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In Jack Londons autobiographischem Roman "Martin Eden" kämpft sich ein junger Seemann aus der Arbeiterklasse in die Welt der Literatur. Als Martin die kultivierte Ruth kennenlernt, erwacht in ihm eine doppelte Leidenschaft: die Liebe zu dieser Frau aus der gehobenen Gesellschaft und der brennende Wunsch, Schriftsteller zu werden. Mit unbändigem Willen stürzt sich Martin in sein Selbststudium. Er will der Enge seiner Herkunft entkommen. Während er tagsüber in Gelegenheitsjobs schuftet, verschlingt er nachts Bücher, lernt Sprachen und Philosophie. Er schreibt wie besessen, sammelt Ablehnungen der Verlage, hungert. Die Gesellschaft verachtet ihn erst als ungebildeten Arbeiter. Später, als er Erfolg hat, feiert sie ihn oberflächlich. Als der literarische Erfolg endlich kommt, ist Ruth längst verloren und die bewunderte Welt der Bildung entlarvt sich als intellektueller Zirkus. Ein Roman über die Sehnsucht nach Bildung und Anerkennung, über den Preis des sozialen Aufstiegs und die bittere Erkenntnis, dass manche Träume mit ihrer Erfüllung zerbrechen.
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Seitenzahl: 689
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Jack London
Martin Eden
Vollständige deutsche Ausgabe mit beiden Bänden
Copyright © 2024 Novelaris Verlag
ISBN: 978-3-68931-123-0
Erster Band
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
Zweiter Band
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
Cover
Table of Contents
Text
Der eine öffnete die Tür mit einem Drücker und trat ein. Ihm folgte ein junger Bursche, der linkisch die Mütze abnahm. Seine Kleidung war derb und erinnerte an die See; offenbar fühlte er sich in der geräumigen Halle wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er wusste nicht, was er mit seiner Mütze anfangen sollte und wollte sie gerade in die Hosentasche stopfen, als der andere sie ihm abnahm. Es war eine ganz ruhige, natürliche Handlung, und der linkische junge Bursche wusste sie zu schätzen. »Er hat Verständnis dafür«, dachte er. »Er wird mir schon weiterhelfen.«
Er folgte dem andern auf den Fersen, indem er die Schultern vor und zurück schob und die Füße unbewusst weit auseinandersetzte, als höbe und senkte sich der ebene Boden wie Meereswogen. Die großen Räume schienen ihm zu eng für seinen rollenden Gang, und er hatte selbst eine furchtbare Angst, dass seine breiten Schultern mit den Türrahmen kollidieren oder die Kunstgegenstände von dem niedrigen Kamin fegen würden. Er prallte zwischen den verschiedenen Dingen hin und her und vervielfältigte dadurch die Gefahren, die in Wirklichkeit nur in seiner Einbildung bestanden. Zwischen einem Flügel und einem bücherbeladenen Tisch in der Mitte des Zimmers wäre Platz genug für ein halbes Dutzend Männer nebeneinander gewesen, aber er wagte den Weg nur mit Angst und Beben. Seine schweren Arme hingen schlaff an seinen Seiten herab. Er wusste nicht, was er mit diesen Armen und Händen anfangen sollte, und als seine geängstigte Phantasie ihm vorspiegelte, dass er die Bücher auf dem Tische berühren könnte, machte er wie ein scheues Pferd einen Satz nach der anderen Seite und entging mit Mühe und Not einem Zusammenstoß mit dem Klavierschemel. Er bemerkte den leichten Gang des andern vor ihm, und zum ersten Mal wurde ihm klar, dass sein Gang sich von dem anderer Leute unterschied. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Scham über seine eigene Ungeschicklichkeit. Der Schweiß brach in kleinen Tröpfchen auf seiner Stirn aus, er blieb stehen und wischte sich das sonnenverbrannte Gesicht mit seinem Taschentuch.
»Wart’ ein bisschen, Arthur, mein Junge«, sagte er, indem er seine Angst hinter einem scherzhaften Auftreten zu verbergen suchte. »Das ist zu viel auf einmal für deinen ergebenen Diener. Du musst mir Zeit lassen, mal Luft zu schöpfen. Du weißt, dass ich nicht mitkommen wollte, und vermutlich wird deine Familie sich auch nicht gerade so viel daraus machen, mich kennenzulernen.«
»Laß nur«, lautete die beruhigende Antwort. »Du brauchst nicht bange vor uns zu sein. Wir sind ganz einfache Menschen. Hallo, da ist ja ein Brief für mich!« Er trat an den Tisch, riss einen Brief auf und begann zu lesen, so dass der Fremde Gelegenheit hatte, sich zu sammeln. Und der Fremde verstand ihn und war ihm dankbar. Er hatte selbst die Gabe des Verstehens, und auch jetzt verließ sie ihn nicht trotz seiner Ängstlichkeit. Er trocknete sich die Stirn und sah sich ruhiger um, wenn in seinen Augen auch der Ausdruck des wilden Tieres war, das die Falle fürchtet. Er befand sich in einer unbekannten Umgebung, fürchtete sich vor dem, was da geschehen mochte, und wusste nicht, wie er sich benehmen sollte; aber er war sich seiner Ungeschicklichkeit wohl bewusst und fürchtete, dass sein Geist und seine Seele ebenso gelähmt waren wie sein Körper. Er war sehr empfindsam, hoffnungslos selbstbewusst, und der belustigte Blick, den der andere ihm heimlich über den Rand des Briefes zuwarf, brannte wie ein Dolchstoß in ihm. Er ließ sich jedoch nichts merken, denn unter den Dingen, die er gelernt hatte, befand sich auch Selbstbeherrschung. Aber der Dolchstoß hatte auch seinen Stolz getroffen. Er verwünschte sich, weil er gekommen war, und beschloss gleichzeitig, die nun einmal begonnene Sache auch durchzuführen. Die Linien in seinem Gesicht wurden schärfer, und ein kampfbereiter Ausdruck trat in seine Augen. Er sah sich mit größerer Sorglosigkeit um und fühlte mit seiner schnellen Auffassungsgabe, wie jede Einzelheit in dem schönen Raum sich seinem Bewusstsein einprägte. Seine Augen standen weit auseinander; nichts innerhalb ihres Gesichtskreises entging ihm; und wie sie die Schönheit, die sie sahen, tranken, schwand der kampfbereite Ausdruck in ihnen und wich einer warmen Glut. Er war empfänglich für Schönheit, und hier gab es genug aufzunehmen.
Ein Ölgemälde fesselte ihn. Schwere Brandung donnerte krachend gegen einen vorspringenden Felsen; drohende Sturmwolken bedeckten den Himmel, und vor der Brandung lag ein Lotsenschoner mit gerefften Segeln, holte gerade über, so dass man jede Einzelheit auf seinem Deck sah, und wurde von den Wellen in ein wolkiges Abendrot gehoben. Das war Schönheit, und er fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen. Er vergaß seinen linkischen Gang und trat ganz dicht an das Gemälde heran. Da schwand die Schönheit von der Leinwand. Sein Gesicht drückte Bestürzung aus. Er starrte auf etwas, das scheinbar nichts als eine nachlässige Schmiererei war. Dann trat er wieder zurück. Sofort kehrte alle Schönheit auf die Leinwand zurück. »Ein Trickbild«, dachte er und wandte sich ab, fand aber doch inmitten der vielen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, Zeit, sich darüber zu ärgern, dass man so viel Schönheit auf ein Trickbild geopfert hatte. Von Malerei verstand er nichts. Er war zwischen Öldrucken und Lithographien aufgewachsen, die in der Nähe wie aus der Ferne immer gleich scharf und deutlich waren. Zwar hatte er in Schaufenstern Gemälde gesehen, aber die Scheibe hatte ihn verhindert, dicht an sie heranzutreten.
