast noch nie ein Bild ausgestellt - nicht ein einziges Mal hier in San Francisco.“
„Oh, du vergisst ganz, dass ein Bild von mir sogar in den Festräumen dieses Klubs hängt.“
„Eine ganz plumpe Zeichnung. Und Musik? Deine liebe närrische Mutter hat dir Hunderte von Stunden geben lassen. Du bist nur ein Pfuscher und ein Taugenichts geworden. Du hast nie auch nur einen Fünfdollarschein durch Begleiten in einem Konzert verdienen können. Deine Lieder? Mist, der nie gedruckt worden ist und den nur das verdrehte Künstlergesindel singt und spielt.“
„Ich habe auch ein Buch veröffentlicht… die Sonette, du weißt doch“, unterbrach ihn Kid sehr bescheiden.
„Und was hast du dafür bezahlen müssen?“
„Nur ein paar hundert.“
„Und welche Taten hast du sonst vollbracht?“
„Man hat ein Stück von mir auf der Freilichtbühne aufgeführt.“
„Und was hast du damit verdient?“
„Ruhm.“
„Und du hast früher schon mal geschwommen und versucht, auf einem Pferderücken zu sitzen?“ John Bellew stellte sein Glas mit ungewohnter Heftigkeit auf den Tisch. „Was bist du denn für ein Kerl? Du hast eine ausgezeichnete Erziehung genossen, aber selbst auf der Universität hast du nicht Fußball gespielt! Du hast nicht rudern gelernt… du hast nicht…“
„Ich habe boxen und auch fechten gelernt, doch immerhin etwas.“
„Wann hast du das letzte Mal geboxt?“
„Seit damals nicht… aber man hat mir immer gesagt, dass ich Zeit und Abstand gut zu schätzen verstände… nur fand man, dass… ich…“
„Nur weiter.“
„Nur, dass ich ein bisschen… launisch war…“
„Faul - meinst du wohl. Mein Vater, dein Großvater also, junger Mann, Isaac Bellew, tötete einen Mann mit einem Hieb seiner bloßen Faust, als er schon neunundsechzig Jahre alt war.“
Der andere fragte: „Wer? Der Mann?“
„Nein, dein Großvater, du gottverlassener Lump… aber du wirst nicht einmal mehr eine Mücke töten können, wenn du neunundsechzig bist.“
„Die Zeiten haben sich eben geändert, lieber Onkel. Heute steckt man einen Mann ins Zuchthaus, wenn er jemanden tötet.“
Er lächelte überlegen.
„Dein Vater hat einen Ritt von hundertfünfundachtzig Meilen gemacht, ohne zu schlafen, und hat dabei drei Pferde zuschanden geritten.“
„Hätte er heute noch gelebt, so wäre er im Pullman gefahren und hätte über der Kursliste geschnarcht.“
Der alte Herr platzte fast vor Wut, aber er schluckte seinen Zorn hinunter, und es gelang ihm, zu fragen: „Wie alt bist du eigentlich?“
„Ich habe Grund zu glauben, dass ich…“
„Weiß schon. Siebenundzwanzig. Mit Zweiundzwanzig warst du mit der Universität fertig. Fünf Jahre hast du gepfuscht und Kinkerlitzchen und Dummheiten gemacht. Und was bist du heute wert? Als ich in deinem Alter war, hatte ich nur eine Garnitur Unterwäsche. Ich ritt mit dem Vieh in Colusa. Ich war hart wie Stahl und konnte auf dem bloßen Felsen schlafen. Ich lebte von Dörrfleisch und Bärenschinken. Ich bin in körperlicher Beziehung heute noch ein besserer Mann als du. Du wiegst über hundertfünfundsechzig Pfund. Ich kann dich noch heute zu Boden schlagen, dich mit meinen bloßen Fäusten verprügeln.“
„Man braucht eben kein Wunderkind an Körperkraft zu sein, um einen Cocktail oder eine Tasse Tee zu trinken“, murmelte Kid zu seiner Entschuldigung. „Siehst du denn nicht ein, lieber Onkel, dass die Zeiten sich geändert haben? Außerdem bin ich vielleicht auch nicht in der richtigen Weise erzogen. Meine liebe närrische Mutter…“
John Bellew sah ihn zornig an.
