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Ein Spion ist tot. Eine Legende ist geboren. Normalerweise behält das Meer seine Geheimnisse für sich. Doch dieses Mal nicht. Eine Leiche. Drei Kugeln. 007 treibt in den Gewässern von Marseille, getötet von unbekannter Hand. Es ist an der Zeit, dass ein neuer Agent an seine Stelle tritt. Zeit für eine neue Waffe im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Zeit für James Bond, sich seine Lizenz zum Töten zu verdienen. Dies ist die Geschichte der Geburt einer Legende in der brutalen Unterwelt der Côte d'Azur. Dieser zweite 007-Roman von Anthony Horowitz, voll aufregender Verfolgungsjagden, unwahrscheinlicher Helden, hinterhältiger Handlanger und glanzvoller Feste, ist ein Vergnügen für jeden Bond-Fan. Das explosive Prequel zu CASINO ROYALE.
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Seitenzahl: 398
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von
ANTHONY HOROWITZ
Ins Deutsche übertragen vonSTEPHANIE PANNEN
Die deutsche Ausgabe von JAMES BOND – EWIG UND EIN TAGwird herausgegeben von Cruss Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Übersetzung: Stephanie Pannen;verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild ; Satz: Rowan Rüster;Printausgabe gedruckt von CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – FOREVER AND A DAYPublished in the United Kingdom by Jonathan Cape in 2018
German translation copyright © 2019, by Cross Cult.
Copyright © Ian Fleming Publications Limited and the Ian Fleming Estate 2018The moral rights of the author have been asserted.Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.
Material from Russian Roulette, by Ian Fleming,Copyright © The Ian Fleming Estate 2018
Ian Fleming and the Ian Fleming logo are both trademarks owned by the Ian FlemingEstate, used under licence by Ian Fleming Publications Ltd.
JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC,used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reseved.
Print ISBN 978-3-86425-759-9 (Dezember 2019)E-Book ISBN 978-3-96658-000-7 (Dezember 2019)
WWW.CROSS-CULT.DE · WWW.IANFLEMING.COM · WWW.ANTHONYHOROWITZ.COM
1:Morden nach Zahlen
2:Erdbeermond
3:Der erste Tag
4:Treffen mit M
5:»Keine Bewegung …«
6:Madame 16
7:Russisches Roulette
8:Nicht so Joliette
9:Abrechnung
10:Feuerprobe
11:Shame Lady
12:Le Grand Banditisme
13:Liebe in warmen Gefilden
14:Geheimnisse und Lügen
15:Bis zum bitteren Ende
16:Selbstmördertüren
17:In Teufels Küche
18:Nummer vier
19:Genuss … oder Schmerz?
20:Schlechte Medizin
21:Die tiefblaue See
22:Tod bei Sonnenuntergang
Danksagungen
Ian Fleming
»Dann ist 007 also tot?«
»Ja, Sir. Ich befürchte, so ist es.«
M warf einen letzten flüchtigen Blick auf die Fotos, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen und die ihm von General André Anatonin, seinem Gegenstück beim SDECE, dem Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage, in Paris, geschickt worden waren. Die Fotos waren aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen, zeigten aber alle das gleiche düstere Bild. Ein toter Mann, der mit dem Gesicht nach unten im dunklen, funkelnden Wasser lag, seine Hände schlaff über den Kopf ausgestreckt, wie in einem letzten, sinnlosen Kapitulationsversuch. Das Blitzlicht der Kameras hatte sich im Wasser reflektiert und die Illusion von Lichtkugeln erzeugt, die auf der Oberfläche zu schweben schienen.
Schließlich hatte die Polizei ihn herausgezogen und ihn auf den Kai gelegt, sodass Nahaufnahmen von seinem Gesicht, seinen Händen und den drei Löchern in seinem Jackett gemacht werden konnten, wo die Kugeln in ihn eingedrungen waren. Er war sehr teuer gekleidet. M erinnerte sich daran, wie der Mann erst vor einem Monat vor ihm in diesem Büro gesessen und dabei genau diesen Anzug getragen hatte, angefertigt von einem Herrenschneider in der Nähe der Savile Row, zu dem er gerne ging. Der Anzug war in Form geblieben, dachte M. Es war der Mann, der dort lag, tropfnass und leblos, der die seine verloren hatte.
»Sind wir sicher, dass er es ist, Stabschef?« Der Beweis schien unbestreitbar, doch M stellte die Frage dennoch. Die Kamera konnte lügen. In seiner Welt tat sie es oft.
»Ich befürchte, so ist es, Sir. Er hatte keine Papiere bei sich – nicht weiter überraschend. Genauso wenig wie seine Waffe. Aber die Franzosen haben seine Fingerabdrücke mit dem Belinografen geschickt und es besteht kein Zweifel. Es ist 007.«
»Und die hier wurden in Marseille aufgenommen?«
»Ja, Sir. Im Hafenbecken von La Joliette.«
Bill Tanner stand M näher als irgendjemand sonst im Gebäude, auch wenn die Distanz zwischen ihnen undefinierbar war. Sie waren noch nie gemeinsam essen gegangen und hatten sich auch noch nie nach dem Privatleben des anderen erkundigt. M verachtete Small Talk ohnehin, aber es wäre keinem von beiden jemals eingefallen, etwas anderes zu diskutieren als aktuelle Einsätze und die Arbeit im Allgemeinen. Dennoch wusste Tanner – ein ehemaliger Colonel des Pionierkorps, der in die weniger formalisierte Welt des Geheimdiensts hineingezogen worden war – ganz genau, was im Kopf des älteren Mannes vor sich ging. Der Tod eines aktiven Agenten war bedauernswert und 007 hatte sich bei mehr als einer Gelegenheit als effektiv erwiesen. Wichtiger noch war es jedoch herauszufinden, was passiert war, und sofortige und bestenfalls dauerhafte Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dabei ging es nicht nur um Vergeltung. Der Geheimdienst musste demonstrieren, dass der Mord an einem seiner Agenten nicht weniger als eine Kriegshandlung darstellte.
Tatsächlich war er genau hier in diesem Raum bei M gewesen, als die Idee einer Doppelnullabteilung erstmals aufgekommen war. Die Ziffer war so nichtssagend und anonym wie möglich: Es handelte sich um buchstäblich gar nichts. Und doch bedeutete sie der Elitetruppe von Männern, die sie tragen und damit an vorderster Front des Krieges dieses Landes gegen seine vielen Feinde stehen würde, alles. Tanner erinnerte sich noch gut an die Reaktion von Sir Charles Massinger, dem Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, als ihm dieser Vorschlag zum ersten Mal unterbreitet worden war. Seine Lippen hatten sich in offensichtlichem Widerwillen verzogen.
»Meinen Sie das etwa ernst? Was Sie hier vorschlagen, kommt einer Lizenz zum Töten gleich.«
Es war die gleiche altmodische Denkweise, die die Bemühungen der Sondereinsatztruppe zu Kriegsbeginn behindert hatte. Zuerst hatte sich die RAF geweigert, Flugzeuge zum Transport ihrer Agenten bereitzustellen, da sie sich nicht die Hände an Churchills »Ministerium für unfeine Kriegsführung« schmutzig machen wollten. Und wie viele dieser Agenten fand man nun, nur fünf Jahre nach dem Sieg der Alliierten in Europa, immer noch in den Gängen und Büros des hohen grauen Gebäudes am Regent’s Park? Immer noch unfein. Und, egal was die Öffentlichkeit denken mochte, immer noch im Krieg.