Er blickte sich nach seinem Freunde um, der immer noch seinen Brief las, und sah die Bücher auf dem Tische. In seine Augen trat der träumerische, sehnsüchtige Ausdruck eines Hungrigen, der etwas Essbares sieht. Einer Eingebung folgend, trat er mit einem einzigen Schritt und einem Ruck der Schultern von rechts nach links an den Tisch, wo er zärtlich über die Bücher zu streichen begann. Er betrachtete Titel und Verfassernamen, las Bruchstücke von ihrem Inhalt, liebkoste die Bände immer wieder mit Augen und Händen und erkannte ein Buch, das er gelesen hatte; die übrigen Bücher und Schriftsteller waren ihm fremd. Ein Buch von Swinburne fiel ihm plötzlich in die Hand. Er begann darin zu lesen, vergaß bald ganz, wo er sich befand, und sein Gesicht leuchtete. Zweimal blätterte er zurück, um den Namen des Verfassers zu sehen. Swinburne! Den Namen wollte er sich merken. Der Mann hatte Augen im Kopf und hatte wahrhaftig Farben und strahlendes Licht gesehen. Aber wer war Swinburne? War er seit hundert Jahren tot wie die meisten Dichter? Oder lebte und schrieb er noch? Er blätterte zur Titelseite zurück. Ja, er hatte noch andere Bücher geschrieben. Schön, das erste, was er morgen früh tun wollte, war, dass er in die Volksbücherei ging und etwas von dem, was Swinburne geschrieben hatte, zu bekommen suchte. Dann kehrte er wieder zu dem Inhalt des Buches zurück und vergaß alles um sich her. Er bemerkte nicht, dass eine junge Dame ins Zimmer trat. Das erste, dessen er sich bewusst wurde, war die Stimme Arthurs, die sagte:
»Ruth, das ist Herr Eden.«
Das Buch wurde über dem Zeigefinger geschlossen, aber noch ehe er sich umgedreht hatte, fühlte er sich schon von einem neuen Eindruck durchbebt, dessen Ursache nicht das junge Mädchen, sondern die Äußerung ihres Bruders war. Dieser muskulöse Körper barg nämlich höchste Empfindsamkeit. Bei dem geringsten Eindruck von der Außenwelt loderten seine Gedanken und Gefühle in hellen Flammen auf. Er war ungewöhnlich empfänglich, und seine Phantasie, die stets unter Hochdruck arbeitete, bemühte sich immer, Gleichheiten und Unterschiede festzustellen. Was jetzt einen so starken Eindruck auf ihn gemacht hatte, war, dass er »Herr Eden« genannt worden war – er, der sein ganzes Leben lang nur »Eden«, »Martin Eden« oder einfach »Martin« geheißen hatte. Und jetzt »Herr!« Das war wirklich ein weiter Schritt vorwärts, sagte er sich. Sein Kopf schien augenblicklich zu einer ungeheuren Camera obscura zu werden, in der eine endlose Reihe von Bildern aus seinem Leben auftauchte, Bilder von Feuerungsräumen und Mannschaftslogis, von Lagern und Küsten, Gefängnissen und Kneipen, Fieberhospitälern und Armenhäusern, deren einzige Ähnlichkeit in der Art bestanden hatte, wie er in den verschiedenen Situationen angeredet worden war.
Und dann drehte er sich um und sah das Mädchen an. Bei ihrem Anblick verschwanden die Schattenbilder in seinem Kopfe mit einem Schlage. Sie war ein blasses, ätherisches Geschöpf mit großen, träumerischen, blauen Augen und einer Flut goldenen Haares. Von ihrer Kleidung wusste er nichts, als dass sie wunderbar anzusehen war. Er verglich sie mit einer blaßgoldenen Blume auf schlankem Stiel. Nein, sie war eine Elfe, eine Gottheit; diese erhabene Schönheit war nicht von dieser Welt. Oder hatten vielleicht die Bücher recht, und es gab viele ihrer Art in den höheren Klassen? Sie hätte gut von diesem Swinburne besungen werden können. Vielleicht hatte er an eine wie sie gedacht, als er in dem Buch, das dort auf dem Tische lag, dieses Mädchen, die Iseult, schilderte. Dies ganze Übermaß an Sinneseindrücken und Gedanken bestürmte ihn in einem Augenblick. Die wirklichen Dinge, zwischen denen er sich bewegte, geboten ihnen keinen Halt. Er sah, wie sie die Hand ausstreckte und ihm gerade in die Augen blickte, wobei sie ihm die Hand so freimütig schüttelte, als wäre sie ein Mann. Die Frauen, die er bisher gekannt hatte, schüttelten die Hand nicht auf diese Weise. Die meisten von ihnen gaben überhaupt nicht die Hand. Eine Flut von Gedankenverbindungen und Erinnerungen daran, wie er die Bekanntschaft von Frauen gemacht hatte, schlug über seinem Bewusstsein zusammen und drohte es unter sich zu begraben. Aber er schüttelte sie ab und betrachtete das Mädchen. Noch nie hatte er ein solches weibliches Wesen gesehen. Die Frauen, die er gekannt hatte! Sofort stellten sich die Frauen, die er gekannt hatte, zu beiden Seiten neben ihr auf. Eine ewig währende Sekunde stand er mitten in einer Bildnisgalerie, deren Mittelpunkt sie bildete, und um sie scharten sich viele Frauen, die alle mit blitzschnellem Blick gewogen und gemessen werden sollten, während sie selbst die Gewichts- und Maßeinheit darstellte. Er sah die blassen, kränklichen Gesichter der Fabrikarbeiterinnen und die albernen, lauten Mädchen südlich der Market Street, Mädchen aus den Viehdistrikten und dunkelhäutige zigarettenrauchende Mexikanerinnen. Aber die wurden wieder verdrängt von puppenhaften Japanerinnen, die auf Holzklötzen einhertrippelten, von Eurasierinnen, deren feine Züge vom Verfall der Rasse gezeichnet waren, von vollblütigen blumengeschmückten, braunhäutigen Südseeinsulanerinnen. Sie alle wurden ausgelöscht durch eine lächerliche und doch furchtbare Brut – tückische, schmutzige Geschöpfe aus den Straßen Whitechapels, branntweinduftende Hexen der Gassen und der ganze große Höllenschwarm von Harpyen, bösmäulig und dreckig, Ungeheuer in Weibergestalt, die auf Seeleute lauerten, der Abschaum der Häfen, der Bodensatz der Menschheit.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Eden?« sagte das Mädchen. »Seit Arthur uns von Ihnen erzählte, habe ich mich so darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Es war tapfer von Ihnen –«
Er machte eine abwehrende Handbewegung und murmelte, das, was er getan habe, sei nicht der Rede wert. Jeder andere hätte genauso gehandelt. Sie bemerkte, dass seine Hand von frischen, in der Heilung begriffenen Hautabschürfungen bedeckt war, und ein Blick auf die andere Hand zeigte ihr, dass sie sich in derselben Verfassung befand. Ihr schneller prüfender Blick entdeckte auch eine Narbe an seinem Kinn, eine zweite unter den Haaren verschwindende Narbe auf seiner Stirn und eine dritte am Halse, wo sie unter dem steifen Kragen verschwand. Sie unterdrückte ein Lächeln beim Anblick des roten Strichs, den der Kragen in die sonnenverbrannte Haut gerieben hatte. Er war offenbar nicht gewohnt, steife Kragen zu tragen. Ihr weiblicher Blick schweifte auch über seine Kleidung und bemerkte den schlechten, ungeschickten Schnitt, den Rock, der sich an den Schultern beutelte, und die Falten in den Ärmeln, die seine mächtigen Muskeln ahnen ließen.
Während er die Handbewegung machte und murmelte, dass er nichts getan hätte, kam er ihrer Aufforderung, sich zu setzen, nach. Er hatte gerade noch Zeit, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der sie sich setzte, dann taumelte er nieder auf einen Stuhl, der dem ihren gegenüberstand, überwältigt von dem Bewusstsein seiner eigenen Ungeschicklichkeit. Das war ihm etwas ganz Neues. Sein ganzes Leben, bis zu diesem Tage, hatte er nicht darüber nachgedacht, ob er gewandt oder linkisch war. Er war gar nicht auf derartige Gedanken gekommen. Er setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante und wusste durchaus nicht, wo er mit seinen Händen bleiben sollte. Wohin er sie auch steckte, waren sie im Wege. Arthur verließ das Zimmer, und Martin Eden sah ihm mit sehnsüchtigen Blicken nach. Wie er allein mit diesem blassen Mädchen hier saß, kam er sich ganz verloren vor. Hier gab es keinen Kellner, bei dem er sich etwas zu trinken bestellen, keinen Jungen, den er nach einer Kanne Bier um die Ecke schicken konnte, um mit Hilfe eines gemeinsamen Trunkes die Grundlage für eine freundschaftliche Verständigung zu schaffen.
»Sie haben eine Narbe am Hals, Herr Eden«, sagte das Mädchen. »Wie haben Sie die bekommen? Das ist sicher ein ganzes Abenteuer.«
»Ein mexikanisches Messer, Fräulein«, antwortete er, indem er sich die trockenen Lippen anfeuchtete und sich räusperte. »Es war nur eine Schlägerei. Als ich ihm das Messer weggenommen hatte, versuchte er mir die Nase abzubeißen.«
So nüchtern er das sagte, stand doch vor seinem Auge das farbenprächtige Bild jener heißen, sternenklaren Nacht in Salina Cruz, der schmale weiße Strand, die Lichter der Zuckerdampfer im Hafen, die Stimmen der betrunkenen Seeleute in der Ferne, die fleißigen Güterpacker, die flammende Leidenschaft im Gesicht des Mexikaners, das Funkeln seiner Raubtieraugen im Sternenlicht, der Stich in den Hals, das hervorschießende Blut, die schreiende Menge, die beiden Körper – seiner und der des Mexikaners –, die, ineinander verschränkt, wütend über den Sand rollten, und weit in der Ferne das weiche Klimpern einer Gitarre. Das war das Bild, das er sah, und das ihn völlig in Anspruch nahm, während er darüber nachdachte, ob der Mann, der den Lotsenkutter an der Wand gemalt hatte, auch das wohl malen könnte. Der weiße Strand, die Sterne, die Lichter auf dem Zuckerdampfer müssten ein prachtvolles Bild ergeben, dachte er, und mitten auf dem Strand dazu die dunkle Gruppe, die die Kämpfenden umgab. Das Messer würde auch seinen Platz auf dem Bilde haben, entschied er, und es würde großartig aussehen, wie es im Sternenlicht funkelte. Aber von alledem wurde seine Erzählung nicht berührt. »Er versuchte, mir die Nase abzubeißen«, schloss er.
