Jack London: Wolfsblut - Jack London - E-Book

Jack London: Wolfsblut E-Book

Jack London

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Beschreibung

.In "Wolfsblut" erzählt Jack London die packende Geschichte eines Wolfhundes, der zwischen zwei Welten aufwächst. Geboren als Sohn einer Wölfin, die sich einst mit einem Schlittenhund paarte, lernt er früh die gnadenlosen Gesetze der Natur kennen: Fressen und gefressen werden, kämpfen und fliehen, stark sein oder untergehen. Nach einer Begegnung mit Indianern wird Wolfsblut zum Schlittenhund ausgebildet. Als sein Besitzer ihn an einen Hundekampf-Veranstalter verkauft, scheint sein Schicksal besiegelt – bis ein junger Ingenieur ihn rettet und ihm zum ersten Mal mit Güte begegnet. Zwischen seiner wilden Wolfsnatur und der Treue eines Hundes muss Wolfsblut seinen eigenen Weg finden. Eine bewegende Geschichte über das Band zwischen Mensch und Tier, über die Macht der Zuneigung und die Frage, ob Liebe stärker sein kann als die Gewalt, die ein Lebewesen geprägt hat. Jack London erzählt sie aus der Perspektive des Wolfshundes – intensiv, einfühlsam und mit tiefem Verständnis für beide Welten.

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Jack London

Wolfsblut

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

ISBN: 978-3-68931-119-3

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1. Kapitel. Auf der Fährte nach Fleisch

2. Kapitel. Die Wölfin

3. Kapitel. Heulender Hunger

Zweiter Teil

1. Kapitel. Kampf mit den Zähnen

2. Kapitel. Das Lager

3. Kapitel. Das graue Junge

4. Kapitel. Die Wand der Außenwelt

5. Kapitel. Das Recht auf Fleisch

Dritter Teil

1. Kapitel. Die Feuermacher

2. Kapitel. Die Knechtschaft

3. Kapitel. Der Ausgestoßene

4. Kapitel. Die Fahrt der Götter

5. Kapitel. Der Bund mit dem Menschen

6. Kapitel. Die Hungersnot

Vierter Teil

1. Kapitel. Der Feind seiner Gattung

2. Kapitel. Der tolle Gott

3. Kapitel. Das Regiment des Hasses

4. Kapitel. Im Rachen des Todes

5. Kapitel. Unzähmbar

6. Kapitel. Der Gebieter

Fünfter Teil

1. Kapitel. Die lange Fahrt

2. Kapitel. Das Südland

3. Kapitel. Des Herrn Besitztum

4. Kapitel. Die Stimme des Blutes

5. Kapitel. Der schlafende Wolf

Cover

Table of Contents

Text

Erster Teil

1. Kapitel. Auf der Fährte nach Fleisch

Dunkler Tannenwald dräute finster zu beiden Seiten des gefrorenen Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift, so dass sie aussahen, als drängten sie sich unheimlich düster in dem schwindenden Tageslicht aneinander. Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, dass die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien. Vielmehr lag es wie ein Lachen darüber, ein Lachen, schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Die unerbittliche, unerforschliche Weisheit des Ewigen lachte da über die Nutzlosigkeit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.

Und doch war Leben in dem Lande, trotziges Leben noch dazu! Denn den gefrorenen Wasserlauf hinunter zog mühsam eine Reihe wolfsähnlicher Hunde. Ihr dichter Pelz war dick mit Reif bedeckt; ihr Atem fror in der Luft so wie er in dichten Dampfwolken aus ihrem Maule emporstieg und hängte sich als Eiskristalle an die Haare ihres Pelzes. Sie gingen in ledernen Riemen an einen Schlitten gespannt, der hinten nachschleifte. Dieser Schlitten hatte keine Kufen. Er war aus dicker Birkenrinde gefertigt und ruhte mit dem ganzen Boden auf dem Schnee. Das vordere Ende war aufwärts gebogen, um den weichen Schnee, der wie Wellenschaum emporstäubte, aus der Bahn zu schieben. Auf dem Schlitten stand ein langer, schmaler, viereckiger Kasten und noch andere Dinge, wie wollene Decken, ein Beil, ein Kaffeetopf und eine Bratpfanne waren darauf festgeschnallt, doch den größten Raum nahm der lange, schmale, viereckige Kasten ein.

Vor den Hunden wanderte ein Mann auf breiten Schneeschuhen und hinter dem Schlitten ein zweiter. Auf dem Schlitten lag in dem Kasten ein dritter, dessen Mühe und Arbeit vorüber war, ein Mann, den die Kälte der Wildnis niedergeworfen und besiegt hatte, so dass er sich nicht mehr rühren, noch regen konnte; denn Bewegung liebt sie nicht. Das Leben ist für sie eine Beleidigung, denn das Leben ist Bewegung, sie aber strebt danach, alle Bewegungen aufhören zu machen. So lässt sie das Wasser gefrieren, um zu verhindern, dass es ins Meer fließe, so treibt sie den Saft aus den Bäumen, bis sie ins innerste Herz hinein erstarren; und am grausamsten und schrecklichsten verfolgt sie den Menschen und zwingt ihn zur Unterwerfung, ihn, das ruheloseste aller Wesen, das in steter Empörung gegen den Spruch ist, dass am Ende alle Bewegung aufhören soll.

Vor und hinter dem Schlitten wanderten jedoch unablässig und unerschrocken die beiden Männer, die noch lebendig waren. Ihr Körper war in dicken Pelz und weichgegerbtes Leder gehüllt. Ihre Augenwimpern, Wangen und Lippen waren so vollständig mit den Eiskristallen ihres gefrorenen Atems bedeckt, dass die Gesichtszüge unkenntlich waren, was ihnen das Aussehen von gespenstischen Masken gab, von Leichenträgern aus einer spukhaften Welt beim Leichenbegängnis eines Gespenstes. Trotzdem aber waren es Menschen, winzige Abenteurer, die durch das Land der Öde, des Hohnes und Schweigens zogen und kampfbereit sich gegen eine Welt stellten, die so fern, so fremd und ohne Leben war, wie die Abgründe im Weltenraum.