„… war, wie du ja soeben sagtest, zu gut zu mir. Sie packte mich in Watte ein. Na, und wenn ich damals, als ich noch ein Jüngling war, an diesen besonders männlichen Ferienausflügen, für die du dich einsetzt, teilgenommen hätte… ja, ich frage mich, warum in aller Welt hast du mich denn nie dazu eingeladen? Du hast Hal und Robbie über die Sierras und nach Mexiko mitgenommen.“
„Ich glaubte, du fühltest dich zu sehr als der junge Lord Fauntleroy.“
„Das ist dein Fehler, lieber Onkel… und der Fehler meiner lieben… hm… lieben Mutter. Wie sollte ich wissen, was es hieß, hart zu sein? Ich war immer nur das verwöhnte Mutterkind. Was blieb mir übrig, als Radierungen und ähnliches zu machen? Ist es mein Fehler, dass ich nie schwitzen gelernt habe?“
Der Ältere betrachtete seinen Neffen mit unverhohlenem Unwillen. Er war nicht imstande, diese leichtfertige Sprache eines Schwächlings mit Nachsicht anzuhören.
„Nun, ich bin jetzt eben im Begriff, einen von diesen besonders männlichen Ferienausflügen - wie du sie nennst - zu unternehmen“, sagte er. „Was würdest du sagen, wenn ich dich einlüde mitzukommen?“
„Du kommst leider zu spät. Wohin geht es denn?“
„Hal und Robert wollen nach Klondike gehen, ich fahre mit, um zu sehen, wie sie über den Pass nach den Seen hinunterkommen, und kehre dann zurück…“
Er kam nicht weiter, denn der junge Mann war aufgesprungen und hatte seine Hand ergriffen.
„Mein Retter!“
John Bellew wurde sofort misstrauisch. Er hatte sich keinen Augenblick träumen lassen, dass seine Einladung angenommen würde.
„Es ist ja gar nicht dein Ernst“, sagte er.
„Wann fahren wir ab?“
„Es wird eine schwere Reise werden. Du wirst uns nur im Wege sein.“
„Nein, das werde ich nicht. Ich will auch arbeiten. Seit ich bei der Woge bin, weiß ich, was arbeiten heißt.“
„Jeder muss Lebensmittel für ein ganzes Jahr tragen. Der Zustrom wird so groß werden, dass die indianischen Träger nicht imstande sein werden, die Arbeit zu bewältigen. Hal und Robert werden ihre Ausrüstung selbst schleppen müssen. Das ist auch der Grund, warum ich mitgehe: um ihnen behilflich zu sein, das Gepäck zu tragen. Wenn du mitkommst, musst du es also ebenso machen!“
„Zerbrich dir nicht den Kopf!“
„Du kannst ja nichts schleppen.“
„Wann fahren wir ab?“
„Morgen.“
„Du brauchst dir nicht einzubilden, dass deine Predigt schuld daran ist“, sagte Kid, als er Abschied nahm. „Ich musste sowieso fort von O’Hara… irgendwie und irgendwohin.“
„Wer ist O’Hara? Ein Japaner?“
„Nein - ein Irländer und ein richtiger Sklaventreiber und dazu mein bester Freund. Er ist Schriftleiter, Besitzer und in jeder Beziehung der große Tyrann der Woge. Was er sagt, geschieht. Selbst Gespenster tanzen nach seiner Pfeife.“
Am selben Abend schrieb Kid Bellew einen Zettel an O’Hara.