Tanner hatte aufmerksam zugehört, während M dem Beamten den Punkt erklärt hatte, den dieser nicht verstand. Auch wenn es nicht so wirkte, waren die Feindseligkeiten 1945 nicht zu einem Ende gekommen. Es gab viele Parteien, die sich immer noch der totalen Vernichtung des Vereinigten Königreichs und allem, wofür es stand, verschworen hatten. Gegnerische Geheimdienste wie SMERSH in der Sowjetunion und das Komitee für besondere Aktivitäten der Volksbefreiungsarmee in China. Oder abtrünnige Elemente einschließlich einiger Nazis, die einfach nicht glauben wollten, dass es ihr kostbares Drittes Reich nicht ganz auf seine versprochenen tausend Jahre gebracht hatte. Man musste Feuer mit Feuer bekämpfen, was bedeutete, dass dringender Bedarf an Männern und Frauen bestand, die zu töten bereit waren, wenn auch nur in Notwehr. Der Tod war Teil der Arbeit. Und ob es einem gefiel oder nicht, es würde Zeiten geben, in denen der Service zuerst würde zuschlagen müssen, wenn ein staatlich unterstütztes Attentat die einzige Antwort auf eine ungewöhnliche Bedrohung war. M durften nicht die Hände gebunden sein. Er war derjenige, der die Entscheidungen traf, und er musste wissen, dass er straffrei handeln konnte. Die Lizenz galt genauso sehr für ihn wie für die Leute unter seinem Kommando.
Die Doppelnullabteilung war absichtlich klein gehalten worden. Tatsächlich bestand sie nach diesem kürzlichen Verlust nur noch aus zwei Männern – 008 und 0011. M hatte die Vorstellung einer Reihenfolge – 001, 002, 003 und so weiter – stets abgelehnt. Muster in jedweder Form waren der Feind der Spionageabwehr. Tanner fragte sich, wie schnell 007 ersetzt werden würde.
»Was genau ist passiert?« M griff nach seiner Pfeife, die neben dem aus einer dreißig Zentimeter großen Muschel bestehenden Aschenbecher lag, der niemals seinen Schreibtisch verließ.
»Wir haben immer noch nicht alle Einzelheiten, Sir«, erklärte Tanner. »Wie Sie wissen, haben wir 007 vor etwas über drei Wochen nach Südfrankreich geschickt. Er sollte die Aktivitäten der korsischen Unterwelt dort untersuchen. Oder eher den Mangel an Aktivität. Jemand hat einen starken Rückgang der Drogenlieferungen aus Marseille bemerkt, was natürlich zu der Annahme geführt hat, dass sie stattdessen mit etwas anderem beschäftigt sein müssen.
Diese Korsen sind laute und unangenehme Zeitgenossen, wirklich nicht mehr als moderne Gangster mit schicken Namen und einem Hang zur Gewalt – Joseph Renucci, Jean-Paul Scipio, die Guerini-Brüder … um nur ein paar zu nennen. Bis jetzt hat ihnen die Disziplin der Unione Sicilia oder selbst der Unione Corse gefehlt, doch genau das ist der Knackpunkt. Dieses Schweigen ist besorgniserregend. Wenn es ihnen gelungen ist, sich zu organisieren, könnte sie das nicht nur für den unmittelbaren Bereich, sondern für ganz Europa – und damit letztendlich auch für uns – zu einer Gefahr machen.«
»Ja, ja, ja.« M hatte all diese Informationen in dem riesigen Aktenschrank seines Gedächtnisses verwahrt und hatte diese Erinnerungsauffrischung nicht nötig.
»007 ermittelte dort verdeckt. Wir gaben ihm einen neuen Namen, einen neuen Ausweis und eine Adresse in Nizza. Er war ein Akademiker, der für das University College an einer Geschichte der Gewerkschaften schrieb. Das erlaubte ihm, die richtigen Fragen zu stellen, ohne zu viel Aufsehen zu erregen. Zumindest war das der Plan. Ein Teil des Problems ist, dass die Polizei – und das schließt das SDECE mit ein – von Spitzeln nur so wimmelt. Wir dachten, dass er auf sich allein gestellt bessere Chancen hätte.«
»Hat er denn etwas finden können? Bevor er getötet wurde?«
»Ja, Sir.« Der Stabschef räusperte sich. »Wie es scheint, war eine Frau beteiligt.«
»Ganz was Neues«, brummte M in seinen Pfeifenkopf.
»Es ist nicht ganz so, wie Sie denken, Sir. 007 hat sie in seiner, wie sich herausstellen sollte, letzten Funkübertragung erwähnt. Er bezeichnete sie als Madame 16.«
»Sechzehn? Die Nummer?«
»Ja, Sir. Es handelt sich natürlich nicht um ihren richtigen Namen. Sie kennen sie als Joanne Brochet – französischer Vater, englische Mutter. Sie wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Paris geboren und zog dann nach London, wo sie aufwuchs. Sie verbrachte drei Jahre in Bletchley Park und arbeitete in der Katalogisierungsbaracke, bevor sie für den Geheimdienst ausgewählt wurde, der sie ausbildete und unter dem Codenamen Sixtine«, Tanner buchstabierte ihn, »per Fallschirm nach Frankreich schickte. Sie stand bei der F-Abteilung wie beim Deuxiéme Bureau hoch im Kurs und es besteht kein Zweifel daran, dass sie uns im Vorfeld von Operation Overlord mit nützlichen Informationen versorgt hat. Dann wurde sie von den Deutschen gefangen genommen und gefoltert und ist danach verschwunden. Wir nahmen natürlich an, dass sie getötet worden sei. Doch vor ein paar Jahren tauchte sie wieder auf. Sie arbeitete in Europa und hatte in der Zwischenzeit ihre gesamte Vorgeschichte ausgelöscht … Alter, Name, Nationalität und den ganzen Rest. Sie hatte sich unter den Namen Sixtine oder Madame 16 selbstständig gemacht.«
»Sie war die Frau, die uns die Kosovo-Akten verkauft hat.«
Tanner nickte. Beide Männer wussten, wovon er sprach.
Die Kosovo-Akten waren eine Durchführbarkeitsstudie, die von einem niederen Beamten mit zu viel Zeit und, schlimmer noch, einer sehr lebhaften Fantasie zusammengestellt worden war. Sie legte detailliert die Strategie dar, wie in Albanien, das nach dem Krieg zu einem kommunistischen Staat geworden war, ein bewaffneter Aufstand angefacht und unterstützt werden könnte. Es hatte nie eine Chance bestanden, dass der Plan abgesegnet werden würde, doch die Akte ging in minutiöseste Details und hatte alle Agenten vor Ort sowie die Royalisten und Exilanten aufgelistet, die sich der Sache möglicherweise verschrieben hätten. Die Kosovo-Akten hätten sofort geschreddert werden sollen, nachdem man von ihrer Existenz erfahren hatte. Doch stattdessen waren sie fotokopiert und herumgereicht worden, bis eines Tages schließlich ein junger Mann, der als dritter Sekretär in der Prager Botschaft arbeitete, eine Aktentasche mit einer Kopie unter seinem Sitz vergessen hatte, als er aus der Straßenbahn ausgestiegen war.
