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"Jane Eyre" ist der erste und zugleich bedeutendste Roman der britischen Schriftstellerin Charlotte Brontë (1816-1855). Er erschien im englischen Original 1847, wurde allerdings ursprünglich unter dem Pseudonym Currer Bell veröffentlicht. Erzählt wird die Lebensgeschichte der Titelheldin, von der schweren Kindheit im Internat Lowood bis hin zu ihrer Anstellung als Gouvernante im Landhaus Thornfield Hall des wohlhabenden Mr. Rochester, den sie trotz aller Unterschiede sehr anziehend findet. Dann geschehen auf Thornfield Hall seltsame Dinge... "Jane Eyre" zählt zu den herausragenden Werken der englischen Literatur des Viktorianismus und verbindet Gothic-Elemente mit Romantik. Es ist ein Bildungsroman, der die heranreifende junge Heldin im Spannungsfeld zwischen Liebe und sozialen Normen, zwischen eigenen und fremden Wünschen und Wertvorstellungen zeigt. Die dramatische Geschichte einer jungen Frau, die gegen alle Widrigkeiten um Selbstbehauptung und persönliches Glück kämpft, wurde mehrfach verfilmt und erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Maria von Borch (1853-1895) und enthält Illustrationen von Frederick Henry Townsend (1868-1920). Dieses ist der dritte von drei Bänden. Der Umfang entspricht ca. 250 Druckseiten.
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Seitenzahl: 553
CHARLOTTE BRONTË
JANE EYRE
DIE WAISE VON LOWOOD
ROMAN
BAND 3
ILLUSTRIERTE AUSGABE
JANE EYRE wurde im englischen Original zuerst veröffentlicht von Smith, Elder and Co., Cornhill, London 1847
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2021
V 1.0
Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der Übersetzung aus dem Jahr 1877 von Maria von Borch (1853-1895). Unregelmäßigkeiten in der Zeichensetzung und Rechtschreibung wurden weitestgehend beibehalten und nicht der heutigen Schreibweise angeglichen.
Dieses Buch ist Teil der ApeBook Classics: Klassische Meisterwerke der Literatur als Hardcover, Paperback und eBook. Weitere Informationen am Ende des Buches und unter: www.apebook.de
ISBN 978-3-96130-383-0
Buchherstellung & Gestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
Die Illustrationen im Buch stammen von Frederick Henry Townsend (1868-1920).
Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – gemeinfreie Werke und nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, teilweise bearbeitet von SKRIPTART.
Alle Rechte vorbehalten.
© apebook 2021
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JANE EYRE
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Inhaltsverzeichnis
JANE EYRE (Illustrierte Ausgabe): Band 3 von 3
Impressum
Portrait von Charlotte Brontë (1873)
DRITTER TEIL
ERSTES KAPITEL.
ZWEITES KAPITEL.
DRITTES KAPITEL.
VIERTES KAPITEL.
FÜNFTES KAPITEL.
SECHSTES KAPITEL.
SIEBENTES KAPITEL.
ACHTES KAPITEL.
NEUNTES KAPITEL.
ZEHNTES KAPITEL.
ELFTES KAPITEL.
ZWÖLFTES KAPITEL.
DREIZEHNTES KAPITEL.
VIERZEHNTES KAPITEL.
FÜNFZEHNTES KAPITEL.
SECHZEHNTES KAPITEL.
SIEBZEHNTES KAPITEL.
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Zu guter Letzt
PORTRAIT VON CHARLOTTE BRONTË (1873)
VON EVERT AUGUSTUS DUYCKINCK (1816-1878),
NACH EINER ZEICHNUNG VON GEORGE RICHMOND
DRITTER TEIL.
Es ist etwas Seltsames um Vorahnungen! Und ebenso um Sympathien, und dasselbe ist's mit Vorbedeutungen. Die drei zusammen bilden ein Geheimnis, zu dem die Menschheit den Schlüssel noch nicht gefunden hat. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht über Vorahnungen lachen können; denn ich selbst habe deren gar eigentümliche gehabt. Sympathien existieren ebenfalls; das glaube ich bestimmt (zum Beispiel zwischen lange abwesenden, weit entfernten Verwandten, die einander schon seit langer Zeit entfremdet sind und trotzdem Sympathien haben, welche genau die Gemeinsamkeit ihres Ursprungs kennzeichnen), Sympathien, deren Wirkungen weit über unser Begriffsvermögen hinausgehen. Und was wissen wir denn – Vorbedeutungen sind vielleicht die Sympathien, welche die Natur mit dem Menschen hat. Als ich ein kleines Mädchen von kaum sechs Jahren war, hörte ich eines Abends, wie Bessie Leaven zu Marthe Abbot sagte, ihr habe von einem kleinen Kinde geträumt, und es sei eine sichere Vorbedeutung von Kummer und Unglück für einen selbst oder die Angehörigen, wenn man von Kindern träume. Dies Gespräch würde sich meinem Gedächtnis wahrscheinlich gar nicht eingeprägt haben, wenn nicht gleich darauf ein Umstand eingetreten wäre, der dazu gedient, es dort für immer festzuhalten. Am nächsten Tage wurde Bessie nach Hause an das Totenbett ihrer jüngsten Schwester geholt.
In letzter Zeit war mir jenes Gespräch zusammen mit dem darauffolgenden Zwischenfalle oft wieder eingefallen. Denn während der letzten Woche war kaum eine Nacht hingegangen, die mir nicht den Traum eines Kindes gebracht hätte. Zuweilen wiegte ich es in meinen Armen, dann wieder schaukelte ich es auf meinen Knieen, manchmal sah ich es auch draußen im Garten auf dem Gras-Platze mit Frühlingsblumen spielen oder in einem rieselnden Quell bunte Steinchen und Kiesel suchen. In dieser Nacht war es ein weinendes Kind, in der nächsten ein lachendes; jetzt schmiegte es sich schmeichelnd an mich, dann steht es wieder voll Furcht vor mir. Welche Stimmung die Erscheinung aber auch zur Schau tragen mochte, welche Gesichtszüge sie tragen mochte – sie verfehlte nicht, mir an sieben aufeinanderfolgenden Nächten entgegen zu treten, sobald ich die Augen zum Schlummer geschlossen hatte.
Mir war diese stete Wiederkehr eines einzigen Gedankens unheimlich – diese seltsame Wiederkehr des gleichen Bildes beunruhigte mich, und ich wurde nervös, wenn die Zeit des Schlafengehens näher kam und mit ihr die Vision. Die Gesellschaft dieses Kinderphantoms war es gewesen, die mich in jener Mondscheinnacht geweckt, als ich den Schrei hörte. Und am Nachmittag des folgenden Tages kam eine Dienerin mit der Botschaft zu mir, daß in Mrs. Fairfaxs Zimmer jemand sei, der mich zu sprechen wünsche. Als ich hinunter kam, fand ich einen Mann, der auf mich wartete; er sah aus wie ein herrschaftlicher Kammerdiener; er war in tiefe Trauer gekleidet und der Hut, welchen er in der Hand trug, war in Krepp gehüllt.
»Sie werden sich meiner kaum noch erinnern, Miß,« sagte er, indem er sich bei meinem Eintritt erhob, »aber mein Name ist Leaven; als Sie vor acht oder neun Jahren in Gateshead waren, war ich Kutscher bei Mrs. Reed; ich bin auch jetzt noch in ihren Diensten.«
»O, Robert. Sie sind's! Wie geht es Ihnen? Ich erinnere mich Ihrer noch sehr wohl. Sie ließen mich ja zuweilen auf Miß Georgines braunem Pony reiten. Und wie geht es Bessie? Sie sind doch mit Bessie verheiratet?«
»Ja, Miß. Meine Frau ist kerngesund. Danke für die Nachfrage; – vor zwei Monaten hat sie mir wieder ein Kleines geschenkt – wir haben jetzt drei – und Mutter und Kinder gedeihen gut.«
»Und ist die Familie im Herrenhause auch gesund, Robert?«
»Es tut mir leid, Miß, daß ich Ihnen von dort keine besseren Nachrichten bringen kann; aber es geht ihnen augenblicklich sehr schlecht – sie haben großen Kummer.«
»Ich hoffe, daß niemand von ihnen gestorben ist,« sagte ich, indem ich auf seinen schwarzen Anzug deutete. Auch er blickte auf den Krepp an seinem Hute und sagte:
»Mr. John ist gestern vor acht Tagen in seiner Wohnung in London gestorben.«
»Mr. John?«
»Ja, Miß.«
»Und wie trägt seine Mutter es?«
»Nun sehen Sie, Miß Eyre, dies ist kein gewöhnliches Unglück; er hat ein gar wildes Leben geführt. Während der letzten drei Jahre hat er gar sonderbare Dinge getrieben – und sein Tod war fürchterlich.«
»Ich hörte von Bessie, daß er nicht gut tat.«
»Nicht gut tat! Barmherziger Gott! Er konnte nichts Schlimmeres tun! Er hat seine Gesundheit und seine Güter zu Grunde gerichtet in Gesellschaft der schlechtesten Männer und der schlimmsten Weiber. Er geriet in Schulden und – ins Gefängnis. Zweimal hat seine Mutter ihm heraus geholfen, aber kaum war er frei, als er auch schon zu seinen alten Kumpanen und alten Gewohnheiten zurückkehrte. Sein Kopf war niemals stark, Sie wissen das wohl, Miß, und die Schurken, unter welchen er lebte, betrogen und foppten ihn in der unerhörtesten Weise. Vor ungefähr drei Wochen kam er nach Gateshead hinunter und verlangte von Mistreß, daß sie ihm das ganze Besitztum übergeben solle. Mistreß weigerte sich, durch seine Verschwendung und Extravaganzen sind ihre Mittel schon seit langer Zeit zusammengeschmolzen. So kehrte er denn wieder um nach London, und das nächste, was wir von ihm hörten, war seine Todesnachricht. Wie er gestorben ist – Gott mag es wissen! – Die Leute sagen, daß er sich umgebracht hat.«
Ich schwieg. Das war eine entsetzliche Nachricht.