„Es handelt sich nur um einen Urlaub von einigen Wochen“, erklärte er. „Du musst sehen, irgendeinen gutmütigen Esel zu finden, der ein paar Fortsetzungen unserer Erzählungen fertigbringen kann. Du tust mir ja leid, alter Freund, aber meine Gesundheit macht die Sache notwendig. Wenn ich wieder da bin, kann ich sicher doppelt so kräftig schuften.“
Eine tolle Verwirrung herrschte am Strande von Dyea, wo Kid Bellew an Land ging. Ausrüstungen, die mehr als tausend Männern gehörten, lagen hier im Gewicht von vielen Tonnen aufgestapelt. Diese ungeheuren Mengen von Gepäck und Nahrungsmitteln, die von den Dampfern haufenweise an Land geworfen wurden, begannen jetzt langsam durch das Dyea-Tal und über den Chilcoot weiterzuwandern. Es waren nicht weniger als zwanzig Meilen, die man die Waren transportieren musste - und es war nur auf Männerrücken möglich. Obgleich die indianischen Träger den Frachtpreis bereits von fünf auf vierzig Cent per Pfund getrieben hatten, konnten sie die Arbeit doch nicht bewältigen. Und man war sich schon darüber klar, dass der Winter den größten Teil dieser Ausrüstungen noch diesseits der Grenzpässe einholen würde.
Der grünste von allen Grünschnäbeln war Kid. Wie so viele hundert andere trug auch er einen schweren Revolver, der an einem Patronengürtel hing. Sein Onkel, der mit Erinnerungen an die alten gesetzlosen Tage erfüllt war, tat freilich dasselbe. Aber Kid Bellew war ein romantischer Träumer. Es war von dem Rauschen und Glitzern des Goldstroms verzaubert und sah das ganze Leben und Tosen mit den Augen des Künstlers. Er nahm es gar nicht ernst. Wie er auf dem Dampfer gesagt hatte, wollte er ja nicht sein ganzes Leben dort verbringen - es handelte sich nur um einen Ferienaufenthalt, und er hatte lediglich die Absicht, einen kurzen Blick über die Pässe zu werfen, um „einen Eindruck zu erhalten“ und dann wieder umzukehren.
Er verließ seine Begleiter, die im Sand liegenblieben, wo sie warten wollten, bis ihr Gepäck an Land gebracht wurde, und schlenderte den Strand entlang bis zu der alten Handelsstation. Er ging nicht prahlerisch und breitspurig, obgleich er sah, dass viele von den mit Revolvern bewehrten Männern es taten. Ein gewaltiger, zwei Meter langer Indianer, der eine ungewöhnlich große Last auf dem Buckel trug, überholte ihn. Kid folgte ihm. Er betrachtete voller Bewunderung die kräftigen Waden des Indianers und die Anmut und Leichtfüßigkeit, womit er sich trotz der schweren Bürde bewegte. Der Indianer ließ seine Last auf die Treppenstufen vor dem Stationsgebäude gleiten, und Kid schloss sich der Gruppe von Goldsuchern an, die den Indianer bewundernd umringten. Das Bündel hatte ein Gewicht von hundertzwanzig Pfund, und diese Tatsache wurde von allen Seiten in ehrfurchtsvollem Ton besprochen. Das ist allerhand, dachte Kid, und er fragte sich, ob er überhaupt ein solches Gewicht heben, gar nicht davon zu reden, ob er es tragen könne.
„Gehen Sie damit zum Linderman-See, alter Freund?“ fragte er.
Der Indianer, der vor Stolz ganz aufgeblasen war, grunzte bestätigend.
