Jane Eyre - Charlotte Brontë - E-Book
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Charlotte Bronte

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Beschreibung

Auf Thornfield Hall gehen nachts seltsame Dinge vor, über die niemend reden mag. Jane, eine eher unscheinbare, aber recht intelligente junge Frau, arbeitet seit kurzer Zeit hier als Gouvernante. Bald verliebt sie sich heimlich in den düsteren, jähzornigen Mr. Rochester, den Besitzer des Anwesens. Er jedoch scheint sich nur für die schöne Blanche zu interessieren... "'Jane Eyre', das ist einfach tolle Literatur." Berliner Zeitung. "'Jane Eyre' gehört noch heute, nach über hundertfünfzig Jahren, zu den beliebtesten Romanen." FAZ. "Ein erstaunlich moderner Roman." Berliner Zeitung.

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Seitenzahl: 1016

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Charlotte Brontë

Jane Eyre

Die Waise von Lowood

Eine Autobiographie

Aus dem Englischen von Marie von Borch

Vollständig neu bearbeitet von Martin Engelmann

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1847 bei Smith, Elder & Co., London, unter dem TitelJane Eyre. An Autobiography.Edited by Currer Bell.

Die erste deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Marie von Borch erschien 1888 bei Philipp Reclam jun., Leipzig, unter dem Titel

Jane Eyre, die Waise von Lowood.Eine Autobiograhie von Currer Bell.

ISBN 978-3-8412-0067-9

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2009© Aufbau Media GmbH, Berlin, 2008(für die revidierte Übersetzung)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Einbandgestaltung morgen, unter Verwendung eines Fotos von Kai Dieterich/bobsairport

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Impressum

Inhaltsübersicht

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Zur Übersetzung

Charlotte Brontë

Erstes Kapitel

Es war ganz unmöglich, an diesem Tag einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir zwar noch eine ganze Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert, aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen mit sich gebracht, dass von weiterer Bewegung im Freien nicht mehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber, denn lange Spaziergänge waren mir stets zuwider, besonders an frostigen Nachmittagen. Ich fand es furchtbar, in der rauen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen und mit einem vom Schimpfen der Kinderfrau Bessie schweren Herzen, gedemütigt durch das Bewusstsein meiner körperlichen Minderwertigkeit gegenüber Eliza, John und Georgiana Reed.

Eliza, John und Georgiana hatten sich gerade im Salon um ihre Mama versammelt. Diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins, umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrien, und sah vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon befreit, mich dieser Gruppe anzuschließen: Sie bedauere es zutiefst, sei aber gezwungen, mich fernzuhalten, solange sie nicht selbst oder durch Bessies Worte überzeugt sei, dass ich ernsthaft versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter und ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen. Bis dahin müsse Sie mich aber leider von allen Vorrechten ausschließen, die nur für zufriedene, glückliche kleine Kinder gedacht seien.

»Was sagt denn Bessie, dass ich getan habe?«, fragte ich.

»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es geradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Sofort setzt du dich irgendwohin und schweigst, bis du höflicher reden kannst!«

An das Wohnzimmer grenzte ein kleines Frühstückszimmer, in das ich hineinschlüpfte. Hier stand ein großer Bücherschrank. Ich ergriff einen dicken Band, wobei ich sorgsam darauf achtete, dass er auch bebildert war. Dann kletterte ich auf den Sitz in der Fenstervertiefung, zog die Füße hoch und kreuzte die Beine wie ein Türke. Schließlich zog ich die roten Wollvorhänge fest zusammen und war auf diese Weise doppelt versteckt.

Scharlachrote Stofffalten verdeckten mir die Aussicht nach rechts; links befanden sich die großen, klaren Fensterscheiben, die mich vor dem düsteren Novembertag schützten, mich aber nicht von ihm trennten. In kurzen Momenten, wenn ich die Seiten meines Buches umblätterte, fiel mein Blick auf den Winternachmittag. In der Ferne lagen Wolken über einem blassen, leeren Nebel, davor in endlosem Regen die freie Rasenfläche mit ihren entlaubten, sturmgepeitschten Sträuchern.

Ich kehrte zu meinem Buch zurück, es war Bewicks »Britische Vogelkunde«. Im Allgemeinen kümmerte ich mich wenig um den gedruckten Text, und doch waren da einige einleitende Seiten, welche ich nicht gänzlich übergehen konnte. Sie handelten von den Verstecken der Seevögel, von jenen einsamen Felsen und Klippen, die nur ihnen gehören, und von der Küste Norwegens, die von ihrer äußersten südlichen Spitze, dem Lindesnes, bis hinauf zum Nordkap mit Inseln übersät ist:

»Wo der nördliche Ozean, in wildem Wirbel

Um die nackten, öden Inseln tobt

Des fernen Thule; und das atlantische Meer

Sich stürmisch zwischen die Hebriden wälzt.«

Auch konnte ich nicht unbeachtet lassen, was dort stand über die düsteren Küsten Lapplands und Sibiriens, über die Küsten von Spitzbergen, Nowaja Semlja, Island und Grönland, den endlosen Bereich der arktischen Zone und jene einsamen Regionen leeren Raumes – jenes »Reservoir von Eis und Schnee, wo fest gefrorene Eisfelder, durch Jahrhunderte des Winters auf alpine Höhen geschichtet, den Nordpol umgeben und zu einem Ort der strengsten, äußersten Kälte vereinigt sind«. Von diesen todesweißen Regionen machte ich mir meine eigenen Vorstellungen: schattenhaft, wie alle nur halb verstandenen Gedanken im Kopf eines Kindes, aber einen seltsam tiefen Eindruck hinterlassend. Die Worte dieser einleitenden Seiten verbanden sich mit den darauffolgenden Vignetten und gaben ihnen eine tiefere Bedeutung: jenem Felsen, der aus einem Meer von Wellen und Wogenschaum emporragte; dem zertrümmerten Boot, das an traurig-wüster Küste gestrandet war; dem kalten, geisterhaften Mond, der durch düstere Wolkenmassen auf ein sinkendes Wrack herabblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit welchen Empfindungen ich auf den stillen, einsamen Friedhof mit seinem beschrifteten Grabstein sah, auf jenes Tor, die beiden Bäume, den niedrigen Horizont, der durch eine zerfallene Mauer begrenzt war, auf die schmale Mondsichel, die die Stunde der Abendflut bezeichnete.

Die beiden Schiffe, welche auf regungsloser, windstiller See lagen, hielt ich für Meeresungeheuer.

Über den Unhold, welcher sich sein Diebesbündel auf den Rücken schnürte, eilte ich flüchtig hinweg; er war ein Gegenstand des Schreckens für mich.

Ein gleiches Entsetzen flößte mir das schwarze, gehörnte Etwas ein, das hoch auf einem Felsen saß und eine Menschenmenge in weiter Ferne beobachtete, die um einen Galgen stand.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte. Oft war diese für meinen noch nicht entwickelten Verstand geheimnisvoll und meinem unbestimmten Empfinden unverständlich, stets aber flößte sie mir das tiefste Interesse ein: dasselbe Interesse, mit welchem ich den Erzählungen Bessies lauschte, wenn sie zuweilen an Winterabenden in guter Laune war. Dann pflegte sie ihr Bügelbrett an das Kaminfeuer des Kinderzimmers zu bringen und erlaubte uns, unsere Stühle heranzurücken. Und während sie Mrs. Reeds Spitzenmanschetten bügelte und die Rüschen ihrer Nachthauben kräuselte, erfreute sie uns mit Erzählungen von Liebesgram und Abenteuern aus alten Märchen und noch älteren Balladen, oder – wie ich erst viel später entdeckte – aus den Romanen »Pamela« und »Henry, Graf von Moreland«.

Mit dem »Bewick« auf meinen Knien war ich damals glücklich, glücklich wenigstens auf meine Art. Ich fürchtete nichts als eine Unterbrechung, eine Störung – und diese kam nur zu bald. Die Tür zum Frühstückszimmer wurde geöffnet.

»Oho, Madam Trübsal!«, ertönte John Reeds Stimme. Dann hielt er inne, augenscheinlich war er erstaunt, das Zimmer leer zu finden.