»Wir haben nie herausgefunden, wie die Akte in Sixtines Hände gekommen ist«, fuhr Tanner fort. »Aber es war nicht besonders überraschend. Inzwischen hat sie sich als Auftragsagentin neu erfunden und handelt mit so ziemlich allem, was ihr Geld einbringt. Sie hat eine recht große Organisation hinter sich und Kontakte in ganz Europa … tatsächlich sogar auf beiden Seiten des Atlantiks. Genau die Art Person, die man in einer solchen Angelegenheit als Mittlerin nehmen würde. Jedenfalls hat sie uns kontaktiert und angeboten, uns die Papiere für zweitausend Pfund zurückzuverkaufen.«
»Das war schlicht und einfach Erpressung!« M machte keine Anstalten, seine Verärgerung zu verbergen.
»Das mag stimmen, Sir.« Tanner strich sich übers Kinn. Es war immer riskant, M zu widersprechen. »Aber unser Mann in der Finanzabteilung fand, dass es ein bemerkenswert fairer Preis war. Die Russen hätten fünfmal so viel bezahlt und wir hätten wie komplette Idioten dagestanden, wenn die Akte bekannt geworden wäre. Vielleicht hat sie ja so etwas wie Loyalität uns gegenüber verspürt, ein Überbleibsel aus Kriegszeiten. Es ist so, wie ich bereits sagte: Als Agentin war uns Sixtine überaus nützlich.«
»Und 007 hat sie in Marseille getroffen«, sagte M.
»Das wissen wir nicht, Sir. Doch er war definitiv an ihr interessiert. Die bloße Tatsache, dass sie sich in Südfrankreich aufhält, deutet darauf hin, dass sie etwas vorhat. Wir reden hier nicht von der Art Frau, die einfach in Urlaub fährt, und wir wissen mit Sicherheit, dass sie mit den Syndikaten geredet hat. In seiner letzten Übertragung eine Woche vor seinem Tod hat 007 gesagt, dass er einen konkreten Beweis hätte.«
»Was für einen Beweis?«
»Das hat er leider nicht gesagt. Wenn 007 einen Fehler hatte, dann den, dass er sich nur ungern in die Karten schauen ließ. In der gleichen Übertragung erwähnte er, dass er ein Treffen mit jemandem arrangiert hätte, der ihn genau darüber aufklären könnte, was sie vorhat. Doch wieder hat er uns nicht gesagt, um wen es sich handelt.« Tanner seufzte. »Das Treffen fand am Hafenbecken von La Joliette statt und dort wurde er auch umgebracht.«
»Er muss Notizen oder etwas in der Art hinterlassen haben. Waren wir schon in seinem Haus?«
»Er hatte eine Wohnung in der Rue Foncet und die französische Polizei hat sie von oben bis unten durchsucht. Man hat nichts gefunden.«
»Vielleicht ist uns die Gegenseite zuvorgekommen.«
»Das ist möglich, Sir.«
M drückte den Pfeifentabak mit einem Daumen zusammen, der mit den Jahren gegen die Hitze des glimmenden Tabaks unempfindlich geworden war. »Wissen Sie, was mich bei all dem am meisten überrascht, Stabschef? Wie konnte sich 007 mitten in einer belebten Stadt aus nächster Nähe erschießen lassen? An einem Sommerabend um sieben … Da war es ja noch nicht mal dunkel! Und warum war er nicht bewaffnet?«
»Das hat mich auch gewundert«, pflichtete ihm Tanner bei. »Ich kann nur annehmen, dass er jemanden getroffen hat, den er kannte, einen Freund.«
»Vielleicht hat er sich ja doch mit Madame 16 persönlich getroffen? Oder hat sie vielleicht von dem Treffen erfahren und dazwischengefunkt?«
»Beide Gedanken sind mir ebenfalls schon gekommen, Sir. Die CIA hat Leute vor Ort und wir haben versucht, mit ihnen zu reden. Tatsächlich wimmelt die ganze Gegend nur so von Geheimdiensten jeglicher Couleur. Doch bis jetzt … nichts.«
Der schwere, süßliche Geruch von Capstan Navy Flake hing in der Luft. M benutzte die Pfeife, um seine Gedanken zu ordnen. Das uralte Ritual des Anzündens und erneuten Anzündens verschaffte ihm die Gelegenheit, die Entscheidungen abzuwägen, die getroffen werden mussten.
»Wir müssen jemanden hinschicken, um die Sache zu untersuchen«, fuhr er fort. »Diese Angelegenheit mit den Korsen klingt nicht besonders dringend. Wenn aus Frankreich weniger Drogen kommen, ist das doch etwas, wofür wir dankbar sein sollten. Aber ich lasse mir einen meiner besten Agenten nicht wie einen Hund erschießen. Ich will wissen, wer das getan hat und warum, und ich will, dass diese Person von der Bildfläche verschwindet. Und wenn sich herausstellen sollte, dass diese Frau namens Sixtine dafür verantwortlich ist, gilt das auch für sie.«
Tanner verstand ganz genau, was M da sagte. Er wollte Vergeltung. Jemand musste sterben.
»Wen soll ich schicken? Ich befürchte, dass 008 noch nicht wieder einsatzbereit ist.«
»Sie haben mit Sir James gesprochen?«
»Ja, Sir.« Sir James Molony war der Leitende Neurologe des St. Mary’s Hospitals in Paddington und einer der wenigen Männer, die M sowohl beruflich wie privat kannten. Im Laufe der Jahre hatte er die Verletzungen einer Reihe von Agenten behandelt, einschließlich Stich- und Schusswunden, stets mit absoluter Nonchalance und Diskretion. »Es wird noch ein paar Wochen dauern.«
»Und 0011?«
»Ist in Miami.«
M legte die Pfeife ab und starrte sie gereizt an. »Nun, dann haben wir keine andere Wahl. Wir werden einfach diesen anderen Kerl vorziehen, den Sie vorbereitet haben. Ich hatte ohnehin vor, die Doppelnullabteilung zu vergrößern. Ihre Arbeit ist zu wichtig und jetzt, wo einer verletzt und ein anderer tot ist … müssen wir vorbereitet sein. Wie macht er sich?«
»Nun, Sir, sein erster Auftrag ist ihm problemlos gelungen. Es war diese Kishida-Angelegenheit. Der japanische Chiffrierexperte.«
»Ja, ja. Ich habe den Bericht gelesen. Er ist auf jeden Fall ein guter Schütze und hat die Nerven behalten. Gleichzeitig beweist ein Schuss in den sechsunddreißigsten Stock eines New Yorker Hochhauses nicht unbedingt etwas. Ich würde gern sehen, wie er sich im Nahkampf schlägt.«
»Das werden wir wohl bald herausfinden«, erwiderte Tanner. »Er befindet sich gerade in Stockholm. Wenn alles gut geht, wird er sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zurückmelden. Ich habe bereits seine Eignungsbeurteilung sowie sein medizinisches und psychologisches Gutachten. Er wird mit Bravour bestehen und ich persönlich mag ihn.«
»Wenn er Ihre Empfehlung hat, reicht mir das vollkommen, Stabschef.« M runzelte die Stirn. »Sie haben mir noch nicht seinen Namen gesagt.«
»Er heißt Bond, Sir«, erwiderte der Stabschef. »James Bond.«
James Bond saß in einer Ecke des Restaurants Cattelin in der Altstadt von Stockholm, stach auf ein schlechtes Filet Mignon ein, zu dem ein schlechtes Glas Burgunder serviert worden war, und dachte über den Mann nach, den er töten sollte.