Robert Leaven fuhr fort:
»Mistreß war schon seit langer Zeit kränklich gewesen; sie ist sehr fett geworden, aber sie ist nicht kräftig dabei; und der Verlust des Geldes und die Furcht vor der Armut richteten sie schier zu Grunde. Die Nachricht von Mr. Johns Tode und die Art, wie er herbeigeführt, kam zu plötzlich: das führte einen Schlaganfall herbei. Drei Tage lang konnte sie kein Wort sprechen, aber am letzten Dienstag schien es ihr wieder besser zu gehen; es war als wollte sie etwas sagen, denn sie machte meiner Frau fortwährend Zeichen und murmelte unverständliche Worte. Erst gestern Morgen konnte Bessie verstehen, daß sie Ihren Namen aussprach, und zuletzt verstand sie ganz deutlich, wie sie sagte: Bringt mir Jane – – holt Jane Eyre, ich muß mit ihr sprechen.
»Bessie weiß nun nicht, ob sie bei Sinnen ist, und ob sie irgend etwas mit den Worten meint; aber sie hat es Miß Reed und Miß Georgina gesagt und ihnen geraten, Sie, Miß, holen zu lassen. Die jungen Damen wollten anfangs nichts davon wissen; aber ihre Mutter wurde so ruhelos, und rief so oft »Jane! Jane! Jane!« daß sie endlich einwilligten. Ich verließ Gateshead gestern; und wenn Sie bis morgen früh fertig werden könnten, Miß, so würde ich Sie gern mitnehmen.«
»Ja, Robert, ich werde fertig sein. Mir ist, als müßte ich doch gehen.«
»Ich glaube auch, Miß; Bessie sagte, Sie würden sich ganz gewiß nicht weigern. Aber Sie werden wohl um Erlaubnis bitten müssen, ehe Sie gehen?«
»Gewiß. Und ich werde es augenblicklich tun.« Dann führte ich ihn in das Zimmer der Domestiken, und nachdem ich ihn der Fürsorge von Johns Frau und Johns eigener Liebenswürdigkeit warm empfohlen hatte, machte ich mich auf den Weg, um Mr. Rochester zu suchen.
Er war in keinem der Zimmer des unteren Stockwerks; er war nicht im Hofe, nicht in den Ställen, nicht im Park. Ich fragte Mrs. Fairfax, ob sie ihn gesehen habe; – ja, sie glaubte, er sei im Billardzimmer und spiele mit Miß Ingram. Folglich eilte ich ins Billardzimmer. Das Aneinanderschlagen der Billardkugeln und das Gemurmel von Stimmen drang mir von dort entgegen. Mr. Rochester, Miß Ingram, die beiden Schwestern Eshton und ihre Anbeter – sie alle waren mit dem Spiel beschäftigt. Es bedurfte einigen Mutes, um eine so illüstre Gesellschaft zu stören; mein Anliegen war aber derart, daß es keinen Aufschub duldete; daher näherte ich mich meinem Herrn, der neben Miß Ingram stand.
Bei meiner Annäherung wandte sie sich um und maß mich mit hochmütigem Blick: ihre Augen schienen zu fragen: »Was kann diese schleichende Kreatur jetzt wollen?« Und als ich mit leiser Stimme sagte: »Mr. Rochester«, machte sie eine Bewegung, als hätte sie große Lust mir zu befehlen, daß ich mich entferne. Noch heute steht ihre Erscheinung vor mir – sie war sehr graziös und eigentümlich. Sie trug ein Morgenkleid von himmelblauem Crepe, ein durchsichtiges azurfarbenes Band schlang sich durch ihre Locken. Sie war dem Spiel mit großer Lebhaftigkeit gefolgt, und zürnender Hochmut konnte den stolzen Linien ihres herrlichen Gesichts nichts anhaben,
»Will die Person etwas von Ihnen?« fragte sie zu Mr. Rochester gewendet. Und Mr. Rochester wandte sich um, zu sehen, wer die »Person« sei. – Er schnitt ein sonderbares Gesicht – eine seiner seltsamen, doppelsinnigen Demonstrationen – warf die Billardqueue fort und folgte mir in den Korridor hinaus.
»Nun, Jane?« fragte er, indem er sich mit dem Rücken an die Tür des Schulzimmers lehnte, die er soeben geschlossen hatte.
»Sir, ich bin gekommen, um einen Urlaub von einer oder zwei Wochen von Ihnen zu erbitten.«
»Was wollen Sie damit? Wohin gehen Sie?«
»Ich will eine kranke Dame besuchen, die mich holen läßt.«
»Welche kranke Dame? Wo wohnt sie?«
»In Gateshead, in –shire.«
»–shire? Das ist ja hundert Meilen von hier! Was kann sie Ihnen sein, daß Sie von Ihnen verlangt, eine solche Entfernung um ihretwillen zurückzulegen?«
»Ihr Name ist Reed, Sir, Mrs. Reed.«
»Reed auf Gateshead? Ich kannte einen Reed auf Gateshead, der Ratsherr war.«
»Sie ist seine Witwe, Sir.«
»Und was haben Sie mit ihr zu tun? Woher kennen Sie sie überhaupt?«
»Mr. Reed war mein Onkel, der Bruder meiner verstorbenen Mutter.«
»Zum Teufel! War er das? Weshalb haben Sie mir das nicht längst erzählt. Sie sagten stets, daß Sie keine Verwandten hätten.«
»Keine, die mich anerkannten, Sir. – Mr. Reed ist tot – und seine Witwe hat mich verstoßen.«
»Weshalb?«
»Weil ich arm und ihr eine Last war. Sie hat mich mit leidenschaftlichem Hasse verfolgt.«
»Reed hat aber, so viel ich weiß, Kinder hinterlassen. Sie müssen also doch auch Vettern und Cousinen haben? Sir George Lynn sprach gestern von einem Reed auf Gateshead, der, wie er sagte, einer der verkommensten Menschen in London sei; und Ingram erwähnte einer Miß Georgina Reed von demselben Gute, einer berühmten Schönheit, die vor einigen Jahren in London großes Aufsehen gemacht hat.«
»John Reed ist jetzt ebenfalls tot, Sir; er hat sich selbst vollständig zu Grunde gerichtet und seine Familie zur Hälfte mit in diesen Ruin hineingezogen. Man vermutet, daß er einen Selbstmord begangen hat. Diese fürchterliche Nachricht hat seine arme Mutter so sehr erschüttert, daß sie infolge derselben einen Schlaganfall erlitten hat.«
»Und was können Sie ihr nützen? Unsinn, Jane! Es würde mir niemals in den Sinn kommen, hundert Meilen zu reisen, um eine alte Dame zu sehen, die möglicherweise schon tot ist, wenn Sie an Ihrem Bestimmungsort ankommen. Außerdem erzählten Sie mir ja soeben noch, daß sie Sie verstoßen hat.«
»Ja, Sir, aber das ist schon so lange her. Damals lagen die Verhältnisse auch noch ganz anders. Ich würde niemals wieder Ruhe finden, wenn ich ihren Wunsch jetzt unberücksichtigt ließe.«
»Wie lange werden Sie fortbleiben?«
»So kurze Zeit wie irgend möglich, Sir.«
»Versprechen Sie mir, nur eine Woche zu bleiben –«
»Ich möchte Ihnen das nicht mit Sicherheit versprechen; wenn ich Ihnen mein Wort gäbe, könnte ich doch vielleicht gezwungen sein, es zu brechen.«
»Aber auf jeden Fall werden Sie zurückkommen; Sie versprechen mir wenigstens, sich unter keinen Umständen bewegen lassen zu wollen, Ihren Wohnsitz für immer bei ihr aufzuschlagen?«
»O nein! Ich werde zurückkehren, wenn alles wieder gut geworden ist.«
»Und wer begleitet Sie? Hoffentlich denken Sie nicht daran, die hundert Meilen allein zu reisen?«
»Nein, Sir: sie hat ihren Kutscher geschickt.«
»Ein vertrauenswürdiger Mensch?
»Ja, Sir, er lebt seit zehn Jahren in der Familie.«
Mr. Rochester sann nach.
»Und wann beabsichtigen Sie abzureisen?«
»Morgen in aller Frühe, Sir.«
»Gut. Aber Sie brauchen Geld. Sie können unmöglich ohne Geld reisen, und ich glaube kaum, daß Sie noch viel besitzen. Sie haben von mir noch kein Gehalt bekommen. Wieviel besitzen Sie noch in dieser Welt, Jane?« fragte er gutmütig lächelnd.