»Wo zum Teufel ist sie denn?«, fuhr er fort. »Lizzy! Georgy!«, rief er seinen Schwestern zu, »Jane ist nicht hier. Sagt Mama, dass sie in den Regen hinausgelaufen ist – dieses Biest!«

›Wie gut, dass ich den Vorhang zugezogen habe‹, dachte ich, und dann wünschte ich inbrünstig, dass er mein Versteck nicht entdecken möge. John Reed allein würde es auch niemals entdeckt haben – er war langsam, sowohl im Begreifen wie in seinem Wahrnehmungsvermögen – aber Eliza steckte den Kopf zur Tür herein und sagte sofort:

»Sie ist gewiss wieder in die Fenstervertiefung gekrochen, sieh nur da nach, Jack.«

Ich kam sofort heraus, denn ich zitterte bei dem Gedanken, dass Jack mich hervorzerren würde.

»Was möchtest du?«, fragte ich mit schlecht geheuchelter Gleichgültigkeit.

»Sag: ›Was wünschen Sie, Mr. Reed?‹«, lautete seine Antwort. »Ich will, dass du hierher kommst!« Und indem er in einem Lehnstuhl Platz nahm, gab er mir durch eine Geste zu verstehen, dass ich näher kommen und vor ihn treten solle.

John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren – vier Jahre älter als ich, denn ich war erst zehn Jahre alt. Er war groß und stark für sein Alter, hatte eine unreine, ungesunde Haut, grobe Züge in einem breiten Gesicht, schwerfällige Gliedmaßen und große Hände und Füße. Gewöhnlich pflegte er sich bei Tisch so vollzustopfen, dass er gallig wurde und trübe Augen und schlaffe Wangen bekam. Eigentlich hätte er jetzt in der Schule sein müssen, aber seine Mama hatte ihn für ein bis zwei Monate nach Hause geholt, »seiner zarten Gesundheit wegen«. Mr. Miles, der Direktor der Schule, versicherte, dass es ihm außerordentlich gutgehen würde, wenn man ihm nur weniger Kuchen und Leckerbissen von zu Hause schicken wollte, aber das Herz der Mutter empörte sich über eine so rohe Behauptung und neigte mehr zu der feineren und zarteren Ansicht, dass Johns Blässe von Überanstrengung beim Lernen und vielleicht auch von Heimweh herrühre.

John hegte wenig Liebe für seine Mutter und seine Schwestern – und eine starke Antipathie gegen mich. Er quälte und bestrafte mich, nicht zwei- oder dreimal in der Woche, nicht ein- oder zweimal am Tage, sondern fortwährend und unaufhörlich. Jeder Nerv in mir fürchtete ihn, und jeder Zollbreit Fleisch auf meinen Knochen schauderte und zuckte, wenn er in meine Nähe kam. Es gab Augenblicke, wo der Schrecken, den er mir einflößte, mich ganz verrückt machte, denn ich hatte niemanden, der mich gegen seine Drohungen und seine Tätlichkeiten verteidigte. Die Dienerschaft wagte es nicht, ihren jungen Herren zu beleidigen, indem sie für mich gegen ihn Partei ergriff, und Mrs. Reed war in diesem Punkte blind und taub: Sie sah niemals, wenn er mich schlug, sie hörte niemals, wenn er mich beschimpfte, obgleich er beides gar oft in ihrer Gegenwart tat, häufiger jedoch noch hinter ihrem Rücken.

Aus Gewohnheit gehorchte ich John auch dieses Mal und näherte mich seinem Stuhl. Eine schier endlose Zeit brachte er damit zu, mir seine Zunge so weit entgegenzustrecken, wie er es ohne Gefahr für seine Zungenbänder bewerkstelligen konnte. Ich fühlte, dass er mich jetzt gleich schlagen würde, und obgleich ich eine furchtbare Angst vor dem kommenden Schlag empfand, vermochte ich doch über die ekelerregende und hässliche Erscheinung des Burschen, der mich gleich schlagen würde, meine Betrachtungen anzustellen. Ich weiß nicht, ob er diese Gedanken auf meinem Gesicht las, denn plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, schlug er heftig und brutal auf mich los. Ich taumelte, dann gewann ich das Gleichgewicht wieder und trat einige Schritte von seinem Stuhl zurück.

»Das ist für die Frechheit, dass du vor einer Weile Mama eine unverschämte Antwort gegeben hast«, sagte er, »und dass du gewagt hast, dich hinter dem Vorhang zu verkriechen, und für den Blick in deinen Augen vor zwei Minuten, du Ratte, du!«

An Johns Beschimpfungen gewöhnt, fiel es mir niemals ein, irgendetwas auf dieselben zu erwidern; ich dachte immer nur daran, den Schlag zu ertragen, der unfehlbar auf die Schimpfworte folgen würde.

»Was hast du da hinter dem Vorhang gemacht?«, fragte er weiter.

»Ich habe gelesen.«

»Zeig mir das Buch!«

Ich ging an das Fenster zurück und holte es.

»Du hast kein Recht, unsere Bücher zu nehmen, du bist eine Untergebene, hat Mama gesagt. Du hast kein Geld, dein Vater hat dir keins hinterlassen, eigentlich solltest du betteln und hier nicht mit den Kindern eines Gentleman, wie wir es sind, zusammenleben und dieselben Mahlzeiten essen wie wir und Kleider tragen, die unsere Mama dir kaufen muss. Nun, ich werde dich lehren, zwischen meinen Büchern herumzustöbern, denn sie gehören mir, und das ganze Haus gehört mir oder wird mir wenigstens in einigen Jahren gehören. Geh und stell dich an die Tür; weg vom Spiegel und den Fenstern!«

Ich tat, wie mir geheißen, ohne eine Ahnung von seiner Absicht zu haben. Als ich aber gewahrte, dass er das Buch emporhob und mit demselben zielte, sprang ich instinktiv zur Seite und stieß einen Schreckensschrei aus – jedoch nicht schnell genug: Das Buch traf mich, ich fiel hin, schlug mit dem Kopf gegen die Tür und verletzte mich. Die Wunde blutete, der Schmerz war heftig; mein Entsetzen aber hatte den Höhepunkt überschritten und andere Empfindungen bemächtigten sich meiner.

»Du gemeiner Kerl!«, schrie ich. »Du bist wie ein Mörder – wie ein Sklaventreiber – du bist wie die römischen Kaiser!«

Ich hatte Goldsmith’ »Geschichte Roms« gelesen und mir meine eigene Ansicht über Nero, Caligula und andere gebildet. Im Stillen hatte ich schon meine Vergleiche gezogen, welche laut zu äußern allerdings niemals meine Absicht gewesen war.

»Was, was?«, schrie er. »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr es gehört, Eliza und Georgiana? Das will ich Mama erzählen! Aber vorher …«

Er stürzte auf mich zu; ich fühlte, wie er meine Haare und meine Schulter fasste. Doch er kämpfte mit einem verzweifelten Geschöpf: Ich sah wirklich einen Tyrannen in ihm, einen Mörder. Ich fühlte, wie einzelne Blutstropfen von meinem Kopf auf den Hals herabfielen, und empfand einen stechenden Schmerz. Diese Empfindungen siegten für den Augenblick über die Furcht, und ich trat ihm in wahnsinniger Wut entgegen. Was ich mit meinen Händen tat, kann ich nicht mehr sagen, aber er schrie fortwährend: »Ratte! Ratte!«, und brüllte aus Leibeskräften. Hilfe für ihn war sofort zur Stelle: Eliza und Georgiana waren gelaufen, um Mrs. Reed zu holen, die nach oben gegangen war. Jetzt erschien sie auf der Szene, und ihr folgten Bessie und ihre Zofe Abbot. Man trennte uns, dann hörte ich die Worte:

»Mein Liebling, mein Liebling! – Welch eine Furie, so auf Mr. John loszustürzen!«

»Hat man jemals ein so leidenschaftliches Geschöpf gesehen?«

Und Mrs. Reed verfügte: »Bringt sie in das Rote Zimmer und schließt sie dort ein!«

Vier Hände bemächtigten sich meiner und man trug mich nach oben.

