Jasmin und die Streichholzmenschen - Isabel Lenuck - E-Book

Jasmin und die Streichholzmenschen E-Book

Isabel Lenuck

4,7

Beschreibung

In Jasmins Kinderzimmer steht – seit vielen Jahren unentdeckt – ein zweites Bett, kaum größer als eine Nussschale. In diesem Bettchen schläft Petra. Ein Mädchen, so klein wie ein Streichholz. Eines Nachts lernen sich die beiden Kinder zufällig kennen – und werden Freundinnen. Das kleine Streichholzmädchen ist ganz alleine, denn sie wurde durch einen unglücklichen Zufall von ihrer Familie getrennt. Natürlich möchte Jasmin ihr sofort bei der Suche nach den anderen helfen. Aber nicht nur Petras Familie ist verschwunden – das ganze Volk der Streichholzmenschen hält sich irgendwo an einem geheimen Ort versteckt. Die Suche nach den verschwundenen Streichholzmenschen wird immer gefährlicher: Ein skrupelloser Wissenschaftler hat von Petras Langlebensgeheimnis erfahren und möchte sie nun an ein Forschungslabor verkaufen! Wird es Jasmin gelingen, ihre kleine Freundin zu retten? Jasmin und die Streichholzmenschen ist ein spannender und zugleich durchaus amüsanter Kinderroman um eine ungleiche Freundschaft, um das Akzeptieren von Andersartigkeit, um Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten und um den Wert der Freiheit und die Notwendigkeit, diese mit allen Mitteln zu verteidigen. Er handelt von dem Risiko, das man eingeht, wenn man anderen vertraut, und der unschätzbar wertvollen Erfahrung, wahre Freunde zu haben. Auch als Hörbuch erhältlich. Gelesen von Tom Westphal.

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Für Gladys und Franka

Inhalt

Kapitel 01: Das Streichholzmädchen unter dem Bett

Kapitel 02: Alles nur geträumt?

Kapitel 03: Petras Geschichte

Kapitel 04: Ein schrecklich ungemütliches Frühstück

Kapitel 05: Mama räumt um

Kapitel 06: Ein Puppenhaus für Petra

Kapitel 07: Petra will nicht mehr alleine sein

Kapitel 08: Hexen gab es doch auch, oder?

Kapitel 09: Petra schläft zur falschen Zeit

Kapitel 10: Petras erster Schultag

Kapitel 11: Viele Lügen und ein nasses Kleid

Kapitel 12: Jasmin in Not

Kapitel 13: Petra muss sich entscheiden

Kapitel 14: Eine schlaflose Nacht für Katja

Kapitel 15: Katja wird zur Diebin

Kapitel 16: Das Buch in geheimer Schrift

Kapitel 17: Eine tolle Überraschung für Jasmin

Kapitel 18: Die Geschichte der Streichholzmenschen

Kapitel 19: Verschwindet Petra für immer?

Kapitel 20: Drei Mädchen, siebzehn Kirchen und vier müde Füße

Kapitel 21: Der längste und ödeste Sonntag der Welt

Kapitel 22: Omilis genialer Plan

Kapitel 23: Die Schnur führt ins Nichts

Kapitel 24: Wie viel Taschengeld kostet ein Haus?

Kapitel 25: Naht endlich Hilfe?

Kapitel 26: Ein schwieriger Weg

Kapitel 27: Fliegende Tassen in Petras Haus

Kapitel 28: Ein ungewöhnliches Kaffeekränzchen

Kapitel 29: Das Forschungsinstitut von Prof. Dr. Dr. Dr. Rudolph

Kapitel 30: Das Leben unter der Kuppel – ein Leben in Sicherheit?

Kapitel 31: Die schwarzen Herren kommen

Kapitel 32: Dr. Schmidtkes grausame Pläne

Kapitel 33: Ein Streichholzmensch auch unter deinem Bett?

Kapitel 1

Das Streichholzmädchen unter dem Bett

Dies ist die Geschichte von Jasmin und Petra, zwei Mädchen, die in einer ganz normalen Stadt lebten. Nun glaubst du vielleicht, dass Jasmin und Petra zwei ganz normale und gewöhnliche Kinder waren? Von wegen normal und gewöhnlich! Aber warte ab, bis du mehr erfährst…

Jasmin wohnte in einer ganz normalen Straße, in einem ganz normalen Haus und in einer ganz normalen Großstadt.

