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Mit der Absicht zu töten ist der einundvierzigste offizielle James-Bond-Roman und der dritte Fortsetzungsroman des englischen Schriftstellers Anthony Horowitz. Der Roman knüpft an Ian Flemings letztes Buch Der Mann mit den goldenen Colt an. Es ist die Beerdigung von M. Ein Mann fehlt am Grab: der Verräter, der den Abzug betätigt hat und der nun in Haft sitzt, weil er des Mordes an M beschuldigt wird – James Bond. Hinter dem Eisernen Vorhang will eine Gruppe ehemaliger Smersh-Agenten den britischen Spion für eine Operation einsetzen, die das Gleichgewicht der Weltmacht verändern wird. Bond wird in die Höhle des Löwen geschmuggelt – aber wessen Befehle befolgt er und wird er ihnen gehorchen, wenn die Stunde der Wahrheit gekommen ist? In einer Mission, in der Verrat allgegenwärtig ist und eine falsche Bewegung den Tod bedeutet, muss sich Bond mit den dunkelsten Fragen über sich selbst auseinandersetzen. Doch nicht einmal er selbst weiß, was aus dem Mann geworden ist, der er einmal war.
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Seitenzahl: 360
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von
ANTHONY HOROWITZ
Ins Deutsche übertragen von
STEPHANIE PANNEN
Die deutsche Ausgabe von JAMES BOND – MIT DER ABSICHT ZU TÖTEN wird herausgegeben von Cruss Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Inh. Andreas Mergenthaler; Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Übersetzung: Stephanie Pannen; Programmleitung Romane/Sachbücher: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild ; Satz: Rowan Rüster; Layout: Sina Keller; Leitung Vertrieb: Peter Sowade; Marketing: Jana Rahders; Druck: Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.
Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – WITH A MIND TO KILL
Published in the United Kingdom by Jonathan Cape in 2022
German translation copyright © 2022, by Cross Cult.
Copyright © Ian Fleming Publications Limited and the Ian Fleming Estate 2022The moral rights of the author have been asserted.
Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.
James Bond and 007 are registered trade marks of Danjaq LLC, used under licence by Ian Fleming Publications Ltd. The Ian Fleming signature and the Ian Fleming logo are both trade marks owned by The Ian Fleming Estate, used under licence by Ian Fleming Publications LtdWith a Mind to Kill © Ian Fleming Publications Ltd 2022
Print ISBN 978-3-96658-964-2 (November 2022)
E-Book ISBN 978-3-96658-965-9 (November 2022)
WWW.CROSS-CULT.DE · WWW.IANFLEMING.COM · WWW.ANTHONYHOROWITZ.COM
TEIL EINS: LONDON CALLING
1:Die Meile des toten Mannes
2:Dringend, wiederhole, dringend
3:Stahlhand
4:C. C.
5:»Tun Sie, was man Ihnen sagt …«
6:Zimmer ohne Aussicht
7:Der Killerinstinkt
8:Abwärts
TEIL ZWEI: MOSKAUER NÄCHTE
9:Wahrheit und Lügen
10:Hinter dem Vorhang
11:Der Zauberraum
12:Der rote Pfeil
13:Russische Gastfreundschaft
14:Der Finger des Verdachts
15:Dunkler Engel
16:Ein Klopfen an der Tür
17:Zielübung
18:Tod unterm Kronleuchter
19:Der unmenschliche Faktor
TEIL DREI: BERLINER SYMPHONIE
20:Schiere Boshaftigkeit
21:Der Mann auf Platz 12
22:Der Finger am Abzug
23:Kein Ausweg
Danksagungen
Ian Fleming
In Man lebt nur zweimal wurde James Bond nach Japan geschickt, wo er Ernst Stavro Blofeld auf der Insel Kyushu aufspürte. Während eines erbitterten Kampfes in Blofelds »Garten des Todes« erlitt Bond eine schwere Kopfverletzung, die eine Amnesie verursachte. Er verbrachte das nächste Jahr in einem japanischen Fischerdorf und wurde in England als im Einsatz verschollen geführt. Die Times veröffentlichte seinen Nachruf.
In Der Mann mit dem goldenen Colt, dem zwölften und letzten Bond-Roman von Ian Fleming, kehrte Bond nach London zurück, nachdem er in die Hände des KGB gefallen war. Man hatte ihn einer Gehirnwäsche unterzogen und damit beauftragt, M mit einer Zyanidpistole zu ermorden. Das Attentat misslang. Bond wurde deprogrammiert und nach Jamaika geschickt, um den Profikiller »Pistols« Scaramanga auszuschalten.
Mit der Absicht zu töten beginnt zwei Wochen nach dem Ende dieser Mission.
Im Leben wie im Tode überlässt die Marine nichts dem Schicksal.
Das Royal Navy Ceremonial and Drill, eine langweilig aussehende Publikation, erstmals gedruckt 1834, widmet nicht weniger als elf Seiten dem Thema Beerdigungen, auf denen in sorgfältig ausgewählten Worten alles vom Transport des Leichnams über den Ehrensalut bis zum Abspielen von »The Last Post« beschrieben wird. So heißt es beispielsweise, dass »der Sarg immer mit den Füßen voran getragen« werden sollte. Der Union Jack ist »so über den Sarg zu legen, als befände sich der obere linke Quadrant über der linken Schulter des Verstorbenen«. Ehrenbegräbnisse können jedem Offizier oder Dienstgrad zuteilwerden, der sich zum Zeitpunkt seines Todes im aktiven Dienst befand, obwohl Sonderregelungen getroffen werden können, »vorausgesetzt, dass der Friedhof in angemessener Entfernung liegt und dass keine öffentlichen Kosten entstehen, die über den Wert der benötigten Platzpatronen hinausgehen«.
Um genau elf Uhr an einem herrlichen englischen Frühlingstag verließen drei Wagen das weitläufige Royal Hospital Haslar in Gosport und fuhren langsam in Richtung des Friedhofs, dessen lange Reihen weißer Grabsteine stumme Zeugen zweier Weltkriege waren. Das im achtzehnten Jahrhundert erbaute Krankenhaus war einst das größte Backsteingebäude Europas gewesen. Zur Zeit der Landung in der Normandie hatte es die erste Blutbank des Landes beherbergt. Im Laufe der Jahre hatte es so viele Beerdigungsprozessionen erlebt, dass die Straße vor dem Krankenhaus als die »Meile des toten Mannes« bekannt war.
Die Autos waren schwarz, poliert und funkelten in der Sonne: ein Daimler-Leichenwagen, flankiert von zwei Limousinen. Sie hielten am Rand des Friedhofs und die Sargträger – zwei Warrant Officer und zwei höhere Unteroffiziere (wie in Abschnitt J/9513 von Ceremonial and Drill beschrieben) – kümmerten sich um den Sarg, über den die Nationalflagge korrekt drapiert war.