Zweites Kapitel

Auf dem ganzen Weg leistete ich Widerstand; dies war etwas Neues und ein Umstand, der viel dazu beitrug, Bessie und Miss Abbot in der schlechten Meinung zu bestärken, welche diese ohnehin schon von mir hegten. Tatsache ist, dass ich vollständig außer mir war. Ich wusste sehr wohl, dass die Empörung dieses einen Augenblicks mir schon außergewöhnliche Strafen zugezogen haben musste, daher war ich in meiner Verzweiflung wie jeder rebellische Sklave fest entschlossen, nun bis ans Äußerste zu gehen.

»Halten Sie ihre Arme fest, Miss Abbot, sie ist wie eine wilde Katze.«

»Schämen Sie sich! Schämen Sie sich!«, rief die Zofe. »Welch ein abscheuliches Betragen, Miss Eyre, einen jungen Gentleman zu schlagen! Den Sohn Ihrer Wohltäterin! Ihren jungen Herrn!«

»Herr? Wieso ist er mein Herr? Bin ich denn eine Dienerin?«

»Nein, Sie sind weniger als eine Dienerin, denn Sie tun nichts, Sie arbeiten nicht für Ihren Unterhalt. Da! Setzen Sie sich und denken Sie über Ihre Bosheit nach!«

Sie hatten mich inzwischen in den von Mrs. Reed genannten Raum gebracht und mich auf ein Sofa geworfen. Mein erster Impuls war, wie eine Sprungfeder emporzuschnellen, jedoch drückten mich vier Hände augenblicklich wieder zurück.

»Wenn Sie nicht still sitzen, werden wir Sie festbinden«, sagte Bessie. »Miss Abbot, borgen Sie mir Ihre Strumpfbänder, die meinen würde sie augenblicklich zerreißen.«

Miss Abbot wandte sich ab, um ein starkes Bein von den notwendigen Banden zu befreien. Die Vorbereitungen, mir Fesseln anzulegen, und die Schande, die dies für mich bedeutete, dämpften meine Aufregung ein wenig.

»Nehmen Sie sie nicht ab«, weinte ich, »ich werde ganz still sitzen!«

Um ihnen für dieses Versprechen eine Garantie zu bieten, hielt ich mich mit beiden Händen an meinem Sitz fest.

»Das möchte ich Ihnen auch raten«, sagte Bessie, und als sie sich überzeugt hatte, dass ich wirklich anfing, mich zu beruhigen, ließ sie mich los. Dann stellten sie und Miss Abbot sich mit gekreuzten Armen vor mich und blickten finster und zweifelnd in mein Gesicht, als glaubten sie nicht an meinen gesunden Verstand.

»Das hat sie bis jetzt noch niemals getan«, sagte Bessie endlich zur Kammerzofe.

»Aber es hat schon lange in ihr gesteckt«, lautete die Antwort. »Ich habe der gnädigen Frau schon oft meine Meinung über das Kind gesagt, und sie hat mir auch beigestimmt. Sie ist ein verschlagenes kleines Ding: Ich habe noch nie ein Mädchen in ihrem Alter gesehen, das so hinterlistig war.«

Bessie antwortete nicht. Nach einer Weile wandte sie sich zu mir und sagte:

»Fräulein, Sie sollten doch wissen, dass Sie Mrs. Reed verpflichtet sind, sie versorgt Sie schließlich. Wenn sie Sie fortschickte, so müssten Sie ins Armenhaus gehen.«

Auf diese Worte hatte ich nichts zu erwidern; sie waren mir nicht neu. Soweit ich in meinem Leben zurückdenken konnte, war ich schon immer auf diese Umstände hingewiesen worden. Der Vorwurf meiner Abhängigkeit war in meinen Ohren schon fast zur leeren, bedeutungslosen Leier geworden, sehr schmerzlich und bedrückend zwar, aber nur halb verständlich. Nun fiel auch Miss Abbot ein:

»Und glauben Sie ja nicht, dass Sie mit den Fräulein Reed und Mr. Reed auf gleicher Stufe stehen, weil Mrs. Reed Ihnen gütig erlaubt, mit ihren Kindern erzogen zu werden. Diese werden einmal ein großes Vermögen haben, und Sie sind arm. Sie müssen demütig und bescheiden sein und versuchen, sich den anderen angenehm zu machen.«

»Was wir Ihnen sagen, ist zu Ihrem Besten«, fügte Bessie in weicherem Ton hinzu. »Sie sollten versuchen, sich nützlich und angenehm zu machen, dann werden Sie hier vielleicht eine Heimat finden; wenn Sie aber heftig, roh und ungezogen sind, so wird Mrs. Reed Sie fortschicken, davon bin ich fest überzeugt.«

»Außerdem«, sagte Miss Abbot, »wird Gott Sie strafen. Er könnte Sie mitten in Ihrem Trotz tot zu Boden fallen lassen, und wohin kämen Sie dann? Kommen Sie, Bessie, wir wollen sie allein lassen: Um keinen Preis der Welt möchte ich ihr Herz haben. Sagen Sie Ihr Gebet, Miss Eyre, wenn Sie allein sind, denn wenn Sie nicht bereuen, könnte etwas Schreckliches durch den Kamin herunterkommen und Sie holen.«

Sie gingen hinaus und schlossen die Tür hinter sich ab.

Das Rote Zimmer war ein Gästezimmer, in dem nur selten jemand schlief; man könnte beinahe sagen niemals oder nur dann, wenn ein übergroßer Besucherstrom auf Gateshead Hall es notwendig machte, alle Räumlichkeiten des Hauses zu nutzen. Und doch war das Zimmer eines der schönsten und prächtigsten Gemächer des Herrenhauses. Wie ein Tabernakel stand ein Bett im Mittelpunkt des Raumes, von massiven Mahagonipfeilern getragen und mit Vorhängen von dunkelrotem Damast behängt. Die beiden großen Fenster, deren Jalousien immer herabgelassen waren, wurden durch Gehänge und Faltendraperien des gleichen Stoffes halb verhüllt. Der Teppich war rot und auch der Tisch am Fußende des Bettes war mit einer tiefroten Decke belegt. Die Wände waren mit einem Stoff behängt, der auf lichtbraunem Grund ein zartes rosa Muster trug; die Garderobe, der Toilettentisch, die Stühle waren aus dunklem, poliertem Mahagoni angefertigt. Aus diesen düsteren Schatten erhoben sich hoch und glänzend die aufgehäuften Matratzen und Kopfkissen des Bettes, über die eine schneeweiße Decke gebreitet war. Ebenso unheimlich stach ein großer, gepolsterter, ebenfalls weißer Lehnstuhl hervor, der am Kopfende des Bettes stand und vor dem sich ein Fußschemel befand; damals erschien er mir wie ein geisterhafter Thron.

Das Zimmer war kalt, weil hier nur selten ein Feuer angezündet wurde; es war still, weil es weit vom Kinderzimmer und der Küche entfernt lag; und es war unheimlich, weil ich wusste, dass fast nie jemand das Zimmer betrat. Nur am Sonnabend kam das Hausmädchen hierher, um den stillen Staub einer Woche von den Möbeln und den Spiegeln zu wischen; und in großen Abständen kam auch Mrs. Reed, um den Inhalt einer gewissen Schublade zu kontrollieren, in welcher sich verschiedene Urkunden, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbild ihres verstorbenen Gatten befanden. Und hierin bestand auch das Geheimnis des Roten Zimmers, der Zauberbann, weshalb es trotz seiner Pracht so einsam und verlassen war.

Mr. Reed war seit neun Jahren tot. In diesem Zimmer hatte er seinen letzten Atemzug getan, hier lag er aufgebahrt, von hier hatten die Leichenträger ihn hinausgetragen, und seit jenem Tag hatte ein weihevoll-düsteres Gefühl mögliche Besucher von der Schwelle des Raumes ferngehalten.