Sie wanderten dahin ohne zu sprechen, denn sie mussten den Atem für die Arbeit des Leibes sparen. Ringsumher herrschte lastendes Schweigen, das ihre Seele bedrückte, wie die Wassermassen den Körper des Tauchers auf dem Meeresgrunde. Es presste sie mit dem Gewichte der Unermesslichkeit, der unentrinnbaren Notwendigkeit. Es drängte sie in die tiefsten Winkel ihrer Seele zurück und quetschte aus ihnen, wie den Saft aus der Traube, alles falsche Streben, alle unwahre Begeisterung, alle übertriebene Wertschätzung irdischer Dinge heraus, bis sie sich klein und unbedeutend vorkamen wie Sonnenstäubchen, die mit wenig Klugheit und geringer Weisheit im Fangballspiel der großen, blinden Naturkräfte sich hin und herbewegen.

Eine Stunde verstrich und dann noch eine. Das bleiche Licht des kurzen, sonnenlosen Tages fing an zu erlöschen, als ein ferner, schwacher Laut gleichsam in die Luft emporstieg. Rasch glitt er einige Töne hinauf, bis er zitternd auf der höchsten Note verweilte und dann dahinstarb. Man hätte ihn für den klagenden Ruf einer verlorenen Seele halten können, wenn nicht aller Traurigkeit eine gewisse hungrige, gierige Wildheit beigemischt gewesen wäre. Der Vordermann drehte den Kopf herum, bis seine Augen denen des Gefährten begegneten, dann nickten sie einander verständnisvoll über dem schmalen, länglichen Kasten zu.

Ein zweiter Ruf erklang, der schrill wie eine spitze Nadel durch das Schweigen fuhr. Beide Männer erkannten, dass die Richtung, aus der er ertönte, die Schneewüste war, die sie soeben durchkreuzt hatten. Ein dritter Schrei – wie eine Antwort aus derselben Richtung, aber links von dem zweiten Ruf.

»Sie sind hinter uns her, Bill,« sagte der Vordermann.

Die Stimme klang heiser und geisterhaft; der Mann hatte scheinbar mit Anstrengung gesprochen.

»Das Fleisch ist knapp,« antwortete sein Gefährte. »Ich habe seit Tagen nicht die Spur von einem Kaninchen gesehen.«

Weiter sagten sie nichts, doch lauschten sie aufmerksam auf den Jagdschrei der Verfolger, der dauernd hinter ihnen her ertönte.

Beim Einbruch der Dunkelheit lenkten sie die Hunde in ein Tannengebüsch am Rande des Wasserlaufs und schlugen das Lager auf. Der Sarg neben dem Feuer diente als Sitz und Tisch. Die wolfsähnlichen Hunde drängten sich hinter dem Feuer zusammen, knurrten und bissen sich, zeigten jedoch keine Lust, sich ins Dunkle zu wagen.

»Mir scheint, Heinrich, sie bleiben heute merkwürdig dicht beim Lager,« bemerkte Bill.

Heinrich, der am Feuer hockte und den Kaffeetopf mit einem Stück Eis aufstellte, nickte. Er sprach auch nicht eher, als bis er seinen Platz auf dem Sarg eingenommen und zu essen angefangen hatte.

»Sie wissen, wo ihr Fell am sichersten ist,« versetzte er. »Sie fressen auch lieber, als dass sie sich fressen lassen. Es sind ganz kluge Hunde.«

Bill schüttelte den Kopf. »Oh, das weiß ich doch nicht.«

Sein Kamerad blickte ihn verwundert an. »Zum ersten Mal höre ich dich etwas gegen ihre Klugheit sagen.«

»Du, Heinrich,« entgegnete der andere, indem er langsam an den Bohnen kaute. »Hast du vielleicht bemerkt, was für einen Spektakel die Hunde machten, als ich sie fütterte?«

»Sie lärmten allerdings mehr als gewöhnlich,« bestätigte Heinrich.

»Wie viel Hunde haben wir, Heinrich?«

»Sechs.«

»Schön.«… Bill hielt einen Augenblick inne, um seinen Worten größeren Nachdruck zu geben. »Wie du eben sagtest, Heinrich, haben wir sechs Hunde. Ich nahm auch sechs Stück Fisch aus dem Sack. Ich gab jedem Hund einen Fisch, und hatte doch einen zu wenig, Heinrich.«

»Du hast falsch gezählt.«

»Wir haben sechs Hunde,« wiederholte der andere mit vollkommener Seelenruhe. »Ich nahm auch sechs Stück Fisch heraus. Einohr bekam aber keinen. Ich ging hernach an den Sack und brachte ihm seinen.«

»Wir haben aber nur sechs Hunde,« behauptete Heinrich.

»Du, Heinrich,« fuhr Bill fort, »ich will nicht sagen, dass es alles Hunde waren, aber sieben haben Fisch bekommen.«

Heinrich machte eine Pause im Essen, blickte über das Feuer hinweg und zählte die Hunde.

»Es sind jetzt nur sechs,« sagte er.

»Ich sah den andern über den Schnee weglaufen,« beharrte Bill mit kühler Bestimmtheit, »und ich zählte sieben.«

Heinrich blickte ihn mitleidig an. »Ich werd’ mich mächtig freuen, wenn die Fahrt erst vorüber ist.«

»Wie meinst du das?« fragte Bill.

»Ich meine, dass unsere Fracht hier dir auf die Nerven fällt und du anfängst, Gespenster zu sehen.«

»Daran hab’ ich auch gedacht,« antwortete Bill ernsthaft. »Drum, als ich das so quer über den Schnee laufen sah, untersuchte ich denselben und sah Spuren darin. Dann zählte ich die Hunde, und es waren und blieben sechs. Die Spur ist noch im Schnee. Willst du sie sehen? Ich kann sie dir zeigen.«

Heinrich erwiderte nichts, sondern kaute schweigend weiter, bis er den Rest der Mahlzeit mit einer Tasse Kaffee hinuntergespült hatte. Dann wischte er sich mit dem Rücken der Hand den Mund ab und sagte: »Du glaubst also, es war –«

Eia langgezogener, furchtbar trauriger Ton, der irgendwo aus der Dunkelheit hervorkam, unterbrach seine Rede. Er hielt inne, um zu lauschen. Dann schloss er den Satz mit einer Handbewegung nach dem Geheul hin, – »einer von denen?«

Bill nickte. »Ich möchte hunderttausendmal lieber das, als was andres glauben, und du hast ja selbst den Lärm gehört, den die Hunde machten.«

Ein Geheul nach dem andern, wobei eines immer wie die Antwort auf das andere klang, verwandelte die Stille ringsum in den lärmenden Tumult eines Tollhauses. Von allen Seiten kamen die Töne, und die Hunde drängten sich angstvoll aneinander und so dicht um das Feuer herum, dass die Hitze ihnen den Pelz versengte.