Der Tod von Admiral Sir Miles Messervy, manchen als »M« bekannt, war einige Tage zuvor einer weitgehend desinteressierten Welt bekannt gegeben worden. Der Mangel an Aufmerksamkeit war alles andere als unerwartet. Nur vierzig, fünfzig Personen – von denen die meisten nun auf dem Friedhof anwesend waren – wären in der Lage gewesen, den Chef des britischen Geheimdienstes zu identifizieren, und nicht einmal sie, oder nur sehr wenige von ihnen, hatten jemals seinen richtigen Namen oder die genaue Art seiner Tätigkeit gekannt. Sein Werdegang war in dem kurzen Nachruf, der in der Presse erschienen war, umrissen worden. Ausbildung am Nautical College, Pangbourne, und dann auf der HMS Britannia in Dartmouth. Dienst in den Dardanellen, Kommandant des Schlachtkreuzers HMS Renown, Leiter des Marinenachrichtendienstes und dann der unaufhaltsame Aufstieg … Konteradmiral, Vizeadmiral, Admiral. Companion des Order of the Bath und obendrein Chevalier der Légion d’honneur. Er hatte den Posten des Vierten Seelord abgelehnt, weil es, wie die Times schrieb, »andere Bereiche gab, in denen er das Gefühl hatte, seinem Land von größerem Nutzen sein zu können«. Der Geheimdienst wurde in dem Nachruf nicht erwähnt. Auch die Tatsache, dass er ermordet worden war, war ausgelassen worden. Es hieß lediglich, dass er auf dem Höhepunkt seiner Karriere plötzlich und unerwartet gestorben sei. Sowohl der Premierminister als auch der Erste Seelord würdigten seine lange und vorbildliche Karriere.
Keiner der beiden hatte die Reise nach Gosport angetreten, obwohl beide Vertreter geschickt hatten. Eine Beerdigung, besonders eine militärische, neigte dazu, alle Teilnehmer gleich aussehen zu lassen, und die Menge der Trauernden, die sich auf dem Friedhof versammelt hatte, war unauffällig, die meisten von ihnen hatten graues, schütteres Haar, trugen einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Schweigend standen sie auf dem grünen Rasen verteilt.
Nur zwei Frauen waren zu sehen. Die eine war die Witwe von Sir Miles Messervy, Lady Frances Messervy. Sie stand ganz still da, gestützt von einem jungen Mann, der nicht ihr Sohn war. Die Messervys hatten ihren einzigen Sohn im Krieg verloren. Das Gesicht der Witwe war hinter einem Schleier verborgen. Die andere, die ihn vielleicht am besten gekannt und sicherlich mehr Zeit in seiner Gesellschaft verbracht hatte, war seine Sekretärin, Miss Moneypenny. Sie trug ein ärmelloses Kleid mit einem taillierten Blazer, nicht schwarz, sondern mitternachtsblau. Einen Schleier brauchte sie nicht. Ihr Gesicht verriet nichts.
Hätte man Journalisten in die Nähe des Friedhofs gelassen, hätten sie sich vielleicht für den Mann mit dem Aussehen und der Haltung eines professionellen Butlers interessiert, der mit einer einzelnen schwarzen Rose in den behandschuhten Fingern neben dem Grab stand. Sein Name war Porterfield und es handelte sich bei ihm tatsächlich um den Oberkellner des Blades, des Gentlemen’s Clubs, dem Sir Miles angehört hatte. Der Club in der Park Street in der Nähe der Pall Mall hatte nur zweihundert Mitglieder und es war dort Tradition, dass im Falle des Todes eines dieser Mitglieder eine schwarze Rose zur Beerdigung geschickt wurde. Es gab nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem echte Exemplare gezüchtet wurden: das Dorf Halfeti am Ufer des Euphrat in der Türkei. Dieses Exemplar war extra eingeflogen worden und Porterfield hatte die Aufgabe übernommen, es zum Grab zu bringen. Er hatte den Admiral immer sehr gemocht. Er wollte ihm persönlich seinen Respekt erweisen.
Als sich der Leichenwagen vom Krankenhaus aus auf den Weg machte, betraten zwei Nachzügler den Friedhof. Die beiden Männer, ähnlich alt und identisch gekleidet, wären für jeden, der sie nicht kannte, nicht zu unterscheiden gewesen, obwohl sie aus sehr verschiedenen Welten kamen. Der eine war ein angesehener Neurologe, der für seine Arbeiten über psychosomatische Erkrankungen einen Nobelpreis erhalten hatte. Der andere war Permanent Secretary im Verteidigungsministerium.
Dieser Mann, Sir Charles Massinger, ergriff als Erster das Wort, während sie auf das offene Grab zugingen. »Was genau ist denn passiert?«, fragte er. Es hatte keine Begrüßung gegeben, keine Beileidsbekundungen.
Der andere Mann schien von der Frage überrascht. Sein Name war Sir James Molony und er war insofern eine Rarität, als er tatsächlich eine enge persönliche Beziehung zu dem Verstorbenen gepflegt hatte. Er war auch als Erster am Tatort eingetroffen und es war ihm zugefallen, seinen alten Freund für tot zu erklären. »Es scheint, dass es den Russen gelungen ist, einen seiner eigenen Leute umzudrehen und auf ihn anzusetzen«, sagte er. »Ich bin sicher, Sie haben von dem ganzen Trubel um die neuen Gehirnwäschetechniken aus Korea gehört. Ich fürchte, ich habe das immer für Unsinn gehalten, die Vorstellung, dass man in den Kopf eines Menschen eindringen kann. Das klingt wie etwas aus einem Roman von John Buchan oder George du Maurier … zumindest dachte ich das. Offensichtlich habe ich mich geirrt.«
»Ich weiß, was passiert ist«, erwiderte der Permanent Secretary barsch. »Ich habe die Akte auch gelesen. Ich wollte wissen, wie er damit durchkommen konnte. Sie waren dabei, wie ich höre.«
»Ich kam kurz danach an.«
»Und? Das ist das zweite Mal, dass die Abteilung ihren Topmann in genau diesem Raum verloren hat. Man sollte meinen, sie hätten aus ihren früheren Fehlern gelernt.«
Da konnte Sir James nicht widersprechen. M war zum Chef des Geheimdienstes ernannt worden, nachdem sein Vorgänger erschossen worden war. »Es gibt nicht viel, was ich Ihnen sagen kann«, sagte er. »Die Mordwaffe war eine spezielle, mit Zyanid geladene Pistole. Nur die Russen können sich so eine Vorrichtung ausdenken. M hatte Vorkehrungen getroffen – kugelsichere Schutzschirme und so weiter –, aber sie haben offensichtlich nicht funktioniert.«
»Und der Mann, der ihn getötet hat. Er war einer von uns!« Das war keine Frage. Sondern ein Ausdruck der Verachtung. »James Bond.«
Der Name hing schwer in der Luft zwischen all den anderen in Stein gemeißelten auf dem Friedhof.