Der Sitz, auf welchen Bessie und die bitterböse Miss Abbot mich gebannt hatten, war eine niedrige Ottomane, welche nahe dem weißen Marmorkamin stand. Das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten befand sich ein hoher dunkler Garderobenschrank, auf dessen Täfelung sich matte, düstere Lichter brachen; zu meiner Linken waren die verhängten Fenster. Ein großer Spiegel zwischen ihnen wiederholte die leere Majestät von Bett und Zimmer. Ich war nicht mehr ganz sicher, ob sie die Tür zugeschlossen hatten, und als ich wieder Mut genug hatte, um mich zu bewegen, stand ich auf und sah nach. Aber ach, keine Kerkertür war jemals sicherer verschlossen! Als ich wieder zur Ottomane zurückging, musste ich an dem Spiegel vorüber, und mein gebannter Blick bohrte sich unwillkürlich in die Tiefe desselben ein. In ihm sah alles noch kühler, hohler und düsterer aus als in Wirklichkeit, und die seltsame, kleine Gestalt, die mir aus ihm entgegenblickte, mit weißem Gesicht und Armen, die grell aus der Dunkelheit hervorleuchteten, mit Augen, die vor Furcht hin- und herrollten, wo sonst alles bewegungslos war – diese kleine Gestalt sah aus wie ein wirkliches Gespenst. Ich dachte an eines jener zarten Phantome, halb Elfe, halb Kobold, wie sie in Bessies Dämmerstunden-Geschichten aus einsamen, wilden Schluchten und düsteren Mooren hervorkamen und sich dem Auge des nächtlichen Wanderers zeigten … Ich kehrte auf meinen Sitz zurück.

In diesem Augenblick bemächtigte der Aberglaube sich meiner, aber die Stunde seines vollständigen Sieges über mich war noch nicht gekommen: Mein Blut war noch warm, die Wut des empörten Sklaven erhitzte mich noch mit ihrer ganzen Bitterkeit. Ich hatte noch einen wilden Strom von Gedanken an die Vergangenheit zu bändigen, bevor ich mich ganz dem Jammer über die trostlose Gegenwart hingeben konnte.

Wie der schmutzige Bodensatz aus einem trüben Brunnen, so stieg aus meinem bewegten, aufgeregten Gemüt alles an die Oberfläche meines Empfindens: John Reeds wilde Tyrannei, die hochmütige Gleichgültigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten. Weshalb musste ich stets leiden, stets mit verächtlichen Blicken angesehen werden, immer beschuldigt, immer verurteilt werden? Weshalb konnte ich niemals etwas recht machen? Weshalb war es immer nutzlos, wenn ich versuchte, irgendeines Menschen Gunst zu erringen? Man hatte Achtung vor Eliza, die doch so eigensinnig und selbstsüchtig war. Jedermann hatte Nachsicht mit Georgiana, die stets übel gelaunt, trotzig und frech war. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldigen Locken schienen jeden zu entzücken, der sie anblickte, und ihr Vergebung für all ihre Mängel und Fehler zu erkaufen. John wurde niemals bestraft, niemand widersprach ihm jemals, obgleich er den Tauben die Hälse umdrehte, die jungen Hühner umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, den Weinstock im Treibhaus seiner Trauben beraubte und von den seltensten Pflanzen die Knospen abriss. Er nannte seine Mutter sogar »altes Mädchen«, nahm kaum Rücksicht auf ihre Wünsche, ja zerriss und beschmutzte nicht selten ihre seidenen Kleider – und doch war er »ihr einziger Liebling«. Ich wagte niemals, einen Fehler zu begehen; ich bemühte mich stets, meine Pflicht zu tun. Und mich nannte man unartig und unerträglich, mürrisch und hinterlistig, vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerzte noch und blutete von dem erhaltenen Schlag und dem Sturz. Niemand hatte John einen Verweis erteilt, dass er mich grundlos geschlagen hatte. Aber als ich mich gegen ihn aufgelehnt hatte, um seiner weiteren besinnungslosen Gewalt zu entgehen, hatten mich alle mit den lautesten Schmähungen überhäuft.

»Ungerecht! Ungerecht!«, sagte meine Vernunft, welche durch den Schmerz eine frühreife, wenn auch vorübergehende Kraft erlangt hatte; und die Entschlossenheit, welche ebenfalls geweckt war, ließ mich allerhand Mittel ersinnen, um eine Flucht aus dieser unerträglich gewordenen Unterdrückung zu bewerkstelligen. Ich dachte daran, einfach davonzulaufen, oder, wenn dies nicht möglich wäre, niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und mich auf diese Weise zu Tode zu hungern.

Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag, wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Finsternis, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage, weshalb ich so viel leiden musste. Jetzt, aus dem Abstand von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren –, jetzt sehe ich alles klarer.

Ich war ein Misston in Gateshead Hall. Ich war ein Nichts an diesem Ort, ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der Tat, ich liebte sie ebenso wenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner ihrer Seelen übereinstimmen konnte; ein andersartiges Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein giftiges Geschöpf, welches die tiefste Verachtung für ihre Urteile und die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein unbekümmertes, geistreiches, schönes und wildes Kind gewesen wäre, Mrs. Reed meine – wenn auch ebenso abhängige und freundlose – Gegenwart leichter ertragen haben würde. Ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock des Kinderzimmers zu machen.

Das Tageslicht begann aus dem Roten Zimmer zu schwinden. Es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten Nachmittag folgte eine trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhaus heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie ein Stein, und mein Mut begann zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst und eine hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und legten sich auf die Asche meiner erkaltenden Wut. Alle sagten, dass ich boshaft sei – vielleicht stimmte es ja? Hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiss eine Sünde, denn war ich auf den Tod vorbereitet? War das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ziel? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte. Durch diesen Gedanken an ihn erinnert, versuchte ich, ihn mir dort vorzustellen und verweilte mit wachsendem Grauen dabei. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern, aber ich wusste, dass er mein Onkel gewesen war, der einzige Bruder meiner Mutter, dass er mich in sein Haus aufgenommen hatte, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen war, und dass er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, dass sie dieses Versprechen gehalten habe, und soweit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es wohl auch tatsächlich getan. Wie sollte sie denn auch für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es musste ihr natürlich ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen; es ertragen zu müssen, dass eine ganz andersartige Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte.

Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner: Ich zweifelte nicht, ja hatte es niemals bezweifelt, dass Mr. Reed, wenn er noch am Leben wäre, mich mit Güte behandelt haben würde. Und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf, da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen hatte. Wie sie jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen. Ich stellte mir vor, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder das Gewölbe der Kirche oder das unbekannte Land der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen würde. Ich trocknete meine Tränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, dass diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Trost erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könnten, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Diese vielleicht ganz trostreiche Vorstellung würde entsetzlich sein, wenn sie Wirklichkeit annehmen würde. Mit aller Gewalt versuchte ich, diese Gedanken zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefasst zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, hob ich den Kopf und versuchte, in dem dunklen Zimmer umherzublicken. In diesem Augenblick sah ich plötzlich den Widerschein eines Lichtes an der Wand. War dies vielleicht der Mondschein, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig, und dieses Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopf. Heute kann ich freilich erraten, dass dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Haus trug, aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß, und in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen von Flügeln hielt. Etwas schien sich mir zu nähern, ich fühlte mich bedrückt, erstickt, mein Widerstandsvermögen gab nach, ich stürzte auf die Tür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung an der Klinke. Eilende Schritte kamen durch den Korridor heran; der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und Bessie und Miss Abbot traten ein.

»Miss Eyre, sind Sie krank?«, fragte Bessie.

»Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!«, rief Abbot aus.

»Lasst mich raus! Lasst mich ins Kinderzimmer gehen!«, schrie ich.

»Weshalb denn? Ist Ihnen irgendetwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?«, fragte wiederum Bessie.

»Oh, ich sah ein Licht, und ich meinte, dass ein Geist kommen würde.« Ich hatte jetzt Bessies Hand ergriffen, und sie entzog sie mir nicht.