»Oh!« sagte das junge Mädchen mit leiser, ferner Stimme, und er bemerkte den erschrockenen Ausdruck in ihren beweglichen Zügen.
Er erschrak selbst, und eine schwache Röte der Verlegenheit stieg ihm in die sonnenverbrannten Wangen, aber er hatte das Gefühl, dass sie ebenso stark brannten, wie wenn er vor der offenen Heizungstür im Feuerungsraum gestanden hätte. Derartige schmutzige Dinge wie Messerstechereien waren offenbar kein Unterhaltungsgegenstand für eine Dame. In den Büchern sprachen Menschen ihres Standes nicht über derlei – wussten vielleicht gar nichts davon.
Eine kurze Pause trat in dem Gespräch ein, das sie gerade in Gang zu setzen versuchten. Dann fragte sie nach der Narbe an seiner Wange. Als sie fragte, merkte er, dass sie sich bemühte, so zu sprechen, wie er zu sprechen gewohnt war, und er beschloss, in ihrer Sprache zu antworten.
»Das war nur ein Unfall«, sagte er und legte die Hand an die Wange. »Eines Nachts, bei stillem Wetter und schwerer See, sprang die Großbaumtopnant und gleich darauf die Talje. Die Topnant war aus Stahldraht und fuhr wie eine Schlange hin und her. Die ganze Wache versuchte sie einzufangen, und ich kriegte beim Zupacken mächtig eins in die Fresse.«
»Oh!« sagte sie, diesmal in einem Ton, als hätte sie alles verstanden, obwohl seine Sprache das reine Griechisch für sie gewesen war und sie gern gewusst hätte, was eine Topnant war und was Fresse bedeutete.
»Dieser Mann, der Swineburne«, begann er mit einem Versuch, seinen Plan zur Ausführung zu bringen.
»Wer?«
»Swineburne,« sagte er mit derselben falschen Aussprache, »der Dichter.«
»Swinburne«, berichtigte sie.
»Ja, das meine ich auch«, stammelte er wieder mit heißen Wangen. »Wann ist er gestorben?«
»Wie bitte? Ich habe nie gehört, dass er tot ist!« Sie betrachtete ihn neugierig. »Wo haben Sie seine Bekanntschaft gemacht?«
»Ich habe ihn nie gesehen«, lautete die Antwort. »Aber ich habe einige von seinen Gedichten in dem Buch dort auf dem Tisch gelesen, ehe Sie hereinkamen. Wie finden Sie seine Gedichte?«
Und jetzt begann sie schnell und leicht über den Gegenstand zu sprechen, den er aufs Tapet gebracht hatte. Er fühlte sich wohler und setzte sich etwas mehr auf den Stuhl, stützte sich aber immer noch fest mit den Armen auf die Lehnen, als fürchtete er, dass er unter ihm hinwegschlüpfen würde. Es war ihm geglückt, sie zum Sprechen zu bringen. Und während sie drauflosredete, strengte er sich an, ihr zu folgen, verwundert über all das Wissen, das in dem reizenden Köpfchen steckte, und freute sich über die blasse Schönheit ihres Gesichts. Er folgte ihr auch, obwohl ihn unbekannte Worte, die leicht von ihren Lippen glitten, und kritische Bemerkungen und Gedanken störten, die ihm fremd waren, die aber doch seinen Geist reizten und entflammten. Hier war geistige Regsamkeit, dachte er, und hier war Schönheit, eine warme, wunderbare Schönheit, wie er sie sich nie hatte träumen lassen. Er vergaß sich und starrte sie mit gierigen Augen an. Hier war etwas, für das es sich lohnte zu leben, vorwärtszukommen, zu kämpfen – ja, und zu sterben. Die Bücher sprachen die Wahrheit. Es gab solche Frauen in der Welt. Sie war eine von ihnen. Sie verlieh seiner Phantasie Schwingen, und große leuchtende Bilder erschienen vor seinem Blick, undeutliche, riesige Bilder, die Liebe, Romantik und Heldentum um einer Frau willen darstellten – um einer bleichen Frau, einer goldenen Blume willen. Und hinter der zitternden schwingenden Vision sah er wie hinter einer Fata Morgana das lebendige Weib, das hier saß und von Literatur und Kunst sprach. Er hörte auch zu, aber er blickte sie dabei an, ohne sich bewusst zu sein, wie starr sein Blick war, und dass alles, was seine Natur an Männlichkeit besaß, ihm aus den Augen leuchtete. Sie aber, die wenig von der Welt der Männer wusste, weil sie ein Weib war, sie fühlte deutlich seine brennenden Augen. Sie war noch nie auf diese Weise angesehen worden, und es machte sie verlegen. Sie stockte und suchte nach Worten. Sie verlor den Faden ihrer Erklärungen. Er erschreckte sie, und doch wurde sie wieder von einer seltsamen Freude durchbebt, dass jemand sie auf diese Weise ansah. Ihre Erziehung warnte sie vor der Gefahr, die in dieser geheimnisvollen, seltsamen Lockung lag; aber ihre Instinkte klangen wie helle Fanfaren durch ihr ganzes Wesen und zwangen sie, die Hindernisse von Kaste und Stand zu nehmen und zu einem Wanderer aus einer anderen Welt zu gelangen, diesem linkischen jungen Burschen mit den zerrissenen Händen und dem roten Strich am Halse von dem ungewohnten Kragen, diesem Menschen, der, allzu offenkundig, von einem harten, strengen Dasein beschmutzt und angesteckt war. Sie war rein, und ihre Reinheit empörte sich dagegen; aber sie war Weib, und sie hatte gerade das Paradoxe der weiblichen Natur kennengelernt.
»Wie gesagt – ja, was sagte ich doch?« Sie unterbrach sich plötzlich und lachte heiter über ihre eigene Verlegenheit.
»Sie sagten, dass dieser Mann, der Swinburne, kein großer Dichter wurde, weil … und weiter kamen Sie nicht, Fräulein«, half er ihr, während ihm schien, als ob er plötzlich hungrig würde und ein wundervolles leises Zittern ihm bei ihrem Lachen das Rückgrat entlang kroch. Wie Silber, dachte er, wie klingende, silberne Glocken, und im selben Augenblick, aber nur eine Sekunde lang, fühlte er sich in ein fernes Land versetzt, wo er unter rosa Kirschblüten saß, eine Zigarette rauchte und auf die Glocken der spitzen Pagode lauschte, die Gläubige mit Strohsandalen zur Andacht rief.
»Ja, danke«, sagte sie. »Das Höchste erreicht Swinburne nicht, weil er – nun ja, weil er unzart ist. Viele seiner Gedichte sollte man gar nicht lesen. Jede Zeile der wirklich großen Dichter ist von Schönheit erfüllt und wendet sich an alles, was erhaben und edel im Menschen ist. Von den Werken der großen Dichter könnte man nicht eine Zeile entbehren, ohne dass die Welt dadurch ärmer würde.«
»Ich fand es großartig,« sagte er zögernd, »das bisschen jedenfalls, das ich las. Ich hatte keine Ahnung, dass er so ein – ein Schurke war. Das wird wohl in seinen anderen Büchern zum Vorschein kommen.«
»Viele Zeilen in dem Buch, das Sie gelesen haben, hätte er sich sparen können«, sagte sie, und ihre Stimme klang streng und lehrhaft.
»Die muss ich übersehen haben«, erklärte er. »Was ich las, war wirklich gut. Und es war so strahlend und schimmernd, es schien gerade in mich hinein und erleuchtete mich inwendig wie die Sonne oder ein Scheinwerfer. So wirkte es jedenfalls auf mich, aber ich verstehe ja nicht viel von Dichtkunst, Fräulein.« Er hielt erschrocken inne. Er war verwirrt und hatte ein peinliches Gefühl von seiner eigenen Unfähigkeit, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Er hatte die große und lebendige Glut in dem, was er las, gefühlt, aber sein Wortschatz reichte nicht hin. Er konnte nicht ausdrücken, was er fühlte, und er verglich sich selbst mit einem Seemann, der sich in dunkler Nacht auf einem fremden Schiffe befand und sich mit einer Takelung abquälte, mit der er nicht vertraut war. Nun ja, sagte er sich, ich muss eben sehen, mich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Er hatte noch nie etwas gesehen, hinter das er nicht gekommen war, wenn er es ernstlich darauf anlegte, und es war Zeit, dass er lernte, sich über das, was in seinem Innern vorging, verständlich zu machen. Sie erweiterte seinen Horizont mächtig.
»Longfellow zum Beispiel –«, sagte sie.