»Ja, Sir. Sie werden sich erinnern, dass Bond vor einem Jahr im Einsatz verschwand. Gott weiß, wie lange die Russen ihn hatten oder was sie mit ihm angestellt haben. Aber am Ende gaben sie ihm eine Waffe und schickten ihn nach Hause. Er war darauf programmiert, zu töten.«
»M hätte niemals zulassen dürfen, dass er in seine Nähe kommt.«
»Ich stimme zu. Aber das war Ms Entscheidung.«
Sir Charles Massinger runzelte die Stirn. »Nun, es ist ein verdammtes Ärgernis. Und es sagt allgemein nichts Gutes über unsere Kompetenz aus, nicht wahr? Hoffen wir, dass wir das aus der Presse heraushalten können.«
»Wir tun unser Bestes.« Sir James Molony hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Er war dem Primary Secretary erst ein paarmal begegnet, aber er sah ihn als das, was er war. Mit ziemlicher Sicherheit ein Eton-Absolvent mit einem Vater und möglicherweise sogar schon einem Großvater im öffentlichen Dienst. Er war mit einem eisernen Erfolgswillen in die Welt der Erwachsenen entlassen worden, der auf einem geringen Selbstwertgefühl, der Angst vor Frauen und der emotionalen Bandbreite eines Heranwachsenden fußte. Er erinnerte sich daran, dass Sir Charles M nie gemocht hatte. Er hatte den Leiter des Geheimdienstes für unberechenbar und eigensinnig gehalten und ihm die große Loyalität seines Umfelds übel genommen. Was M betraf, so hatte dieser seine Meinung natürlich für sich behalten.
Als sie die Menschenmenge erreichten, trennten sich ihre Wege und sie standen sich am Grab gegenüber. Sir James ging zu einem jüngeren Mann, der allein dastand und müde und ein wenig misstrauisch wirkte. Die beiden schüttelten sich die Hände. »Wie kommen Sie zurecht?«, murmelte Sir James und nahm seinen Platz neben ihm ein.
Bill Tanner, Ms Stabschef, zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin froh, wenn das hier vorbei ist, Sir James.«
»Das sind wir alle.« Er senkte seine Stimme. »Werden sie anbeißen?«
Als Antwort drehte Tanner den Kopf und schaute unauffällig zu einem Auto, das am Rande der Meile des toten Mannes neben einer öffentlichen Telefonzelle geparkt war. Der Wagen war ein zweifarbiger Hillman Imp in trostlosem Grau und Beige. Er konnte gerade noch die Umrisse der beiden Männer darin erkennen, die die Beerdigung beobachteten. Genau das hatte er erwartet. Wenn er später ins Büro zurückkehrte, würden die Fotos von Fahrer und Beifahrer auf seinem Schreibtisch liegen und das Kennzeichen würde zurückverfolgt worden sein, wahrscheinlich zur russischen Botschaft. Nur die Sowjets hätten sich für ein Auto entscheiden können, das so schlecht gebaut war und dann auch noch in einer so hässlichen Farbkombination daherkam.
Sir James hatte es auch gesehen. »Müssen die so verdammt offensichtlich sein?«, fragte er.
Tanner lächelte. »Tja, so ist das in Rotland nun mal. Die hatten noch nie viel für Subtilität übrig.«
Der Fahrer im Inneren des Wagens bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde. Er sah zu, wie der Sarg auf den Friedhof getragen wurde, dann wandte er sich an seinen Begleiter und nickte. »Poswoni im.« Rufen Sie an. Seine wulstigen Lippen spuckten die Worte wie Traubenkerne aus.
Der Beifahrer stieg aus und ging zur Telefonzelle hinüber. Er steckte das Geld in den Schlitz und wählte eine Nummer. Er wurde sofort verbunden.
»Die Beerdigung findet gerade statt«, sagte er, immer noch auf Russisch.
»Der alte Teufel ist also tot. Und Bond?«
»Er ist verschwunden. Wir haben Leute, die Nachforschungen anstellen können. Wollen Sie, dass wir Kontakt aufnehmen?«
»Tun Sie noch nichts. Wir sollen auf weitere Anweisungen warten.«
Das Gespräch wurde beendet. Der Mann ging zum Auto zurück. Er fragte sich, was mit dem Spion geschehen würde, der seinen Herrn getötet hatte. Bonds Name war nicht in den Zeitungen aufgetaucht, und auch auf den offiziellen Kanälen war nichts über ihn zu hören gewesen. Es war fast so, als wäre er, wie so viele Mitglieder der russischen Intelligenzija während der Stalin-Jahre, zur Unperson geworden.
Würde ihn die britische Justiz verurteilen? Einfacher wäre es, sich in einem anonymen Keller um ihn zu kümmern. Eine Kugel in den Kopf oder vielleicht eine Injektion. So würde man es jedenfalls zu Hause machen. Andererseits war dies ein Land, das stolz auf sein jahrhundertealtes Rechtssystem war, mit seinen bizarren Ritualen und seinen Anwälten und Richtern, die immer noch Perücken trugen. Sie würden mit ziemlicher Sicherheit auf ein ordentliches Verfahren bestehen: Anhörung, Untersuchungshaft, Prozess, das unvermeidliche Todesurteil für Hochverrat und Mord, Gefängnis, gefolgt von einer Hinrichtung im Morgengrauen.
Eigentlich lächerlich. Das Ergebnis wäre das gleiche.
Alles in allem war es ein guter Tag im Kampf gegen den westlichen Imperialismus gewesen. Gerade als der Mann das Auto erreichte, hallte irgendwo hinter ihm eine Reihe von Schüssen durch die Luft. Er drehte sich nicht um, sondern stieg ein. Einen Moment später fuhren die beiden davon.
Eine Woche vor der Beerdigung, als M noch lebte, saß James Bond in der ersten Reihe der BOAC Boeing 707-436, die ihn von Kingston International zum Londoner Flughafen brachte, mit einer einstündigen Zwischenlandung auf den Bermudas. Es war ein seltsames Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, in einer Metallröhre gefangen und sogar vollständig bekleidet zu sein. Jamaika hatte ihn nur widerwillig gehen lassen. Bond hatte sich nur allzu schnell an die kleine Villa in der Nähe des Mona-Staudamms gewöhnt, an den Ausblick auf den Hafen und das Meer, an den schweren Duft der Passionsblumen in der Luft, an die leuchtenden Farben der Grasmücken und Kolibris, die über den Zweigen der Flammenbäume schwebten, und an den Klang der Steel Drums, die den Hang hinaufhallten.
Während er an den »Médaillons de foie gras de Strasbourg« knabberte, die ihm zusammen mit einem aufdringlichen Margaux Casque du Roi 1950 im Rahmen des Monarch Service der Fluggesellschaft serviert worden waren, dachte er über die Ereignisse nach, die ihn hergeführt hatten. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass er noch vor wenigen Monaten als hoffnungsloser Fall gegolten hatte, als arbeitsunfähig, als Gefahr für sich selbst und sein Umfeld.