»Sie hat mit Absicht so geschrien«, erklärte Abbot mit einigem Abscheu. »Was für ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber sie wollte weiter nichts, als uns alle herbeilocken. Ich kenne ihre bösen Streiche schon.«

»Was gibt es denn hier?«, fragte eine andere Stimme gebieterisch. Mrs. fegte mit flatternden Haubenbändern und wehendem Kleid den Korridor entlang. »Abbot und Bessie, ich glaube, dass ich Befehl gegeben habe, Jane Eyre in dem Roten Zimmer zu lassen, bis ich selbst sie holen würde.«

»Miss Jane schrie so laut, Madam«, wandte Bessie zögernd ein.

»Lasst sie los«, war Mrs. Reeds Antwort. »Lass Bessies Hand los, Kind! Verlass dich darauf, auf diese Weise wirst du nicht hinausgelangen. Ich verabscheue solche List, besonders bei Kindern; es ist meine Pflicht, dir zu beweisen, dass du mit derartigen Ränken und Schlichen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine ganze Stunde hierbleiben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Versprechen gibst, vollkommen ruhig und gehorsam zu sein.«

»Oh, Tante, habt Erbarmen! Vergebt mir doch! Ich kann, ich kann es nicht ertragen … Bestraft mich doch auf andere Weise! Ich komme um, wenn …«

»Sei still! Diese Heftigkeit ist ganz widerlich und empörend!«

Ohne Zweifel hegte sie Abscheu gegen mein Betragen. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie sah in mir eine Verkörperung der heftigsten Leidenschaften, geprägt von einem niedrigen, gemeinen Geist und gefährlicher Falschheit.

Als Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, warf Mrs. Reed, die meiner wilden Angst und meines lauten Schluchzens wohl müde geworden war, mich rasch in das Zimmer zurück und schloss mich ohne weitere Worte wieder ein. Ich hörte noch, wie sie davonrauschte, und bald nachdem sie gegangen war, muss ich in Krämpfe verfallen sein: Bewusstlosigkeit machte der Szene ein Ende.

Drittes Kapitel

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit dem Gefühl eines schrecklichen Albtraumes erwachte: Vor mir sah ich eine unheimliche rote Glut, von der sich dicke, schwarze Gitterstäbe abhoben. Ich hörte Stimmen, die so hohl an mein Ohr klangen, als würden sie durch Wasserrauschen oder das Toben des Windes übertönt. Aufregung, Ungewissheit und ein alles beherrschendes Gefühl des Entsetzens hielten meine Sinne gefangen. Es vergingen nur wenige Augenblicke und dann gewahrte ich, dass jemand mich berührte, mich aufhob und in eine sitzende Stellung brachte, und zwar viel zärtlicher und sorgsamer, als mich bis jetzt irgendjemand gestützt oder emporgehoben hatte. Ich lehnte meinen Kopf gegen einen Arm oder ein Polster und fühlte mich unendlich wohl.

Nach fünf Minuten lösten sich die letzten Wolken der Bewusstlosigkeit auf. Jetzt wusste ich sehr wohl, dass ich in meinem eigenen Bett lag, und dass die rote Glut nichts anderes war, als das Feuer im Kamin des Kinderzimmers. Es war Nacht, eine Kerze brannte auf dem Tisch; Bessie stand am Fußende meines Bettes und hielt eine Waschschüssel in der Hand. Ein Herr saß auf einem Lehnstuhl neben mir und beugte sich über mich.

Ich empfand eine unbeschreibliche Erleichterung, eine wohltuende Überzeugung der Sicherheit und der Geborgenheit, als ich sah, dass sich ein Fremder im Zimmer befand, ein Mensch, der nicht zum Haushalt von Gateshead, nicht zu den Verwandten von Mrs. Reed gehörte. Mich von Bessie abwendend – obgleich ihre Gegenwart mir weit weniger unangenehm war, als mir zum Beispiel Abbots Gesellschaft gewesen wäre –, prüfte ich die Gesichtszüge des Herrn. Ich erkannte ihn: Es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed zuweilen rufen ließ, wenn ihre Dienstboten krank waren. Für sich selbst und ihre Kinder nahm sie immer nur die Hilfe des Arztes in Anspruch.

»Nun, wer bin ich?«, fragte er.

Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm gleichzeitig meine Hand entgegen. Er nahm sie, lächelte und sagte: »Ah, wir werden uns jetzt langsam erholen.« Dann legte er mich nieder, wandte sich zu Bessie und empfahl ihr, sehr vorsichtig zu sein und mich während der Nacht nicht zu stören. Nachdem er noch weitere Weisungen erteilt und gesagt hatte, dass er am folgenden Tag wiederkommen würde, ging er zu meiner größten Betrübnis fort. Während er auf dem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß, fühlte ich mich so beschützt, so sicher, und als sich die Tür hinter ihm schloss, wurde das ganze Zimmer dunkel und mein Herz verzagte von Neuem unter der Last einer unbeschreiblichen Traurigkeit.

»Glauben Sie, dass Sie schlafen können, Miss?«, fragte Bessie mich ungewöhnlich sanft.

Kaum wagte ich, ihr zu antworten, denn ich fürchtete, dass ihre nächsten Worte wieder grob klingen würden. »Ich will es versuchen«, sagte ich leise.

»Möchten Sie nicht irgendetwas essen oder trinken?«

»Nein danke, Bessie.«

»Nun, dann werde ich auch schlafen gehen, denn es ist schon nach Mitternacht. Aber Sie können mich rufen, wenn Sie während der Nacht irgendetwas brauchen.«

Welch seltene Höflichkeit! Das ermutigte mich, eine Frage zu stellen:

»Bessie, was ist denn mit mir geschehen? Bin ich sehr krank?«

»Ich vermute, dass Sie vom Schreien im Roten Zimmer krank geworden sind; aber Sie werden ohne Zweifel bald wieder ganz gesund sein.«

Bessie ging in das angrenzende Zimmer der Hausmädchen. Ich hörte, wie sie dort flüsterte:

»Sarah, komm und schlaf bei mir im Kinderzimmer. Um mein Leben könnte ich nicht diese Nacht mit dem armen Kind allein bleiben; es könnte sterben! Wie sonderbar, dass Miss Jane einen solchen Anfall haben musste! Ich möchte doch wissen, ob sie irgendetwas gesehen hat. Mrs. Reed war dieses Mal aber auch zu hart gegen sie.«

Sarah kam mit ihr zurück; beide gingen zu Bett und flüsterten mindestens noch eine halbe Stunde miteinander, bevor sie einschliefen. Ich hörte einige Bruchstücke ihrer Unterhaltung, aus denen ich auf den Gegenstand ihres Gespräches schloss:

»Etwas ist an ihr vorübergeschwebt, ganz in Weiß gekleidet, und dann ist es wieder verschwunden …« – »… ein großer, schwarzer Hund hinter ihm …« – »… dreimal hat es laut an der Zimmertür geklopft …« – »… ein Licht auf dem Friedhof gerade über seinem Grab …« – und so weiter, und so weiter.

Endlich schliefen beide ein. Feuer und Licht erloschen. In schaurigem Wachen ging die Nacht für mich langsam dahin; Entsetzen und Angst hielten Ohren, Augen und Sinne wach – Entsetzen und Angst, wie nur Kinder sie zu empfinden imstande sind.

Diesem Zwischenfall im Roten Zimmer folgte keine lange, ernste, körperliche Krankheit, nur eine heftige Erschütterung meiner Nerven, deren Widerhall ich noch bis auf den heutigen Tag empfinde. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich gar manchen qualvollen Schmerz der Seele. Aber ich sollte Ihnen verzeihen, denn Sie wussten nicht, was Sie taten. Während Sie jede Faser meines Herzens zerrissen, glaubten Sie, nur meine bösen Neigungen und Anlagen zu ersticken.