„Wieviel nehmen Sie für so ein Bündel?“
„Fünfzig Dollar.“
Aber jetzt erregte etwas anderes die Aufmerksamkeit Kids. Er bemerkte nämlich eine junge Frau, die in der Tür des Stationsgebäudes stand. Im Gegensatz zu den meisten Frauen, die von den Dampfern an Land gesetzt wurden, trug sie weder kurze Röcke noch Hosen. Sie war gekleidet, wie jede andere Frau sich auf Reisen kleiden würde. Was ihn überraschte, war das Gefühl, wie selbstverständlich ihm ihre Anwesenheit hier vorkam. Sie schien ihm irgendwie hierher zu gehören. Außerdem war sie jung und hübsch. Die strahlende, helle Schönheit ihres ovalen Gesichts fesselte ihn, und er starrte sie länger an, als die Höflichkeit eigentlich erlaubte, starrte sie so lange an, bis sie es unwillig bemerkte und ihn mit ihren dunklen, sich hinter langen Wimpern bergenden Augen kühl und kritisch betrachtete. Von seinem Gesicht glitt ihr Blick dann, sichtlich erheitert, zu dem schweren Revolver an seiner Hüfte. Wieder kehrte ihr Blick zu seinen Augen zurück, und Kid las darin spöttische Geringschätzung. Er hatte die Empfindung, als ob sie ihn geschlagen hätte. Sie wandte sich indessen ruhig zu einem Mann, der neben ihr stand, und machte ihn auf Kid aufmerksam. Der Mann betrachtete ihn mit demselben heiteren Spott.
„Chechaquo“, sagte das Mädchen.
Der Mann, der in seinen billigen Überziehhosen und der mitgenommenen Jacke wie ein Vagabund aussah, grinste trocken, und Kid fühlte sich ganz vernichtet, obgleich er nicht wusste, warum. Aber sie war auf jeden Fall ein hübsches Mädchen, wie er feststellte, als die beiden sich entfernten. Ihm fiel ihr Gang auf, und er fällte das endgültige Urteil, dass er sie selbst nach tausend Jahren wiedererkennen würde.
„Sehen Sie den Mann mit dem jungen Mädchen drüben?“ fragte ganz aufgeregt der Kid am nächsten Stehende. „Wissen Sie, wer das ist?“
Kid schüttelte den Kopf.
„Das ist Charibo Charley. Er wurde mir eben gezeigt. Er hat Dusel gehabt in Klondike. Gehört zu den Alten hier. War schon zwölf Jahre am Yukon. Jetzt ist er eben angekommen.“
„Was bedeutet Chechaquo?“ fragte Kid.
„Sie sind einer, und ich auch“, lautete die Antwort.
„Mag sein, aber deshalb weiß ich ja nicht, was es ist. Also was bedeutet es?“
„Grünschnabel.“
Auf dem Rückweg zum Strand dachte Kid immer wieder darüber nach. Es wurmte ihn, von einem solchen Mädelchen „Grünschnabel“ genannt zu werden.
Den Kopf noch ganz voll von dem Bilde des Indianers, der das riesige Bündel getragen hatte, trat Kid an die Ecke eines Güterhaufens, um einen Versuch zu machen, seine eigene Kraft zu erproben. Er wählte einen Mehlsack, von dem er wusste, dass er genau hundert Pfund wog. Er stellte sich breitbeinig über den Sack, bückte sich und versuchte ihn auf die Schulter zu heben. Sein erster Gedanke war, dass hundert Pfund immerhin ein ansehnliches Gewicht, der nächste, dass sein Rücken nicht sehr kräftig sei. Dann schloss er seine Gedankenreihe mit einem Fluch, nachdem er sich fünf Minuten vergeblich bemüht hatte, und schließlich fiel er auf den Sack hin.
Er wischte sich die Stirn, als er John Bellew bemerkte, der ihn über einen Haufen Proviantsäcke hinweg mit kaltem Spott anblickte.