Er war von den Russen gefangen genommen, einer Gehirnwäsche unterzogen und nach England zurückgeschickt worden, um M zu töten. Glücklicherweise erinnerte er sich nur an sehr wenig davon: die Besprechung in Ms Büro, die wirren Dinge, die er gerufen hatte, der Moment, als er die Giftpistole mit dem tödlichen Zyanidspray hervorgeholt hatte. Glücklicherweise war M vorbereitet gewesen. Auf Knopfdruck war eine Glasscheibe heruntergefahren, die den Chef des Secret Intelligence Service geschützt hatte. Es war Bond gewesen, der zusammengebrochen war. Man hatte ihn bewusstlos aus dem Büro getragen und in ein sicheres Krankenhaus auf dem Land gebracht.
Das hätte das Ende der Sache sein müssen. Jeder andere hätte Bond aus dem Dienst entlassen, ihm vielleicht eine kleine Rente zukommen lassen, ihn aber schließlich vergessen. Nicht so M. Wenn der KGB die Frechheit besaß, einen seiner besten Männer auf ihn zu hetzen, würde er den Spieß einfach umdrehen. Sie hatten Bond behandelt, umprogrammiert und geheilt – und ihn dann auf eine Mission nach Jamaika geschickt, die selbst sein Stabschef für Selbstmord gehalten hatte. Aber wie M argumentiert hatte, musste Bond sich beweisen. Dies war seine Chance gewesen.
Sein Ziel war ein in Kuba ansässiger Attentäter namens Francisco »Pistols« Scaramanga gewesen, ein Mann, der mehrere britische Agenten mit seinem berühmten goldenen Revolver getötet hatte. Bond hatte ihn aufgespürt und war unter dem Namen Mark Hazard Scaramangas persönlicher Assistent geworden. Dies hatte ihn zum Thunderbird Hotel und zu einem Plan geführt, der darauf abgezielt hatte, die westlichen Interessen in der Karibik zu untergraben, und den Scaramanga mit einer Gruppe amerikanischer Gangster und KGB-Agenten ausgeheckt hatte. Wie immer in solchen Fällen hatte das Ganze mit Schmerz und Blutvergießen geendet. Bond war fast getötet worden. Er hatte die letzten Tage damit verbracht, sich zu erholen, und war dabei von seiner ehemaligen Sekretärin, der stets fesselnden Mary Goodnight, persönlich betreut worden.
Das einzige Problem war, dass sie genau das getan hatte.
Ihn gefesselt.
Goodnight war eine wundervolle, sonnengebräunte Frau mit goldenem Haar und einer perfekten Figur. Sie war eine erstklassige Krankenschwester, Sekretärin und Geliebte gewesen. Ohne sie hätte er es niemals mit Scaramanga aufnehmen können. Aber Bond hatte ihre Arme zu eng um sich gespürt und fast von Anfang an gewusst, dass er eine Ausrede brauchen würde, um sich aus dieser Lage zu befreien.
Diese Ausrede war früher als erwartet gekommen, und zwar in Form eines streng geheimen Telegramms, das mit PRISM unterzeichnet war – was bedeutete, dass M persönlich es abgesegnet hatte. Mary hatte sich geduldig an die Arbeit mit der Triple-X-Chiffriermaschine gemacht, aber noch während sie die Einstellungen vorgenommen und mit der Entschlüsselung begonnen hatte, war ihr Gesicht von einer Vorahnung erfüllt gewesen, als hätte sie irgendwie gewusst, was kommen würde.
PERSÖNLICH FÜR 007 STRENG GEHEIM STOPP BEDAUERLICH ABER ERHOLUNG MUSS SOFORT ABGEBROCHEN WERDEN STOPP KEHREN SIE NACH LONDON ZURÜCK FÜR DRINGENDE WIEDERHOLE DRINGENDE BESPRECHUNG STOPP PASS, TICKET UND DOKUMENTE LIEGEN IM MIAMI HOTEL BEREIT ENDE PRISM
Bond hatte immer noch keine Ahnung, worum es eigentlich ging. Interessant war, dass er den Auftrag erhalten hatte, als Mark Hazard zu reisen, der für das Transworld-Konsortium arbeitete – derselbe Deckname, den er während seiner Zeit in Jamaika benutzt hatte. Die Chiffrierer hatten es geschickt als »Miami Hotel« verschlüsselt. Bond nippte an seinem Wein. Vielleicht war er zu selbstkritisch, aber ihm kam in den Sinn, dass keine seiner letzten beiden Missionen wirklich erfolgreich gewesen war. Er hatte sich von Blofeld in seinem »Garten des Todes« auf der Insel Kyushu gefangen nehmen lassen, und er hatte eine Kopfverletzung erlitten, die ihn ein Jahr lang außer Gefecht gesetzt hatte. In Russland war er in die Fänge des KGB geraten. Und selbst Scaramanga hätte ihn fast getötet. Wie durch ein Wunder hatte die Kugel aus seiner versteckten Derringer Bonds lebenswichtige Organe verfehlt, aber sie war mit so viel Gift getränkt gewesen, dass sie ein Pferd hätte töten können. Wenn der Polizist, der ihn gefunden hatte, nicht so schnell reagiert hätte, würden Bond und Scaramanga jetzt vielleicht Seite an Seite liegen.
Warum war er es, der überlebt hatte? Bond hatte seinen eigenen Nachruf bewusst nicht gelesen, der nach seinem Verschwinden in Japan veröffentlicht worden war. Aber allein die Tatsache, dass er existierte, hatte ihn nachdenklich gemacht. Wie lange würde er noch so weitermachen können, bevor er wirklich umgebracht wurde? Le Chiffre, Mr Big, Hugo Drax, Rosa Klebb, Dr. No … es gab eine lange Liste von Leuten, die versucht hatten, ihn zu töten, und die jetzt alle vor den Toren der Hölle Schlange standen. Bond hatte eine hervorragende Ausbildung genossen. Während seiner Zeit beim Marinegeheimdienst hatte er sich im Nahkampf hervorgetan und er beherrschte Boxen und Judo. Er war der beste Schütze des Geheimdienstes. Aber er konnte nicht leugnen, dass er in vielen Situationen einfach nur Glück gehabt hatte. Und ihm war klar, dass sein Glück nicht ewig anhalten konnte.