»Ja, den habe ich gelesen«, unterbrach er sie, angespornt von dem Ehrgeiz, soviel wie möglich von seinen Kenntnissen zu zeigen, und bemüht, ihr verständlich zu machen, dass er kein dummer Tölpel war. »Der Psalm des Lebens«, »Elysium« und … ich glaube, das ist alles.«
Sie nickte lächelnd, und er hatte das Gefühl, dass ihr Lächeln ein wenig nachsichtig war – mitleidig nachsichtig. Er war ein Narr, dass er versuchte, sich auf diese Weise aufzuspielen. Dieser Longfellow hatte wahrscheinlich zahllose Gedichtbücher geschrieben. »Entschuldigen Sie, Fräulein, dass ich so drauflosschwatze. Ich weiß ja eigentlich nicht viel von diesen Sachen. Es gehört nicht zu meinem Beruf. Aber ich will es zu meinem Beruf machen.«
Das klang wie eine Drohung. Seine Stimme war entschieden, seine Augen blitzten, die Linien in seinem Gesicht wurden hart. Ihr schien, dass sein Kinn sich verändert hätte; es wirkte fast unangenehm anmaßend. Gleichzeitig aber war es, als ob ihr eine Woge starker Männlichkeit von ihm entgegenschlug.
»Ich glaube wirklich, Sie sollten es zu Ihrem … Beruf machen«, schloss sie lachend. »Sie sind sehr stark.«
Ihr Blick weilte einen Augenblick auf dem muskulösen, sehnigen, fast stierartigen Nacken, der von der Sonne gebräunt war und von roher Kraft und Gesundheit strotzte. Und obwohl er rot und verlegen dasaß, fühlte sie sich doch von ihm angezogen. Zu ihrer eigenen Überraschung schoss ihr plötzlich ein toller Gedanke durchs Hirn. Ihr schien, sie müsse ihre beiden Hände um seinen Hals legen, und all seine Stärke und Kraft würden auf sie überströmen. Ihr schien, dass sich ihr plötzlich eine ungeahnte Verderbnis ihrer Natur offenbarte. Zudem war Stärke für sie etwas Grobes, Brutales. Ihr Ideal männlicher Schönheit war immer schlanke Anmut gewesen. Aber der Gedanke verließ sie nicht. Es verwirrte sie, dass sie wirklich den Wunsch verspüren sollte, ihre Hände um diesen sonnenverbrannten Hals zu legen. Tatsächlich war sie selbst zart, und das, was ihr Körper und ihre Seele brauchten, war eben Stärke. Aber das wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass kein Mann je eine solche Wirkung auf sie ausgeübt hatte wie dieser, der sie jeden Augenblick durch seine schreckliche Sprache erschreckte.
»Nein, ein altes Weib bin ich nicht«, sagte er. »Wenn es darauf ankommt, kann ich altes Eisen verdauen. Aber jetzt bin ich gerade ein bisschen verstopft. Das meiste von dem, was Sie gesagt haben, kann ich nicht verdauen. Ich habe mich nie mit dem Zeug abgegeben, wissen Sie. Ich habe Bücher und Poesie gern, und wenn ich mal Zeit hatte, habe ich gelesen, aber ich habe nie so drüber nachgedacht wie Sie. Darum kann ich nicht drüber reden. Mir geht es wie einem Seemann, der ohne Karte und Kompass auf einem fremden Meer treibt. Jetzt möchte ich gern peilen. Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Wie haben Sie all das gelernt, was Sie da erzählen?«
»In der Schule wohl und durch Studium«, antwortete sie.
»Ich bin auch zur Schule gegangen, als ich klein war«, wandte er ein.
»Ja; aber ich meine das Gymnasium und Kurse und die Universität.«
»Sie sind auf der Universität gewesen?« fragte er ehrlich erstaunt. Er fühlte, dass sie einen Abgrund von mindestens einer Million Meilen zwischen sich und ihn gelegt hatte.
»Ich besuche jetzt noch die Universität. Ich höre Vorlesungen im Englischen.«
Er verstand nicht, was sie mit »Englisch« meinte, merkte sich aber diesen Mangel in seinem Wissen und fragte weiter:
»Wie lange müsste ich lernen, um auf die Universität kommen zu können?«
Sie lächelte ermutigend über seinen Lerneifer und sagte: »Das hängt davon ab, was Sie schon gelernt haben. Sie haben nie ein Gymnasium besucht? Natürlich nicht. Aber haben Sie die Gemeindeschule ganz durchgemacht?«
»Es fehlten zwei Jahre, als ich abging«, erwiderte er. »Aber ich war immer sehr gut in der Schule.«
Im nächsten Augenblick ärgerte er sich so über seine Prahlerei, dass er die Stuhllehne packte, bis die Fingerspitzen ihm förmlich brannten. Da bemerkte er, dass eine Frau ins Zimmer trat. Er sah, wie das Mädchen vom Stuhl aufstand und der Eintretenden entgegeneilte. Sie küssten sich und kamen dann Arm in Arm auf ihn zu. Das muss ihre Mutter sein, dachte er. Sie war eine hochgewachsene blonde Frau, schlank, stattlich und schön. Ihre Kleidung war so, wie er sie in einem solchen Hause erwartet hatte. Seine Augen hingen mit Entzücken an den anmutigen Linien. In ihrer Tracht erinnerte sie ihn an Frauen, die er auf der Bühne gesehen hatte. Dann erinnerte er sich, dass er ähnlich gekleidete Damen in die Londoner Theater hatte hineingehen sehen. Er hatte ihnen nachgesehen, bis der Schutzmann ihn in den Sprühregen vor der Markise geschoben hatte. Gleich darauf machten seine Gedanken einen Sprung nach dem Grand Hotel in Yokohama, wo er auch vom Bürgersteig aus große Damen gesehen hatte. Dann begann Yokohama selbst mit seinem Hafen in tausend Bildern vor seinen Augen zu erscheinen. Aber er löste sich schnell von diesem Kaleidoskop der Erinnerung, in dem Bewusstsein, dass er jetzt seine ganze Geistesgegenwart nötig hatte. Er wusste, dass er aufstehen musste, um vorgestellt zu werden, und so erhob er sich denn beschwerlich und stand da, mit Hosen, die sich an den Knien beutelten, mit hängenden Armen und zusammengebissenen Zähnen, bereit, die bevorstehende Prüfung über sich ergehen zu lassen.
Der Weg ins Speisezimmer war ein böser Traum für ihn. Er stolperte und stieß sich, machte entschlossen einen Schritt vorwärts und blieb wieder stehen, und zuweilen schien ihm fast, als würde er nie hineingelangen. Schließlich aber war er drinnen und wurde neben SIE gesetzt. Der Überfluss an Messern und Gabeln jagte ihm Schrecken ein. Sie drohten mit unbekannten Gefahren, und er starrte sie benommen an, bis ihr Glanz der Hintergrund für eine Reihe von Bildern aus der Back wurde, wo er und seine Kameraden saßen und Salzfleisch mit dem Taschenmesser und den Fingern aßen oder dicke Erbsensuppe mit Blechlöffeln in sich hineinschaufelten. Er konnte geradezu den Geruch von verdorbenem Fleisch spüren und das Schmatzen der Essenden zum Knarren der Hölzer und Ächzen der Schote hören. Er sah die Kameraden essen und kam zu dem Ergebnis, dass sie wie Schweine aßen. Nun, er wollte sich hier schon zusammennehmen. Er wollte kein Geräusch machen. Er wollte ununterbrochen auf sich achten.
Er ließ seinen Blick über den Tisch schweifen. Ihm gegenüber saßen Arthur und Arthurs Bruder Norman. Er dachte daran, dass es ihre Brüder waren, und fühlte warme Freundschaft für sie. Wie alle in dieser Familie sich liebten! Er dachte wieder daran, wie SIE und ihre Mutter sich geküsst hatten und ihm Arm in Arm entgegengekommen waren. In seiner Welt zeigten Eltern und Kinder ihre Gefühle nicht so. Es war eine Offenbarung von den Höhen des Lebens, die man in dieser hoch über der seinen liegenden Welt erreichen konnte. Dieser kleine Einblick in eine neue Welt hatte ihm das Schönste gezeigt, das er je gesehen. Es machte einen tiefen Eindruck auf ihn, und sein Herz strömte über vor mitfühlender Zärtlichkeit. Sein ganzes Leben hatte ihn nach Liebe gehungert. Sein Wesen brauchte Liebe. Sie war eine Lebensbedingung für seinen Organismus. Und dennoch hatte er sie entbehren müssen, aber er war hart dabei geworden. Er hatte selbst nicht gewusst, dass er Liebe brauchte, und auch jetzt wusste er es nicht. Er sah nur ihr Wirken, und das durchschauerte ihn tief und erschien ihm herrlich und erhaben.