Rolf Larsen hatte eindeutig vom Krieg profitiert. Er hatte als attraktiver, mutiger Herausgeber einer heimlichen Gegenpropagandazeitung begonnen, war dann 1942 aus Norwegen geflohen und über Schweden nach England gelangt. Er hatte sich der berühmten Kompani Linge angeschlossen, wo er eine paramilitärische Fallschirmspringerausbildung erhalten hatte, und war in sein Heimatland zurückgekehrt, um eine Schlüsselrolle in der Operation Mardonius zu spielen, einem Sabotageakt auf den Hafen von Oslo mit in Kanus herbeitransportierten Haftminen. Er hatte sich der Sabotagegruppe Oslogjengen angeschlossen und an der Zerstörung des Korstoll-Depots, einer Reparaturwerkstatt, mitgewirkt, bei der mehrere deutsche Kampfflugzeuge vernichtet worden waren. Er war mit einem DSO aus Großbritannien, einem Kriegskreuz mit Schwert von der norwegischen Regierung und der Bewunderung praktisch aller, die ihn kannten, aus dem Krieg hervorgekommen.
Fast sofort danach war er nach Stockholm gezogen, um die Vorteile des außerordentlichen finanziellen und sozialen Aufschwungs zu nutzen, der von den niedrigen Steuern, einem kleinen öffentlichen Sektor und einem größtenteils unregulierten Markt gefördert wurde. Er hatte Millionen mit »grünem Gold« gemacht, indem er Holz und Zellstoff aus Schwedens Pinienwäldern exportiert hatte. Er heiratete Selma Elkman, eine schwedische Erbin, was sein Vermögen auf einen Schlag verdoppelte, und die beiden hatten zwei kleine Kinder. Bond hatte die gut gekleidete, respektable Familie einen Tag zuvor gesehen, als ihr Chauffeur sie an der Östermalms Saluhall abgesetzt hatte, der alten Markthalle mitten in Stockholm. Rolf war inzwischen Mitte vierzig, sein dichtes blondes Haar von Grau durchzogen. Sein rotes Gesicht sowie sein Bierbauch deuteten darauf hin, dass er sein Leben genoss und sich mit seinem Alter arrangiert hatte.
Nur dass das alles eine Lüge war.
Wie sich herausgestellt hatte, war Rolf Larsen ein äußerst erfolgreicher Doppelagent im Dienst der Nazis gewesen, der zwar an kleineren Operationen teilgenommen, gleichzeitig aber seine Meister über das große Ganze informiert gehalten hatte. Er war für den Tod von Dutzenden norwegischer Agenten verantwortlich, einschließlich einiger, die direkt an seiner Seite gekämpft hatten. Doch das war es nicht, was sein Todesurteil besiegelt hatte. 1944 hatten die Briten einen Angriff auf das nördliche Norwegen vorgeschlagen. Truppen sollten auf Fischerbooten die Shetlandinseln verlassen und im Schutz von Dunkelheit und Nebel die Fjorde infiltrieren. Man hatte zwei Männer vorgeschickt, um eine passende Anlegestelle zu finden, und Larsen hatte beide verraten. Sie waren gefangen genommen, gefoltert und getötet worden. Der Plan wurde fallen gelassen.
Der britische Geheimdienst hatte während des Krieges viele Fehler gemacht, doch was die Deutschen nie verstanden hatten und was ein Mann wie Rolf Larsen nie erwartet hätte, war die Hartnäckigkeit, mit der dieser daran arbeitete, diese Fehler nach Kriegsende auszubügeln. Zwei Männer des Kommandos Nummer 4 waren verschwunden, nachdem sie mit dem Fallschirm über feindlichem Territorium abgesprungen waren. Doch das war erst der Anfang. Noch vor Kriegsende hatten sich die Räder in Bewegung gesetzt. Langsam und unumstößlich war die Wahrheit ans Licht gekommen und die Ermittlung hatte sich auf den jungen Helden konzentriert, der inzwischen ein wohlhabender Familienvater geworden war. Es sollte noch sechs ganze Jahre dauern, bis der endgültige Beweis erbracht wurde, und bis dahin hatte es mehrere Tausend Prozesse und vierzig Hinrichtungen gegeben. Ein neues Jahrzehnt hatte begonnen. Niemand würde etwas davon haben, einen zweifach dekorierten Mann wie Larsen durch ein erschöpftes Gerichtssystem zu zerren. Ein hohes Tier hatte die Entscheidung getroffen. Man würde sich inoffiziell um ihn kümmern.
Während Bond seinen Teller wegschob und sich einen Kaffee bestellte, dachte er darüber nach, was das bedeutete. Niemand in Stockholm wusste, dass er hier war: nicht die Polizei, nicht die Regierung oder die Säpo, der schwedische Geheimdienst. Es musste wie ein einfacher Mord aussehen und genau das war es eigentlich auch. Larsen war allein. Am Nachmittag erst hatte er seine Frau und die Kinder in den Zug nach Uppsala gesetzt, wo sie das Wochenende verbringen würden. Bond hatte zugesehen, wie sie sich an Gleis fünf des Hauptbahnhofs verabschiedet hatten. Larsen wollte am folgenden Tag nachkommen. Jetzt gerade war er in der Oper und sah sich Tosca an. Bond hatte Opern immer verabscheut. Die absurd dicken Frauen, das theatralische Getue, der Krach. Die Tatsache, dass Larsen dort seinen letzten Abend verbrachte, war durchaus passend. Er war auf dem Weg von einer Hölle in die nächste.
Schusswaffen waren tabu. Kugeln brachten eine Vorgeschichte mit sich, die Stichwunden fehlte. Bond fragte sich, ob ihm dieser Auftrag bewusst zugeteilt worden war. Sein erster Auftragsmord war aus der sicheren Entfernung eines Zielfernrohrs geschehen. Er war etwa fünfundvierzig Meter von Kishida entfernt gewesen, als dieser gestorben war. Er hatte es kaum mit eigenen Augen gesehen. Tatsächlich hätte der japanische Chiffrierexperte sogar noch am Leben sein können, als sein Attentäter den Aufzug ins Erdgeschoss genommen hatte – auch wenn das zugegebenermaßen eher unwahrscheinlich war, nachdem eine Kugel seinen Hals durchschlagen hatte.
Dieses Mal würde es aus nächster Nähe geschehen. Larsens Zuhause erstreckte sich über zwei Etagen in einem Gebäude gleich um die Ecke. Ein Zimmer in der oberen Etage wurde von einem Diener namens Otto bewohnt, der früher bei der Säpo gearbeitet hatte und über die Statur und das wachsame Auge eines professionellen Leibwächters verfügte. Otto war Schwede ohne Vorstrafen, und Bond wusste, dass er unangetastet bleiben musste. Das ganze Haus war alarmgesichert und mit einer nur zwei Blocks entfernten Polizeiwache verbunden. Der Auftrag musste schnell, effizient und vor allem lautlos ausgeführt werden.
Und was dann? Zwei kleine Mädchen, fünf und drei, würden sich ohne Vater wiederfinden. Eine dralle, glückliche Ehefrau würde zur Witwe werden. Die Zeitungen würden das Leben eines Kriegshelden feiern und Maßnahmen gegen die steigende Kriminalitätsrate in Stockholm fordern. Und sollte alles gut gehen, würde Bond seine Doppelnull bekommen. Er würde sich seine Lizenz zum Töten verdient haben.