„Gott im Himmel“, rief der Apostel der Abhärtung. „Aus unsern Lenden ist ein Geschlecht von Weichlingen geboren. Als ich sechzehn Jahre alt war, spielte ich mit solchen Dingern.“
„Du vergisst, lieber Onkel“, antwortete Kid, „dass ich nicht mit Bärenfleisch aufgefüttert worden bin.“
„Und ich werde noch mit den Dingern spielen, wenn ich sechzig bin.“
„Es wäre nett, wenn du mir zeigen würdest, wie man es macht.“
John Bellew tat es. Er war achtundvierzig, aber er bückte sich über den Sack, packte ihn, änderte seinen Griff, so dass er das Gleichgewicht fand, und warf sich mit einem schnellen Schwung den Sack über die Schulter. Dann stand er aufrecht da.
„Ein Dreh, mein Junge, nur ein Dreh… und dazu ein kräftiges Rückgrat!“
Kid nahm ehrfürchtig den Hut ab.
„Du bist das reinste Wunder, Onkel, ein weithin leuchtendes Wunder. Glaubst du, dass ich den Dreh auch herauskriege?“
John Bellew zuckte die Achseln. „Du? Du wirst nach Hause trotten, ehe wir überhaupt losgehen.“
„Keine Angst, lieber Onkel“, seufzte Kid. „Zu Hause wartet O’Hara wie ein brüllender Löwe auf mich! Ich kehre erst um, wenn ich muss.“
Kids erster Gang als Träger wurde ein Erfolg. Es war ihnen gelungen, Indianer zu dingen, um die ganze Ausrüstung von zweitausendvierhundert Pfund bis zu Finnegans’ Kreuzweg zu schleppen. Von dort aus mussten sie das Gepäck selbst auf den Buckel nehmen. Sie hatten gedacht, eine Meile täglich zu machen… Auf dem Papier sah die ganze Sache auch leicht genug aus. Da John Bellew im Lager bleiben und das Essen kochen sollte, konnte er nur hin und wieder beim Tragen behilflich sein - die jungen Männer mussten also täglich je achthundert Pfund eine Meile weit schleppen. Wenn sie das Gepäck auf Bündel von fünfzig Pfund verteilten, hieß das, dass sie täglich sechzehn Meilen voll beladen und fünfzehn Meilen ohne Last laufen mussten, „denn das letzte Mal brauchen wir ja nicht wieder zurückzugehen“, sagte Kid, als er diese angenehme Entdeckung machte. Wenn sie die Bündel achtzig Pfund schwermachten, brauchten sie nur neunzehn Meilen und mit Bündeln von je hundert Pfund sogar nur fünfzehn Meilen täglich zu laufen.
„Ich liebe das viele Laufen nicht“, sagte Kid. „Ich werde also jedes Mal hundert Pfund tragen.“ Er bemerkte ein ungläubiges Grinsen auf dem Gesicht des Onkels und fügte deshalb schnell hinzu: „Selbstverständlich werde ich es erst allmählich dahin bringen. Ein junger Bursche muss erst all die verschiedenen Drehs und Kniffe kennenlernen. Ich werde mit fünfzig anfangen.“
Er tat, wie er es gesagt hatte, und machte sich heiter auf den Weg. Er warf den Sack auf dem nächsten Lagerplatz ab und spazierte zurück. Die Sache war leichter, als er es sich gedacht hatte. Aber die zwei Meilen hatten immerhin die dünne Schicht von Ausdauer abgeschält und die Weichlichkeit, die darunterlag, bloßgelegt. Sein nächstes Bündel wog bereits fünfundsechzig Pfund. Es fiel ihm schon bedeutend schwerer, und er spazierte nicht mehr so flott daher. Er tat wie alle anderen, die ihr Gepäck trugen, und setzte sich hin und wieder auf den Boden, um sein Bündel gegen einen großen Stein oder einen Baumstumpf zu stützen. Als er das dritte Bündel nehmen sollte, war er schon ganz übermütig geworden. Er legte die Traggurte um einen Bohnensack von fünfundneunzig Pfund und marschierte los damit. Er war kaum hundert Schritt weit gekommen, als er schon fühlte, dass er am Zusammenbrechen war. Er setzte sich deshalb und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
„Kurzes Schleppen und kurze Pausen“, murmelte er vor sich hin. „Darin besteht der ganze Dreh.“
Zuweilen gelang es ihm kaum, hundert Schritt zu laufen, und jedes Mal, wenn er mit unendlicher Mühe wieder auf die Füße gekommen war, um ein kleines Stück weiter zu schleppen, war das Bündel unleugbar schwerer geworden. Er schnappte nach Luft, und der Schweiß rann ihm in Strömen über den ganzen Körper. Er hatte noch keine Viertelmeile zurückgelegt, als er sich schon die wollene Jacke auszog und sie an einen Baum hängte. Bald darauf trennte er sich von seinem Hut. Als er die halbe Meile hinter sich hatte, war er sich darüber klar, dass er erledigt war.