Sie war acht Jahre alt und ging in die zweite Klasse, hatte lange braune Haare, war sportlich, bastelte gerne und las viel. Schule fand sie okay, musste aber auch nicht immer sein.

Sie hatte eine kleine Stupsnase, zwei schrecklich große Erwachsenenzähne und viele kleine Milchzähne und war eine ausgesprochene Sammelsuse.

Jasmin trank am liebsten Kirschsaft, liebte Oliven und Frischkäse auf Weißbrot und zog vernünftigerweise meist zwei verschiedene Socken an. Sie verschwendete ihre kostbare Zeit doch nicht damit, nach verschwundenen Zweitsocken zu suchen, die auf rätselhafte Weise in der gefräßigen Waschmaschine verschwunden waren!

Ihre Schreibtischschublade quoll regelmäßig über, so viele Dinge verbargen sich in ihr – Jasmin musste einfach alles aufbewahren. Man wusste ja nie, wozu man es noch gebrauchen konnte!

Kirschsaft, Socken und Sammelei sind aber allesamt nichts wirklich Besonderes. Doch von einem Tag auf den anderen geschah etwas wirklich Ungewöhnliches, und in Jasmins Leben war plötzlich nichts mehr so wie vorher – und das Außergewöhnliche war: Petra.

Aber eins nach dem anderen. Jeden Morgen musste Jasmin früh aufstehen, um zur Schule zu gehen. Sie ging auch gerne zur Schule, und zwar vor allem, um dort mit ihrer Freundin Katja zu spielen. Wäre da bloß nicht vorher immer dieses schreckliche Haarekämmen!

Jasmins lange braune Haare waren morgens furchtbar strubbelig. Das ist nichts Außergewöhnliches, schließlich haben viele Kinder morgens Strubbelhaare. Jasmins Haare aber waren so derartig verwüstet, dass man meinen konnte, jemand knote sie mit Absicht so durcheinander!

„Wie ist es sonst zu erklären, dass man sich abends mit schön gekämmten Haaren ins Bett legt und am nächsten Morgen mit solchen Haaren wieder aufwacht?“, dachte Jasmin wütend, während sie sich mit zusammengebissenen Zähnen die Haare kämmte.

Hätte sie nur gewusst, wie recht sie hatte! Sie hätte erstens abends überhaupt kein Auge mehr zugetan und sich zweitens auch nicht mehr über ihre verknoteten Haare gewundert.

Denn stell dir vor, unter Jasmins Bett, ganz verborgen in einer Ecke, stand ein zweites Bett! Ein klitzekleines Bett, kaum so groß wie eine Streichholzschachtel, und in diesem klitzekleinen Bettchen lag auch ein kleines Mädchen!

Es hieß Petra und war nicht größer als ein Streichholz. Petra hatte lange schwarze Haare, grüne Augen und ein hübsches, aber meist schmutziges Gesicht. Glaub aber nicht, dass das daran lag, dass sie sich nicht wusch. Um unbemerkt von einem Zimmer zum anderen zu gelangen, musste sie immer durch die engen, verstaubten Mäusegänge hin- und herlaufen, und dabei wurde sie eben einfach schmutzig.

Jasmin wusste nichts von Petra. Aber Petra wusste sehr viel über Jasmin. Denn jede Nacht, wenn Jasmin tief und fest in ihrem Bett schlief, lief Petra im Zimmer umher und spielte. Streichholzmenschen haben nämlich einen anderen Lebensrhythmus als große Menschen. Sie sind in der Nacht wach und schlafen am Tag. Deswegen lief Petra auch immer nachts durch Jasmins Zimmer. Und Petras allerliebstes Lieblingsspiel war es, auf der schlafenden Jasmin herumzuturnen!