Das war etwas, das er mehr wollte als alles andere auf der Welt – und er hatte es von dem Moment an gewollt, als er beim Geheimdienst angefangen hatte. Warum? War es ein Überbleibsel aus dem Krieg, all dieser Jahre im RNVR, wo das Töten des Feindes selbstverständlich gewesen war und Gerede über Moral oder Verhältnismäßigkeit allenfalls als irrelevant, aber wahrscheinlich eher als Zeichen von Schwäche betrachtet worden wäre? Oder war es der gleiche Impuls, der ihn in den Aiguilles Rouges klettern und am Fettes College hatte boxen lassen? Der einfache Wunsch, in allem, was er tat, der Beste zu sein? Darauf lief es hinaus. Es spielte keine Rolle, ob er seinem Land oder seinen eigenen Interessen diente. Im ganzen Gebäude gab es nur drei Doppelnullagenten und sie wurden respektiert wie niemand sonst. Er würde der vierte werden.
Das Steak lag immer noch enttäuschend am Rand seines Tellers. Er gab dem Kellner ein Zeichen, es abzuräumen, dann zog er eine Zigarette, eine Du Maurier, aus ihrer typisch roten Packung und genoss das vertraute Klicken seines alten Ronson-Feuerzeugs. Es war falsch von ihm gewesen, die Schuld für sein misslungenes Abendessen dem Restaurant zu geben. Die Wahrheit war, dass der Auftrag, der vor ihm lag, ihm den Appetit verdorben hatte. Er sah auf seine Uhr. Fünf nach zehn. Die dicke Frau würde sich vergiften, von einem Turm werfen oder was immer sie sonst im letzten Akt von Puccinis Meisterwerk tat und schon bald würde das Publikum auf dem Heimweg sein.
Und dann …
Bond rauchte in Ruhe seine Zigarette. Er trank noch ein Glas Wein, ließ aber die Flasche halb voll, da er nicht wollte, dass ihm der Alkohol die Sinne trübte. Schließlich bat er um die Rechnung, bezahlte und ging.
Er fand sich in einer schmalen Gasse wieder. Vor ihm ragte die große Domkirche Stockholms auf. Bond hatte das Gefühl, gefangen zu sein, doch das war das Problem an dieser Stadt: So hübsch sie auch war, sie erstreckte sich über vierzehn verschiedene Inseln, auf denen sich alles zusammendrängte, sodass sie für einen Übeltäter nichts anderes war als eine Reihe von Fallen, besonders in einer solchen Nacht. Er blickte zum Himmel auf und sah den Vollmond, der den wolkenlosen Himmel in ein tiefes Rot tauchte. Ein Erdbeermond. Es war ein Name aus seiner Kindheit, der Erinnerungen an ein längst vergangenes Leben weckte. Nun kam ihm der Mond wie ein einzelnes Auge vor, das ihn dabei beobachtete, wie er die düstere, verlassene Straße entlangging, irgendwie mitschuldig an dem, was er gleich tun würde.
Eine halbe Stunde später, kurz nach dreiundzwanzig Uhr, ging im sechsten Stock des verschnörkelten Gebäudes, in dem die Larsens wohnten, ein Licht aus. Bond wusste, dass sein Moment gekommen war. Er trat aus dem Schatten, sah sich auf der leeren Straße um und zog ein winziges Stück Plastik aus seiner Jacketttasche. Die Haustür mit dem Yale-Schloss leistete keinen Widerstand. Bond ging am Aufzug vorbei und stieg die sechs Treppen hinauf, bis er in einer quadratischen, schwarz-weiß gefliesten Empfangshalle landete. Dort befand sich eine weitere Tür, ihr Schloss so wirkungslos wie das erste. Während Bond es mit Leichtigkeit knackte, begann die blaue Metallkiste mit dem Logo von Rely-a-Bell Sicherheitssysteme zu blinken, gab aber kein Geräusch von sich. Die Alarmanlage war aus London importiert worden und erst einen Tag zuvor waren zwei angeblich vom Hauptsitz in der Wilson Street geschickte Männer vorbeigekommen, um das System gründlich zu überholen. Sie hatten die notwendigen Ausweispapiere bei sich gehabt und schienen zu wissen, was sie taten. Niemand hatte weiter darüber nachgedacht und nun ruhte der Alarm friedlich, ohne etwas von der Gestalt zu bemerken, die unter ihr vorbeischlich.
Bond fand sich in einer kostspielig und altmodisch eingerichteten Wohnung wieder. Der Stil wirkte eher deutsch als skandinavisch, mit massiven dunklen Möbeln, Teppichen und Kronleuchtern. Er hatte eine Taschenlampe mitgebracht, brauchte sie aber nicht. Die Vorhänge waren zurückgezogen und rosa Licht drang durch die Panoramafenster. Völlig geräuschlos ging er die Treppe hinauf, vorbei an Ölgemälden in überladenen Goldrahmen. Er hatte die Baupläne des Gebäudes studiert und wusste genau, wohin er gehen musste. Er bog um eine Ecke und schlich einen Flur entlang, an dessen Ende sich ein antiker Spiegel befand. Von der Decke hingen weitere Kronleuchter und die Glasperlen formten spinnwebenartige Schatten. Die dritte Tür führte ins Elternschlafzimmer. Bonds Hand schloss sich um den unnötig verschnörkelten Messingtürgriff. Ganz langsam drückte er ihn herunter.
Der Moment war gekommen. Er hatte sein Ziel erreicht.
Rolf Larsen schlief in einem extragroßen Bett aus dem neunzehnten Jahrhundert mit geschnitztem Kopfteil, Füßen und Aufbau, alles in Weiß. Ohne seine Frau an seiner Seite wirkte der Platz, den er einnahm, fast obszön. Er war eine kleine Gestalt, deren Hinterkopf auf einem von fünf Kissen ruhte, die um ihn herum gruppiert waren, als ob sie ihm im Schlaf etwas zuflüstern würden. Es war eine warme Nacht. Er hatte die Decke weggestrampelt und war nur von einem weißen Musselinlaken bedeckt, das sich unendlich auszubreiten schien, wie ein geisterhaftes Meer. Bond konnte seine silbrigen Haare sehen sowie das Heben und Senken seiner Brust. Er war sich bewusst, dass sein eigenes Herz schneller schlug, und er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Beim Mord an Kishida hatte er sich unbeteiligter gefühlt. Seine einzige Sorge hatte darin bestanden, dass er nicht vorbeischießen durfte. Doch das hier war anders. Er konnte Larsen riechen. In der alles einhüllenden Stille des Raums konnte er den Klang seines eigenen Atems mühelos heraushören.
Bond griff in den linken Ärmel seines Jacketts und zog ein Messer heraus – achtzehn Zentimeter lang, mit einem Gummigriff von Dunlop. Während seines Abendessens im Cattelin hatte das Messer die ganze Zeit in seinem Lederholster – wegen der Art, wie sich die Riemen am Arm kreuzten, X-Holster genannt – geruht. Es war eine altmodische Waffe und eine, die er das letzte Mal hinter feindlichen Linien benutzt hatte. Bond hatte es teilweise deshalb gewählt, weil es ihm angemessen vorkam, aber hauptsächlich deswegen, weil es unauffindbar war, bis es zum Einsatz kam und der Schnellauslöser des Verschlusses es genau in seine Hand beförderte, wie er es gerade getan hatte. Einen Moment lang spürte er das Gewicht in seiner Hand. Rolf Larsen rührte sich im Schlaf. Irgendein Urinstinkt schien ihn anzuschreien, endlich aufzuwachen. Der Zeitpunkt war gekommen. Bond handelte.
Mit der Handkante seiner Waffenhand schaltete er die Nachttischlampe ein. Dann lehnte er sich vor und presste seine andere Hand auf Larsens Mund, bevor er nach Hilfe rufen konnte. Larsen riss die Augen auf und sein Blick füllte sich fast augenblicklich mit Überraschung, Verstehen und Schrecken. Er sah einen Mann um die Dreißig, glattrasiert, mit schwarzen Strähnen, die ihm ins Gesicht fielen, und sehr geraden Gesichtszügen. Nase, Mund und Augen wirkten in ihrer Präzision fast mathematisch.