Noch nie in seinem Leben hatte er in dieser Weise geschuftet, und er verschwieg sich durchaus nicht, dass er überhaupt nicht weiterkonnte. Wie er keuchend dasaß, fiel sein Blick zufällig auf den großen Revolver und den schweren Patronengürtel.
„Zehn Pfund überflüssigen Krams“, knurrte er und schnallte ihn ab.
Er gab sich nicht einmal die Mühe, die Sachen an einen Baum zu hängen, sondern schleuderte sie ins Gebüsch. Und als er die Gepäckträger beobachtete, die in einem stetigen Strom auf ihrem Wege hin und zurück an ihm vorüberglitten, stellte er fest, dass die anderen Grünschnäbel ebenfalls begannen, ihre Schießeisen wegzuwerfen.
Seine kurzen Wege wurden indessen immer noch kürzer. Zuweilen konnte er nicht mehr als hundert Fuß bewältigen - dann zwangen ihn das verhängnisvolle Herzklopfen, das er schmerzhaft in den Ohren vernahm, und die widerliche Schwäche in seinen Knien zu einer neuen Ruhepause. Und diese Pausen wurden länger und länger. Seine Gedanken arbeiteten indessen unermüdlich weiter. Es handelte sich alles in allem um einen Transport von achtundzwanzig Meilen, was also eine Arbeit von ebenso vielen Tagen bedeutete. Dazu kam, dass dieser Abschnitt - nach dem, was alle sagten - unbedingt der leichteste des ganzen Weges war.
„Warten Sie nur, bis Sie zum Chilcoot kommen“, erzählten einige, die neben ihm saßen und sich mit ihm unterhielten, „dort werden Sie auf allen vieren kriechen müssen.“
„Es wird überhaupt keinen Chilcoot geben“, lautete seine Antwort. „Jedenfalls nicht für mich. Ehe wir so weit sind, werde ich längst in aller Ruhe in meinem kleinen Bett unter dem Rasen liegen.“
Ein Straucheln - und die ungeheure Anstrengung, die er machen musste, um wieder auf die Beine zu kommen, erfüllten ihn mit Angst. Er hatte die Empfindung, als ob sein ganzes Innere in Fetzen zerrissen war.
„Wenn ich mit diesem Bündel auf dem Buckel stürze, bin ich ein für allemal erledigt“, sagte er zu einem anderen, der auch ein Bündel schleppte.
„Das ist noch gar nichts“, lautete die Antwort. „Warte nur, bis du zum Cañon kommst. Da wirst du einen reißenden Strom auf einem sechzig Fuß langen Fichtenstamm überqueren müssen. Da gibt’s kein Geländer, gar nichts, und in der Mitte, wo der Stamm sich biegt, reicht dir das Wasser bis zu den Knien. Wenn du mit deinem Bündel auf dem Buckel da ‘runterfällst, kommst du nicht mehr aus den Traggurten heraus. Du bleibst drin und versäufst.“
„Schöne Aussichten“, erwiderte er. Und aus dem Abgrund einer völligen Erschöpfung heraus meinte er es beinahe buchstäblich.