Bill warf mehr Holz auf die Glut, bevor er sich eine Pfeife anzündete.

»Ich denke, du bist ein bisschen melancholisch gestimmt,« bemerkte Heinrich.

»Du, Heinrich…« Er sog nachdenklich eine Weile an der Pfeife, bevor er fortfuhr: »ich dachte gerade daran, wie viel hunderttausendmal glücklicher doch der da dran ist, als wir, du und ich, es je sein werden.«

Dabei deutete er mit dem Daumen abwärts auf die Kiste, auf der sie saßen.

»Wenn wir, Heinrich, du oder ich, sterben, können wir glücklich sein, so viel Steine auf unsere Kadaver zu bekommen, dass die Hunde davon abgehalten werden.«

»Aber wir haben auch keine Verwandten und kein Geld und all das, wie der da,« entgegnete Heinrich. »Eine lange Reise als Leiche ist etwas, was wir uns nicht leisten können.«

»Was mich wundert, Heinrich, ist, was so ‘n Mensch wie der da, der im eigenen Lande ein vornehmer Herr war und sich um Essen und Trinken und ums Nachtquartier nie hat zu sorgen brauchen, – was so einer hierher in diesen gottverlassenen Winkel kommt, das kann und kann ich nicht recht einsehen.«

»Er hätte ein hohes Alter erreichen können, wenn er zu Haus geblieben wäre,« stimmte Heinrich bei.

Bill öffnete den Mund, um zu sprechen, besann sich jedoch eines andern. Er deutete stattdessen in das Dunkel hinein, das wie eine Mauer sie auf allen Seiten umgab. Es waren in der dichten Finsternis weder Formen, noch Gestalten zu erblicken, nur ein Augenpaar konnte man wie glühende Kohlen darin leuchten sehen. Heinrich deutete mit einer Kopfbewegung nach einem zweiten und einem dritten Augenpaar. Ein Kreis glühender Augen schien sich um das Lager zu ziehen. Hin und wieder bewegten sich die glühenden Punkte, verschwanden, um einen Augenblick später wiederaufzutauchen.

Die Ruhelosigkeit der Hunde hatte zugenommen, sie rannten in einem Anfall plötzlicher Angst nach der Innenseite des Feuers und drängten sich an die Männer heran. Bei der wilden Flucht war einer dicht am Feuer zu Falle gekommen, und während der Geruch seines versengten Pelzes die Luft erfüllte, winselte er vor Schmerz und Angst. Unterdessen hatte sich der Kreis glühender Augen unruhig hin- und herbewegt und einen Augenblick sogar ein wenig zurückgezogen, aber wieder kehrten die leuchtenden Punkte an den früheren Platz zurück, als die Hunde ruhiger wurden.

»Heinrich, es ist ein großes Unglück, dass wir keine Patronen mehr haben.«

Bill hatte seine Pfeife ausgeraucht und half dem Gefährten, auf die Tannenzweige, die sie noch vor dem Abendessen auf den Schnee gelegt hatten, die wollenen Decken und Pelze zum Nachtlager auszubreiten. Heinrich brummte zustimmend und machte sich daran, seine Mokassins aufzuschnallen.

»Wie viele Patronen haben wir noch, sagtest du?« fragte er.

»Drei,« war die Antwort. »Ich wünschte, es wären dreihundert. Dann wollte ich ihnen schon was zeigen, den verdammten Bestien.«

Bill schüttelte ärgerlich die Faust nach den glühenden Augen hin und fing ebenfalls an, sich die Mokassins auszuziehen, die er am Feuer aufstellte.

»Ich wünschte, diese Kälte möchte mal endlich nachlassen,« fuhr er fort. »Wir haben nun schon vierzehn Tage lang fünfzig Grad gehabt, und ich wollte, ich hätte mich nie auf diese Fahrt begeben, Heinrich. Mir gefällt sie nicht! Mir ist nicht wohl dabei, und wenn ich einmal beim Wünschen bin, so möcht’ ich, die Fahrt wäre erst vorbei, und du und ich, wir säßen am Feuer in Fort Mc. Gurry so um diese Zeit des Tages, und spielten Karten. Ja, das möcht’ ich!«

Heinrich brummte und kroch ins Bett. Beim Einduseln weckte ihn die Stimme des Gefährten.

»Hör mal, Heinrich – den andern, der dazukam und den Fisch bekam –, warum bissen den die Hunde nicht weg? Das beunruhigt mich.«

»Du plagst dich zu sehr, Bill,« kam schläfrig die Antwort. »Du warst doch vorher nie so. Nun hör ‘mal auf und schlafe, dann bist du morgen wieder frisch und munter. Du hast dir den Magen verdorben, und das quält dich!«

Die Männer schliefen unter derselben Decke schwer atmend nebeneinander. Das Feuer brannte herunter und der Kreis glühender Augen zog sich immer enger um das Lager. Die Hunde drängten sich angstvoll aneinander und knurrten jedes Mal drohend, wenn ein Augenpaar näher herankam. Einmal wurde der Lärm so toll, dass Bill erwachte. Er kroch vorsichtig aus dem Bett, um den Schlaf seines Kameraden nicht zu stören, und warf mehr Holz auf das Feuer. Als es aufflammte, zog sich der Augenkreis weiter zurück. Zufällig blickte er nach den sich zusammendrängenden Hunden hinüber, rieb sich die Augen und blickte schärfer hin. Darauf kroch er unter die Decken zurück.