Er freute sich, dass Herr Morse nicht anwesend war. Es war schwer genug, mit ihr, ihrer Mutter und ihrem Bruder Norman bekannt zu werden. Arthur kannte er schon ein wenig. Der Vater, das wusste er, hätte dem Fass den Boden ausgeschlagen. Ihm schien, dass er sich noch nie im Leben so abgemüht hätte. Die schwerste Arbeit war Kinderspiel dagegen. Winzige Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und sein Hemd war durchnässt, weil er sich bemühte, soviel Ungewohntes auf einmal zu tun. Er musste essen, wie er noch nie gegessen hatte, musste mit seltsamen Geräten hantieren und dabei verstohlene Blicke auf die anderen werfen, um zu sehen, wie sie mit jedem neuen Dinge umgingen; er musste die Flut von Eindrücken bewältigen, die über ihm zusammenschlug und in seinem Bewusstsein gesichtet und geklärt werden sollte. Dazu fühlte er eine heftige Sehnsucht nach ihr, eine Sehnsucht, die die Form dumpf nagender Rastlosigkeit annahm, und spürte einen heftigen Drang, sich emporzuschwingen zu der Höhe des Lebens, auf der sie sich befand. Immer wieder verirrten sich seine Gedanken in unklaren Plänen, wie er sich auf ihre Höhe schwingen könnte. Wenn sein Blick heimlich zu Norman, der ihm gerade gegenüber saß, oder zu den anderen glitt, um herauszubekommen, welches Messer oder welche Gabel bei einer bestimmten Gelegenheit zu gebrauchen war, so nahm das Gesicht des Betreffenden seine Gedanken in Anspruch, und er versuchte mechanisch zu erraten, was er – stets im Verhältnis zu ihr – war.
Dann musste er wieder sprechen, hören, was zu ihm gesprochen wurde, und was die anderen unter sich sprachen, und, wenn nötig, antworten mit einer Zunge, die die unangenehme Neigung hatte, durchzugehen, und stets gezügelt werden musste. Und um seine Verwirrung noch zu vermehren, war der Diener da, eine beständige Drohung, die sich lautlos hinter ihn schlich, ein unheimlicher Spion, der ihm unangenehme Rätsel aufgab, die er stets sofort lösen musste. Während der ganzen Mahlzeit bedrückte ihn der Gedanke an die Spülkummen. Immer wieder, unaufhörlich musste er darüber nachdenken, wann sie in die Erscheinung treten und wie sie aussehen würden. Er hatte von diesen Dingen gehört und wusste, dass er sie im Laufe weniger Minuten sehen sollte, dass er mit höheren Wesen bei Tische saß und sie wie diese benutzen sollte. Und das Wichtigste von allem: auf dem Grunde seiner Gedanken und doch stets dicht an der Oberfläche lag die große Frage, wie er sich diesen Leuten gegenüber benehmen sollte. Welche Haltung sollte er einnehmen? Mit diesem Problem kämpfte er andauernd und furchtsam. Da waren feige Einwendungen, die ihn Komödie spielen lassen wollten, und noch feigere, die ihm sagten, dass ein solcher Versuch misslingen musste, dass seine Natur sich nicht dazu eignete, und dass er sich zum Narren machen würde. Während des ersten Teiles des Essens rang er mit sich, wie er sich verhalten sollte, und war sehr still. Er wusste nicht, dass er durch sein Schweigen Arthur Lügen strafte, der am Tage zuvor gesagt hatte, er würde einen Wilden mit zu Tisch bringen, dass sie aber keine Angst zu haben brauchten, denn es sei ein interessanter Wilder. Martin Eden hätte sich nicht vorstellen können, dass ihr Bruder sich eines solchen Verrats schuldig machte, zumal er ja ebendiesem Bruder bei einer schlimmen Prügelei geholfen hatte. Und so saß er denn bei Tische, bedrückt durch seine eigene Unwürdigkeit und doch zugleich von allem, was um ihn her vorging, bezaubert. Zum ersten Mal erkannte er, dass Essen etwas anderes als eine nützliche Funktion war. Er hatte keine Ahnung, was er aß. Es war eben Essen. Er stillte seinen Schönheitsdurst an diesem Tisch, wo Essen eine ästhetische Funktion war. Aber es war auch eine geistige Funktion. Sein Geist war angestachelt. Er hörte Worte, die keinen Sinn für ihn hatten, und andere Worte, die er nur in Büchern gefunden hatte, und die keiner der Männer oder Frauen seiner Bekanntschaft imstande gewesen wären auszusprechen. Wenn er diese Worte von den Lippen dieser wundervollen Familie – ihrer Familie – aussprechen hörte, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre, wurde er von Entzücken durchbebt. Die Romantik und Schönheit, das Erhabene, von dem er in Büchern gelesen hatte, wurde hier Wirklichkeit. Er befand sich in dem seltsamen, seligen Zustand, in dem ein Mann seinen Traum aus den Winkeln der Phantasie herausspazieren und Wirklichkeit werden sieht. Noch nie hatte er auf solchen Höhen des Lebens gestanden, und er hielt sich selbst im Hintergrund, lauschend, beobachtend und sich freuend, während er einsilbig Ja und Nein antwortete. Er musste sich Mühe geben, dass er ihren Brüdern nicht dieselbe Ehrerbietung wie ihr und ihrer Mutter erwies. Aber er sagte sich, dass das unmöglich sei, wenn er je hoffen wollte, SIE zu gewinnen. Außerdem lehnte sich sein Stolz dagegen auf. »Weiß Gott!« sagte er einmal bei sich, »ich bin genau so gut wie sie, und wenn sie auch vieles wissen, was ich nicht weiß, so könnte ich sie doch auch ein ganz Teil lehren.« Als aber sie oder ihre Mutter ein paar Augenblicke später ihn »Herr Eden« ansprach, vergaß er seinen anmaßenden Stolz und wurde von Freude ganz rot und warm. Er war ein zivilisierter Mensch, jawohl, und er saß hier, Schulter an Schulter, bei Tisch mit Leuten gleich denen, über die er in Büchern gelesen hatte. Jetzt war er selbst mit im Buche, mitten in einem Abenteuer, das die Druckseiten eines dicken Bandes füllte.
Während er aber Arthurs Beschreibung auf diese Art Lügen strafte, und eher ein frommes Lamm als ein Wilder zu sein schien, zerbrach er sich die ganze Zeit den Kopf, wie er auftreten sollte. Er war kein frommes Lamm, und die zweite Geige zu spielen, passte seiner hochfliegenden Herrschernatur durchaus nicht. Er sprach nur, wenn er musste, und seine Rede war wie sein Gang, abgebrochen und stolpernd.
Er suchte in seinem Sprachschatz, grübelte, welche Worte wohl bei dieser oder jener Gelegenheit passten, fürchtete aber, dass er sie nicht aussprechen könnte, und verwarf wieder andere Worte, von denen er wusste, dass sie sie nicht verstanden, oder dass sie in ihren Ohren roh und gewöhnlich klingen würden. Aber die ganze Zeit bedrückte ihn das Bewusstsein, dass diese Vorsicht in der Wahl seiner Worte ihn dumm machte und ihn verhinderte, seinem Innern Ausdruck zu verleihen.
Dazu empörte sich seine Freiheitsliebe gegen diesen Zwang ungefähr ebenso, wie sein Hals von dem steifen Kragen irritiert wurde, und endlich wusste er, dass es auf die Dauer doch nicht gehen würde. Er war ein Kraftkerl, er konnte denken, und der schöpferische Geist in ihm hob das Haupt und wollte sich geltend machen. Er wurde schnell übermannt von dem Gefühl, das sich in ihm in Geburtswehen wand, um Ausdruck und Form zu finden, und dann vergaß er sich und seine Umgebung, und die alten Worte – die Werkzeuge der Rede, die er kannte – schlüpften heraus.
Als der Diener ihm einmal etwas anbot, ihn dabei unterbrach und an seine Schulter stieß, lehnte er mit einem kurzen, entschiedenen »Pau!« ab.
Sofort richteten sich alle Augen bei Tische erwartungsvoll auf ihn, der Diener war offenbar belustigt, und Martin Eden schämte sich sehr. Aber er gewann schnell seine Selbstbeherrschung wieder.
»Das ist ein Kanakenwort für ›fertig‹«, erklärte er. »Und es kam ganz von selbst!«
Er sah, wie ihre Blicke neugierig seine Hände suchten, und da er einmal Mut gefasst hatte, redete er weiter: »Ich kam auf einem Schiff von der Pacific-Postlinie die Küste herunter. Wir waren verspätet, und in allen Häfen am Puget-Sund schufteten wir wie die Nigger, um die Ladung zu verstauen – Stückgut, wenn Sie wissen, was das heißt. Dabei hab’ ich mir die Haut abgeschrammt.«
»Ach, das meinte ich nicht«, erklärte sie schnell. »Ihre Hände scheinen zu klein für Ihren Körper.«
Er errötete. Er dachte, dass wieder eine seiner Unvollkommenheiten ans Tageslicht gebracht worden sei.
»Ja«, sagte er ärgerlich. »Sie sind nicht groß genug, Arme und Schultern hab’ ich wie ein Maultier. Die sind zu stark, und wenn ich einem Mann die Fresse zerhaue, werden mir die Hände dabei auch zerhauen.«
Was er gesagt hatte, gefiel ihm nicht. Er war wütend auf sich. Er hatte seine Zunge gelöst und Dinge gesagt, die sich nicht schickten.
»Es war brav von Ihnen, dass Sie Arthur auf diese Weise zu Hilfe kamen – Sie, als Fremder«, sagte sie taktvoll, als sie seine Verlegenheit sah, obwohl sie den Grund nicht kannte.