Ich zog meine Börse hervor; sie war allerdings ein mageres Ding. »Fünf Schilling, Sir,«
Er nahm mir die Börse aus der Hand, schüttete sich den ganzen Inhalt in die Hand und lachte, als gewähre diese armselige Summe ihm eine ganz besondere Freude. Gleich darauf zog er seine Brieftasche hervor:
»Hier,« sagte er und bot mir eine Banknote. Es waren fünfzig Pfund, und er schuldete mir nur fünfzehn. Ich sagte ihm, daß ich die Note nicht wechseln könne.
»Sie brauchen auch nicht zu wechseln. Das wissen Sie. Es ist nur Ihr Gehalt.«
Ich weigerte mich, mehr anzunehmen, als ich rechtmäßig zu fordern hatte. Er runzelte die Stirn. Endlich sagte er, wie wenn ihm plötzlich ein Gedanke gekommen wäre:
»Ja, ja, Sie haben recht, ganz recht! Es ist besser, wenn ich Ihnen jetzt nicht alles gebe. Wenn Sie fünfzig Pfund besäßen, könnten Sie sich am Ende verleiten lassen, drei Monate fort zu bleiben. Hier haben Sie zehn; ist das nicht reichlich?«
»Ja, Sir. Aber jetzt sind Sie mir noch fünf Pfund schuldig.«
»Sie können wieder kommen, um diese einzukassieren. Sie haben jetzt bei mir, Ihrem Banquier, vierzig Pfund gut.«
»Mr. Rochester, da sich mir jetzt gerade Gelegenheit dazu bietet, kann ich gleich noch von einer anderen Geschäftsangelegenheit mit Ihnen sprechen.«
»Geschäftsangelegenheit?? Da bin ich doch neugierig.«
»Sie haben mir in ziemlich klaren Worten mitgeteilt, Sir, daß Sie sich binnen kurzem verheiraten werden.«
»Nun ja. Was weiter?«
»In diesem Falle, Sir, müßte Adele doch in ein Institut geschickt werden. Ich bin überzeugt, daß auch Sie diese Notwendigkeit einsehen.«
»Um sie meiner Frau aus dem Wege zu räumen, die das arme Kind sonst am Ende mit zu viel Pathos übersehen und ignorieren würde. Es liegt Sinn und Verstand in diesem Ratschlage, ohne Zweifel. Ja, ja, wie Sie sagen. Adele muß in ein Institut geschickt werden. Und Sie müssen natürlich geraden Weges – zum Teufel gehen.«
»Das hoffe ich nicht, Sir, aber ich werde mir eine andere Stellung suchen müssen.«
»Mit der Zeit!« rief er aus mit so scharfem Ton und einer Verzerrung der Gesichtszüge, die zugleich komisch und tragisch war. Dann blickte er mich einige Minuten lang an.
»Und vermutlich werden Sie die alte Mutter Reed und ihre Tochter jetzt ersuchen, Ihnen eine Stellung zu besorgen?«
»Nein, Sir. Ich stehe mit meinen Verwandten nicht auf einem solchen Fuße, daß ich das Recht hätte, Gefälligkeiten von ihnen zu verlangen. Aber ich werde in den Zeitungen annoncieren lassen.«
»Sie werden die ägyptischen Pyramiden hinaufklettern!« murmelte er. »Aber annoncieren Sie nur immer auf Ihre eigene Gefahr hin! Ich wollte wahrhaftig, ich hätte Ihnen nur eine Guinee anstatt jener zehn Pfund gegeben. Geben Sie mir neun Pfund zurück. Ich brauche sie, Jane, ich brauche sie notwendig.«
»Und ich brauche sie ebenfalls, Sir,« entgegnete ich, indem ich meine Hand mit der Börse in die Tasche steckte, »Ich könnte Ihnen das Geld unter keinen Umständen wiedergeben.«
»Kleiner Geizhals!« sagte er, »Sie schlagen meine Bitte um Geld wirklich ab! So geben Sie mir fünf Pfund, Jane.«
»Nicht einmal fünf Schilling, Sir; nein, nicht fünf elende Pence.«
»Lassen Sie mich das Geld nur noch einmal sehen.«
»Nein Sir, ich kann Ihnen nicht trauen.«
»Jane!«
»Sir!«
»Versprechen Sie mir eins!«
»Ich bin gern bereit, Sir, Ihnen alles zu versprechen, was ich möglicherweise halten kann.«
»Also versprechen Sie, daß Sie keine Annonce in die Zeitung rücken lassen werden und mir dieses Finden einer passenden Stellung für Sie überlassen. Wenn es Zeit ist, werde ich Ihnen eine solche besorgen.«
»Das will ich mit Freuden tun, Sir, wenn Sie mir Ihrerseits versprechen, daß sowohl ich wie Adele glücklich aus dem Hause sein werden, bevor Ihre junge Frau es betritt.«
»Sehr gut! Sehr gut! Angenommen! Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben! Sie reisen also morgen?«
»Ja, Sir, sehr früh.«
»Werden Sie heute nach dem Mittagsessen in den Salon hinunterkommen?«
»Nein, Sir. Ich muß meine Reisevorbereitungen treffen.«
»So müssen wir uns denn jetzt schon für eine kurze Spanne Zeit Lebewohl sagen?«
»Vermutlich, Sir.«
»Und wie betragen sich die Menschen bei dieser Ceremonie des Abschiednehmens, Jane? Lehren Sie mich das. Ich verstehe mich nicht recht darauf.«
»Sie sagen: Lebewohl oder irgend ein anderes Wort, das ihnen gerade einfällt.«
»Also sagen Sie es.«
»Leben Sie wohl für einige Zeit, Mr. Rochester.«
»Und was muß ich sagen?«
»Dasselbe, wenn Sie wollen, Sir.«
»Leben Sie wohl für einige Zeit, Miß Eyre! Und ist das alles?«
»Ja.«
»Nach meinen Begriffen klingt das armselig und unfreundlich und kalt und herzlos. Ich möchte noch etwas anderes. Einen kleinen Anhang für den Ritus. Wenn man sich zum Beispiel die Hände reichte –; aber nein, – das würde mich auch noch nicht zufrieden stellen. Sie wollen also nichts weiter tun, als mir einfach Lebewohl sagen, Jane?«
»Es genügt, Sir; ein einziges Wort enthält oft mehr Herzlichkeit als deren viele!«
»Vielleicht! Aber es klingt doch leer und kalt, dies – Lebewohl!«
»Wie lange wird er noch so mit dem Rücken an die Tür gelehnt dastehen?« fragte ich mich, »ich möchte gern mit dem Packen anfangen.«
Die Mittagsglocke wurde geläutet, und plötzlich schoß er pfeilschnell ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. Ich sah ihn an diesem Tage nicht wieder, und am nächsten Morgen war ich schon lange unterwegs, bevor jemand im Hause aufgestanden war.
Am Nachmittag des ersten Mai erreichte ich das Parkhüterhäuschen von Gateshead, Es war gegen fünf Uhr. Bevor ich nach dem Herrenhause hinaufging, trat ich hier ein. Es war außerordentlich sauber und hübsch. Vor den architektonisch schönen Fenstern hingen kleine, weiße Vorhänge; der Fußboden war fleckenlos; der Herd und die Feuerzange waren blank poliert, und das Feuer loderte lustig empor. Bessie saß in der Ofenecke und säugte ihren jüngstgeborenen, und Robert und sein Schwesterchen spielten still in einem Winkel des traulichen Gemaches.
»Gott segne Sie! – ich wußte ja, daß Sie kommen würden!« rief Mrs. Leaven bei meinem Eintritt aus.
»Ja, Bessie,« sagte ich, nachdem ich sie umarmt hatte, »und hoffentlich komme ich nicht zu spät! Wie geht es Mrs. Reed? – Sie ist doch noch am Leben?«
»Ja, sie lebt noch; und sie hat die Besinnung teilweise wieder erlangt. Der Doktor sagt, daß es noch eine oder zwei Wochen mit ihr dauern kann; aber auf eine endliche Besserung dürfen wir nicht hoffen.«
»Hat sie meiner kürzlich wieder erwähnt?«
»Heute Morgen erst hat sie von Ihnen gesprochen und gewünscht, daß Sie kommen möchten. Aber jetzt schläft sie. Wenigstens schlief sie, als ich vor zehn Minuten oben im Herrenhause war. Gewöhnlich liegt sie während des ganzen Nachmittags in einer Art von Lethargie und erwacht erst gegen sechs oder sieben Uhr. Miß, wollen Sie sich hier nicht eine Stunde ausruhen? Später werde ich dann mit Ihnen hinaufgehen.«
Hier trat Robert ein, und Bessie legte ihr schlafendes Kind in die Wiege, um ihn zu bewillkommnen. Dann bestand sie darauf, daß ich meinen Hut abnehmen und eine Tasse Tee trinken solle; denn ich sehe so müde und blaß aus, sagte sie. Ich war froh und nahm ihre Gastfreundschaft dankend an. So widerstandslos wie ich mich als Kind von ihr entkleiden ließ, gestattete ich ihr auch jetzt, mir meine Reisekleider abzunehmen.
Wie die alten Zeiten in meiner Erinnerung wieder auflebten, als ich ihrem geschäftigen Treiben zusah! Sie deckte den Teetisch mit ihrem besten Porzellan, schnitt die Butterbrote, röstete einen Teekuchen, und gab dem kleinen Robert und Jane hier und da einen kleinen Schlag oder Stoß – gerade so wie sie es in vergangenen Tagen mit mir zu tun pflegte. Bessie hatte sich ihr rasches Wesen ebensogut bewahrt, wie ihren leichten Schritt und ihr hübsches Gesicht.