„Da versaufen täglich drei oder vier Mann“, versicherte der andere. „Neulich war ich selbst mit dabei. Wir fischten einen Schweden heraus. Er hatte viertausend Dollar in schönen Scheinen bei sich.“
„Wirklich sehr ermutigend“, meinte Kid, während er sich mühsam aufraffte und weiterwankte.
Er und sein Bohnensack wurden allmählich zu einer wandernden Tragödie. Unwillkürlich erinnerte er sich des Märchens von dem alten Mann auf dem Rücken Sindbad des Seefahrers. - Das ist also so ein besonders männliches Ferienvergnügen, dachte er. Im Vergleich mit dieser Schufterei war selbst die Sklavenarbeit bei O’Hara süß und angenehm. Immer wieder wollte er der Versuchung nachgeben, den verfluchten Sack im Gebüsch liegenzulassen, in das Lager zu schlüpfen und in aller Stille mit einem Dampfer in zivilisiertere Gegenden zurückzukehren.
Aber er tat es nicht. Irgendwo in ihm erklang eine harte Saite, und einmal über das andere wiederholte er sich, dass, was andere Männer konnten, auch er können müsste. Der Transport gestaltete sich für ihn zu einem wahren Alpdruck, und er klagte jedem, der ihn unterwegs überholte, sein Leid. In anderen Augenblicken beobachtete er, wenn er sich ausruhte, die stumpfsinnigen Indianer, die unter ihren viel schwereren Lasten so leicht und sicher wie die Maultiere dahintrotteten, und er beneidete sie. Sie schienen nie zu ruhen, sondern gingen hin und zurück mit einer Ausdauer und einer Regelmäßigkeit, die ihn verblüfften.
Er saß da und fluchte - solange er schleppte, hatte er nicht Luft genug, um es zu können -, während er einen verzweifelten Kampf mit der Versuchung ausfocht, sich nach Francisco zurückzuschleichen. Bevor er seine Meile mit dem Bündel gewandert war, hatte er indessen schon aufgehört zu fluchen und begann stattdessen zu heulen. Die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, waren Tränen der Erschöpfung und der Selbstverachtung. Wenn je ein Mann ein Wrack war, so war er es. Als das Ziel des Transports in Sicht kam, nahm er sich mit der Kraft der Verzweiflung zusammen, erreichte den Lagerplatz und schlug, so lang er war, mit dem Bündel auf dem Rücken hin. Er starb nicht, aber er blieb immerhin eine Viertelstunde liegen, ehe er so viel Energie zusammengerafft hatte, dass er sich von den Traggurten befreien konnte. Dann wurde ihm tödlich übel, und in diesem Zustand fand ihn Robbie, dem es genauso ging wie ihm. Eigentlich war es Robbies jämmerlicher Zustand, der ihn bewog, sich zusammenzunehmen.
„Was andere Männer können, können wir auch“, sagte Kid zu ihm. In seinem Innersten wusste er freilich nicht recht, ob er dabei aufschnitt oder nicht.
„Und ich bin erst siebenundzwanzig Jahre alt und ein Mann“, wiederholte er sich immer und immer wieder in den folgenden Tagen. Er hatte es aber auch wirklich nötig. Denn am Ende der Woche war es ihm zwar gelungen, seine achthundert Pfund täglich um eine Meile weiterzuschleppen, aber dabei hatte er von seinem eigenen Gewicht fünfzehn Pfund verloren. Sein Gesicht war mager und ausgemergelt geworden. Alle Spannkraft war aus seinem Körper und seiner Seele verschwunden. Er spazierte nicht länger, er schleppte sich mühevoll dahin. Und wenn er ohne Last zum Lager zurückging, zog er die Füße schlurfend nach, ganz, als wenn er seine Last trüge.