Nur eine zweieinhalb Zentimeter lange Narbe auf der rechten Wange zerstörte die Symmetrie. Der Mann trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine Strickkrawatte. Seine Hand drückte mit ungewöhnlicher Kraft auf Larsens Mund, was ihm das Atmen fast unmöglich machte.
»Larsen?« Der Mann hatte nur ein einziges Wort gesagt, aber irgendwie wusste Larsen augenblicklich, dass er Brite war.
Larsen nickte. Sein Kopf grub sich in das weiche Kissen. Die Hand des Mannes bewegte sich mit ihm, ohne ihm auch nur die kleinste Fluchtmöglichkeit zu lassen.
»Ich bin wegen Bourne und Calder hier.«
Bourne und Calder. Die beiden Männer, die an die Nordküste Norwegens geschickt worden waren. Die beiden Männer, die Larsen verraten hatte. Es gehörte nicht zu Bonds Auftrag, dem Verräter Informationen zu entlocken, doch das musste er für sein eigenes Seelenheil wissen.
»Verstehen Sie?«, fragte er.
Larsen zögerte, dann nickte er sehr langsam. Er musste sich nicht bewegen. Bond hatte das, was er wissen wollte, bereits in den Augen des anderen Mannes gesehen: das Eingeständnis von Schuld. Das war genug. Ohne zu zögern, stieß er zu und trieb das Messer in den Halsmuskel und auf Larsens Hirn zu.
Bond lehnte sich zurück. Er hatte erwartet, dass der Tod sofort eintrat, doch im Schein der Nachttischlampe sah er, dass Larsen noch ausgesprochen lebendig war. Er starrte Bond an, als wüsste er nicht genau, was gerade passiert war. Sein Mund öffnete und schloss sich, Blut befleckte bereits seine Lippen. Er konnte nicht sprechen. Das Messer musste seine Luftröhre durchtrennt haben. Außerdem hatte es die Halsschlagader getroffen. Während Bond auf der Bettkante saß, bot sich ihm ein außergewöhnlicher Anblick. Blut breitete sich unter dem Laken aus. Es war ein perfekter Kreis, der immer größer wurde. Er erinnerte Bond an den Erdbeermond, den er draußen gesehen hatte und der sich nun hinter einer weißen Wolke hervorschob. Und er wuchs beständig. Larsen starrte darauf, vollkommen starr, und starb Stück für Stück. Als der Augenblick des Todes schließlich kam, war es recht antiklimaktisch. Seine Lippen bewegten sich weiter, jedoch langsamer. Dann hörten sie auf. Seine Augen starrten weiter. Das Blut kroch noch etwas weiter und hatte Bond fast erreicht. Plötzlich gab es nur noch eine Person im Raum, die atmete.
Bond zog die Klinge heraus, wischte sie ab und steckte sie ins Holster zurück. Dann sah er sich um, nahm Larsens goldene Manschettenknöpfe, seine Rolex Speedking und eine Geldbörse, die dreihundert schwedische Kronen enthielt. Es war kaum ein angemessenes Motiv für ein solches Gewaltverbrechen, aber es würde reichen müssen. Er warf einen letzten Blick auf den reglosen Fleischhaufen, der einst ein Mensch gewesen war, dann knipste er die Lampe aus und ging. Er nahm die Treppe, stieg die sechs Stockwerke hinunter und stahl sich auf die Straße. Dann überquerte er die Strömbron-Brücke an der nördlichen Ecke der Insel und warf die Gegenstände, die er mitgenommen hatte, ins Wasser.
Zuerst kam die Geldbörse, dann die Manschettenknöpfe und schließlich die schwere silberne Uhr. Sie traf auf die Wasseroberfläche und Bond sah die Wellen, eine Reihe von Kreisen – Nullen vielleicht – die sich ausbreiteten und schließlich verschwanden, während der Beweis dessen, was geschehen war, in der Tiefe versank.
Frühstück war für James Bond die eine Mahlzeit des Tages, auf die er nicht verzichten konnte. Das Mittagessen war ein Vergnügen, das Abendessen häufig ein Fest, doch das Frühstück hatte die Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit eines Rituals, während dessen er sich zurücklehnen und über den vor ihm liegenden Tag nachsinnen konnte. Es war einer der Gründe, warum er so anspruchsvoll war, was die Zutaten anging: die spezielle Konfitürenmarke, die ungesalzene Butter, die Eier von französischen Marans-Hühnern, die für die genau richtige Dauer gekocht worden waren. Es war keine bloße Launenhaftigkeit. Er brachte der Mahlzeit die Achtung entgegen, die sie verdiente.
Auch wenn sich Bond in der Küche gut anstellte, hatte er es sich zum Prinzip gemacht, niemals selbst für sich zu kochen. Er genoss es, sich um genau halb acht an den Tisch zu setzen. Manchmal las er die Zeitung, zog es aber vor, nicht zu sprechen, und er hörte niemals Radio dabei. Welches Grauen die nächsten sieben, acht Stunden auch bringen mochten, dies war eine Zeit der Stille. Etwas, das sich, wie ihm manchmal auffiel, sein ganzes Leben lang nicht verändert hatte.
Am Tag nach seiner Rückkehr aus Stockholm setzte er sich an den Esstisch in seinem Zuhause in Chelsea und sah zu, wie seine betagte Haushälterin May mit einem voll beladenen Tablett hereinrauschte. Es war etwas über ein Jahr her, seit sie bei ihm angefangen hatte. Er hatte für die Position Bewerbungsgespräche mit drei Frauen geführt und erklärt, dass er ein Beamter sei, der für eine obskure Abteilung innerhalb des Fremdenverkehrsamts arbeite und dass dies viele Reisen beinhalte. Die anderen beiden hatten dieses Märchen geschluckt, doch May hatte ihn mit einem Funkeln in den Augen angesehen und verkündet: »Aber natürlich! Halten Sie mich für eine Idiotin, Mr Bond? Ich werde keine Fragen stellen, aber dann erzählen Sie mir auch keine Lügen!« Ihre Antwort hatte Bond so sehr amüsiert, dass er sie sofort eingestellt hatte.
»Guten Morgen«, brummte sie jetzt auf ihre typisch schottische Art. »Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja. Alles lief bestens, vielen Dank, May.«
Sie fuhr damit fort, die Teller auf dem Tisch zu verteilen. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, was sie sich bei dieser Sache mit den Koreanern denken«, grummelte May, während sie Bond die Morgenausgabe der Times reichte. Die Schlagzeilen waren voll mit dem amerikanischen Angriff auf Chinju. »Man würde doch meinen, die Welt hätte fürs Erste genug vom Krieg.« Sie seufzte. »Das ist alles die Schuld dieser dämlichen Kommunisten. Ich hab schon immer gesagt, dass sie diesem Joe Stalin niemals hätten trauen dürfen. Der Kerl hat ein Gesicht zum Reintreten. Aber nun ja, es kommt, wie es kommt, nehme ich an …«
Sie verließ den Raum und in der darauffolgenden Stille ließ sich Bond Mays Rühreier schmecken, die er als die besten auf der Welt betrachtete. Dazu gab es gebutterten Toast mit Heidehonig von Fortnum & Mason sowie ein paar Tassen besonders starken Kaffee. Er rauchte zwei Zigaretten und las die Nachrichten und erst als er das Haus verließ, wurde ihm klar, dass er jede Erinnerung an Stockholm und Rolf Larsen (den sich immer wieder öffnenden Mund, die starrenden Augen) absichtlich aus seinen Gedanken verbannt hatte.