Als der Tee fertig war, wollte ich mich an den Tisch setzen, aber in ihrem alten, befehlenden Ton sagte sie mir, ich solle still sitzen. Sie sagte, sie müsse mir am Kaminfeuer servieren; und dann stellte sie einen kleinen, runden Tisch mit meiner Tasse und einem Teller gerösteter Weißbrotschnitten vor mich hin; gerade so wie sie mich früher mit irgend einem heimlich erbeuteten Leckerbissen zu versorgen pflegte, wenn ich in meinem Kinderstuhl saß. Ich lächelte und gehorchte ihr, wie ich es damals getan.
Sie wollte dann wissen, ob ich glücklich in Thornfield-Hall sei, und ich sollte ihr erzählen, was für eine Persönlichkeit die Frau des Hauses sei. Und als ich ihr gesagt, daß Thornfield nur einen Herrn habe, wollte sie wissen, ob er liebenswürdig und gut sei und ich ihn gern habe. Ich erzählte ihr, daß er eigentlich ein häßlicher Mann, aber durchaus ein Gentleman sei, daß er mich mit großer Güte behandle, und ich mich dort glücklich fühle. Ferner beschrieb ich ihr die lustige Gesellschaft, die sich jetzt im Thornfield-Herrenhause aufhielt, und diesen Details hörte Bessie mit großem Interesse zu; es waren Dinge, die einen großen Reiz für sie hatten.
Unter solchen Gesprächen verging eine Stunde gar schnell. Bessie brachte mir meinen Hut und meine Shawls wieder, und von ihr begleitet verließ ich das Parkhüterhäuschen, um mich hinauf ins Herrenhaus zu begeben. Von ihr begleitet war ich auch vor fast neun Jahren den Pfad hinuntergegangen, den ich jetzt hinaufging. An einem düstern, nebeligen, rauhen Januarmorgen hatte ich mit verzweifeltem, erbittertem Herzen ein feindliches Dach verlassen – übermannt fast von einem Gefühl des Geächtetseins, ja, des Verdammtseins – um in den unfreundlichen Hafen von Lowood einzulaufen, in jenem fernen, unbekannten Lande. Und dort stieg nun wieder jenes feindliche Dach vor mir empor. Noch immer waren meine Aussichten zweifelhaft – noch immer schmerzte mir das Herz. Noch immer war ich nur ein einsamer Wanderer auf diesem Erdenball – aber ich hatte ein festeres Vertrauen zu mir selbst und meiner Kraft erlangt; ich fürchtete mich nicht mehr vor dem Unterdrücktsein. Die schmerzende Wunde, die man mir so grausam in den Tagen meiner Kindheit geschlagen, war jetzt geheilt; die Flamme des lodernden Hasses war erloschen.
»Sie müssen sich zuerst in das Frühstückszimmer begeben; die jungen Damen werden wie gewöhnlich dort sein,« sagte Bessie, als sie mir vorauf in die Halle trat.
Nach einem kurzen Augenblick befand ich mich in dem genannten Zimmer.
Jedes Einrichtungsstück stand noch da, wie an jenem Morgen, als ich Mr. Brocklehurst zum erstenmal vorgeführt wurde; der Teppich, auf dem er gestanden, lag noch vor dem Kamin. Als mein Blick über die Bücherschränke und ihren Inhalt schweifte, war mir's als ständen jene zwei Bände »Bewick, Vögel Englands« noch auf ihrem alten Platze auf dem dritten Regal, und Gullivers Reisen und »Tausend und eine Nacht« ständen gerade darüber. Die leblosen Dinge waren ganz unverändert geblieben – die Menschen jedoch waren bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Ich erblickte zwei junge Damen vor mir; die eine war sehr groß, fast so groß wie Miß Ingram – sehr mager und knochig, mit fahlem Teint und strengen harten Zügen. Es lag etwas asketisches in ihrem Blick, das noch erhöht wurde durch die außerordentliche Einfachheit eines schwarzwollenen Kleides mit glattem Rock, einem weißen Leinewandkragen, stramm aus der Stirn gekämmtem Haar und einem nonnenhaften Schmuck, der aus einer Schnur Ebenholzperlen mit daranhängendem großen Kruzifix bestand. Es konnte nicht anders sein – dies war Eliza, obgleich ich in ihrem langen, blutleeren Gesicht wenig Ähnlichkeit mit ihrem früheren Selbst entdecken konnte.
Und ebenso gewiß mußte die andere Georgina sein, aber nicht jene Georgina, deren ich mich erinnern konnte, – jenes schlanke, blonde Mädchen von elf Jahren.
Dies war ein erwachsenes Fräulein, in vollster Blüte, weiß und zart wie Wachs, mit schönen, regelmäßigen Zügen, schmachtenden, blauen Augen und lockigem gelben Haar, Auch sie trug ein schwarzes Kleid; der Schnitt desselben war aber so verschieden von dem ihrer Schwester – so viel kleidsamer und graziöser – daß es ebenso modern aussah, wie das andere puritanisch erschien.
Jede der beiden Schwestern hatte einen Zug von der Mutter – doch nur einen einzigen. Die magere, blasse, ältere Tochter hatte das hervorstehende Auge, – das blühende, üppige, jüngere Mädchen hatte ihr Kinn und ihre Kiefern, – vielleicht waren die Linien ein wenig gemildert, aber dennoch gaben sie dem sonst so schelmischen, üppigen Gesicht einen Zug von unbeschreiblicher Härte.
Als ich auf die Damen zuschritt, erhoben sich beide, um mich zu bewillkommnen, und beide redeten sie mich Miß Eyre an. Elizas Gruß wurde in kurzer, abrupter Weise ausgesprochen, ohne daß sie bei ihren Worten auch nur eine Miene verzogen hätte. Nach der Begrüßung setzte sie sich wieder, heftete ihre Blicke auf das Kaminfeuer und schien meine Anwesenheit nicht weiter zu bemerken. Georgina fügte ihrem »Wie geht es Ihnen« noch mehrere alltägliche Bemerkungen über meine Reise, das Wetter u. s. w. hinzu. Sie sprach in langsam gezogenem, schnarrendem Ton und maß mich dabei seitwärts mit vielsagenden Blicken von Kopf bis zu Fuß; bald musterte sie den Faltenwurf meines braunen Merino-Pelzmantels, bald weilte ihr Auge auf meinem sehr einfachen Reisehute. Junge Damen haben eine merkwürdige Art, einen Menschen wissen zu lassen, daß sie ihn für einen Dummkopf halten, ohne die Worte geradezu auszusprechen. Ein gewisser Hochmut im Blick, Kälte im Wesen, Nonchalance im Ton drücken hinlänglich ihre Gefühle und Ansichten in dieser Beziehung aus, ohne daß sie sich noch besonders durch Unhöflichkeit in Wort oder Tat zu kompromittieren brauchen.
Ein Naserümpfen, ob nun versteckt oder offen, machte jetzt nicht mehr denselben Eindruck auf mich, den es sonst zu üben pflegte. Als ich so dasaß zwischen meinen Cousinen, war ich ganz erstaunt zu finden, wie gleichgiltig mir die vollständige Vernachlässigung der einen und die halbsarkastische Höflichkeit der andern war. Eliza vermochte nicht mich zu demütigen, Georgina konnte mich nicht aus meinem Gleichmut bringen.
In der Tat, ich hatte andere Dinge zu bedenken. Während der letzten Monate waren Gefühle und Empfindungen in mir wach geworden, die so viel mächtiger waren, als irgend welche, die sie zu erregen vermochten – Schmerzen und Freuden hatten in mir getobt, die so viel heftiger und wonniger gewesen, als irgend eine Regung, die sie hervorzurufen imstande gewesen – daß die Mienen dieser beiden Damen mich weder freudig noch traurig stimmen konnten.
»Wie befindet sich Mrs. Reed?« fragte ich alsbald, indem ich Georgina ruhig ins Gesicht blickte; diese hielt es für passend, bei dieser direkten Frage aufzufahren, als sei es eine ganz unerlaubte Freiheit, die ich mir erlaubte.
»Mrs. Reed?? Ah! Sie meinen meine Mama! Sie ist außerordentlich krank. Ich glaube nicht, daß Sie sie heute Abend noch sehen können.«
»Ich würde Ihnen unendlich dankbar sein, wenn Sie hinaufgehen wollten, um ihr mitzuteilen, daß ich gekommen bin.«
Georgina schreckte förmlich empor und riß ihre blauen Augen weit und wild auf.
»Ich weiß, daß sie den besonderen Wunsch geäußert hat, mich zu sehen,« fügte ich hinzu, »und ich möchte die Erfüllung dieses Wunsches nicht weiter hinausschieben als absolut notwendig ist.«
»Mama liebt es nicht, wenn man sie am Abend noch stört,« bemerkte Eliza. Bald darauf erhob ich mich, nahm unaufgefordert ruhig meinen Hut und meine Handschuhe ab und sagte, daß ich für einen Augenblick zu Bessie hinausgehen wolle, – die vermutlich in der Küche sei – um diese zu bitten, daß sie sich vergewissere, ob Mrs. Reed mich heute Abend noch sehen wolle oder nicht. Ich ging, und nachdem ich Bessie gefunden und sie mit meinem Auftrag hinaufgeschickt hatte, fuhr ich fort, weitere Maßregeln zu ergreifen.