Am nächsten Tag gegen Mittag war ich bereits aufgestanden und angekleidet und saß, in einen warmen Schal gehüllt, vor dem Kaminfeuer. Ich fühlte mich körperlich schwach und gebrochen, aber mein schlimmstes Übel war ein unaussprechlicher Jammer der Seele, ein Jammer, der mir fortwährend stille Tränen entlockte. Kaum hatte ich einen salzigen Tropfen von meiner Wange getrocknet, als auch schon ein weiterer folgte. Und doch meinte ich, dass ich augenblicklich glücklich sein müsste, denn keiner von den Reeds war da, alle waren mit ihrer Mama im großen Wagen spazieren gefahren. Auch Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und während Bessie hin und her ging, Spielsachen forträumte und Schubladen ordnete, richtete sie dann und wann ein ungewöhnlich freundliches Wort an mich. Diese Lage der Dinge wäre für mich ein Paradies des Friedens gewesen, für mich, die ich nur an ein Dasein voll von nie endendem Tadel und ungedankter Plackerei gewöhnt war – aber meine Nerven waren jetzt in einem solchen Zustand, dass keine Ruhe sie mehr besänftigen, kein Vergnügen sie mehr freudig stimmen konnte.

Bessie war unten in der Küche gewesen und brachte mir einen Kuchen herauf, der auf einem bunt bemalten Porzellanteller lag. Er zeigte einen Paradiesvogel, welcher auf einem Kranz von Maiglöckchen und Rosenknospen schaukelte und bisher immer meine begeisterte Bewunderung hervorgerufen hatte. Gar oft hatte ich innig gebeten, diesen Teller in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn genauer betrachten zu können, bis jetzt hatte man mich aber stets einer solchen Gunst für unwürdig gehalten. Jetzt stellte man mir nun diesen kostbaren Teller auf den Schoß und bat mich freundlich, das Stückchen auserlesenen Gebäcks, welches auf demselben lag, zu essen. O eitle Gunst! Sie kam zu spät – wie so manch andere, die innig erwünscht und lange versagt wird. Ich konnte den Kuchen nicht essen, und selbst das Gefieder des Vogels und die Farben der Blumen schienen mir seltsam verblasst. Ich schob Teller und Gebäck von mir. Bessie fragte mich, ob ich ein Buch haben wolle. Das Wort Buch übte seinen Reiz auf mich aus, und ich bat sie, mir »Gullivers Reisen« aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich schon unzählige Male mit Entzücken gelesen; ich hielt es für eine Erzählung von Tatsachen und nahm daher ein weit tieferes Interesse an ihm, als ich es für Märchen hatte. Denn nachdem ich die Elfen vergebens unter den Blättern des Fingerhuts und der Glockenblume, unter Pilzen und altem, von Efeu umranktem Gemäuer gesucht hatte, hatte ich mich mit der traurigen Wahrheit ausgesöhnt, dass sie England wohl verlassen hätten, um in ein unbekanntes Land zu gehen, wo die Wälder noch stiller, wilder und dichter, die Menschen noch spärlicher gesät sind. Liliput hingegen und Brobdingnag waren nach meiner Überzeugung solide Bestandteile der Erdoberfläche; ich zweifelte nicht, dass, wenn ich eines Tages eine weite Reise machen könnte, ich mit meinen eigenen Augen die kleinen Felder und Häuser, die winzigen Menschen, die zierlichen Kühe, Schafe und Vögel des einen Königreichs sehen würde, und ebenso die baumhohen Kornfelder, die mächtigen Bullenbeißer, die Katzen-Ungeheuer und die turmhohen Männer und Frauen des anderen. Und doch, als ich den geliebten Band jetzt in den Händen hielt, als ich die Seiten umblätterte und in den wundersamen Bildern den Reiz suchte, welchen sie mir bis jetzt stets gewährt hatten – da war alles düster und unheimlich; die Riesen waren hagere Kobolde, die Pygmäen boshafte und scheußliche Gnomen, Gulliver ein trübseliger Wanderer in grauenhaften und gefährlichen Regionen. Ich schloss das Buch, in dem ich nicht länger zu lesen wagte, und legte es auf den Tisch neben das unberührte Stück Kuchen.

Bessie war jetzt mit dem Abstauben und Aufräumen des Zimmers fertig. Nachdem sie ihre Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine kleine Schublade, welche mit den schönsten, prächtigsten Stoffresten von Seide und Atlas angefüllt war, und fing an, einen Hut für Georgianas neue Puppe zu machen. Dann begann sie zu singen:

»Als wir streiften durch Wald und Flur,

Vor langer, langer Zeit …«

Wie oft hatte ich dieses Lied schon gehört, und immer mit dem größten Entzücken, denn Bessie hatte eine schöne Stimme – wenigstens nach meinem Geschmack. Aber jetzt, obgleich ihre Stimme noch immer lieblich klang, lag für mich eine unbeschreibliche Traurigkeit in dieser Melodie. Zuweilen, wenn ihre Arbeit sie ganz in Anspruch nahm, sang sie den Refrain sehr leise, sehr langsam: »Vor langer, langer Zeit.« Dann klang es wie die traurigste Kadenz eines Grabliedes. Endlich begann sie eine andere Ballade zu singen, diesmal eine wirklich traurige:

»Mein Körper ist müd und wund ist mein Fuß,

Weit ist der Weg, den ich wandern muss,

Bald wird es Nacht und den Weg ich nicht find,

Den ich wandern muss, armes Waisenkind!

Weshalb sandten sie mich so weit, so weit,

Durch Feld und Wald, auf die Berg’, wo es schneit?

Die Menschen sind hart! Doch Engel so lind,

Bewachen mich armes Waisenkind.

Die Sterne, sie scheinen herab so klar,

Die Luft ist mild! Es ist doch wahr:

Gott ist barmherzig, er steuert dem Wind,

Dass er nicht erfasse das Waisenkind.

Und wenn ich nun strauchle am Waldesrand

Oder ins Meer versink, wo mich führt keine Hand,

So weiß ich doch, dass den Vater ich find,

Er nimmt an sein Herz das Waisenkind!

Das ist meine Hoffnung, die Kraft mir gibt,

Dass Gott da droben sein Kind doch liebt.

Bei ihm dort oben die Heimat ich find,

Er liebt auch das arme Waisenkind!«

»Kommen Sie, Miss Jane, weinen Sie nicht«, sagte Bessie, als sie zu Ende war. Ebenso gut hätte sie dem Feuer sagen können »Brenne nicht!«, aber wie hätte sie denn auch eine Ahnung von dem herzzerreißenden Schmerz haben können, der mich quälte? Im Laufe des Vormittags kam Mr. Lloyd wieder.

»Wie? Schon aufgestanden?«, rief er, als er ins Kinderzimmer trat. »Nun, Bessie, wie geht es ihr denn?«

Bessie entgegnete, dass es mir außerordentlich gut gehe.

»Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen. Kommen Sie her, Miss Jane. Sie heißen Jane, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Jane Eyre.«

»Nun, Sie haben geweint, Miss Jane Eyre, wollen Sie mir nicht sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, Sir.«

»Ach, ich vermute, dass sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spazieren fahren durfte«, warf Bessie ein.

»O nein, gewiss nicht, für solche Albernheiten ist sie doch schon zu groß.«

Das dachte ich auch, und da meine Selbstachtung durch die falsche Beschuldigung verletzt war, antwortete ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Tränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin.«

»Schämen Sie sich, Miss!«, rief Bessie.

Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm, und er sah mich eindringlich an. Seine Augen waren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, dass ich sie heute sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er:

»Was hat Sie gestern krank gemacht?«

»Sie ist gefallen«, warf Bessie ein.

»Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein!«

»Jemand hat mich zu Boden geschlagen«, lautete meine derbe Erklärung, welche der Schmerz des gekränkten Stolzes mir eingab, »aber das hat mich nicht krank gemacht.«

Mr. Lloyd nahm bedächtig eine Prise Tabak.

Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen. Mr. Lloyd wusste, was das bedeutete: »Das gilt Ihnen, Bessie«, sagte er, »Sie können hinuntergehen. Ich werde Miss Jane einige Lehren geben, bis Sie zurückkehren.«

Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil man in Gateshead Hall streng auf die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten achtete.

»Der Sturz hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es dann?«, fragte Mr. Lloyd, nachdem Bessie gegangen war.

»Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«

Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was denn, sind Sie am Ende doch noch ein kleines Kind? Sie fürchten sich vor Geistern?«

»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich. Er starb in jenem Zimmer und lag dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend da hinein, wenn es nicht dringend nötig ist. Und es war furchtbar grausam, mich dort allein und ohne Licht einzuschließen – so grausam, dass ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«

»So ein Unsinn! Das macht Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«

»Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem bin ich unglücklich, sehr unglücklich, um anderer Dinge willen.«

»Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«

Sosehr ich wünschte, offen und ehrlich auf diese Frage antworten zu können, so schwer war es, die richtigen Worte für eine solche Antwort zu finden. Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihre Empfindungen nicht zergliedern, und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, dass diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen würde, gelang es mir nach einer Weile schließlich doch noch, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.

»Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder und keine Schwester.«

»Aber Sie haben eine gütige Tante, liebe Cousinen und einen Vetter.«

Wiederum hielt ich inne, dann rief ich aus:

»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich im Roten Zimmer eingesperrt!«

Zum zweiten Mal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.

»Finden Sie denn nicht, dass Gateshead Hall ein wunderschönes Haus ist?«, fragte er. »Sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Ort leben zu können?«

»Es ist nicht mein eigenes Haus, Herr, und Abbot sagt, dass ich weniger Recht habe, hier zu sein, als ein Dienstbote.«

»Dummes Zeug! Sie können doch nicht so dumm sein, zu wünschen, dass Sie einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen wollen?«

»Wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen sollte, ich wäre wahrhaftig froh zu gehen. Aber ich darf Gateshead erst verlassen, wenn ich erwachsen bin.«

»Vielleicht doch auch früher, wer weiß? Haben Sie außer Mrs. Reed denn keine Verwandten?«

»Ich glaube nicht, Sir.«

»Niemanden, der mit Ihrem Vater verwandt war?«

»Ich weiß es nicht. Einmal fragte ich Tante Reed, und da sagte sie, dass ich möglicherweise irgendwelche armen, heruntergekommenen Verwandten namens Eyre haben könnte, dass sie aber nichts über sie wisse.«

»Würden Sie denn zu denen gehen wollen, wenn es solche Leute gäbe?«

Ich besann mich. Armut – das klingt für erwachsene Menschen abschreckend, für Kinder aber noch mehr. Kinder haben keinen Sinn für fleißige, arbeitsame, ehrenhafte Armut, das Wort erweckt in ihnen nur Gedanken an zerlumpte Kleider, kärgliche Nahrung, einen kalten Ofen, rohe Manieren und entwürdigende Laster. Auch für mich war Armut gleichbedeutend mit Entehrung.

»Nein! Ich möchte nicht bei armen Leuten leben«, war daher meine Antwort.

»Auch nicht, wenn diese gütig gegen Sie wären?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht begreifen, wie arme Leute überhaupt die Mittel haben sollten, gütig zu sein. Und sollte ich etwa reden wie sie, ihre Manieren annehmen, schlecht erzogen werden, aufwachsen wie eines jener armen Weiber, die ich zuweilen vor den Hütten ihre Kinder warten und ihre Kleider waschen sah? Nein, ich war nicht heroisch genug, meine Freiheit um den Preis meiner Kaste zu erkaufen.

»Aber sind Ihre Verwandten denn wirklich so arm? Gehören sie zur arbeitenden Klasse?«

»Das weiß ich nicht. Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt Angehörige habe, so müssen sie Bettlergesindel sein. Nein, nein, ich möchte nicht betteln gehen.«

»Möchten Sie gerne in die Schule gehen?«

Wieder dachte ich nach; wusste ich doch kaum, was eine Schule eigentlich war. Bessie sprach zuweilen davon wie von einem Ort, an dem man von jungen Damen erwartete, dass sie außerordentlich manierlich und geziert sind. John Reed hasste seine Schule und schmähte seinen Lehrer, aber John Reeds Ansichten und Geschmack waren keine Maßstäbe für mich. Und wenn Bessies Berichte über die Schuldisziplin – diese stammten von den Töchtern einer Familie, in welcher sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam – auch etwas abschreckend klangen, so waren ihre Erzählungen von den verschiedenen Talenten und Kenntnissen, welche die besagten jungen Damen sich in der Schule angeeignet hatten, andererseits höchst verlockend. Bessie schwärmte von wunderschönen Gemälden mit Landschaften und Blumen, welche sie vollendet hatten, von Liedern, die sie singen und Klavierstücken, die sie spielen konnten, von Täschchen, die sie häkelten und von französischen Büchern, die sie übersetzten – so lange, bis mein Gemüt zur Nachahmung aufgestachelt wurde. Zudem bedeutete die Schule eine gründliche Veränderung: Es wäre eine lange Reise damit verknüpft, eine gänzliche Trennung von Gateshead und ein Eintritt in ein neues Leben.

»Ja, ich möchte in der Tat gerne zur Schule gehen«, war die hörbare Schlussfolgerung dieser meiner Gedanken.

»Nun ja, wer weiß schon, was nicht alles geschehen kann?«, sagte Mr. Lloyd, indem er sich erhob. »Das Kind braucht Luft- und Ortsveränderung«, fügte er für sich selbst hinzu, »die Nerven sind in einer bösen Verfassung.«

Jetzt kam Bessie zurück, und im selben Augenblick hörte man auch Mrs. Reeds Wagen über den Kies der Gartenwege rollen.

»Ist das Ihre Herrin, Bessie?«, fragte Mr. Lloyd. »Ich möchte noch mit ihr reden, bevor ich gehe.«

Bessie begleitete ihn ins Frühstückszimmer. Wie ich aus den nachfolgenden Begebenheiten schloss, wagte der Apotheker während seiner Unterredung mit Mrs. Reed die Empfehlung, mich doch in eine Schule zu schicken. Und ohne Zweifel wurde dieser Rat sehr bereitwillig angenommen, denn als ich an einem der folgenden Abende im Bett lag und Bessie und Abbot mich schlafend glaubten, sagte Letztere: »Ich glaube, die gnädige Frau ist nur zu froh, solch ein langweiliges, boshaftes Kind loszuwerden; sie sieht immer aus, als beobachte sie jeden Menschen und schmiede heimliche Pläne.« Ich glaube wahrhaftig, dass Abbot mich für einen verschlagenen Attentäter, eine Art kindlichen Guy Fawkes hielt.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus Miss Abbots Mitteilungen an Bessie, dass mein Vater ein armer Pastor gewesen war, den meine Mutter gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet hatte, welche diese Heirat für erniedrigend hielten. Mein Großvater Reed war so erzürnt über den Ungehorsam meiner Mutter, dass er sie gänzlich enterbte. Nachdem er kaum ein Jahr mit meiner Mutter verheiratet gewesen war, holte sich mein Vater den Typhus in den armen Vierteln der großen Fabrikstadt, in welcher seine Pfarre lag. Meine arme Mutter folgte dann ihrem Gatten kaum einen Monat später ins Grab.

Als Bessie diese Erzählung anhörte, seufzte sie und sagte: »Abbot, die arme Miss Jane ist wirklich zu bedauern.«

»Ja, ja«, entgegnete Abbot. »Wenn sie ein liebes, gutes, hübsches Kind wäre, so könnte man wohl Mitleid mit ihr haben, weil sie so gänzlich verlassen ist. Aber solch eine scheußliche kleine Kröte kann einem doch unmöglich Erbarmen einflößen.«

»Nein, nicht viel«, stimmte Bessie ihr bei, »auf jeden Fall würde eine so prächtige Schönheit wie Miss Georgiana in einer solchen Lage viel rührender wirken.«

»Ja, ich bete Miss Georgiana an!«, rief die begeisterte Abbot. »Der kleine süße Liebling! Mit ihren langen Locken, blauen Augen und der frischen Farbe, gerade wie gemalt! – Weißt du was, Bessie, ich bekomme wahrhaftig Appetit auf geröstetes Brot mit Käse zum Abend.«

»Ich auch, ich auch – mit geschmorten Zwiebeln. Kommen Sie, wir wollen hinuntergehen.«

Und sie gingen.