»Du, Heinrich,« sagte er, »hör doch mal, Heinrich!«

Dieser, aus dem Schlafe erwachend, brummte: »Was ist denn los?«

»Nichts,« war die Antwort. »Nur dass es jetzt wieder sieben sind. Ich hab’ sie eben gezählt.«

Heinrich beantwortete die Kunde mit einem Brummen, das in ein Schnarchen überging, als der Schlaf ihn übermannte. – Am Morgen erwachte Heinrich zuerst und trieb den Gefährten zum Aufstehen an. Der Tag brach erst drei Stunden später an, obgleich es schon sechs Uhr war, und so ging Heinrich in der Dunkelheit umher und kochte das Frühstück, während Bill die Decken zusammenrollte und den Schlitten zur Abfahrt bereit machte.

»Hör mal, Heinrich,« fragte er plötzlich, »wie viel Hunde sagtest du, dass wir hätten?«

»Sechs.«

»Falsch!« verkündete Bill triumphierend.

»Wieder sieben?« fragte Heinrich.

»Nein, aber fünf, denn einer ist weg.«

»Höll und Teufel!« rief Heinrich wütend, ließ das Frühstück stehen und kam, um die Hunde zu zählen.

»Du hast recht,« erwiderte er. »Fett ist fort.«

»Und wie ein geölter Blitz ging es mit ihm, als er erst los war. Nichts war mehr von ihm zu sehen.«

»Wie sollte es auch?« erwiderte Heinrich. »Sie verschlangen ihn gewiss gleich lebendig. Ich wette, er bellte noch, als sie ihn hinunterschluckten, die verdammten Bestien.«

»Er war immer ein bisschen dämlich,« meinte Bill.

»Aber kein dummer Hund sollte so dämlich sein, dass er hinliefe, um Selbstmord zu begehen.« Dabei ließ Heinrich den Blick prüfend über die übrigen Hunde gleiten, als wollte er sich die Charakterzüge jedes Einzelnen vergegenwärtigen.

»Ich wette, das würde keiner von den andern tun.«

»Die könnte man nicht mal mit ‘nem Knüppel vom Feuer jagen,« stimmte Bill bei. »Ich dachte immer, dass es mit Fett nicht ganz richtig wäre.«

Und dies war die Grabrede auf einen toten Hund bei einer Nordlandfahrt – nicht dürftiger als die manches anderen Hundes und manches Mannes.

2. Kapitel. Die Wölfin

Als das Frühstück verzehrt und die wenigen Lagergerätschaften auf den Schlitten gepackt waren, drehten die Männer dem hellen Feuer den Rücken und verschwanden in der Dunkelheit. Sogleich begann wieder das fürchterlich traurige Geheul, das auf verschiedenen Seiten wie antwortend durch Kälte und Dunkelheit tönte. Der Männer Gespräch verstummte. Um neun ward es Tag. – Mittags erglänzte der Himmel im Süden in rosigem Lichte, aber die Rosenfarbe verblasste schnell. Das graue Tageslicht, das zurückblieb, dauerte bis drei Uhr, wo es ebenfalls erblich, und nun breitete die Polarnacht ihr dunkles Leichentuch über die einsame, schweigende Welt.

Als die Dunkelheit hereinbrach, erklang das Geheul rechts, links und im Rücken näher, ja, mehr als einmal so nahe, dass die müden Hunde vor Angst zitterten und in der Aufregung durcheinandergerieten.

Nach einem solchen kurzen Aufenthalt, als Bill und Heinrich das Gespann wieder in Ordnung gebracht hatten, sagte jener: »Ich wünschte, sie möchten ein anderes Wild irgendwo aufspüren und uns in Ruhe lassen.«

»Sie fallen einem wirklich grässlich auf die Nerven,« stimmte Heinrich bei. Weiter sagten sie nichts, bis das Nachtlager aufgeschlagen wurde.

Heinrich beugte sich über den Topf, in dem die Bohnen brodelten, und in den er kleine Stückchen Eis hineintat, als ein lauter Schlag und ein Ausruf von Bill sowie das scharfe Knurren und das Wehgeschrei eines Hundes ihn zusammenfahren ließ. Er richtete sich auf und sah noch, wie eine dunkle Gestalt über den Schnee lief und in der Finsternis verschwand. Dann erblickte er Bill, halb triumphierend, halb niedergeschlagen, unter den Hunden, wie er in der einen Hand einen dicken Knüttel, in der andern das Schwanzende eines gedörrten Lachses hielt.

»Die Hälfte hat die Bestie doch gekriegt,« verkündete er, »aber ich gab ihr dafür auch einen tüchtigen Klapps. Hörtest du sie schreien?«

»Wie sah sie denn aus?« fragte Heinrich.

»Sehen konnte ich nicht. Aber sie hatte vier Beine und ein Maul und Haare und sah wie ein Hund aus.«

»Es muss ein zahmer Wolf gewesen sein, glaub’ ich.«

»Verdammt zahm, was es auch ist, wenn es so zur Fütterung kommt und sein Stück Fisch holt.«

Als das Abendbrot vorüber war und die beiden Männer auf dem länglichen Kasten saßen und ihre Pfeife schmauchten, zog sich der Kreis glühender Augen wieder dichter zusammen.

»Ich wünschte, sie möchten auf ein Rudel Elche oder was Ähnliches stoßen und uns zufriedenlassen,« sagte Bill.

Heinrich brummte etwas, was nicht wie eine Zustimmung klang, und eine Viertelstunde saßen sie schweigend da, wobei Heinrich ins Feuer und Bill auf den Augenkreis starrte, der in der Dunkelheit dicht hinter dem Feuer flimmerte.

»Ich wünschte, wir könnten von hier in einer Tour nach Mc. Gurry fahren,« begann Bill wieder.

»So hör endlich einmal mit deinem Gewünsch und Gekrächz auf,« brach Heinrich ärgerlich los. »Ich sag’ dir, du hast dir den Magen verdorben. Schluck eine gute Dosis Natron runter, dann wird dir besser und deine Gesellschaft angenehmer werden.«

Am folgenden Morgen wurde Heinrich durch grässliche Flüche aus Bills Munde geweckt. Er stützte sich auf den Ellenbogen und sah den Gefährten neben dem flackernden Feuer mitten unter den Hunden mit wutverzerrtem Gesicht und scheltend erhobenen Armen stehen.