Bis jetzt war es stets meine Gewohnheit gewesen, mich vor jeder Arroganz zurückzuziehen, förmlich vor derselben zu fliehen; hätte man mich noch vor einem Jahre irgendwo empfangen, wie man mich heute in Gateshead empfing, so würde ich das Haus binnen weniger Stunden bereits verlassen haben; jetzt sah ich aber plötzlich ein, daß das ein sehr törichtes Verfahren gewesen wäre. Ich hatte eine Reise von über hundert Meilen gemacht, um meine Tante zu sehen und ich mußte jetzt bei ihr bleiben bis sie besser war – oder tot. Den Stolz und die Dummheit ihrer Töchter mußte ich unbeachtet lassen – mich vollständig unabhängig davon machen.
Ich wandte mich also an die Haushälterin, verlangte von ihr, daß sie mir ein Zimmer anweise, sagte ihr, daß ich wahrscheinlich einige Wochen als Gast hier im Hause weilen würde, ließ meinen Koffer auf mein Zimmer bringen und ging dann selbst ebenfalls hinauf.
Auf der Treppe begegnete mir Bessie.
»Mistreß ist wach,« sagte sie. »Ich habe ihr erzählt. daß Sie da sind; kommen Sie und lassen Sie uns sehen, ob sie Sie erkennen wird.«
Ich bedurfte keines Führers nach dem wohlbekannten Zimmer. Wie oft war ich in früheren Tagen hineingerufen worden, um einen Verweis oder eine Strafe zu bekommen. Ich eilte Bessie voran und öffnete vorsichtig und leise die Tür. Die Lampe auf dem Tische war durch einen Schirm verdeckt. Da stand das große Himmelbett mit den bernsteinfarbenen Vorhängen noch wie in alten Zeiten. Dort der Toilettetisch, der Lehnstuhl und der Fußschemel, auf dem zu knieen ich wohl hundertmal verurteilt gewesen. Wie oft hatte ich dort Verzeihung für Sünden erflehen müssen, die ich niemals begangen hatte. Ich blickte in einen gewissen Winkel und erwartete eigentlich halb und halb die schlanken Umrisse einer einst so gefürchteten Reitgerte zu sehen, die dort auf mich zu lauern pflegte und nur darauf wartete, wie ein böser Kobold herausspringen und auf meinem Nacken oder meinen Armen umhertanzen zu können.
Ich näherte mich dem Bette; ich zog die Vorhänge zurück und lehnte mich über die hochaufgetürmten Polster.
Gar wohl erinnerte ich mich des Gesichts von Mrs. Reed und eifrig suchte ich nach den bekannten Zügen. Es ist wahrlich ein Glück, daß die alles mildernde Zeit auch die Rachbegierde erstickt und die Eingebungen der Wut und des Abscheus sänftigt: diese Frau hatte ich in Bitterkeit und Haß verlassen, und jetzt kehrte ich mit keiner anderen Empfindung zu ihr zurück als mit einer Art von Erbarmen über ihr großes Leid, und einem innigen Verlangen alles Unrecht zu vergeben und zu vergessen – mich zu versöhnen und ihre Hand in Freundschaft zu drücken.
Das wohlbekannte Gesicht war da: finster, strenge, erbarmungslos wie immer – jenes eigentümliche Auge, dessen Blick nichts zu besänftigen vermochte – die geschwungenen, herrschsüchtigen, despotischen Brauen. Wie oft hatte dies Auge nur Haß und Zorn und Drohungen auf mich herabgeblitzt! Wie erwachte die Erinnerung an die Schrecken und den Jammer der Kindheit wieder in mir, als ich diese harten Gesichtszüge wieder erblickte! Und doch beugte ich mich zu ihr hinab und küßte sie.
Sie blickte zu mir auf.
»Ist es Jane Eyre?« fragte sie.
»Ja, Tante Reed. Wie fühlen Sie sich, liebe Tante?«
Ich hatte einmal geschworen, daß ich sie nie wieder Tante nennen wollte. Aber ich hielt es für keine Sünde, jenes Gelübde in diesem Augenblick zu brechen. Meine Finger hielten die Hand umschlossen, welche auf der Bettdecke lag: hätte sie die meine freundlich gedrückt, so würde ich eine warme, innige Freude empfunden haben. Aber unempfindliche Naturen werden nicht sobald weich gemacht, und angeborene Antipathien sind nicht so schnell auszurotten: Mrs. Reed zog ihre Hand fort und indem sie ihr Gesicht von mir abwandte, bemerkte sie, daß es ein sehr warmer Abend sei. Und wieder blickte sie mich an, so eisig kalt, daß ich augenblicklich fühlte, wie ihre Ansichten über mich, ihre Empfindungen für mich nicht um ein Atom verändert waren, überhaupt keiner Änderung fähig waren. Ich sah es ihrem versteinerten Auge, welches niemals durch Tränen genetzt, niemals in Zärtlichkeit aufgeleuchtet hatte, an, daß sie fest entschlossen sei, mich bis zum letzten Augenblick für ein schlechtes Geschöpf zu halten; denn im Guten an mich zu glauben würde ihr keine hochherzige Freude gewährt haben – nein, es wäre nur eine Demütigung für sie gewesen.
Ich empfand Kummer, dann bemächtigte sich meiner der Zorn und schließlich faßte ich den Entschluß, sie zu besiegen – ihrer Herr zu werden trotz ihrer hartherzigen Natur und ihres starren Willens. Die Tränen waren mir in die Augen gestiegen, gerade so wie in den Tagen meiner Kindheit – aber ich drängte sie an ihre Quelle zurück. Dann brachte ich einen Stuhl an das Kopfende des Bettes. Ich setzte mich und beugte mich über die Polster,
»Sie haben mich holen lassen,« sagte ich, »und jetzt bin ich hier; und es ist meine Absicht hier zu bleiben, bis ich sehe, daß es sich mit Ihnen zum Besseren wendet.«
»O natürlich! Hast du meine Töchter gesehen?«
»Ja.«
»Nun, du magst ihnen sagen, daß ich wünsche, dich hier zu behalten, bis ich mit dir über einige Dinge sprechen kann, die mir auf der Seele lasten. Heute Abend ist es zu spät, und es wird mir jetzt auch schwer, mich auf die Angelegenheit zu besinnen. Aber etwas wollte ich dir sagen – ja was war es doch gleich –«
Der wirre Blick und die veränderte Sprache zeigten mir nur zu deutlich, wie weit die Zerstörung in diesem einst so kraftvollen Körper bereits vorgeschritten war. Unruhig warf sie sich hin und her und begann an der Bettdecke zu zupfen. Mein Arm, der auf dem Kopfkissen ruhte, suchte sie zu beruhigen. Augenblicklich wurde sie wieder ärgerlich.
»Laß los!« sagte sie, »ärgere mich nicht, indem du mich festzuhalten suchst! Bist du wirklich Jane Eyre?«
»Ich bin Jane Eyre.«
»Ich habe mehr Mühe und Kummer und Verdrießlichkeiten mit dem Kinde gehabt, als irgend ein Mensch glauben würde. Mir eine solche Last aufzubürden! Und wieviel Ärger sie mir täglich und stündlich mit ihren unbegreiflichen Charakteranlagen verursacht hat, mit ihren Ausbrüchen von Heftigkeit und ihrem unnatürlichen, fortwährenden Lauern und Horchen auf alles, was man tat! Ich kann versichern, sie hat eines Tages zu mir gesprochen wie eine Wahnsinnige oder – wie ein Teufel – kein Kind hat jemals ausgesehen oder gesprochen wie sie! Kein Kind! Ich war so froh, sie aus dem Hause los zu werden. Was haben sie in Lowood eigentlich mit ihr gemacht? Das Fieber brach dort aus, und viele, viele Schülerinnen sind gestorben. Aber sie – sie starb nicht. Ich habe trotzdem gesagt, daß sie tot sei! Ach, wie wünschte ich, daß sie gestorben wäre!«
»Ein seltsamer Wunsch, Mrs. Reed! Weshalb haßten Sie sie so sehr?«
»Ich habe ihre Mutter immer gehaßt, denn sie war die einzige Schwester meines Mannes und er hing mit unsäglicher Liebe an ihr. Er hinderte die Familie daran, sie zu verstoßen, als sie jene abscheuliche, niedere Ehe schloß. Und als die Nachricht von ihrem Tode kam, weinte er wie ein Narr. Er wollte durchaus, daß das Baby geholt werde, obgleich ich ihn anflehte, das Kind lieber in die Kost zu geben und für seine Erhaltung zu bezahlen. Ich haßte es schon, als meine Augen es zum erstenmale sahen – ein kränkliches, weinerliches, elendes Ding! Die ganze Nacht hindurch konnte es in seiner Wiege liegen und winseln – es schrie nicht herzlich und kräftig wie andere Kinder – nein, es stöhnte und wimmerte. Reed hatte Erbarmen mit ihm. Und er pflegte es zu liebkosen und zu beruhigen, wie wenn es sein eigenes Kind gewesen wäre, nein, mehr als er jemals die eigenen Kinder beachtet hatte, als sie in jenem Alter waren. Er versuchte auch, meine Kinder freundlich gegen die kleine Bettlerin zu stimmen; aber meine Lieblinge konnten sie nicht leiden, und er wurde ärgerlich, wenn sie ihre Abneigung zeigten. In seiner letzten Krankheit ließ er es fortwährend an sein Bett bringen und kaum eine Stunde vor seinem Tode ließ er mich einen heiligen Eid ablegen, daß ich das Geschöpf stets erhalten und versorgen wolle. Mir wäre es lieber gewesen, wenn man mir die Sorge für ein Bettlerkind aus dem Arbeitshause zur Pflicht gemacht hätte: aber er war so schwach, schwach von Natur. John ist seinem Vater durchaus nicht ähnlich – und ich bin froh darüber: John ist mir ähnlich und meinen Brüdern – er ist ein ganzer Gibson. Ah! ich wollte, er hörte auf, mich mit seinen Bettelbriefen um Geld zu quälen! Ich habe nichts mehr, das ich ihm geben könnte: wir werden arm! Ich müßte die Hälfte der Dienstboten fortschicken und einen Teil des Hauses abschließen – oder es ganz vermieten. Aber ich kann mich nicht darein finden, das zu tun – und doch, wie sollen wir sonst weiter leben? Zwei Drittel meines Einkommens gehen drauf, um die Zinsen der Wucherschulden zu bezahlen. John spielt ganz fürchterlich und er verliert immer, der arme Junge! Er ist von lauter Gaunern und Tagedieben umgeben, John ist ganz gesunken und verkommen – er sieht grauenhaft aus – ich schäme mich seiner, wenn ich ihn sehe.«
Jetzt geriet sie in eine furchtbare Aufregung.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich sie jetzt verlasse,« sagte ich zu Bessie, die an der andern Seite des Bettes stand.