Bond fuhr mit einem mitternachtsblauen Jaguar XK 120 zur Arbeit, den er auf der Londoner Autoausstellung gesehen und unbedingt hatte haben müssen, auch wenn er den Kauf fast sofort bereut hatte. Es war das schnellste Serienauto der Welt und konnte leicht die hundertzwanzig Meilen pro Stunde erreichen, die der Name bereits andeutete. Doch die Steuerung hatte etwas Träges an sich und Bond hatte sich schnell an dem wütenden Fauchen sattgehört, das jedes Mal erklang, wenn er an einer Ampel beschleunigte. Er hatte immer noch das zerbeulte Wrack eines stahlgrauen Mark II Continental Bentley in einer Lagerhalle in Ost-London. Wenn er nur die Zeit finden könnte, ihn auszubeulen und komplett zu überholen, wäre er ein würdiger Ersatz.
Bond war sich bewusst, dass sein derzeitiges Gehalt diese Luxusausgaben niemals zulassen würde: den Wagen, das Regency-Haus nahe der King’s Road, die Haushälterin in Vollzeit. Seine Eltern waren gestorben, als er erst elf Jahre alt gewesen war, und hatten ihm einen Treuhandfonds hinterlassen, den er geerbt hatte, als er achtzehn geworden war. Manchmal fragte er sich, ob sein Leben anders verlaufen wäre, wenn sie den Kletterunfall überlebt hätten, der sie ihm genommen hatte. Keine Eltern zu haben, auf diese Nähe der engsten Familie verzichten zu müssen, aus dieser Leere zu kommen – hatte ihn all das zu dem Mann gemacht, der er schließlich geworden war?
Mit diesen Gedanken im Kopf hielt Bond am Rand des Regent’s Park und ging die letzten zehn Minuten zum Büro zu Fuß. Der Portier nickte ihm zu, als ob er ihn kaum bemerkt hätte, obwohl er in Wirklichkeit über ein fotografisches Gedächtnis verfügte und nicht nur die Namen und Büronummern von allen kannte, die im Gebäude arbeiteten, sondern auch ohne Hilfe von Aufzeichnungen genau sagen konnte, wer wann gekommen oder gegangen war.
Bond bog um eine Ecke und betrat den Aufzug. Der Fahrstuhlführer sah ihn an.
»Welcher Stock, Sir?«
»Der fünfte, bitte.«
Da. Er hatte es gesagt und es dadurch zur Realität gemacht.
Der Fahrstuhlführer drückte den Knopf und ließ dann ohne weiteren Kommentar seinen Armstumpf auf dem Kontrollhebel ruhen.
Normalerweise fuhr Bond in den dritten Stock, reserviert für »Kommunikations- und Elektronische Entwicklung«, ein Name, der für eine Vielzahl von geheimen Aktivitäten stand. Dort teilte er sich ein Büro mit drei Männern und zwei Frauen, getrennt durch Acrylscheiben, die sie von der Welt der anderen abschnitten. Bond hatte die vergangenen Wochen damit verbracht, eine illegale Grenzüberschreitung nach Ostdeutschland vorzubereiten, bis Stockholm dazwischengekommen war. Dieser Auftrag würde nun an jemand anders gehen.
Er stand schweigend da, als sich die Türen schlossen. Er kannte den Fahrstuhlführer – einen ehemaligen Gunny, der bei Tobruk verwundet worden war – ziemlich gut. Schließlich hatten sie in diesem kleinen Raum schon mehr als hundertmal beisammengestanden. Doch heute war alles anders. Konnte der andere Mann irgendwie von seiner Beförderung erfahren haben? Das war das Problem in diesem verdammten Haus. Jeder hatte seine Geheimnisse, doch niemandes Geheimnisse gehörten wirklich nur ihm. Bond verspürte eine gewisse Nervosität in der Magengrube, vielleicht durch den Aufstieg noch verstärkt. Alles am Gebäude wirkte anders. Selbst die Farben – Grau, Beige, Cremeweiß und dieses furchtbare Grün, das Regierungsdienststellen so liebten – wirkten leuchtender, irgendwie aufregender als in der Woche davor. Doch natürlich war er es, der sich verändert hatte. Es war kaum vierundzwanzig Stunden her, seit er ein zweites Leben genommen hatte. Damit hatte er sich seine Lizenz zum Töten verdient und schloss sich einer Elitetruppe an. Es gab nur vier von ihnen in der gesamten Organisation.
Drei von ihnen. Bond hatte von dem Toten in Südfrankreich gehört. Er war ein Ersatz, keine Ergänzung.
Die Aufzugtüren öffneten sich und er trat in einen Gang, der dem, den er kannte, sehr ähnlich war. Eine Gruppe plaudernder junger Frauen kam an ihm vorbei. Bildete er sich das nur ein oder wichen sie seinem Blick aus? Er kannte die Nummer des Büros, nach dem er suchte, fand sie, klopfte an und betrat es nach einem knappen »Herein!«.
Die einzige Person darin arbeitete still und effizient in einer leeren weißen Box mit dem Porträt der Königin an einer Wand und dem des Premierministers an der anderen. Die Bilder waren wahrscheinlich vom Ministerium für öffentliche Arbeiten oder vielleicht der Kunstsammlung der Regierung gestellt worden und Bond wäre nicht weiter überrascht gewesen, wenn sie in einer vorgeschriebenen Höhe gehangen hätten. In einer Ecke stand ein Aktenschrank aus Metall mit einer Topfpflanze darauf. Vielleicht war auch dies Vorschrift.
»Commander Bond?« Der Mann hinter dem Schreibtisch sah desinteressiert auf.
»Das ist richtig.«
»Bitte kommen Sie herein. Nehmen Sie Platz.« Es gab nur einen anderen Stuhl. Bond setzte sich ihm gegenüber.
Der Mann lächelte schwach. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Beförderung und willkommen zu Ihrem ersten Tag in der Doppelnullabteilung. Wir müssen nur ein paar Formalitäten durchgehen. Wird nicht lange dauern.«
Der Zahlmeister, Captain Troop, Offizier der Royal Navy im Ruhestand, war Leiter der Verwaltungsabteilung und als absoluter Bürohengst berüchtigt. Er wurde seinem Ruf gerecht, indem er einen Stift auf die Holzoberfläche vor sich legte, als würde ihm das die Macht verleihen, ungestört zu reden, was er die nächsten zehn Minuten auch tat, während denen er Bonds neue Aufgaben auf trockenste Art und Weise beschrieb. Er gab Bond keine Gelegenheit, Fragen zu stellen. Er erwartete keine und Bond hatte auf keinen Fall vor, sich die Blöße zu geben, welche zu stellen. Am Ende seiner Rede zog Troop mehrere Blätter Papier aus einer Schublade und tippte mit einem gebieterischen Finger darauf. »Wenn Sie dann bitte hier unterschreiben würden, Commander Bond? Und hier?«
Bond tat, wie ihm geheißen wurde. Seine Unterschrift war zwangsläufig recht schmucklos. Sein Name bestand nur aus neun Buchstaben und nicht einer von ihnen gab Gelegenheit für einen Schnörkel. Das erste Dokument war eine Vertraulichkeitsvereinbarung, die ihm wie ein unnötiger Zusatz zu dem Vertrag vorkam, den er bereits bei seinem Eintritt in den Geheimdienst unterschrieben hatte. Bei dem zweiten handelte es sich um eine gesetzlich vorgeschriebene Lebensversicherung. Das dritte war kürzer und brutaler, denn es verlieh seinem Arbeitgeber eine Allgemeinvollmacht über all seine Angelegenheiten (und wahrscheinlich auch die Versicherungssumme), falls er im Einsatz getötet werden sollte. Troop wartete, bis er fertig war, dann nahm er die Papiere mit einem zufriedenen Nicken zurück.