»Hallo!« rief Heinrich. »Was ist denn los?«

»Frosch ist weg!« war die Antwort.

»Nein!«

»Ich sage ja!«

Heinrich sprang aus den Decken und lief auf die Hunde zu. Er zählte sie und stimmte dann in die Verwünschungen ein, womit sein Kamerad den Mächten der Wildnis fluchte, die ihnen abermals einen Hund geraubt hatten.

»Frosch war der stärkste von allen,« bemerkte Bill zuletzt.

»Und er war auch nicht dämlich,« fügte Heinrich hinzu, und das war innerhalb zwei Tagen die zweite Grabrede.

Das Frühstück wurde in düsterer Stimmung eingenommen und die vier noch übrigen Hunde vor den Schlitten gespannt. Der Tag war eine Wiederholung der vorhergegangenen. Die Männer wanderten stumm über die gefrorene Erde, und das Schweigen wurde nur durch das Geheul ihrer Verfolger unterbrochen, die ihnen unsichtbar folgten. Mit dem Einbruch der Dunkelheit am frühen Nachmittag klang das Geheul wieder näher, wie die Verfolger ihrer Gewohnheit gemäß näherkamen; die Hunde wurden aufgeregt und furchtsam und verwickelten sich in ihrer Angst in den Strängen, was die beiden Männer noch mehr entmutigte.

»So, das wird die dummen Dinger doch wohl festhalten,« sagte Bill am Abend voller Befriedigung, als er sich von seiner Arbeit aufrichtete.

Heinrich ließ den Kochtopf stehen und kam, um zu sehen, was der andere gemacht hatte. Bill hatte nicht nur die Hunde angebunden, sondern dies nach der Art der Indianer mit Stöcken getan. Um den Hals eines jeden Hundes hatte er einen ledernen Riemen so dicht befestigt, dass der Hund ihn mit den Zähnen nicht fassen konnte, und an diesen Riemen hatte er einen vier oder fünf Fuß langen Stock gebunden, und das andere Ende des Stockes mit einem zweiten Lederriemen an einem Pfahl im Boden festgemacht. So konnte der Hund wegen des Stockes weder an den einen noch an den anderen Lederriemen gelangen, um ihn zu durchnagen. – Heinrich nickte zufrieden mit dem Kopfe.

»Es ist das einzige Mittel, um Einohr festzubinden,« sagte er. »Denn der beißt durch das Leder so glatt, als wenn es mit ‘nem Messer durchschnitten wäre, nur dass es ein bisschen länger dauert. – Morgen werden sie alle am Platze sein.«

»Darauf kannst du eine Wette eingehen,« bekräftigte Bill. »Wenn morgen einer fehlt, so will ich keinen Kaffee haben.«

»Die wissen ganz genau, dass wir kein Pulver und kein Blei mehr haben,« bemerkte Heinrich beim Schlafengehen, indem er auf den Kreis glühender Punkte deutete. »Wenn wir ihnen nur eins auf den Pelz brennen könnten, so würden sie mehr Respekt haben. Sie kommen jede Nacht näher heran. Sieh eine Weile nicht ins Feuer, sondern scharf darauf hin. Sahst du den da?«

Die Männer amüsierten sich eine Zeitlang damit, die Bewegungen der undeutlichen Gestalten am Rande des Feuerscheins zu beobachten. Wenn sie die Augen fest auf ein im Dunkel leuchtendes Augenpaar hefteten, so fing die Gestalt des Tieres an, allmählich Form anzunehmen, und sie konnten dann und wann die Formen sich bewegen sehen.

Ein Lärm unter den Hunden zog die Aufmerksamkeit der Männer an. Einohr ließ ein flehendes Gewinsel hören, strebte am Ende seines Stockes ins Dunkel hinein und ließ nur davon ab, um von Zeit zu Zeit mit den Zähnen wahnsinnige Angriffe auf den Stock zu machen.

»Sieh doch mal, Bill,« flüsterte Heinrich.

Im vollen Feuerschein schlich von der Seite verstohlen ein Tier herbei, das einem Hunde auffallend ähnlichsah. Es bewegte sich mit einer Mischung von Argwohn und Kühnheit, beobachtete vorsichtig die Männer, heftete aber seine volle Aufmerksamkeit auf die Hunde. Einohr strebte am äußersten Ende des Stockes nach dem Eindringling hin und winselte kläglich.

»Der Narr, der Einohr, scheint sich nicht sehr zu fürchten,« sagte Bill leise.

»Es ist eine Wölfin,« flüsterte Heinrich zurück, »und das erklärt die Flucht des Dicken und des Frosch. Sie ist der Köder für das Rudel. Sie lockt die Hunde heraus, und dann stürzen sie alle drauf und fressen sie auf.«

Das Feuer knisterte. Ein Stück Holz fiel mit lautem Geprassel heraus. Bei dem Geräusch sprang das fremde Tier ins Dunkel zurück.

»Heinrich, ich glaube –« fing Bill an.

»Was denn?«

»Ich glaube, das war die Bestie, der ich eins mit dem Knüttel versetzte.«

»Ohne Zweifel,« war Heinrichs Antwort.

»Und hier möchte ich mir die Bemerkung erlauben,« fuhr Bill fort, »dass die Vertrautheit des Tieres mit Lagerfeuern verdächtig und unanständig ist.«

»Es weiß ganz sicher davon mehr, als ein anständiger Wolf wissen sollte,« gab Heinrich zu. »Ein Wolf, der so viel weiß, dass er mit den Hunden zur Fütterung kommt, hat Erfahrungen gehabt.«

»Der alte Villan hatte mal einen Hund, der mit den Wölfen auf und davon lief,« fuhr Bill nachdenklich fort. »Ich muss es wissen, denn ich schoss ihn da drüben im Rudel am »Kleinen Stock« auf einer Elchweide, und der alte Villan weinte wie ein Kind. Er sagte, er hätte ihn drei Jahre lang nicht gesehen. Die ganze Zeit war der bei den Wölfen gewesen.«

»Ich glaube, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Wolf ist eigentlich ein Hund und hat manch liebes Stück Fisch aus der Hand eines Menschen gefressen.«

»Wenn ich könnte, wie ich wollte, so sollte der Wolf, der eigentlich ein Hund ist, am längsten gelebt haben,« erklärte Bill. »Wir können nicht noch mehr Hunde verlieren.«

»Aber du hast nur noch drei Patronen,« warf Heinrich ein.