Außerdem wurde er älter. Hätte ihn ein verwundeter und sterbender Scaramanga vor zwölf Jahren, als Bond auf seine erste Mission geschickt worden war, mit einer zweiten versteckten Waffe überraschen können? Bond war es gelungen, sich umzudrehen und vom Boden aus fünf Schüsse abzugeben, aber hatte er sich schnell genug bewegt? Er erinnerte sich nicht nur an den Schmerz, sondern auch an die Erschöpfung, die er empfunden hatte, als er im Krankenhaus von Kingston wieder zu sich gekommen war. Noch immer spürte er schmerzhaft, wie der Stoff seines Hemds über die Schusswunde scheuerte. Wollte er seinem Körper das wirklich weiter zumuten?
Bond hatte den Appetit verloren. Er rief nach der Stewardess, die ihm das Essenstablett abnahm. Dann lehnte er sich zurück und ließ sich vom Brummen der vier Rolls-Royce-Mantelstromtriebwerke in den Schlaf wiegen, die das Flugzeug mit neunhundertfünfundsechzig Kilometern pro Stunde den Rand der Welt entlangtrieben, durch den lila und silbern schimmernden Dunst der unteren Stratosphäre, während er Jamaika mit seinen Geheimnissen und heimlichen Vergnügungen weit hinter sich ließ.
»Mr Hazard?«
Der Beamte war jung, trug einen eleganten Anzug und stand am Fuß der Treppe, die vom Flugzeug herunterführte. Er hatte Bond auf den ersten Blick erkannt. »Ihr Gepäck wird zu Ihnen nach Hause geschickt, Sir«, fuhr er fort. »Ich habe Anweisung, Sie direkt zu Ihrer Besprechung zu bringen. Ist es in Ordnung, wenn Sie hinten sitzen?«
»Ja. Das wird schon gehen.«
Bond war beeindruckt. Die weißen und gelben Busse, die die Passagiere zum Oceanic-Gebäude bringen sollten, waren nicht für ihn bestimmt. Auf dem Rollfeld parkte eine schwarze Limousine, hinter dem Steuer saß ein uniformierter Fahrer. Die Sonne schien, doch die Luft war kühl und roch nach Flugbenzin, ein schlechter Tausch nach dem herrlichen jamaikanischen Klima. Mit seiner Aktentasche und einem leichten Regenmantel über dem Arm stieg Bond in den Wagen und lehnte sich zurück, als der junge Mann die Tür schloss und vorn einstieg. Am liebsten wäre er direkt nach Hause gefahren und hätte lange geduscht, so heiß wie er es gerade noch ertragen konnte, dann eiskalt. Dann ein Teller mit Rührei von seiner Haushälterin May und vielleicht eine Bloody Mary. Damit hätte er die Strapazen des Überseeflugs abschütteln können. Doch daraus wurde nichts.
Der Wagen verließ den Flughafen und ließ London sofort hinter sich. Bond wurde nicht zu dem Bürogebäude in der Nähe des Regent’s Park gebracht, wo M, wie er angenommen hatte, im neunten Stock auf ihn warten würde. Sie fuhren durch den weiten Süden Londons, dann befanden sie sich plötzlich auf dem Land und passierten erst Sevenoaks, dann Tonbridge auf ihrem Weg nach Kent. Erst als sie das Dorf Matfield erreichten, begann Bond, sich unwohl zu fühlen. Er erkannte die kleine Kirche St. Luke’s, die Dorfwiese und die Pubs. Er war erst vor Kurzem hier gewesen und hatte gehofft, nie wieder zurückzukommen.
Sie fuhren weiter in Richtung Brenchley und inzwischen gab es keinen Zweifel mehr an ihrem Ziel. Tatsächlich wurde der Wagen in einer schmalen, von Pappeln gesäumten Gasse langsamer und bog dann in die Einfahrt eines riesigen Herrenhauses ein, das sorgfältig in einem zweihundert Hektar großen Grundstück versteckt war. Dies war The Park. Es war das Genesungsheim, in das Bond vor drei Monaten eingeliefert worden war, unmittelbar nachdem er versucht hatte, M zu töten.
Trotz der kühlen Luft im Wagen spürte Bond, wie ihm auf der Stirn und im Nacken der Schweiß ausbrach. Erneut sah er M ihm gegenübersitzen, während sich das Panzerglas absenkte. Er war sich immer noch nicht sicher, was ihn mehr anwiderte: das Wissen um das, was ihm während seiner langen Gefangenschaft in Russland angetan worden war, oder die Tatsache, dass er so kurz davorgestanden hatte, den Mann zu töten, den er auf dieser Welt am meisten bewunderte.
Bond verdrängte den Gedanken aus seinem Kopf. Einen Moment später hielt der Wagen an. Der junge Fahrer war sofort zur Stelle und öffnete die Tür. »Ich hoffe, Sie haben die Reise genossen, Sir.«
»Ja. Vielen Dank.« Bond wünschte, er wäre nie in die Limousine gestiegen. Wollten sie ihn ernsthaft erneut festschnallen und an die Blackbox anschließen, die ihm Tag für Tag das Hirn gebraten hatte? Doch als er zur Eingangstür blickte, sah er einen Mann herauskommen und erkannte Bill Tanner, seinen engsten Freund beim Geheimdienst. Tanner lächelte und freute sich sichtlich, ihn zu sehen. Bond entspannte sich leicht. Vielleicht hatte er doch nichts zu befürchten.
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
»Guten Flug gehabt, James?«
»Nicht allzu schlecht. Worum geht es hier eigentlich? Ich hatte eigentlich nicht erwartet, wieder hier zu landen.«
»Ja. Tut mir leid. Aber M wollte Sie an einem abgelegenen Ort treffen, und das hier schien die beste Option zu sein.«
»M ist hier?«
»Sir James Molony ebenfalls. Die beiden warten bereits auf Sie.« Bond zögerte und der Stabschef lächelte. »Sie haben mit Scaramanga gute Arbeit geleistet. M war sehr zufrieden. Es ist natürlich lästig, Ihren Urlaub unterbrechen zu müssen, aber es hat sich etwas Merkwürdiges ergeben. Es ist nichts, womit wir bisher zu tun hatten, und … nun, Sie werden ja sehen. Ich fürchte, Sie sind der einzige Mann für diesen Job.«
»Sagen Sie, Bill … wie geht es ihm?«
Sie wussten beide, wen er meinte. Bond hatte M seit dem Attentat nicht mehr gesehen. Es war Tanner gewesen, der ihm nach seiner Rückkehr in den Dienst seine unterschriebenen Befehle gegeben und ihn nach Jamaika geschickt hatte. Damals war Bond dafür dankbar gewesen. Er hatte nicht gewusst, wie er M nach dem, was er getan hatte, wieder gegenübertreten sollte, und so ging es ihm auch jetzt.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, James«, versicherte ihm der Stabschef. »Er ist nicht nachtragend. Ganz und gar nicht. Er weiß, dass Sie für Ihre Taten nicht verantwortlich waren. Und so wie sich die Dinge entwickeln, haben uns die Russen vielleicht eine einmalige Gelegenheit verschafft.«
»Warum hier?«
»Im The Park? Ja, ich kann mir vorstellen, dass er nicht zu Ihren Lieblingsorten gehört. Aber es wird Sinn ergeben, sobald Sie mit M gesprochen haben.«
Bond verstummte. Er wusste, dass es nicht Tanners Aufgabe war, einen Auftrag, der Bond zugeteilt worden war, zu kommentieren oder zu erläutern, und wahrscheinlich hatte sein alter Freund schon zu viel gesagt. Bond senkte den Blick, konzentrierte sich auf den kunstvoll gemusterten Teppich vor sich und überlegte, warum das Mobiliar in Regierungseinrichtungen immer so unsagbar hässlich sein musste. So musste er den Gang nicht sehen, der zu dem Raum führte, in dem er eingesperrt worden war, oder noch schlimmer, die Tür, die zum »Behandlungszentrum« führte. Sie kamen zu einem Korridor und gingen die Treppe hinauf. Eine Krankenschwester in gestärkter weißer Uniform ging an ihnen vorbei und Bond wandte sich ab. Aber auch wenn sie ihn erkannt hatte, verlangsamte sie nicht ihr Tempo oder drehte sich nach ihm um.