Er hingegen verstand sehr gut, was sie getan hatte, eine warme Welle der Dankbarkeit überspülte ihn, und er vergaß seine lose Zunge.
»Das war nicht der Rede wert«, sagte er. »Jeder andere hätte genau dasselbe getan. Die Rowdys wollten Spektakel machen, und Arthur hatte ihnen nichts getan. Sie gingen auf ihn los, und da ging ich wieder auf sie los und vermöbelte ein paar von ihnen. Bei der Gelegenheit ging wohl auch ein bisschen Haut von meinen Händen, zugleich mit ein paar Zähnen von den Kerlen. Ich freue mich heut noch darüber. Wenn ich sehe …«
Er hielt inne, mit offenem Munde, wie erschrocken über seine eigene Verderbnis und seine Unwürdigkeit, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Und während Arthur zum zwanzigsten Mal sein Abenteuer mit den betrunkenen Rowdys auf der Fähre berichtete und erzählte, wie Martin Eden sich auf sie gestürzt und ihm geholfen hatte, saß dieser Martin Eden mit gerunzelter Stirn da, dachte, dass er sich jetzt vollkommen lächerlich gemacht hätte, und kämpfte verbitterter als je mit der Frage, wie er sich vor diesen Leuten benehmen sollte. Bis jetzt hatte er wahrhaftig nicht viel Glück gehabt. Er gehörte nicht zu ihrer Klasse und sprach ihre Sprache nicht, so erklärte er es sich selbst. Er könnte nicht so tun, als ob er ihresgleichen wäre. Eine solche Maskerade würde ihm missglücken, zumal jede Art Maskerade seinem Wesen fremd war. Verstellung oder List hatten keinen Teil an ihm. Was auch geschah, er musste er selbst bleiben. Er konnte ihre Sprache nicht sprechen, aber das würde schon noch kommen. Dazu war er fest entschlossen. Inzwischen aber musste er sprechen, und zwar in seiner eigenen Sprache, die er natürlich dämpfen musste, damit sie ihnen verständlich wurde und sie nicht allzu sehr verletzte. Ferner wollte er nicht mehr durch schweigendes Hinnehmen so tun, als kenne er Dinge, die er in Wirklichkeit nicht kannte, und mehrmals unterbrach er die beiden Brüder in einer Unterhaltung, um zu erfahren, was dies oder jenes bedeutete.
Er erhielt einen Einblick in ein Wissen, das ihm unbegrenzt zu sein schien. Was er sah, nahm greifbare Gestalt an. Seine unerhörte Einbildungskraft half ihm dabei. In der Werkstatt seiner Gedanken wurden die verschiedenen Zweige der Wissenschaft, wurde der Wald der Kenntnisse zu einer ganzen Landschaft. Er sah die Wege mit grünen Blättern und Lichtungen, überflutet von gedämpftem Licht und hellen Sonnenflecken. Die Einzelheiten in der Ferne waren verschleiert und von einem dunkelvioletten Nebel verwischt, dahinter aber lag der Zauber des Unbekannten, die zwingende Macht der Romantik. Es wirkte auf ihn wie Wein. Hier gab es Abenteuer. Hier gab es etwas, das Kopf und Hände verrichten konnten, hier war eine Welt zu besiegen, und sogleich tauchte vor dem Hintergrund seines Bewusstseins der Gedanke auf, dass er siegen wollte, um sie zu gewinnen, diese lilienweiße Elfe, die neben ihm saß.
Die leuchtende Vision wurde von Arthur zerrissen, der den ganzen Abend versucht hatte, den wilden Mann zum Ausbruch zu bringen. Martin Eden erinnerte sich seines Entschlusses. Zum ersten Mal wurde er der echte Martin Eden, anfangs bewusst und mit voller Überlegung; bald aber vergaß er alles über der Freude, zu schaffen und das Leben, wie er es kannte, vor den Augen der Zuhörer erstehen zu lassen.
Er hatte sich auf dem Schmugglerschoner »Halcyon« befunden, der von einem Zollkutter gefasst wurde. Er sah mit offenen Augen und konnte erzählen, was er sah. Er ließ das wogende Meer und die Männer und Schiffe des Meeres vor ihnen erstehen. Er teilte ihnen von seiner Einbildungskraft mit, bis sie mit seinen Augen sahen, was er gesehen hatte. Aus der ungeheuren Menge von Einzelheiten wählte er mit dem sicheren Griff des Künstlers, zeichnete Bilder des Lebens, die von Licht und Farben flammten, und blies ihnen Bewegung ein, so dass seine Zuhörer von diesem Strom roher Beredsamkeit, Begeisterung, Stärke und Macht gepackt wurden. Zeitweilig erschreckte er sie durch die Lebendigkeit der Erzählung und seiner Ausdrücke, aber auf Heftigkeit folgte immer sofort wieder Schönheit, und die Tragödie wurde belebt durch Humor und den eigenartigen springenden Gedankengang des Seemanns.
Und während er sprach, sah das junge Mädchen ihn mit großen erschrockenen Augen an. Sein Feuer durchglühte sie. Sie dachte, ob sie wohl ihr ganzes Leben gefroren hätte. Sie sehnte sich danach, sich an diesen brennenden, flammenden Mann zu lehnen, der wie ein Vulkan Stärke und Gesundheit ausspie. Sie fühlte, dass sie sich an ihn lehnen musste, und widerstand der Versuchung nur mit Mühe. Aber sie hatte auch eine entgegengesetzte Empfindung: sie schauderte vor ihm zurück. Sie wurde abgestoßen von den zerrissenen Händen, die von Arbeit besudelt waren, als hätte aller Schmutz des Lebens das Fleisch verseucht, von dem roten Strich vom Kragen und den schwellenden Muskeln. Seine Rohheit erschreckte sie. Jedes rohe Wort verletzte ihr Ohr, jeder derbe Satz war ein Hohn auf ihre Seele. Aber immer wieder fühlte sie, wie er sie anzog, bis ihr schien, dass er schlecht sein müsste, um eine solche Macht über sie auszuüben. Alles, was am tiefsten in ihr wurzelte, drohte zusammenzustürzen. Der Schimmer von Romantik und Abenteuern, der über ihm lag, hämmerte gegen alles Herkömmliche. Seinen leicht besiegten Gefahren und seinem stets bereiten Lachen gegenüber war das Leben nicht mehr etwas Ernstes mit Mühe und Zwang, sondern ein Spielzeug, das man nach Belieben drehen und wenden, das man nachlässig leben und nachlässig beiseite werfen konnte. »Deshalb spiele!« rief es in ihr. »Lehne dich an ihn, wenn du Lust dazu hast, und lege ihm deine Hände um den Hals!« Sie hätte gern diesen wilden Gedanken verbannt, und sie suchte vergebens, ihre eigene Reinheit und Kultur, alles, was sie war, in die Waagschale zu werfen gegen das, was er nicht war. Sie sah auf die andern und bemerkte, dass sie ihn aufmerksam und hingerissen anblickten, und sie würde ganz den Mut verloren haben, hätte sie nicht den Schrecken in den Augen ihrer Mutter gesehen – einen Schrecken, der halb Begeisterung, aber dennoch Schrecken war. Dieser Mann aus der äußersten Finsternis war schlecht. Ihre Mutter sah es, und ihre Mutter hatte recht. Sie wollte sich in dieser Sache wie immer auf das Urteil ihrer Mutter verlassen. Das Feuer, das aus ihm loderte, wärmte nicht mehr, ihre Angst vor ihm war nicht mehr so überwältigend.
Später setzte sie sich an den Flügel und spielte für ihn, nur für ihn, aggressiv, mit dem unklaren Ziel, den unüberbrückbaren Schlund zwischen ihnen zu betonen. Ihre Musik war eine Keule, die sie brutal über seinem Haupte schwang, aber wenn sie ihn auch betäubte und in den Staub warf, so wirkte sie doch anspornend auf ihn. Er starrte sie ehrfürchtig an. In seinem Gemüt wie in dem ihren erweiterte sich der Schlund zwischen ihnen; aber noch fester wurde sein ehrgeiziger Entschluss, diesen Schlund zu überbrücken. Seine Gefühle waren jedoch zu wirr, als dass er den ganzen Abend hätte ruhig dasitzen und auf den klaffenden Schlund starren können, namentlich wenn musiziert wurde. Er war merkwürdig empfänglich für Musik. Sie war wie ein berauschender Trank, der seine Gefühle zu ungewohnter Kühnheit anspornte, wie ein Gift, das sich in seine Phantasie schlich und sie bis in die Wolken hob. Musik verjagte die schmutzige Wirklichkeit, erfüllte sein Gemüt mit Schönheit, ließ die Romantik los und beschwingte sie. Er verstand die Musik, die sie spielte, nicht. Sie war ganz anders als die, die er kannte: das hämmernde Klavier und der Lärm der Hornbläser in den Tanzlokalen. Aber er hatte durch die Bücher eine Vorstellung von dieser Musik, und er nahm sie daher fast wie eine Art Glaubenssatz hin, wartete geduldig auf die taktfesten Töne eines bestimmten Rhythmus und wurde allmählich ganz verwirrt, weil die Motive so oft wechselten. Sobald er die Melodie erfasst hatte und seine Phantasie durch den Raum schweifen ließ, verschwanden die Motive immer wieder in einem wirren Chaos von Tönen, von denen er sich keine Vorstellung machen konnte, und seine Phantasie stürzte schwer zu Boden.