»Vielleicht wäre es besser, Miß; aber gegen Abend spricht sie oft in dieser Weise – des Morgens ist sie gewöhnlich viel ruhiger.«
Ich erhob mich.
»Bleib!« rief Mrs. Reed aus. »Ich habe noch etwas anderes zu sagen. Er droht mir – er droht mir unaufhörlich mit seinem Tode – oder dem meinen. Und zuweilen träumt mir, daß ich ihn mit einer großen Wunde im Halse oder mit blutigem, entstelltem, geschwärztem Gesicht sehe. Es ist gar seltsam mit mir gekommen. Ich habe schweren, grausamen Kummer. Was ist aber zu tun? Woher soll ich das Geld nehmen?«
Jetzt versuchte Bessie, sie zu überreden, daß sie ein Beruhigungsmittel nehme; nur mit großer Mühe gelang es ihr. Gleich darauf wurde Mrs. Reed ruhiger und sank in eine Art von Halbschlaf. Dann ließ ich sie allein.
Mehr als zehn Tage vergingen, bevor sich wieder die Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihr bot. Sie lag entweder im Delirium oder in Lethargie, und der Doktor verbot alles, was sie schmerzlich erregen könnte. Inzwischen stellte ich mich mit Eliza und Georgina so gut es eben gehen wollte. Anfangs waren sie in der Tat sehr kalt. Eliza pflegte halbe Tage hindurch dazusitzen und zu nähen, zu schreiben oder zu lesen, ohne auch nur eine einzige Silbe mit ihrer Schwester oder mir zu sprechen. Georgina konnte stundenlang Unsinn mit ihrem Kanarienvogel schwatzen, ohne mich auch nur im entferntesten zu beachten. Aber ich war entschlossen, mir es nicht an Zerstreuung oder Beschäftigung fehlen zu lassen; ich hatte meine Zeichen- und Malutensilien mitgebracht, und diese verschafften mir beides.
Mit verschiedenen Stiften und einigen Bogen Papier versehen, pflegte ich entfernt von ihnen in einem Fenster mein fliegendes Atelier aufzuschlagen und mich damit zu beschäftigen, Phantasievignetten zu zeichnen, indem ich jedes Bild zu Papier brachte, das sich mir in dem fortwährend wechselnden Kaleidoskop meiner Einbildungskraft darbot: einen Blick auf die See zwischen zwei Felsen hindurch; der aufgehende Mond und ein Schiff, das an der rotglühenden Scheibe vorübersegelt; eine Gruppe von Schlingpflanzen und Wasserlilien, aus welcher der Kopf einer mit Lotusblumen gekrönten Najade emportaucht; eine Elfe, die unter einem Kranz von wilden Rosen aus dem Nest eines Zaunkönigs herauslugt.
Eines Morgens begann ich ein Gesicht zu skizzieren. Ich wußte selbst nicht recht, was für ein Gesicht es werden sollte. Ich nahm einen weichen, schwarzen Stift, gab ihm eine breite Spitze und arbeitete darauf los. Bald hatte ich eine breite, hervortretende Stirn auf das Papier geworfen, die Linien des Untergesichts waren scharf und eckig. Diese Konturen machten mir Freude, und geschäftig machten meine Finger sich daran, die übrigen Züge hineinzuzeichnen. Scharf markierte, horizontale Augenbrauen mußten unter jene Stirn gesetzt werden; dann folgte natürlich eine schön gezeichnete Nase mit geradem Rücken und weiten Nasenlöchern, und nun ein großer aber biegsamer Mund; ein festes Kinn, das in der Mitte gespalten war; jetzt brauchte ich natürlich einen schwarzen Backenbart und kohlschwarzes Haar, das sich wollig an Stirn und Schläfen schmiegte. Und nun die Augen. Ich hatte sie bis zuletzt gelassen, weil sie die sorgsamste Ausführung verlangten. Ich zeichnete sie groß und formte sie schön; die Augenwimpern wurden lang und dunkel, die Iris glänzend und groß.
»Sehr gut, aber doch nicht ganz ähnlich,« sagte ich zu mir selbst, als ich die Wirkung des Ganzen betrachtete: »die Augen brauchen mehr Kraft und Geist«; und ich machte den Schatten noch dunkler, damit das Licht mehr zur Geltung kam – ein oder zwei glückliche Striche waren von vollster Wirkung. So, jetzt hatte ich das Gesicht eines Freundes vor meinen Blicken, Was bedeutete es dann noch, daß jene beiden jungen Damen mir den Rücken wandten? Ich sah die Zeichnung an und mußte über die sprechende Ähnlichkeit lächeln. Nun vertiefte ich mich in das Gesicht und war zufrieden und glücklich.
»Ist es das Porträt eines Menschen, den Sie kennen?« fragte Eliza, welche unbemerkt an mich herangetreten war.
Ich entgegnete, daß es nur ein Phantasiekopf sei und schob die Zeichnung eilig unter die andern Blätter. Natürlich sprach ich die Unwahrheit, denn es war ein sehr getreues Porträt Mr. Rochesters. Aber was kümmerte das sie? Oder irgendjemand außer mir? Auch Georgina kam, um einen Blick darauf zu werfen. Die anderen Zeichnungen gefielen ihr ganz außerordentlich, aber ihn nannte sie »einen garstigen Menschen«, Beide schienen von meiner Geschicklichkeit sehr überrascht. Ich erbot mich, auch ihre Porträts zu skizzieren, und jede saß dann zu einer Bleistiftsilhouette. Schließlich brachte Georgina ihr Album. Ich versprach ihr eine Wasserfarbenskizze für dasselbe, und jetzt war sie augenblicklich in der besten Laune. Sie schlug mir einen Spaziergang im Park vor. Und als wir kaum zwei Stunden draußen gewesen, waren wir mitten in einer vertraulichen Unterhaltung; sie beglückte mich mit einer Beschreibung des glänzenden Winters, den sie vor zwei Jahren in London zugebracht hatte, sie erzählte mir von der Bewunderung, die sie erregt – von den Aufmerksamkeiten, die man ihr erwiesen, und sie ließ sogar eine Andeutung von der hochtönenden Eroberung durchblicken, die sie gemacht hatte. Im Laufe des Nachmittags und des Abends kam sie wieder auf diese Andeutungen zurück und wurde noch deutlicher; sie wiederholte einige zärtliche Gespräche, beschrieb mir mehrere sentimentale Scenen: kurzum, sie improvisierte an diesem Tage einen ganzen Band Novellen aus dem fashionablen Leben, zu meiner Unterhaltung. Täglich machte sie mir neue Mitteilungen, wenn sie auch stets von demselben Thema handelten – von ihr, ihrer Liebe und ihrem Schmerz. Es war seltsam, daß sie niemals mit einer Silbe der schweren Krankheit ihrer Mutter, des fürchterlichen Todes ihres Bruders und des augenblicklichen traurigen Zustandes der Familienangelegenheiten erwähnte. – Ihr Gemüt schien sich nur mit der Erinnerung an entschwundenes Glück und der Hoffnung auf künftige Zerstreuungen zu beschäftigen. Jeden Tag brachte sie ungefähr fünf Minuten in dem Krankenzimmer ihrer Mutter zu, das war alles.