Sie erreichten eine schwere Eichentür, die in einen massiven Rahmen eingelassen war. Tanner warf einen Blick zu Bond, der nickte. Daraufhin klopfte Tanner an und sie traten ein.
Der Raum war groß und luftig, hatte drei Fenster, durch die man das Anwesen sehen konnte. Es gab einen schweren antiken Schreibtisch, aber M hatte einen Sessel gewählt, in dem er saß und mit einem anderen Mann sprach, den Bond sofort erkannte. Während seiner Behandlung im The Park hatte er viele Gespräche mit Sir James Molony geführt und war ihm für seine kühle Professionalität dankbar gewesen. Der Neurologe hatte ihn nie verurteilt, sondern deutlich gemacht, dass Bond sein Patient war und dass er ihm nur helfen wollte. Als Bond hereinkam, standen die zwei Männer auf. Sie wirkten erfreut, ihn zu sehen.
»Willkommen zurück, 007«, begann M und Bond war trotz allem froh, wieder die schneidende Stimme zu hören, die er so gut kannte. »Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja, Sir. Vielen Dank.«
»Es tut mir leid, dass ich Sie hierher zurückschleppen muss. Ich bin mir sicher, dass Sie nach Ihrem letzten Besuch erst mal genug von diesem Ort haben. Aber wir hatten gute Gründe, Sie von London fernzuhalten, und die Leute, die Sie treffen müssen, sind zufällig hier. Sie erinnern sich natürlich an Sir James.«
Sir James Molony lächelte. »Wie geht es Ihnen, Mr Bond? Keine Gedächtnislücken mehr, hoffe ich.«
»Nein, Sir.«
»Wie läuft’s mit dem Programm, das ich für Sie aufgestellt habe?«
Tatsächlich hatte Bond die sogenannten rekonstruktiven Gedächtnis- und Konfabulationsübungen, die man ihm verordnet hatte, fast sofort nach seiner Ankunft in Jamaika aufgegeben. Außerdem hatte er seine diversen Medikamente abgesetzt. Er lächelte schwach. »Es war sehr hilfreich, Sir.«
»Bitte setzen Sie sich, 007. Stabschef, Sie können auch bleiben.«
M und Sir James kehrten an ihre Plätze zurück. Bond nahm in einem harten Ledersessel Platz. Bill Tanner blieb an der Tür stehen. Der Raum war irgendwie zu groß, zu leer für ein Gespräch wie dieses. Bond vermisste die Intimität von Ms Büro am Regent’s Park mit seiner Holzvertäfelung und dem Pfeifenrauch. Er hätte auch gern Moneypenny gesehen.
Aber M kam sofort zur Sache. »Ich möchte gleich sagen, dass das, was vor drei Monaten zwischen uns passiert ist, vergeben und vergessen ist«, begann er. »Sie waren nicht verantwortlich für Ihre Taten. Sie wurden in Japan verletzt und fielen in die Hände des KGB. Der hat Sie einer Gehirnwäsche unterzogen und Sie auf mich gehetzt, aber das haben wir alles hinter uns gelassen. Ich sage Ihnen jetzt, dass ich Sie vor allem deshalb nach Jamaika geschickt habe, um Ihnen und mir zu beweisen, dass Sie immer noch ein erstklassiger Agent sind, und mit dem Tod von Scaramanga haben Sie mir wieder einmal zu meiner vollsten Zufriedenheit bewiesen, dass ich mich auf Sie verlassen kann.
Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, 007. Was ich Ihnen jetzt vorschlage, ist sehr gefährlich, selbst für die Verhältnisse Ihrer bemerkenswerten Karriere. Es gibt viele Leute, auch meinen Stabschef, die mich für verrückt halten, dass ich das überhaupt in Betracht ziehe. Sie waren doch schon in Moskau, oder?«
»Ja, Sir.« Es stimmte. Bond war ein paar Monate lang der britischen Botschaft zugeteilt gewesen, obwohl das schon lange her war, mindestens zwölf Jahre, bevor er sich der Doppelnullabteilung angeschlossen hatte.
»Nun, dort geht irgendetwas vor sich«, fuhr M fort. »Ich glaube, dass es ernsthafte Auswirkungen auf die Sicherheit des Westens haben könnte. Letzte Woche habe ich eine Information erhalten, die mich vermuten lässt, dass Sie, und nur Sie, perfekt geeignet sind, um herauszufinden, was dort los ist. Die Russen haben Sie geschickt, um mich zu töten, und ohne das Office of Works und seine Vorrichtung hätten sie ihr Ziel vielleicht erreicht. Aber nur wenige wissen, was an jenem Tag wirklich passiert ist. Stellen wir uns einmal vor, es wäre anders gelaufen. Nehmen wir an, Sie wären nie nach Jamaika gereist. Sie sind vor vier Monaten nach London zurückgekehrt, aber wir haben uns erst diese Woche getroffen. Sie stehen immer noch unter der Gehirnwäsche und haben versucht, mich genau so zu töten, wie es Ihnen aufgetragen wurde. Nur dass es Ihnen in dieser Version der Ereignisse gelungen ist. Das ist es, was sie glauben sollen. Ich will, dass sie mich für tot halten. Wir werden sogar eine Beerdigung veranstalten, wenn das hilft, sie zu überzeugen.« M lächelte. »Und dann will ich Sie zurückschicken.«
»Es gibt Leute, die sagen, dass sich die Sowjetunion in den elf Jahren verändert hat, seit Stalin uns allen einen Gefallen getan hat, indem er tot umgefallen ist«, fuhr M fort. »Sie sprechen von Chruschtschows Tauwetterperiode. Der Freilassung politischer Gefangener. Der Abschaffung der Zwangsarbeit. Einem gewissen Maß an Liberalisierung in der Kunst und so weiter. Chruschtschow ist auch im Umgang mit anderen Ländern offener: Jugoslawien, Estland, Litauen. Er hat sogar den Vereinigten Staaten einen Besuch abgestattet – nicht dass es viel bewirkt hätte. Nixon und er kamen nicht gut miteinander aus. Ich habe mir sagen lassen, dass der Erste Sekretär ziemlich enttäuscht war, dass er Disneyland nicht besuchen durfte, was Ihnen vielleicht einen Eindruck von diesem Mann vermittelt. Man kann sich nicht vorstellen, dass Stalin oder Beria Schlange gestanden hätten, um Micky Maus die Hand zu geben. Aber all das ist nur die halbe Geschichte. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass der russische Bär seine Krallen niemals einziehen wird. Da war ein KGB-Agent, der Sie durch Jamaika verfolgt hat. Wie war sein Name noch mal?«
»Hendriks«, sagte Bond.