Einmal fiel ihm ein, dass dies ein bewusster Versuch sein mochte, ihn zurückzuweisen. Er fühlte ihre Abwehr und bemühte sich, die Botschaft zu erraten, die ihre Hände durch die Tasten ausdrückten. Dann aber schob er diesen Gedanken als unwürdig und unmöglich von sich und überließ sich ganz der Musik. Wieder überkam ihn das alte Entzücken. Seine Füße waren nicht mehr erdgebunden, sein Fleisch wurde Geist. Vor und hinter seinem Blick entzündete sich ein mächtiger Strahlenkranz. Er vergaß seine Umgebung und hob sich im Fluge über eine Welt, die ihm so teuer war. In dem Traumbild, das vor seinen Augen auftauchte, mischte sich Bekanntes mit Unbekanntem. Er erreichte fremde Häfen in sonnigen Ländern und betrat Marktplätze barbarischer Völker, die kein Mensch je gesehen hatte. Er konnte den Duft der Gewürzinseln spüren, wie er ihn in warmen stillen Nächten auf See gespürt hatte, er begegnete dem Passat der langen Tropentage, dem Passat, der die Palmenwedel der Koralleninseln in das türkisblaue Meer hinter ihm versenkte und die Palmenwedel der Koralleninseln aus dem türkisblauen Meer vor ihm hob. Alle diese Bilder kamen und schwanden mit der Schnelligkeit des Gedankens. Im einen Augenblick saß er rittlings auf einem Präriehengst und flog durch das mächtige Wüstenland mit seinen Märchenfarben; im nächsten starrte er durch flimmernden Dunst auf die Gräber des Totentals oder ruderte über ein halb zugefrorenes Weltmeer, aus dem sich kleine Eisinseln hoben und in der Sonne glitzerten. Er lag am Ufer einer Koralleninsel, deren Kokospalmen dicht an der Brandung mit ihren Molltönen wuchsen. Auf dem Rumpf eines alten Wracks brannten blaue Flammen, und in ihrem Schimmer tanzten die Hulatänzer zu barbarischen Liebesliedern, klimpernden Ukuleles und rasselnden Tom-Toms. Es war eine sinnenerregende tropische Nacht. Im Hintergrund hob sich die dunkle Silhouette eines vulkanischen Kraters vom Sternenhimmel ab. Darüber stand ein blasser Halbmond, und ganz unten am Horizont flammte das Kreuz des Südens.
Er war wie eine Harfe; sein ganzes Leben, wie er es bisher gekannt, und wie es sich in seinem Bewusstsein abgezeichnet hatte, bildete die Saiten der Harfe, und die wogenden Töne der Musik waren der Wind, der gegen die Saiten schlug und sie unter Erinnerungen und Träumen schwingen ließ. Er fühlte nicht nur. Seine Fähigkeit zu fühlen nahm Form, Farbe und Strahlenkranz an und verkörperte mit erhabener, zauberischer Kraft, was seine Einbildungskraft wagte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden eins, und er schwang sich weiter über die große warme Welt, durch Abenteuer und edle Taten, hin zu ihr – ja, und zusammen mit ihr, die er gewinnen wollte; er schlang seinen Arm um sie und trug sie im Fluge durch das Reich seiner Phantasie.
Und als sie ihm über die Schulter hinweg einen verstohlenen Blick zuwarf, sah sie etwas von alledem auf seinem Gesicht. Es war ein verklärtes Gesicht mit großen, leuchtenden Augen, die durch den Zauber der Töne und hinter den klopfenden Pulsschlag des Lebens in die mächtigen Phantome des Geistes sahen. Sie erschrak. Der derbe, linkische Bursche war verschwunden. Die schlechte Haltung, die zerschrammten Hände und das sonnenverbrannte Gesicht waren noch da, aber sie glichen einem Gefängnisgitter, hinter dem eine große Seele sprachlos starrte, weil die Lippen unfähig waren, ihr Ausdruck zu verleihen. Sie sah das alles nur einen flüchtigen Augenblick; dann sah sie wieder den linkischen Burschen und lachte über ihre eigene Einbildung. Aber den Eindruck dieses flüchtigen Bildes konnte sie nicht abschütteln, und als der Zeitpunkt kam, da er sich, stolpernd und unsicher, verabschiedete, lieh sie ihm den Band Swinburne, in dem er geblättert hatte, und einen Band Browning – sie hörte gerade Vorlesungen über Browning. Wie er, errötend und seinen Dank stammelnd, dastand, war er ein richtiger Knabe, und eine Woge von fast mütterlichem Mitleid durchfuhr sie. Sie dachte weder an den linkischen Burschen, noch an die gefangene Seele oder den Mann, der sie mit all seiner Männlichkeit angestarrt, der sie entzückt und doch abgeschreckt hatte. Sie sah nur einen großen Knaben, der ihre Hand mit einer Hand drückte, so hart von Arbeit, dass sie sich wie ein Reibeisen anfühlte und ihr die Haut kratzte, einen großen Knaben, der stockend und abgedroschen sagte:
»Die größte Stunde meines Lebens. Wissen Sie, ich bin so was nicht gewohnt …« Er sah sich hilflos um. »Leute und Häuser wie dies. Das ist mir alles neu, und es gefällt mir.«
»Dann besuchen Sie uns hoffentlich wieder«, sagte sie, als er ihren Brüdern gute Nacht sagte.
Er setzte die Mütze auf, stürzte verzweifelt zur Tür hinaus und war verschwunden.
»Nun, wie findest du ihn?« fragte Arthur.
»Er ist äußerst interessant – wie ein frischer Luftzug«, antwortete sie. »Wie alt ist er?«
»Zwanzig – fast einundzwanzig. Ich fragte ihn heute Nachmittag. Ich hätte ihn nicht für so jung gehalten.«
Und ich bin drei Jahre älter, dachte sie, während sie ihren Brüdern den Gutenachtkuss gab.
Während Martin Eden die Treppe hinunterging, fuhr seine Hand in die Rocktasche. Sie kam mit einem Stück braunem Reispapier und einem bisschen mexikanischen Tabak heraus, und er rollte sich gewandt eine Zigarette. Er zog den ersten Zug tief in die Lunge ein und blies ihn langsam aus. »Bei Gott!« sagte er laut, mit Ehrfurcht und Erstaunen in der Stimme. »Bei Gott!« wiederholte er. Und er murmelte noch einmal: »Bei Gott!« Dann hob er die Hand zum Kragen, riss ihn ab und stopfte ihn in die Tasche. Ein kalter Staubregen fiel, aber er entblößte den Kopf und knöpfte sich die Weste auf, während er mit einer herrlichen Sorglosigkeit durch die Straßen schlenderte. Er bemerkte kaum, dass es regnete. Er befand sich in Verzückung, träumte hohe Träume und durchlebte in Gedanken noch einmal das soeben Erlebte.
Endlich hatte er das Weib getroffen – das Weib, aus dem er sich bisher so wenig gemacht hatte, weil es ihm nicht gegeben war, an Weiber zu denken, wenn er auch davon geträumt hatte, ihnen einmal in der Zukunft zu begegnen. Er hatte neben ihr bei Tische gesessen. Er hatte ihre Hand in der seinen gefühlt, hatte ihr in die Augen geblickt und den Schimmer einer schönen Seele gesehen – die doch nicht schöner war als die Augen, aus denen sie leuchtete, oder der Körper, der ihr Form verlieh. Er dachte nicht an ihren Körper als solchen, was neu für ihn war, denn bei den Frauen, die er bisher gekannt, hatte er an nichts anderes gedacht. Aber mit ihr war es ganz anders. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Körper den Krankheiten und Schwächen des Fleisches unterworfen war. Ihr Körper war eher wie ein Gewand ihres Geistes. Er war eine Ausstrahlung ihres Geistes, eine reine, schöne Kristallisierung des Göttlichen in ihrem Wesen. Dies Gefühl des Göttlichen erschreckte ihn. Es riss ihn aus seinen Träumen und brachte ihn zu ernstem Nachdenken. Nie zuvor hatte er auch nur in Gedanken einen Hauch des Göttlichen empfunden, nie hatte er an das Göttliche geglaubt. Er war stets Freidenker gewesen und hatte in aller Gutmütigkeit über die »Himmelslotsen« und ihr Gerede von der Unsterblichkeit der Seele gespottet. Ein Leben nach dem Tode hatte er geleugnet; es gab nur den Augenblick, das Jetzt, und dann ewige Finsternis. Was er aber in ihren Augen gesehen hatte, war die Seele – die unsterbliche Seele, die nie sterben konnte. Kein Mann, den er bisher gekannt hatte, und keine Frau hatten ihm je eine Botschaft von der Unsterblichkeit gebracht. Sie aber hatte es getan. Sie hatte sie ihm zugeflüstert im ersten Augenblick, als sie ihn angeschaut. Während er durch die Straßen schritt, stand ihr Gesicht lebhaft vor ihm, blass und ernst, süß und voller Gefühl, mit einem Lächeln, so mitleidsvoll und sanft, wie nur die seligen Geister lächeln können, und so rein, wie er es nie für möglich gehalten. Ihre Reinheit traf ihn wie ein Schlag. Sie erschreckte ihn. Er hatte Gutes und Böses gekannt, aber an Reinheit als Wesensausdruck hatte er nie gedacht. Und jetzt hatte er bei ihr eine Reinheit gesehen, die der höchste Grad von Güte und Unschuld war, und deren Summe das ewige Leben ausmachte.