Viertes Kapitel

Aus meiner Unterredung mit Mr. Lloyd und dem soeben geschilderten Gespräch zwischen Abbot und Bessie schöpfte ich Hoffnung genug, um den Wunsch nach Genesung zu hegen. Eine Veränderung schien bevorzustehen, und ich hoffte und wartete im Stillen. Die Sache verzögerte sich indessen. Die Tage und Wochen vergingen, mein Gesundheitszustand war wieder normal, aber ich vernahm keine Hinweise mehr auf den Gegenstand, über welchen ich grübelte. Oft betrachtete Mrs. Reed mich mit strengen, finsteren Blicken, aber nur selten sprach sie zu mir. Seit meiner Krankheit hatte sie eine schärfere Grenzlinie denn je zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen; mir war eine kleine Kammer als Schlafgemach zugewiesen worden, man hatte mich verurteilt, meine Mahlzeiten allein einzunehmen, und ich musste allein im Kinderzimmer verweilen, während ihre Kinder sich stets im Wohnzimmer aufhielten. Indessen gab es noch immer keine Anzeichen von dem Plan, mich in eine Schule zu schicken. Und doch hegte ich die instinktive Gewissheit, dass sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden würde, denn mehr denn je las ich in Mrs. Reeds Blicken ihren unüberwindlichen und tief verwurzelten Abscheu.

Eliza und Georgiana handelten augenscheinlich nach Instruktionen, da sie so wenig wie möglich mit mir sprachen. John streckte die Zunge heraus, sobald er mich nur erblickte, und einmal versuchte er sogar, mich zu schlagen. Da ich mich aber augenblicklich gegen ihn wandte und er in meinen Blicken dieselbe Wut wahrnahm, mit welcher ich mich schon einmal gegen ihn aufgelehnt hatte, hielt er es für besser, abzulassen und unter lauten Verwünschungen davonzulaufen, während er schrie, ich hätte ihm das Nasenbein zertrümmert. Tatsächlich hatte ich nach diesem hervorspringenden Gesichtsteil einen Schlag geführt, so heftig, wie meine Knöchel ihn nur auszuteilen vermochten. Und als ich bemerkte, dass entweder dieser Schlag oder aber meine Blicke ihn wirklich eingeschüchtert hatten, verspürte ich die größte Neigung, meinen Vorteil noch weiter auszubeuten. Er war indessen schon zu seiner Mutter gelaufen. Ich hörte, wie er mit stammelnden Lauten eine Geschichte begann, wie »diese abscheuliche Jane Eyre«, einer wilden Katze gleich, auf ihn gesprungen sei. Mit strenger Stimme unterbrach ihn jedoch seine Mutter:

»Sprich mir nicht von ihr, John, ich habe dir gesagt, dass du ihr nicht zu nahe kommen sollst. Sie ist deiner Beachtung nicht wert, und ich will nicht, dass du dich mit ihr abgibst. Und für deine Schwestern gilt das Gleiche.«

In diesem Augenblick lehnte ich mich über das Treppengeländer und schrie plötzlich, ohne im Geringsten über meine Worte nachzudenken:

»Nein, sie sind es nicht wert, mit mir zu verkehren!«

Mrs. Reed war eine ziemlich starke Frau; als sie indessen diese seltsamen und dreisten Worte vernahm, kam sie ganz leichtfüßig die Treppe heraufgerannt und zerrte mich mit Windeseile ins Kinderzimmer, und indem sie mich an die Seite meines kleinen Bettes drückte, verbot sie mir mit pathetischer Stimme, mich von dieser Stelle fortzurühren oder während des ganzen Tages auch nur noch ein einziges Wort zu sprechen.

»Was würde Onkel Reed jetzt sagen, wenn er noch lebte?«, war meine fast willenlos gestellte Frage. Ich sage ›fast willenlos‹, denn es war, als spräche meine Zunge diese Worte aus, ohne dass mein Wille darum wusste – es sprach etwas aus mir, worüber ich keine Gewalt hatte.

»Was?«, zischte Mrs. Reed fast unhörbar, und in ihren sonst so kalten, ruhigen, grauen Augen blitzte etwas auf, das der Furcht glich. Sie ließ meinen Arm los und blickte mich an, als wisse sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teufel sei. Jetzt fasste ich Mut.

»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und sagen, und mein Vater und meine Mutter auch. Sie wissen, dass Sie mich den ganzen Tag einsperren und dass Sie nur wünschen, ich wäre tot.«

Mrs. Reed fasste sich schnell wieder; sie schüttelte mich heftig, ohrfeigte mich und verließ mich dann, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Bessie füllte diese Lücke aus, indem sie mir eine stundenlange Strafpredigt hielt, in welcher sie mir zweifelsfrei bewies, dass ich das elendeste und pflichtvergessenste Kind sei, das jemals unter einem Dache aufgezogen worden ist. Halb und halb glaubte ich ihr, denn ich empfand selbst, wie in diesem Augenblick nur böse Gefühle in meiner Brust tobten.

November, Dezember und der halbe Januar gingen vorüber. Das Weihnachtsfest und Neujahr wurden in Gateshead in der üblichen fröhlichen Weise gefeiert, Geschenke waren nach allen Seiten hin ausgeteilt und Mittags- und Abendgesellschaften gegeben worden. Ich war natürlich von allen Festlichkeiten ausgeschlossen; mein Anteil an diesen bestand darin, dass ich täglich mit ansehen musste, wie Eliza und Georgiana in ihren zarten Musselinkleidern und rosenroten Schärpen, mit sorgsam gelocktem Haar auf das Schönste herausgeputzt in den Salon hinabgingen. Später horchte ich dann auf die Töne des Klaviers oder der Harfe, die zu mir heraufdrangen; hörte, wie der Kellermeister und die Diener hin und her liefen, wie die Teller klapperten und die Gläser klangen, während die Erfrischungen gereicht wurden. Und wenn die Türen des Salons geöffnet und wieder geschlossen wurden, drangen sogar abgebrochene Sätze der Konversation an mein Ohr. Des Lauschens müde geworden, verließ ich dann meinen Posten auf dem Treppenabsatz und ging in das stille, einsame Kinderzimmer zurück. Dort, wenn ich auch traurig war, fühlte ich mich wenigstens nicht elend. Offen gestanden hegte ich nicht das leiseste Verlangen, in Gesellschaft zu gehen, denn in der Gesellschaft schenkte mir selten irgendjemand Beachtung. Wenn Bessie nur ein wenig liebenswürdig und freundlich gewesen wäre, so hätte ich es für eine Bevorzugung angesehen, die Abende ruhig mit ihr, anstatt unter den gefürchteten Augen von Mrs. Reed in einem Kreise von mir unsympathischen Herren und Damen zubringen zu dürfen. Aber sobald Bessie ihre jungen Damen angekleidet hatte, pflegte sie sich in die lebhafteren Regionen der Küche und des Zimmers der Haushälterin hinunterzubegeben und gewöhnlich auch noch das Licht mit fortzunehmen. Dann saß ich da mit meiner Puppe im Arm, bis das Feuer herabgebrannt war, und blickte zuweilen ängstlich umher, um mich zu vergewissern, dass sich nichts Schlimmeres als ich selbst in dem düsteren Zimmer befand. Wenn sich dann nur noch ein Häufchen glühend roter Asche auf dem Rost befand, entkleidete ich mich hastig, riss und zerrte mit allen Kräften an den Bändern und Knöpfen meiner Röcke und suchte in meinem Bettchen Schutz vor der Kälte und der Dunkelheit. In dieses Bettchen nahm ich auch stets meine Puppe mit: Jedes menschliche Wesen muss etwas lieben, und da mir jeder andere Gegenstand für meine Liebe fehlte, fand ich meine Glückseligkeit darin, ein farbloses, verblasstes Gebilde zu lieben, das noch hässlicher als eine Miniatur-Vogelscheuche war. In der Erinnerung scheint es mir jetzt unbegreiflich, dass ich mit so alberner Zärtlichkeit an diesem kleinen Spielzeug hängen konnte. Oft bildete ich mir ein, dass es lebendig sei und mit mir empfinden könnte. Ich konnte nicht schlafen, wenn ich es nicht in die Falten meines Nachthemdchens gehüllt hatte, und wenn es dort sicher und warm lag, fühlte ich mich verhältnismäßig glücklich, weil ich glaubte, dass es ebenfalls glücklich sein müsse.