»Ach ja, richtig. Er arbeitete von der Zentrale in Havanna aus und war allzu gern bereit, mit Scaramanga, der Mafia und jedem anderen zusammenzuarbeiten, der unseren Interessen schaden könnte. Der KGB entwickelt sich rasant zum größten Geheimdienst der Welt mit einer ganzen Abteilung, die sich allein politischen Attentaten widmet. Trotz all seiner Disneyland-Ambitionen ist Chruschtschow genauso grausam wie alle anderen. Sehen Sie sich die Berliner Mauer an! Seit achtzehn Monaten sind ganze Familien auseinandergerissen und es könnte Jahre dauern, bis sie sich wiedersehen können. Und dann war da noch sein unbedachter Ausflug nach Kuba, der die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte. Ich spreche zwar vom russischen Bären, aber es ist eher der Doppeladler aus den Tagen des Zaren. Er blickt in eine Richtung und lächelt. Doch gleichzeitig blickt er auch in die andere Richtung und in seinen Augen liegen Mordgelüste.«
M griff in seine Tasche und holte die Pfeife heraus, die er immer bei sich trug. Er wiegte den Pfeifenkopf in der Hand, zündete sie aber nicht an, vielleicht aus Rücksicht auf das Gebäude, in dem er sich befand.
»Sie fragen sich vielleicht, wohin das führen soll«, fuhr er fort. »Also komme ich gleich zur Sache. Vor etwa einem Monat, als Sie in Jamaika waren, wurden wir auf eine neue staatliche Sicherheitsbehörde aufmerksam, die eine Art Nachfolger von SMERSCH zu sein scheint, auch wenn sie geheimnisumwittert ist. Sie trifft sich im achten Stock ihres alten Gebäudes in der Sretenka-Straße in Moskau, was wohl eine Art Statement sein soll, und wenn ich Ihnen sage, dass der Mann, der sie leitet, General Nikolai Grubozaboischikow ist, nun, dann könnte die Verbindung kaum deutlicher sein.«
Bond hielt den Atem an. General Grubozaboischikow, Held der Sowjetunion für seine Rolle bei der Verteidigung Moskaus und der Einnahme Berlins, war der Chef von SMERSCH gewesen, als sie einen ausgeklügelten Plan ausgeheckt hatten, um den britischen Geheimdienst zu diskreditieren.* Ihr Plan, an dem eine schöne Frau und die neueste Generation der Chiffriermaschinen beteiligt gewesen waren, wäre ohne Bond geglückt. Kurz darauf war General Grubozaboischikow verschwunden, mutmaßlich hingerichtet als Preis für sein Scheitern. Aber jetzt war er zurück, vielleicht sogar in seinem alten Büro, und dachte sich neue Verschwörungen aus.
»Die Organisation nennt sich Stalnaja Ruka, was übersetzt Stahlhand heißt«, erklärte M. »Der Name mag fantasievoll sein, aber wir können ihm eine gewisse Menge an Informationen entnehmen. Zunächst einmal verfolgen sie eindeutig eine harte Linie. Mehr noch, das erste Wort muss mit seinem Bezug zu Stalin bewusst gewählt worden sein. Dies ist die mörderische Seite des Adlers. Sie lassen die alten Zeiten wieder aufleben.«
»Nett, dass sie uns das mitteilen«, murmelte Bond.
»Sie können nicht anders«, bemerkte Sir James. »Die Russen müssen sich wie Comic-Schurken benehmen. Sie haben sich seit Hunderten von Jahren gegenseitig brutalisiert. Für sie ist es ein endloses Machtspiel, bei dem sie ihre Rolle zu verkörpern haben.«
M nickte kurz. »Es gibt noch vier weitere hohe Offiziere, die das Zentralkomitee von Stalnaja Ruka bilden«, sagte er. »Es ist interessant, dass sie aus verschiedenen Teilen des sowjetischen Staatsapparats berufen wurden. General Wolchow arbeitet im leitenden Zentralorgan des Militärnachrichtendienstes GRU. Generalleutnant Kirilenko ist vom KGB. Sie leitet die Abteilung V der Ersten Hauptdirektion, die sich mit dem beschäftigt, was sie mokrie dela nennen.«
Bond wusste, was das bedeutete. Nasse Sachen, oder im Klartext: Morde, Entführungen und Terroranschläge. Er bemerkte, dass Kirilenko eine Frau war. Vermutlich war sie in die nicht gerade grazilen Fußstapfen von Rosa Klebb getreten.
»Und vielleicht am interessantesten, wir haben Erik Mundt, der keinen Rang hat und nicht einmal Russe ist, bei dem es sich aber um den dritthöchsten Offizier im ostdeutschen Ministerium für Staatssicherheit handelt – der Stasi. Ein höchst unangenehmer Zeitgenosse. Er kam spät zum Kommunismus, was ihn nur noch fanatischer macht, als wollte er die verlorene Zeit aufholen. Er kümmert sich um Spitzel und potenzielle Überläufer, was angesichts dessen, was ich Ihnen gleich erzählen werde, ironisch ist. Sie nennen ihn Der Hammer, weil das seine bevorzugte Waffe ist. Seine Verhöre überlebt man in der Regel nicht.«
M hustete. Er hatte mehr als vierzig Jahre lang geraucht und die Pfeife schmiegte sich schuldbewusst in seine Hand, als wüsste sie, dass sie daran schuld war.