»Ich will auch auf einen ganz sicheren Schuss warten,« war die Antwort.

Am Morgen schürte Heinrich das Feuer und kochte das Frühstück, während sein Kamerad noch schnarchte.

»Ich konnt’s nicht übers Herz bringen, dich zu wecken,« sagte Heinrich, als er ihn darauf zum Frühstück rief. »Du schliefst so schön.«

Bill fing schlaftrunken an zu essen. Er bemerkte, dass seine Tasse leer war, und streckte die Hand nach dem Kaffeetopf aus. Aber der Topf stand neben Heinrich und war zu weit entfernt.

»Hör mal, Heinrich,« sagte er vorwurfsvoll, »hast du nicht was vergessen?«

Heinrich blickte sich um und schüttelte den Kopf. Bill hielt ihm die leere Tasse hin.

»Du kriegst keinen Kaffee,« verkündete Heinrich.

»Ist er alle geworden?« fragte Bill besorgt.

»Das hoffe ich nicht.«

»Denkst du, ich werde mir den Magen dran verderben?«

»Ich hoffe auch das nicht.«

Die Röte des Ärgers stieg in Bills Gesicht empor. »Dann möchte ich allerhöflichst bitten, dass du dich erklärst,« sagte er.

»Treiber ist weg,« antwortete Heinrich.

Ohne Hast und mit der Miene eines Menschen, der sich in sein Geschick ergibt, drehte Bill den Kopf herum und zählte von seinem Platze aus die Hunde.

»Wie ist das geschehen?« fragte er ruhig.

Heinrich zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Wahrscheinlich hat Einohr ihn losgemacht. Selber hätt’ er’s nicht tun können, das ist sicher.«

»Der verfluchte Spitzbub!« Bill sprach ernst und langsam ohne ein Zeichen des Ärgers, der in ihm tobte. »Weil er sich nicht selbst losbeißen konnte, musste er’s mit Treiber tun.«

»Na, Treibers Müh und Arbeit ist jedenfalls vorbei. Wahrscheinlich ist er um diese Zeit schon verdaut und galoppiert im Bauche von zwanzig Wölfen im Lande umher,« war Heinrichs Grabrede auf diesen letzten verlorenen Hund. »Trink einen Schluck Kaffee, Bill.«

Aber Bill schüttelte den Kopf.

»So sei doch nicht närrisch,« nötigte Heinrich und hob den Topf in die Höhe.

Doch Bill schob die Tasse zur Seite. »Ich ließe mich eher hängen, als dass ich’s täte. Ich habe gesagt, ich wollte keinen Kaffee, wenn ein Hund fehlte, und ich will auch keinen.«

»Der Kaffee ist aber verdammt gut,« meinte Heinrich.

Aber Bill war eigensinnig und aß sein Frühstück trocken, indem er es nur mit den gemurmelten Flüchen über den Streich, den Einohr ihm gespielt hatte, hinunterspülte.

»Heut’ Abend bind’ ich sie aber weit voneinander an,« sagte Bill, als die Wanderung begann.

Sie waren wenig mehr als hundert Meter gegangen, als Heinrich, welcher der Vordermann war, sich bückte und etwas aufhob, an das er mit dem Schneeschuh gestoßen hatte. Es war so dunkel, dass er es nicht sehen konnte, aber er erkannte es am Gefühl. Er warf es rückwärts, wo es an dem Schlitten aufsprang und bis zu Bills Schneeschuhen hüpfte.

»Vielleicht kannst du’s noch brauchen,« sagte Heinrich.

Bill ließ einen Ausruf hören. Es war alles, was von Treiber übrig war, – der Stock, womit er angebunden gewesen war.

»Sie haben ihn mit Haut und Haar aufgefressen,« verkündete Bill. »Der Stock ist so kahl, wie ‘ne Pfeife. Sogar die Lederriemen an beiden Enden sind weg. Sie müssen verdammt hungrig sein; und ich sehe schon, sie werden uns auch noch kriegen, bevor die Fahrt vorbei ist.«

Heinrich lachte trotzig. »Ich bin zwar von Wölfen noch nie so sehr verfolgt worden, aber ich hab’ Schlimmeres im Leben durchgemacht. Es braucht mehr als so ‘ne Handvoll vertrackter Bestien, um dir und mir den Garaus zu machen, Bill, mein Sohn.«

»Das weiß ich doch nicht,« meinte Bill voll böser Ahnung.

»Schön, du wirst es wissen, wenn wir nach Mc Gurry kommen.«

»Ich glaube nicht recht daran,« beharrte Bill.

»Dein Magen ist nicht in Ordnung, und das quält dich,« belehrte Heinrich. »Dir fehlt eine tüchtige Dosis Chinin, und die werd’ ich dir verabfolgen, wenn wir nach Mc Gurry kommen.«

Bill brummte unwirsch zu dieser Diagnose und versank in sein früheres Schweigen. Der Tag verging wie die andern alle. Um neun Uhr wurde es hell, und um zwölf erwärmte die unsichtbare Sonne den südlichen Horizont, worauf das kalte Grau des Nachmittags einsetzte, das drei Stunden später in dunkle Nacht versank.

Gerade als die Sonne die machtlose Anstrengung zu scheinen machte, zog Bill die Büchse unter den Stricken des Schlittens heraus und sagte: »Geh nur ruhig weiter, Heinrich, ich will sehen, was ich tun kann.«

»Du tätest besser, beim Schlitten zu bleiben,« ermahnte ihn der Gefährte. »Du hast nur drei Patronen, und man weiß nie, was noch kommen kann.«

»Wer unkt nun?« versetzte Bill triumphierend.

Heinrich gab keine Antwort und wanderte allein weiter, indem er oft ängstliche Blicke in die graue Einöde warf, worin der Gefährte verschwunden war. Eine Stunde später traf er auf Bill, der die Biegungen, die der Schlitten machen musste, abgeschnitten hatte.