Eliza sprach noch immer sehr wenig; augenscheinlich hatte sie keine Zeit für die Unterhaltung, Ich habe niemals eine geschäftigere Person gesehen, als sie zu sein schien. Und doch wäre es schwer gewesen zu sagen, was sie eigentlich tat, oder vielmehr, irgendein Resultat ihrer Geschäftigkeit zu entdecken. Sie hatte eine Weckuhr, die sie täglich früh wecken mußte. Ich weiß nicht, womit sie sich vor dem Frühstück beschäftigte; nach demselben hatte sie ihre Zeit indessen in regelmäßige Teile geteilt, und jede Stunde hatte die ihr zugeschriebene Arbeit. Dreimal am Tage studierte sie ein kleines Buch, welches sich nach einer genaueren Besichtigung meinerseits als das »allgemeine Gebetbuch« erwies. Ich fragte sie einmal, worin die große Anziehungskraft dieses Buches für sie liege, und sie entgegnete mir: In der Liturgie. Drei Stunden widmete sie der Beschäftigung, mit Goldfäden den Rand eines viereckigen Tuchstücks zu besticken, welches für einen Teppich beinahe groß genug gewesen wäre. Auf meine Frage in Bezug auf die Verwendung dieses Gegenstandes sagte sie mir, daß es eine Altardecke für eine Kirche sei, welche vor kurzem in der Nähe von Gateshead erbaut worden war. Zwei Stunden widmete sie ihrem Tagebuche; zwei weitere arbeitete sie allein im Küchengarten; eine brauchte sie für die Regelung ihrer Rechnungen und Bücher. Sie schien keiner Gesellschaft, keines Verkehrs, keiner Unterhaltung zu bedürfen. Ich glaube, daß sie auf ihre Weise sehr glücklich war; dieser sich täglich wiederholende Schlendrian genügte ihr; und nichts verursachte ihr größeren Ärger, als wenn irgend ein Umstand eintrat, welcher sie zwang, die peinliche Regelmäßigkeit ihrer Arbeiten abzuändern.
Eines Abends, als sie mehr zur Mitteilsamkeit geneigt war als gewöhnlich, sagte sie mir, daß Johns Aufführung und der drohende Ruin ihrer Familie eine Quelle tiefen und nagenden Kummers für sie gewesen seien, jetzt aber habe ihr Gemüt sich beruhigt und ihr Entschluß sei gefaßt. Ihr eigenes Vermögen zu sichern habe sie Sorge getragen, und wenn ihre Mutter stürbe – denn es sei durchaus unwahrscheinlich, daß sie jemals wieder genesen oder daß es noch lange mit ihr dauern könne, bemerkte sie sehr ruhig – so würde sie einen lange gehegten Plan ausführen: dort eine Zuflucht suchen, wo pünktliche Gewohnheiten vor fortwährender Störung gesichert seien, und zwischen sich und der gottlosen Welt eine mächtige Scheidewand aufrichten.
Ich fragte, ob Georgina sie begleiten würde.
Nein, natürlich nicht. Sie und Georgina hätten nichts miteinander gemein, hätten auch niemals die gleichen Interessen verfolgt. Unter keinen Umständen würde sie sich die Last ihrer Gesellschaft auferlegen. Georgina solle nur ihren eigenen Weg gehen; sie, Eliza, würde den ihrigen finden.
Wenn Georgina mir nicht gerade ihr Herz ausschüttete, so brachte sie fast ihre ganze Zeit auf dem Sofa zu, klagte und jammerte über die Düsterkeit des Hauses und wiederholte unaufhörlich den Wunsch, daß ihre Tante Gibson sie einladen möchte, mit ihr nach London zu gehen.
»Es wäre so viel besser,« pflegte sie zu sagen, »wenn ich auf ein oder zwei Monate fort könnte, bis alles vorüber ist.«
Ich fragte sie nicht, was sie mit dem »alles vorüber« meinte, aber ich vermutete, daß es sich auf den erwarteten Tod ihrer Mutter bezog und auf den düsteren, darauf folgenden Begräbnisritus. Eliza nahm von der Indolenz und den Klagen ihrer Schwester nicht mehr Notiz, als wenn solch ein murmelndes, stöhnendes, träges Geschöpf gar nicht in ihrer Nähe gewesen wäre. Eines Tages jedoch, als sie ihr Rechnungsbuch beiseite legte und ihre Stickerei zur Hand nahm, fing sie plötzlich an, ihr folgendermaßen die Wahrheit zu sagen.
»Georgina, ein dümmeres, eitleres und alberneres Tier als du hat sicherlich niemals auf Erden gewandelt. Du hattest nicht einmal das Recht geboren zu werden, denn du weißt keinen Nutzen aus dem Leben zu ziehen. Anstatt für dich, mit und in dir zu leben, wie jedes vernünftige Wesen es tun sollte, suchst du nur, dich mit deiner Schwäche auf die Kraft anderer zu lehnen. Und wenn du niemand findest, der willig ist, sich mit einem so fetten, aufgedunsenen, nutzlosen, schwächlichen Ding belasten zu lassen, so schreist und jammerst du, daß du vernachlässigt, elend und mißhandelt bist! Für dich soll das Dasein einen immerwährenden Wechsel und ewige Aufregung bringen, sonst nennst du die Welt ein Gefängnis. Du mußt bewundert werden, man soll dir schmeicheln, du willst, daß man dir den Hof macht – du verlangst Musik, Tanz und Gesellschaft – oder du verschmachtest und stirbst. Hast du denn nicht soviel Verstand, daß du ein System erfinden kannst, das dich unabhängig macht von allen anderen Anstrengungen, jedem anderen Willen als dem deinen? Nimm dir doch den Tag; teile ihn in Sektionen ein; jeder Sektion weise ihre Aufgabe an; laß nirgend verlorene Viertelstunden, zehn oder fünf Minuten übrig, wende sie alle an. Tue jeden Teil deiner Geschäfte zu seiner Zeit, aber mit Methode, mit strenger Regelmäßigkeit. Dann wird der Tag zu Ende sein bevor du gemerkt hast, daß er überhaupt begonnen hat. Und du bist keinem zu Dank verpflichtet, daß er dir geholfen hat, einen leeren Augenblick hinzubringen. Du bist nicht genötigt gewesen, irgendeines Menschen Gesellschaft aufzusuchen, von ihm Unterhaltung, Sympathie, Nachsicht zu verlangen; – kurzum, dann hast du gelebt, wie ein unabhängiges Wesen leben sollte. Nimm meinen Rat – es ist der erste und letzte, den ich dir gebe; dann wirst du weder mich noch irgendeinen Menschen brauchen, was auch kommen möge. Vernachlässigst du diesen Rat hingegen – fährst du fort zu faulenzen, zu jammern, zu stöhnen, zu wünschen wie bisher – dann trage auch die Konsequenzen deiner blödsinnigen Dummheit, wie furchtbar und unerträglich diese auch sein mögen. – Eines sage ich dir offen, höre auf mich; denn wenn ich auch niemals wiederholen werde, was ich dir zu sagen im Begriff bin, so werde ich doch strenge danach handeln. Nach dem Tode meiner Mutter will ich nichts mehr mit dir zu tun haben; von dem Tage an, wo man ihren Sarg in das Gruftgewölbe von Gateshead tragen wird, sind wir, du und ich, so weit von einander geschieden, als ob wir uns niemals gekannt hätten. Du brauchst dir nicht einzubilden, daß ich jemals irgendeinen Anspruch deinerseits an mich anerkennen werde, nur weil wir zufällig gemeinsame Eltern haben. Ich sage dir dies: wenn das ganze menschliche Geschlecht – mit Ausnahme von uns beiden – plötzlich von der Erde vertilgt würde und wir allein auf der Erdoberfläche stünden, so würde ich dich allein in der alten Welt lassen und mich selbst in die neue hinüber begeben.«
Hier schwieg sie.
»Du hättest dir die Mühe ersparen können, diese Tiraden loszulassen,« antwortete Georgina. »Jeder Mensch weiß, daß du das selbstsüchtigste, herzloseste Geschöpf auf Gottes weitem Erdenrund bist, und ich kenne deinen trotzigen Haß besonders gegen mich. Ich hatte ja eine Probe davon, als du mir jenen bösen Streich mit Lord Edwin Vere spieltest; du konntest es nicht ertragen, daß ich höher stehen sollte als du, daß ich einen Titel haben und in Gesellschaften kommen würde, in denen du nicht einmal wagen darfst, dein böses Gesicht zu zeigen. Und deshalb spieltest du die Spionin und die Klätscherin und zerstörtest für immer all meine Hoffnungen auf Lebensglück.«
Dann zog Georgina ihr Taschentuch hervor und schneuzte sich noch eine ganze Stunde lang. Eliza saß unbewegt da und arbeitete fleißig wie immer an ihrer Altardecke.
Im allgemeinen wird wenig Wert auf wahres, warmes, großherziges Empfinden gelegt: hier waren nun aber zwei Naturen, von denen die eine durch den Mangel daran unerträglich bitter, die andere verächtlich geschmacklos geworden war. Gefühl ohne Vernunft ist in der Tat ein schwacher Trunk; aber Vernunft, die nicht durch Gefühl gemildert wird, ist ein zu bitterer und rauher Bissen für den menschlichen Geschmack.
Es war ein feuchter, winterlicher Nachmittag. Georgina war bei dem Lesen eines Romans auf dem Sofa eingeschlafen; Eliza war gegangen, um in der neuen Kirche einem Gottesdienste zu Ehren irgend eines Heiligen beizuwohnen – denn in Religionssachen war sie eine strenge Formalitätenkrämerin, um nicht zu sagen: Heuchlerin; kein Wetter konnte sie jemals an der Ausübung dessen hindern, was sie für ihre kirchlichen Pflichten hielt; ob schön, ob Regen, sie ging an jedem Sonntag dreimal in die Kirche und an jedem Wochentage, der einem Heiligen geweiht war, ebenfalls.