»Sie haben also KGB, GRU, SMERSCH und aus Ostdeutschland die Stasi. Vier große Geheimdienste, die zu dieser neuen Organisation, Stalnaja Ruka, zusammengelegt wurden … aber zu welchem Zweck?« M sah zu Bond. »Das ist der Grund, warum wir heute hier sind. Wir müssen es wissen.«
»Sind wir sicher, dass es sich tatsächlich um eine sowjetische Organisation handelt, Sir?«, fragte Bond. »Woher wissen wir, dass sich General G. nicht selbstständig gemacht hat?«
»Das ist eine gute Frage, 007 – und eine, die wir natürlich auch in Betracht gezogen haben. Aber wir wissen mit Sicherheit, dass Stalnaja Ruka direkt an den Kreml berichtet … an Alexander Schelepin, den stellvertretenden Ministerpräsidenten der Sowjetunion. Er hört die Sitzungen telefonisch mit und ist derjenige, der die Strippen zieht. Viel höher geht es nicht.«
»Wir haben jemanden innerhalb der Gruppe?«
»Hatten.« Auf der Seite des Schreibtischs lag eine Akte. M griff danach. Er holte ein Schwarz-Weiß-Foto heraus und reichte es Bond. Es zeigte einen Mann etwa in Bonds Alter, dunkelhaarig und gut aussehend, bis auf eine Narbe, die eine Gesichtshälfte so stark verunstaltete, dass Bond zuerst dachte, das Foto sei zerknittert. »Das ist Karl Brenner. Geboren 1927 in Berlin. Eine Zeit lang war er der Star der ostdeutschen Jugendhandballmannschaft. Die Narbe bekam er, als der Reisebus, mit dem die ganze Mannschaft zu einem Spiel unterwegs war, auf der Autobahn verunglückte. Sechs Spieler kamen dabei ums Leben. Im Jahr darauf trat Brenner der Kommunistischen Partei bei und wurde inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Er wurde zum Hauptmann befördert, obwohl er keine militärische Erfahrung hatte, und wurde Mundts Adjutant. Das Problem ist, dass er anfing, am politischen System in Ostdeutschland zu zweifeln und auf die andere Seite der Mauer zu schielen. Vor sechs Monaten trat er mit geheimen Informationen über Stasi-Aktivitäten an uns heran. Die Abmachung lautete, dass wir ihn da rausholen und er uns dafür mehr geben würde.
Es war Brenner, der uns von der Existenz von Stalnaja Ruka erzählt hat … vieles davon konnten wir verifizieren. Er erzählte uns auch, dass sie etwas Großes planen, das das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West völlig zerstören würde. Er sagte, es würde bald geschehen. Das einzige Problem ist, dass er uns nicht sagen wollte, was es ist oder wo es stattfindet. Er wollte sicher sein, dass wir unseren Teil der Abmachung einhalten und ihm beim Überlaufen helfen würden. Station G hatte alle Vorkehrungen getroffen, um ihn aus Berlin herauszubringen – über die Mauer –, aber Brenner bestand darauf, dass er uns nicht alles sagen würde, bevor er nicht sicher auf der anderen Seite war. Leider ist vor einer Woche der Vorhang gefallen. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, der Hammer. Brenner muss einen Fehler gemacht haben, und ein Fehler war alles, was nötig war. Er wurde in das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gebracht und zu Tode geprügelt.
Und das ist also der Punkt, an dem wir nun stehen, 007. Die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was diese Leute vorhaben, besteht darin, jemanden dort einzuschleusen, und ich fürchte, Sie sind unsere beste Chance.«
M hielt inne. Bond sah aus dem Augenwinkel Bill Tanner und Sir James Molony, die ihn aufmerksam beobachteten. Er wollte fragen, wie das alles funktionieren sollte. Warum er? Aber schon während er das eben Gehörte überdachte, wurde ihm bewusst, dass etwas fehlte. Was war es? Ja. Das war es, was M absichtlich ausgelassen hatte.
»Sie sagten, dass vier hohe Offiziere unter General G. bei Stalnaja Ruka arbeiten«, sagte er. »General Wolchow, Generalleutnant Kirilenko und Erik Mundt. Wer ist der vierte?«
M war zufrieden. »Das ist richtig. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, 007. Das vierte Mitglied der Exekutive ist ein Mann, der Ihnen sehr gut bekannt ist. Wir haben keine Ahnung, was er mit dieser ganzen Sache zu tun hat, aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass er unsere beste Option darstellt.« M hielt inne. »Sein Name ist Oberst Boris.«
Bond hätte damit rechnen müssen. Angesichts dessen, was M zu Beginn des Treffens gesagt hatte, hätte nichts anderes einen Sinn ergeben. Aber die beiden Worte hatten eine außergewöhnliche Wirkung auf ihn. Es war, als wäre der gläserne Schirm, der zum Schutz von M heruntergeschossen war, erneut heruntergefallen, aber diesmal war er zersplittert und hatte alles auf der anderen Seite verzerrt. Bond starrte in eine andere Welt. Im selben Moment schienen alle Lichter zu erlöschen und die Dunkelheit brach wie eine Welle über ihn herein.
Er sah sich selbst nackt in einer Zelle stehen. Er war schon lange dort. Er war schmutzig. Jemand schrie ihn an … auf Russisch, auf Englisch, er konnte es nicht erkennen. Er wurde bestraft. Er wurde geschlagen. Ihm wurde eine Spritze gegeben, die Nadel drang in die Hauptader seines linken Arms ein. Er spürte, wie das Halluzinogen in seinen Blutkreislauf gelangte und sein Gehirn erreichte. Dann löste sich alles auf und wieder einmal waren sein Geist und sein Körper irgendwie voneinander getrennt, bis er aus dem Tunnel herausgezogen wurde und sich in einem Ledersessel in einem hell erleuchteten Raum wiederfand, in dem ihm ein Mann gegenübersaß, der ihn ruhig beobachtete.
Oberst Boris.
Er war gekleidet wie immer, wie ein Zahnarzt mit seiner weißen, kragenlosen Jacke, die im Nacken zugeknöpft war, und lächelte ihn mit der gleichen freundlichen Art an, bevor der Bohrer in den Zahn eindrang. Er sah fast zu gut aus mit seinem perfekten Lächeln und seinem akkurat geschnittenen Haar, dessen blassgoldene Strähnen ein Gesicht umrahmten, das einem jener Renaissance-Gemälde entsprungen sein könnte, die einen Helden oder einen Halbgott darstellen, der zwar einem Menschen ähnelte, dem aber auf jeden Fall der menschliche Faktor fehlte. Er hatte außergewöhnliche Augen. Es war nicht nur ihre Intelligenz, sondern die Art, wie sie einen sezierten. Sie hatten zudem verschiedene Farben. Das linke Auge war blass grau. Das rechte Auge leuchtend blau. Dieser Unterschied machte es fast unmöglich, ihn längere Zeit anzusehen. Es war, als starre man jemanden an, der einen Arm oder ein Bein verloren hatte. Es fühlte sich übergriffig an. Wie alt war Oberst Boris? Er hatte die glatte, makellose Haut eines sehr jungen Mannes und die Erfahrung und Autorität eines viel älteren.
Er schien Bond zum ersten Mal zu bemerken. Er sprach.
»Wie geht es Ihnen, James? Fühlen Sie sich erholt?«
»Ich fühle mich …« Die Stimme war nicht mehr als ein Wimmern. Es war nicht seine.