Für ein Streichholzmädchen ist so ein „Menschenmädchen“ und alles an ihr riesengroß! Der Fuß ist so groß wie ein ganzes Boot, das Bein ist so groß wie ein halbes Gebirge. Jasmin war wie eine lebendige Landschaft, auf der man wunderbar herumspazieren konnte. Am allerbesten aber fand Petra immer noch das Gesicht! Auf den Wangen konnte man wie auf einem Trampolin herumhopsen. Gerne lag Petra auch einfach zum Entspannen in einer Ohrmuschel herum und las ein Buch. Und wie interessant für so ein Streichholzmädchen erst Nasenlöcher sind! Manchmal strömte aus ihnen so viel warme Luft heraus, dass Petra sich damit die Haare hätte föhnen können. Das fand sie wahnsinnig faszinierend!

Es war herrlich, Jasmin auch ab und an ein wenig zu ärgern. „Aufstehen! Du musst zur Schuuuule!“, rief Petra ihr dann scherzend ins Ohr. Dann stöhnte Jasmin im Schlaf und flüsterte: „Nur noch fünf Minuten, Mama“, und Petra rannte kichernd weg.

Sie machte sich einen Spaß daraus, die ganze Nacht an Jasmins Haaren hochzuklettern und sich wieder abzuseilen. Oder einfach nur stundenlang zwischen den Haarsträhnen zu schaukeln… Und während sich Jasmin morgens mit ihren zerzausten Haaren herumärgerte, die Petra mit ihrer Turnerei und Schaukelei verknotet hatte, lag Petra wohlig schlafend in ihrem kleinen Bett und bekam von alledem nichts mit.

So ging es Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Wenn die eine schlief, war die andere wach und umgekehrt.

Wahrscheinlich wäre es für immer so weitergegangen, wenn sich die beiden nicht zufällig kennengelernt hätten. Und das kam so:

Eines Tages kam Jasmin so erschöpft von der Schule zurück, dass sie sich nachmittags eine Stunde schlafen legte. Nachts konnte sie deswegen dann allerdings nicht so fest schlafen wie sonst. Gerade dämmerte sie im Halbschlaf vor sich hin, als plötzlich seltsame Geräusche unter ihrem Bett hervordrangen. Irgendetwas machte „Uuuaah!“, so als ob sich jemand nach dem Aufwachen streckte.

„Was für ein Quatsch“, dachte Jasmin, „Aufwachgeräusche. Als ob unter mir jemand schläft!“ Schon drehte sie sich zur anderen Seite und fiel wieder in einen leichten Schlaf.

Gerade in dieser Nacht nun hatte Petra mal wieder große Lust, auf Jasmins Wange herumzuhüpfen.

Erst kletterte sie die Haarsträhne herauf, dann genoss sie in der Ohrmuschel die schöne Aussicht, schaute auf dem Weg zur Wange kurz in die Nasenlöcher, ob es etwas Neues zu entdecken gab, und hopste dann ein bisschen auf der Backe herum. Schließlich setzte sie sich mitten auf Jasmins Nasenspitze. Da saß sie gerade, ließ die Beine baumeln und überlegte, was sie als Nächstes tun konnte – als Jasmin genau in diesem Moment aufwachte! Sie schielte auf ihre Nase: Erst dachte sie, sie träumte. Dann dachte sie, sie fieberte. Dann dachte sie, sie träumte und fieberte: Auf ihrer Nase saß ein kleines Mädchen!

Kapitel 2

Alles nur geträumt?

Die kleine Petra schaute genauso erschrocken, als sich diese riesigen Augen auf einmal öffneten und sie entgeistert anstarrten.

„Was machst du auf meiner Nase?“, fragte Jasmin fassungslos.

„Ich, äh, äh, ich… sitze auf deiner Nase“, stammelte Petra.

„Du sitzt auf meiner Nase? Warum sitzt du auf meiner Nase?“, wollte Jasmin wissen.

„Äh, ich, äh, ich weiß auch nicht. Es macht mir Spaß, auf deiner Nase zu sitzen…“, stotterte Petra weiter.

„Es macht dir Spaß, auf meiner Nase zu sitzen?“, fragte Jasmin noch verwunderter.

Sie richtete sich auf, zupfte Petra von ihrer Nasenspitze und setzte sie sich auf die Hand. Mit großen Augen betrachtete sie dieses kleine Mädchen mit dem schwarz verschmutzten Gesicht.