Und sofort spornte sein Ehrgeiz ihn an, nach diesem ewigen Leben zu greifen. Er war nicht einmal würdig, ihr das Schuhband zu lösen – das wusste er; es war ein Wunder und ein phantastisches Spiel des Schicksals, das ihm an diesem Abend ermöglicht hatte, sie zu sehen, mit ihr zusammen zu sein und zu sprechen. Es war Zufall, nicht sein Verdienst. Er verdiente ein solches Glück nicht. Er war ganz religiös gestimmt. Er war bescheiden und demütig, von der Erkenntnis seiner eigenen Kleinheit und Unwürdigkeit erfüllt. Es war die Stimmung, die Sünder zum Beichtstuhl treibt. Er war von seiner Sünde überzeugt. Aber wie die Geringen und Demütigen, wenn sie Buße tun, einen strahlenden Schimmer ihrer eigenen künftigen Größe sehen, so sah auch er einen Schimmer dessen, was er durch ihren Besitz erreichen würde. Dieser Gedanke an ihren dereinstigen Besitz war jedoch dunkel und verschwommen und hatte nichts mit der Art Besitz zu tun, die er bisher gekannt hatte. Sein Ehrgeiz hob sich in wahnsinnige Höhen, und er sah, wie er gemeinsam mit ihr sich zu diesen Höhen emporkämpfte, seine Gedanken mit ihr teilte und sich mit ihr über schöne, edle Dinge freute. Es war ein Besitz der Seele, von dem er träumte, von aller irdischen Plumpheit gereinigt, eine geistige Kameradschaft, der seine Gedanken keine Form verleihen konnten. Er dachte überhaupt nicht. Das Gefühl trat an die Stelle des Denkens, und nie gekannte Stimmungen ließen ihn beben und zittern, bis er entzückt auf einem Meer von Gefühlen trieb, die, selbst erhaben und geläutert, ihn auf die höchsten Zinnen des Lebens führten.
Er schwankte wie ein Betrunkener und murmelte laut und begeistert: »Bei Gott! Bei Gott!«
An einer Straßenecke sah ihn ein Schutzmann misstrauisch an und bemerkte seinen rollenden Seemannsgang.
»Wo hast du dir den geholt?« fragte der Schutzmann. Da war Martin Eden auf die Erde zurückgekehrt. Sein Organismus war wie ein leichtflüssiger Stoff, der sofort alle Winkel und Ritzen füllen konnte. Der Anruf des Schutzmanns brachte ihn sofort zu sich, und er erfasste die Situation klar.
»Der ist nicht schlecht, was?« antwortete er lachend. »Ich wusste gar nicht, dass ich laut redete.«
»Du wirst bald anfangen zu singen«, meinte der Schutzmann.
»Nein, das tue ich nicht. Gib mir ein Streichholz, und dann fahre ich mit der nächsten Straßenbahn nach Haus.«
Er zündete sich seine Zigarette an, sagte gute Nacht und ging weiter. »Dem hab’ ich wohl einen Schrecken eingejagt«, murmelte er. »Der Blaue dachte, ich sei betrunken.« Er lächelte und dachte nach. »Das war ich wohl auch,« fügte er hinzu, »aber ich hätte nicht gedacht, dass man das von einem Frauengesicht werden könnte.«
Er stieg in eine Straßenbahn, die nach Berkeley ging. Sie war überfüllt mit jungen Burschen und Männern, die sangen und lärmten und hin und wieder ein Gebrüll ausstießen. Er betrachtete sie mit Interesse. Es waren Studenten. Sie besuchten dieselbe Universität wie Ruth, gehörten derselben sozialen Klasse an wie sie, kannten sie vielleicht, sahen sie jeden Tag, wenn sie Lust dazu hatten. Er wunderte sich, dass sie keine Lust dazu hatten, dass sie heute hinausfuhren, um sich zu belustigen, statt in einem ehrerbietigen, bewundernden Kreis um sie zu sitzen. Seine Gedanken gingen weiter. Er bemerkte einen jungen Mann mit zusammengekniffenen Augen und hängenden Lippen. Das ist ein Mistkerl, dachte er. An Bord eines Schiffes würde man ihn einen Schleicher, einen Waschlappen, ein Klatschweib genannt haben. Er, Martin Eden, war ein besserer Mann als dieser Bursche. Der Gedanke ermutigte ihn. Es war, als ob er ihn ihr näherbrachte. Er begann sich mit den anderen Studenten zu vergleichen. Er war sich seines Muskelmechanismus bewusst und war überzeugt, dass er ihnen in körperlicher Beziehung überlegen war. Aber ihre Köpfe waren mit einem Wissen gefüllt, das sie befähigte, so zu sprechen, wie sie zu sprechen pflegte. Dieser Gedanke entmutigte ihn. Aber wozu hat man denn einen Kopf? fragte er sich heftig. Was die getan hatten, konnte er auch tun. Sie hatten das Leben in Büchern studiert, während er genug zu tun gehabt hatte, das Leben selbst zu studieren. Sein Kopf war genauso mit Wissen gefüllt wie die ihren, es war nur eine andere Art von Wissen. Wie viele von ihnen konnten wohl einen Taljenreepknoten machen, am Ruder stehen oder Wache gehen? Sein Leben lag vor ihm ausgebreitet in einer ganzen Reihe von Bildern, Bildern von Gefahr, Kühnheit, Mühsal und Fleiß. Er erinnerte sich seiner Fehlschläge bei seinen Versuchen, sich Wissen zu verschaffen. Soviel hatte er jedenfalls doch gewonnen: sie mussten später auch hinaus ins Leben und die Tretmühle durchmachen, wie er es getan. Schön! Während sie damit beschäftigt waren, konnte er die andere Seite des Lebens aus Büchern lernen.
Als der Wagen die schwach bebaute Zone durchfuhr, die Oakland und Berkeley trennte, hielt er Ausschau nach einem wohlbekannten zweistöckigen Gebäude, das an der Straßenfront das stolze Schild »Higginbothams Bar- und Kassageschäft« trug. An dieser Ecke stieg Martin Eden aus. Er starrte einen Augenblick auf das Schild. Es verkündete ihm mehr als die Buchstaben selbst. Es war gerade, als ob er hinter diesen Buchstaben eine kleinliche, egoistische und tückisch berechnende Persönlichkeit sähe. Bernard Higginbotham war mit seiner Schwester verheiratet, und er kannte ihn gut. Er öffnete die Haustür mit einem Drücker und stieg die Treppe hinauf zum zweiten Stock. Hier wohnte sein Schwager. Das Geschäft befand sich unten. Ein Duft von welkem Gemüse hing in der Luft. Auf dem dunklen Vorplatz stolperte er über einen Spielzeugwagen, den eines von seinen zahlreichen Neffen oder Nichten hatte stehenlassen, und fiel mit einem Krach, der im ganzen Hause widerhallte, gegen eine Tür. »Der Knicker!« dachte er. »Er ist zu geizig, um für zwei Cent Gas zu brennen. Lieber kann sich sein Pensionär den Hals brechen.«
Schließlich fand er den Türgriff und betrat ein erleuchtetes Zimmer, in dem seine Schwester und Bernard Higginbotham saßen. Sie war dabei, ein paar alte Hosen ihres Mannes zu flicken, und er rekelte seinen mageren Körper auf einem Stuhl, während seine Füße in ganz ausgetretenen Filzpantoffeln von einem zweiten Stuhl herunterbaumelten. Er blickte mit einem Paar dunkler, unzuverlässiger, stechender Augen über den Rand seiner Zeitung hinweg. Martin Eden konnte ihn nie ansehen, ohne sich von einer Art Widerwillen gepackt zu fühlen. Was seine Schwester an diesem Manne sah, ging über seinen Verstand. Auf ihn wirkte er stets wie ein giftiges Gewürm, und er fühlte immer die Versuchung, ihn unter seinem Absatz zu zertreten. »Eines schönen Tages zerschlage ich ihm doch die Fratze«, sagte er oft bei sich, um sich darüber zu trösten, dass er sich die Existenz dieses Mannes gefallen lassen musste. Die wieselartigen, grausamen Augen sahen ihn gereizt an.
»Na?« fragte Martin. »Heraus damit!«
»Ich hab’ erst vorige Woche die Tür streichen lassen,« sagte Bernard Higginbotham in halb jammerndem, halb gebieterischem Ton, »und du weißt, was Gewerkschaftslöhne sind. Du könntest gerne etwas vorsichtiger sein.«