»Sie sind über eine weite Fläche verstreut,« meldete er. »Sie folgen uns und schauen zugleich nach Raub aus. Du siehst, sie haben uns sicher, nur dass sie wissen, sie müssen auf uns warten. Mittlerweile suchen sie alles Essbare auf, was ihnen in den Weg kommt.«

»Du meinst doch wohl nur, sie glauben uns sicher zu haben,« warf Heinrich ein.

Aber Bill hörte nicht auf ihn. »Ich habe einige gesehen. Sie sind fürchterlich mager. Seit Wochen, glaube ich, haben sie keinen Bissen gehabt außer Fett, Frosch und Treiber, und es sind ihrer so viele, dass das nicht weit gereicht hat. Ja, furchtbar mager sind sie. Die Rippen sehen wie ein Waschbrett aus, und der Bauch ist dicht unter dem Rückgrat. Sie sind verzweifelt, kann ich dir sagen, und werden noch toll werden, dann pass aber auf.«

Ein paar Minuten später ließ Heinrich, der nun hinter dem Schlitten ging, ein leises, warnendes Pfeifen hören. Bill wandte sich um und schaute, dann hielt er ruhig die Hunde an. Hinter ihnen trabte um die letzte Biegung des Weges und deutlich sichtbar auf der Bahn, die sie eben zurückgelegt hatten, schleichend eine Gestalt in dickem Pelze. Die Nase hielt das Tier dicht am Boden, und trabte mit eigentümlich leichten, gleitenden Schritten. Als die Männer stehen blieben, blieb es auch stehen, hob den Kopf, schaute sie fest an und sog durch die Nasenlöcher zuckend die Witterung ein.

»Das ist die Wölfin,« sagte Bill.

Die Hunde hatten sich im Schnee niedergelegt, und er ging an ihnen vorüber zu dem Gefährten. Zusammen betrachteten sie das seltsame Tier, das sie seit Tagen verfolgt und sie das halbe Gespann gekostet hatte.

Vorsichtig machte das Tier immer ein paar Schritte vorwärts, bis es auf etwa hundert Meter herangekommen war. Dann stand es mit erhobenem Kopfe neben einer Tannengruppe still und studierte mit Auge und Nase die beobachtenden Männer. Es blickte dieselben in seltsam gespannter Weise an wie ein Hund, aber ohne die Zuneigung eines solchen, vielmehr lag in dem Blick die Gier des Hungers, grausam wie seine Zähne und unbarmherzig wie die Kälte.

Es war für einen Wolf groß, seine hagere Gestalt zeigte die Umrisse eines Tieres, das zu den größten seiner Art zählte. »Es hat eine Schulterhöhe von gut zwei und einem halben Fuß,« bemerkte Heinrich, »und ich wette, es ist nicht weniger als fünf Fuß lang.«

»Und was für eine sonderbare Farbe für einen Wolf!« versetzte Bill. »Noch nie hab’ ich einen roten Wolf gesehen, und dieser sieht ganz zimtfarben aus.«

Nun war wohl das Tier nicht zimtfarben, denn die vorherrschende Farbe seines Felles war die des echten Wolfes, nämlich grau, dennoch lag darüber ein rötlicher Schimmer, der kam und ging und mehr einer Augentäuschung glich, denn bald sah dasselbe grau, entschieden grau aus, bald zeigte es jene seltsame Färbung, für die es keine rechte Bezeichnung gab.

»Es sieht wie ein großer Schlittenhund aus,« sagte Bill. »Ich würd’ mich gar nicht wundern, wenn es mit dem Schwanz wedelte. – Holla, du Hund,« rief er ihm zu. »Komm mal her, wie du auch heißen magst.«

»Es hat nicht ein bisschen Angst vor dir,« lachte Heinrich.

Bill drohte ihm mit der Hand und rief ihm laut zu, aber das Tier verriet keine Furcht. Die einzige Veränderung, die an ihm zu bemerken, war eine erhöhte Spannung. Es betrachtete die Männer mit der mitleidslosen Gier des Hungers. Sie waren Fleisch, und da es hungrig war, wäre es, wenn es das gewagt hätte, gern vorwärts gegangen und hätte sie gefressen.

»Hör mal, Heinrich,« sagte Bill, indem er unwillkürlich die Stimme senkte, »wir haben zwar nur noch drei Patronen, aber es ist ein sicherer Schuss. Ich könnte nicht fehlen. Es hat uns drei Hunde entführt, und dem sollte Einhalt getan werden. Was sagst du?«

Heinrich nickte zustimmend. Bill zog vorsichtig die Flinte heraus und hob sie empor. Allein bevor er sie bis zur Schulter brachte, sprang die Wölfin zur Seite und verschwand unter den Tannen.

»Das hätt’ ich wissen können,« schalt Bill laut, als er die Flinte an ihren Platz zurücklegte. »Natürlich versteht ein Wolf, der zu den Hunden zur Fütterung kommt, auch was von Feuerwaffen. – Ich sag’ dir’s jetzt gerade heraus, Heinrich, die Bestie ist an all unserm Unglück schuld. Wir hätten noch sechs statt der drei Hunde, wenn die nicht gewesen wäre. Die ist aber zu schlau, um offen geschossen zu werden, also werd’ ich mich in den Hinterhalt legen, und da werd’ ich ihr eins auf den Pelz brennen, so wahr ich Bill heiße.«

»Du musst dich nur nicht zu weit entfernen,« warnte der Gefährte. »Wenn das Rudel dich angreift, so helfen drei Patronen ebenso wenig wie drei Hilferufe in der Hölle. Die Tiere sind verdammt hungrig, und haben sie dich erst einmal umringt, dann bist du sicher verloren.«

Sie schlugen an jenem Abend das Lager frühzeitig auf. Drei Hunde konnten den Schlitten nicht mehr so schnell und so lange ziehen, als es sechs getan hatten, und sie zeigten deutlich, dass sie ermüdet waren. Auch die Männer gingen früh schlafen, nachdem Bill sich noch vorher überzeugt hatte, dass die Hunde so weit voneinander angebunden wären, dass sie sich nicht gegenseitig losbeißen könnten.