Mir fiel es ein, nach oben gehen zu wollen, um zu sehen, wie es der sterbenden Frau erging, um die sich fast niemand kümmerte. Ihre eigenen Dienstboten erwiesen ihr eine nur sehr kärgliche Aufmerksamkeit; und die gemietete Krankenwärterin, welche in keiner Weise kontrolliert wurde, entwischte aus dem Zimmer so oft sie konnte. Bessie war zwar treu; aber sie mußte sich um ihre eigene Familie kümmern und konnte nur gelegentlich nach dem Herrenhause kommen. Ich fand das Krankenzimmer unbehütet, wie ich es nicht anders erwartet hatte; keine Wärterin war dort; die Patientin lag still und anscheinend in Lethargie; ihr bleiches Gesicht war in die Kissen zurückgesunken; im Kamin war das Feuer dem Verlöschen nahe.
Ich legte frische Nahrung auf die Kohlen, ordnete die Betten und ließ meine Blicke einige Augenblicke auf der Gestalt ruhen, welche mich jetzt nicht ansehen konnte, – dann trat ich ans Fenster.
Der Regen schlug heftig gegen die Scheiben; der Wind pfiff und heulte um das Haus. Da dachte ich: hier liegt nun eine, die bald über alle Kämpfe der irdischen Elemente fort sein wird. Und wohin wird jener Geist, der sich jetzt aus seiner körperlichen Hülle losringt, fliegen, wenn er sich endlich losgerungen hat?
Indem ich über dies große Mysterium grübelte, dachte ich an Helen Burns – ihre letzten Worte kehrten in mein Gedächtnis zurück – ihr Glaube – ihre Lehre von der Gleichheit aller entkörperten Seelen. Noch horchte ich im Geiste auf die Laute ihrer unvergeßlich süßen Stimme – noch rief ich mir ihr bleiches, vergeistigtes Gesicht, ihre schmerzerfüllten Züge, ihren erhabenen Blick, als sie so still auf ihrem Sterbebette lag, in die Erinnerung zurück, noch hörte ich ihren sehnsüchtig geflüsterten Wunsch, in den Schoß des allmächtigen Vaters zurückkehren zu dürfen – als eine schwache Stimme vom Bette her murmelte:
»Wer ist da?«
Ich wußte, daß Mrs. Reed schon tagelang nicht mehr gesprochen hatte. Kehrte sie denn zum Leben zurück? Ich ging zu ihr.
»Ich bin es, Tante Reed.«
»Wer – ich!« lautete ihre Antwort, »Wer bist du?« und dabei blickte sie mich erstaunt und ein wenig erschrocken, aber doch nicht wild und abwesend an. »Du bist mir ja ganz fremd – wo ist Bessie?«
»Sie ist im Parkhüterhäuschen, Tante.«
»Tante!« wiederholte sie. »Wer nennt mich Tante? Du bist doch keine von den Gibsons? – – und doch kenne ich dich – das Gesicht, und jene Stirn, und die Augen – das alles ist mir so bekannt; – du siehst aus wie – wie – nun ja, wie Jane Eyre!«
Ich schwieg. Denn ich fürchtete, eine Katastrophe herbeizuführen, wenn ich meine Identität mit Jane Eyre erklärte.
»Und doch,« sagte sie, »fürchte ich, daß ich mich irre. Meine Gedanken täuschen mich. Ich wünschte Jane Eyre zu sehen, und jetzt finde ich eine Ähnlichkeit, wo keine existiert. Außerdem muß sie sich doch während dieser acht Jahre verändert haben!«
Sanft und vorsichtig erklärte ich, daß ich die Person sei, welche sie vermutete und welche sie zu sehen wünschte, und als ich bemerkte, daß sie mich verstand und daß sie vollständig bei Sinnen war, teilte ich ihr mit, daß Bessie ihren Mann nach Thornfield geschickt habe, um mich nach Gateshead zu holen.
»Ich weiß, daß ich sehr krank bin,« sagte sie nach einer Weile. »Vor ein paar Minuten versuchte ich, mich im Bette umzudrehen und fühlte, daß ich kein Glied mehr rühren kann. Es wäre gut, wenn ich mein Gemüt erleichtern könnte, bevor ich sterbe. Was uns wenig zu denken gibt, wenn wir gesund sind, lastet schwer auf uns in einer Stunde, wie diese es für mich ist. Wärterin, sind Sie da? Oder ist außer dir noch jemand im Zimmer?«
Ich versicherte sie, daß wir allein seien.
»Nun, ich habe dir zweimal ein Unrecht zugefügt, das ich jetzt bereue. Das eine war, daß ich das Versprechen brach, welches ich meinem Manne gegeben, dich stets wie mein eigenes Kind halten zu wollen; – das andere –« hier hielt sie inne.
»Nun, vielleicht ist es doch von keiner großen Bedeutung,« murmelte sie vor sich hin, – »und vielleicht werde ich wieder gesund, und dann wäre der Gedanke schrecklich, mich so vor ihr gedemütigt zu haben.«
Sie machte eine Anstrengung, ihre Lage zu verändern, aber es gelang ihr nicht; ihr Gesicht veränderte sich; sie schien eine innere Bewegung zu spüren – vielleicht die Vorboten des letzten Kampfes.
»Nun, ich muß darüber fortkommen, – Die Ewigkeit liegt vor mir. Es ist doch besser, wenn ich es ihr sage. – Geh an meinen Toilettekasten, öffne ihn und nimm den Brief heraus, den du dort finden wirst.«
Ich tat, wie sie mir befohlen.
»Lies den Brief,« sagte sie.
Er war kurz und enthielt folgendes:
»Madame!
Wollen Sie die Güte haben, mir die Adresse meiner Nichte Jane Eyre zu schicken und mir mitzuteilen, wie es ihr geht. Es ist meine Absicht, ihr binnen kurzem zu schreiben und sie aufzufordern, daß sie zu mir nach Madeira herauskommt. Die Vorsehung hat meine Bemühungen mit Erfolg gekrönt, ich habe mir ein Vermögen erworben. Und da ich unverheiratet und kinderlos, so bin ich willens, sie noch bei Lebzeiten zu adoptieren und ihr bei meinem Tode alles zu hinterlassen, worüber ich verfügen kann.
Ich zeichne mich, Madame, usw. usw.
John Eyre, Madeira.
Der Brief war vor drei Jahren geschrieben.
»Weshalb ist mir dies niemals mitgeteilt worden?« fragte ich langsam.
»Weil ich dich zu sehr und zu unabänderlich haßte, um die Hand dazu zu leihen, daß du zu Wohlstand gelangtest. Ich konnte dein Betragen gegen mich nicht vergessen, Jane, die Wut nicht vergessen, mit welcher du dich einst gegen mich gewandt hast; den Ton nicht, in welchem du mir erklärt, daß du mich mehr haßtest als irgend jemand auf der Welt; die unkindliche Stimme nicht, nicht den unnatürlichen Blick, mit dem du gesagt, daß der bloße Gedanke an mich dich krank mache, mit dem du versichert, daß ich dich mit der elendesten Grausamkeit behandelt habe. Ich konnte meine eigenen Empfindungen nicht vergessen, die ich gehegt, als du damals aufsprangst und all das Gift deiner Seele über mich ausgossest: ich hatte Furcht empfunden, wie wenn ein Tier, das ich gestoßen oder geschlagen, mich plötzlich mit menschlichen Augen angesehen und mich mit einer menschlichen Stimme verflucht hätte, – Bring mir einen Tropfen Wasser! Aber beeile dich! O! Beeile dich!«
»Liebe Mrs. Reed!« sagte ich, indem ich ihr den gewünschten Trunk reichte, »denken Sie nicht mehr an all diese Dinge, schlagen Sie sich sie aus dem Sinn. Verzeihen Sie mir meine leidenschaftliche Sprache: ich war damals ein Kind; acht, fast neun Jahre sind seit jenem Tage vergangen.«
Sie beachtete meine Worte nicht; als sie aber das Wasser getrunken und tief Atem geholt hatte, fuhr sie folgendermaßen fort:
»Ich sage dir; ich konnte es nicht vergessen und ich suchte meine Rache. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß dein Onkel dich adoptieren und dich damit zu Glück und Wohlstand gelangen lassen wollte. Ich schrieb an ihn. Ich sagte, daß es mir leid täte um den Kummer, den ich ihm bereiten müsse, aber Jane Eyre sei tot, sie sei am Typhus in Lowood gestorben. Jetzt magst du tun, was dich gut dünkt; schreib ihm und widersprich meinen Angaben – decke meine Lügen auf sobald du willst. Ich glaube, du warst nur mir zur Qual geboren; meine letzte Stunde wird durch die Erinnerung an eine Tat gemartert, welche ich niemals zu begehen versucht gewesen, wenn es sich nicht um dich gehandelt hätte.«
»Wenn ich dich nur überreden könnte, Tante Reed, nicht mehr an diese Angelegenheit zu denken und mich mit Güte und Nachsicht und Vergebung anzusehen –«
»Du hast einen sehr bösen Charakter,« sagte sie, »und dazu einen, den ich bis auf den heutigen Tag nicht zu begreifen imstande gewesen. Ich werde es nie verstehen, wie du während neun Jahren jede schlechte Behandlung ruhig und geduldig hinnehmen konntest, um im zehnten in Wut und Heftigkeit auszubrechen.«
»Mein Charakter ist nicht so schlecht wie Sie glauben, Tante Reed, ich bin leidenschaftlich aber nicht boshaft. Als ich ein kleines Kind war, wäre ich oft froh und glücklich gewesen, wenn Sie sich von mir hätten lieben lassen wollen, und ich sehne mich jetzt von ganzem Herzen nach einer Versöhnung. Küssen Sie mich, Tante.«