»Vielen Dank, Commander Bond. Da ist nur noch eine letzte Kleinigkeit zu erwähnen, nämlich dass Ihr Gehalt auf tausendfünfhundert Pfund im Jahr erhöht wurde. Das ist die gleiche Gehaltsstufe wie ein Generalkonsul im öffentlichen Dienst. Die neue Summe wird mit sofortiger Wirkung in Ihren Bankauszügen auftauchen.« Es gab eine vierte Seite, die er unterschreiben musste und in der es um seine Zustimmung der finanziellen Bedingungen ging. Dann nahm Troop den Stift zurück, steckte die Kappe auf und ließ ihn in seine Tasche gleiten. »Ich zeige Ihnen jetzt Ihr neues Büro. Ab da übernimmt Ihre Sekretärin.«
Troop war kein unangenehmer Zeitgenosse, auch wenn ihn fast niemand im Gebäude leiden konnte. Bond kam der Gedanke, dass dies wohl Teil seines Jobs war. Jede Firma brauchte einen Blitzableiter und Troop – klein, ordentlich, langweilig, präzise – erfüllte diese Rolle vortrefflich. Er schwieg, während Bond und er den Aufzug in den achten Stock nahmen, und dann an einer Reihe von Türen vorbeigingen (die keine Nummern hatten, wie Bond bemerkte). An der letzten Tür rechts blieben sie stehen.
»Hier verlasse ich Sie nun«, sagte Troop. »Viel Glück.« Das war alles. Kein Handschlag. Er drehte sich einfach um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Bond klopfte an die Tür. Sie wurde fast sofort von einer Frau geöffnet, die vielleicht ein, zwei Jahre älter war als er, aber mit Sicherheit ein paar Zentimeter größer. Sie war schlank, dunkelhaarig und strahlte die Art Schönheit aus, die umso verlockender war, weil sie so offensichtlich tabu war. Bereits jetzt, bei ihrer ersten Begegnung, war ihr Auftreten reserviert und ihre Augen schienen ihn herauszufordern. Doch er sah in ihrem Blick auch einen Funken Humor, der ihm sagte, dass sie gut miteinander auskommen würden.
»Mr Bond?«, fragte sie.
»James.«
Sie schien kurz über den Namen nachzudenken, dann akzeptierte sie ihn lächelnd. »Ich bin Loelia Ponsonby. Ich zeige Ihnen jetzt Ihren Schreibtisch.«
Sie drehte sich um und er folgte ihr in einen kleinen Vorraum. Dabei genoss er die perfekte Form ihrer Schultern und das Schwingen ihrer Hüften. Sie trug eine cremeweiße Bluse mit Kimonoärmeln und einen sehr seriösen dunkelblauen Rock. Bond suchte nach einem Ehering, wusste jedoch irgendwie instinktiv, dass er keinen finden würde. Sie ging durch eine zweite Tür. Diese führte in einen größeren Raum, sehr quadratisch, mit drei Schreibtischen und einem Fenster mit Blick auf den Regent’s Park.
»Loelia«, murmelte Bond. »So kann ich Sie auf keinen Fall nennen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie Lil nenne?«
Sie wirbelte herum und bedachte ihn mit einem kühlen Blick. »Das macht es in der Tat.«
»Tja, ich werde Sie nicht Miss Ponsonby nennen«, erwiderte er. »Das klingt irgendwie nach einer Schullehrerin und außerdem hatte ich eine Tante, die mich immer in ein Dorf mitgenommen hat, das so hieß. Ponsonby in Cumbria. Sie stammen nicht zufällig von dort?«
»Meine Familie kommt aus Kent.«
»Dann haben wir ja bereits etwas gemeinsam. Dort bin ich aufgewachsen. In einem Ort namens Pett Bottom in der Nähe von Canterbury.«
Der Name ließ sie die Stirn runzeln und sie schien sich zu fragen, ob er ihn sich gerade ausgedacht hatte. »Ich kann nicht behaupten, davon gehört zu haben.«
»Gleich südlich von Nackingham.« Kein guter Start. Würde ihre gesamte Beziehung aus vager Flirterei basierend auf obskuren Ortsnamen beruhen? Er ging zum Fenster und blickte hinaus. »Wie läuft das jetzt?«, fragte er in einem sachlicheren Tonfall. »Ich nehme an, ich habe das Büro nicht für mich allein?«
»Nein. Es gibt drei von ihnen.« Sie deutete auf einen der leeren Schreibtische. »Der gehört Bill.« Sie stockte. »008, meine ich. Er ist erst letzte Woche ins Land zurückgekommen und … ruht sich aus.« Der letzte Teil war wohlüberlegt und Bond erkannte den Euphemismus. »0011 sitzt hier«, fuhr sie schnell fort. »Aber er ist gerade unterwegs. Sie werden sich wahrscheinlich nicht oft über den Weg laufen. So läuft das hier in dieser Abteilung.«
Sie ging zum dritten Schreibtisch. Bond fiel ein Stapel brauner Ordner auf, die ordentlich für ihn ausgelegt worden waren. Einige trugen den roten Stern, der sie als streng geheim kennzeichnete. Er drehte einen von ihnen um und schlug ihn auf. Darin befand sich ein Schwarz-Weiß-Foto eines Toten, der auf einem Kai ausgebreitet lag. Er wusste sofort, dass es sich um seinen Vorgänger handelte, dass dieser Mann an dem Schreibtisch gesessen hatte, der nun seiner war. Kommentarlos klappte er den Ordner wieder zu.
Loelia Ponsonby stand an der Tür. »Wir sind von der Nachricht alle erschüttert«, sagte sie. »Es kamen schon die ganze Woche Berichte rein. Ich habe sie auf Ihrem Schreibtisch nach Dringlichkeit sortiert. Sie fangen besser gleich damit an. M wird Sie heute Vormittag noch sehen wollen und dafür müssen Sie vollständig informiert sein.«
Bond setzte sich auf den ledergepolsterten Bürostuhl. Plötzlich wollte er diese Einführung so schnell wie möglich hinter sich haben. »Also gut«, sagte er. »Ich werde Kaffee brauchen. Schwarz, ohne Zucker. Ich trinke übrigens niemals Tee, also bitte bieten Sie mir keinen an.« Flüchtig überflog er die Schreibtischoberfläche. »Und ich hätte gern einen Aschenbecher.«
»Natürlich.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Ich werde herausfinden, wer ihn umgebracht hat«, schob Bond etwas sanfter hinterher. Sie blieb stehen und blickte zurück. »Sie beide haben sich bestimmt gut gekannt und es tut mir leid, dass es so dazu gekommen ist … zu meiner Beförderung, meine ich. Ich weiß, dass es nicht leicht sein wird, seinen Platz einzunehmen, aber ich werde mein Bestes geben.«
»Danke.« Bei diesem letzten Blick sah Bond die Einladung in ihren Augen. Sie wollte sich mit ihm anfreunden. Er öffnete die erste Akte. Sie verließ den Raum.