Allein die Wölfe waren dreister geworden, und mehr als einmal wurden die Männer aus dem Schlafe geweckt, wenn jene so nahekamen, dass die Hunde vor Angst und Schreck wild wurden. Dann war es notwendig, mehr Holz auf das Feuer zu werfen, um die frechen Angreifer in sicherer Entfernung zu halten.

»Ich hab’ die Matrosen von Haifischen erzählen hören, die ein Schiff verfolgten,« bemerkte Bill, als er, nachdem er das Feuer geschürt hatte, wieder unter die Decke kroch. »Diese Wölfe sind aber wie Haifische auf dem Lande. Sie verstehen ihr Geschäft besser als wir und folgen unserer Spur nicht zum Vergnügen. Sie kriegen uns; sie kriegen uns ganz sicher, Heinrich.«

»Sie haben dich schon halb und halb, wenn du so redest,« versetzte Heinrich ärgerlich. »Man ist schon halb besiegt, wenn man es eingesteht, und du bist halb gefressen, wenn du noch weiter so schwatzest.«

»Sie haben bessere Leute als dich und mich gekriegt,« antwortete Bill.

»Ach, hör auf mit deinem Unken! Das bekommt einer auf die Dauer satt.«

Heinrich drehte sich verdrießlich auf die Seite, wunderte sich jedoch, dass Bill nicht böse wurde. Das sah ihm nicht ähnlich, denn ein scharfes Wort kränkte ihn leicht. Heinrich dachte noch lange vor dem Einschlafen darüber nach, und sein letzter Gedanke war: ›Es lässt sich nicht leugnen, Bill ist fürchterlich trübselig gestimmt. Ich werd’ ihn morgen ein bisschen aufheitern müssen.‹

3. Kapitel. Heulender Hunger

Der Tag begann günstig. Kein Hund war in der Nacht verschwunden, und in besserer Stimmung begaben sich die Männer auf die Fahrt durch das Schweigen, die Dunkelheit und die Kälte. Bill schien die trüben Ahnungen der letzten Nacht vergessen zu haben und scherzte und spaßte sogar mit den Hunden, die um die Mittagszeit den Schlitten an einer schlechten Wegstelle umgeworfen hatten.

Die Verwirrung war fürchterlich. Der Schlitten war zwischen einem Baumstamm und einem ungeheuren Felsblock eingeklemmt und noch dazu um und umgekehrt. Die Männer waren gezwungen, die Hunde auszuspannen, und als sie sich über den Schlitten beugten, um ihn aufzurichten, bemerkte Heinrich, dass Einohr zur Seite schlich.

»Hierher, Einohr!« rief er ihm zu, indem er sich aufrichtete und nach dem Hund umwandte. Aber Einohr begann über den Schnee zu laufen, indem er die Stricke hinter sich herschleppte, denn auf der zurückgelegten Bahn stand die Wölfin und wartete auf ihn. Als er näherkam, wurde er plötzlich vorsichtig. Anstatt zu laufen, machte er kurze, zierliche Schritte und blieb dann stehen. Er betrachtete sie aufmerksam und misstrauisch, doch voller Verlangen. Sie schien ihm zuzulächeln, indem sie ihm die Zähne in mehr schmeichelnder als drohender Weise zeigte. Sie machte spielend ein paar Schritte auf ihn zu und blieb dann stehen. Einohr ging näher, immer noch auf der Hut, mit gespitzten Ohren, erhobenem Schwanz und den Kopf hoch in der Luft. Er machte den Versuch, sie zu beschnuppern, aber sie sprang scheu wie spielend rückwärts, und jedes Mal, wenn er sich näherte, wich sie zurück und lockte ihn so Schritt für Schritt aus der Sicherheit der menschlichen Gefährten. Einmal, als ob eine unbestimmte Warnung ihm durch den Kopf geschossen wäre, blickte er sich nach dem umgeworfenen Schlitten, den Gefährten und den beiden Männern um, die ihm fortwährend zuriefen. Allein was auch immer in seinem Geiste vorgehen mochte, es wurde durch die Wölfin zerstreut, die auf ihn zukam, ihn einen Augenblick beschnüffelte und dann wieder scheu vor ihm zurückwich, als er sich von neuem ihr näherte.

Mittlerweile hatte sich Bill der Büchse erinnert, die eingeklemmt unter dem umgeworfenen Schlitten lag, doch bis Heinrich ihm geholfen hatte, denselben aufzurichten, standen Einohr und die Wölfin dicht beisammen, und die Entfernung war für einen Schuss zu groß.

Zu spät erst sah Einohr seinen Fehler ein. Bevor die Männer sehen konnten, was vorging, hatte er sich umgedreht und begann auf sie zuzulaufen. Plötzlich sahen sie, wie ein Dutzend hagere, graue Wölfe über den Schnee springend sich im rechten Winkel der Bahn näherten und ihm den Rückzug abschnitten. Augenblicklich verschwand die Scheu und die spielerische Laune der Wölfin. Wild knurrend sprang sie auf Einohr los. Er parierte den Angriff mit der Schulter und versuchte, da ihm der gerade Rückweg zum Schlitten abgeschnitten war, im Bogen dahin zu gelangen. Allein immer mehr Wölfe erschienen und nahmen die Verfolgung auf, während die Wölfin nur wenige Schritte hinter ihm herlief.

»Wo willst du hin?« fragte Heinrich plötzlich und legte die Hand auf den Arm des Gefährten. Bill riss sich los. »Ich kann das nicht länger mit ansehen,« sagte er. »Sie sollen keinen von den Hunden mehr haben, wenn ich’s verhindern kann.«

Mit der Flinte in der Hand sprang er in das Gebüsch neben der Bahn. Seine Absicht war klar genug. Er wollte den Bogen, den Einohr beschrieb, noch vor dessen Verfolgern berühren, und er hoffte, mit der Büchse in der Hand und im hellen Licht des Tages würde es ihm möglich sein, den Wölfen Furcht einzujagen und den Hund zu retten.

»Höre, Bill,« rief ihm Heinrich nach, »sei vorsichtig. Wage dich nicht zu weit vor!«