„Wer bist du? Was bist du? Was machst du hier?“, stotterte Jasmin. „Was…was… was… ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll.“

Petra wusste auch nicht, was sie sagen sollte. Deswegen sagten beide Mädchen erst einmal gar nichts und betrachteten sich gegenseitig.

„Träum ich oder bin ich wach?“, fragte Jasmin schließlich zögernd.

„Äh, ich glaub, du träumst“, antwortete Petra ganz schnell.

„Was bist du für ein… für ein Ding?“, fragte Jasmin und schaute Petra an, als wäre sie ein rätselhaftes Insekt.

„Ich bin doch kein Ding!“, entgegnete Petra entrüstet und stemmte ihre Ärmchen in die Seite. „Ich bin ein Streichholzmensch. Ein ganz normales Streichholzmädchen. So! Und überhaupt – was gibt es denn da zu gucken? Pah!“, schnaubte Petra empört.

Wütend stampfte sie mit ihren kleinen Füßen auf Jasmins Handfläche. Sie wollte schon fortlaufen, doch nach kurzem Überlegen sagte sie: „Du, hör mal, ich weiß, dass es dir etwas komisch vorkommt, dass ich hier auf deinem Bett rumlaufe und auf deiner Nase sitze. Aber weißt du, eigentlich bin ich ja nur zufällig hier.“

„Ach ja?“ Jasmin war gespannt zu hören, warum dieses kleine Mädchen zufällig vorbeikam und zufällig auf ihrer Nase sitzend eine Pause machte.

„Ich, öh, ich wohne normalerweise eine Etage tiefer“, begann Petra langsam.

„Du wohnst unten bei Frau Melchert?“ Erstaunt zog Jasmin die Augenbrauen hoch. Frau Melchert war ihre Nachbarin aus dem Erdgeschoss.

„Neeeeiiin, nicht wirklich“, entgegnete Petra gedehnt, „ich wohne nicht bei Frau Melchert unten im Erdgeschoss. Ich wohne hier bei dir unter deinem Bett.“

„Du wohnst unter meinem Bett?“ Jasmin staunte immer mehr. Wenn sie ihre Augen jetzt noch weiter aufriss, fielen sie bestimmt gleich heraus und kullerten über die Bettdecke.

„Ja“, antwortete Petra ruhig und lehnte sich an Jasmins Daumen. Sie tat so, als wäre es das Normalste der Welt, dass sie unter Jasmins Bett wohnte. „Unter deinem Bett.“

„Und wie lange wohnst du schon unter meinem Bett?“, fragte Jasmin neugierig weiter.

„Och“, antwortete Petra langsam, „ich glaube, so etwa vier Jahre.“

„Du wohnst seit vier Jahren unter meinem Bett, und du hast mir noch nie ‚Guten Tag‘ gesagt? Was sind denn das für Manieren?“ Jasmin war sichtlich empört. Sie hatte sich steil in ihrem Bett aufgesetzt und die Arme verschränkt. Bei dieser raschen Bewegung war Petra im hohen Bogen aus der Hand geflogen und mit einem dreifachen Salto auf der Bettdecke gelandet.

„Ja, weißt du“, sagte Petra, nachdem sie sich wieder erholt hatte, „normalerweise sehen wir uns gar nicht. Deswegen kennen wir uns eben auch noch nicht. Aber ich kann dir eine Menge darüber erzählen, was du immer so machst.“

„Ach ja?“, fragte Jasmin neugierig. „Was mach ich denn immer so?“

„Och, hauptsächlich schläfst du“, grinste Petra.

„Ja, natürlich schlaf ich“, erwiderte Jasmin. Sie hatte eine etwas spektakulärere Antwort erwartet.

„Du verschläfst den ganzen Tag.“ Jetzt guckte Petra sie fast vorwurfsvoll an.

„Wie, ich schlaf den ganzen Tag?“ Jasmin verstand nicht. „Ich schlafe doch die ganze Nacht!“

„Ja, ja, aber während ich wach bin, schläfst du – das ist für mich mein Tag“, erklärte Petra weiter. „Und an meinem Tag schläfst du eben immer – Langweilerin!“

„Aha, und wann schläfst du so langweilig vor dich hin?“, wollte nun Jasmin wissen.

„Ich schlafe nachts, wie es sich gehört. Dann bist du allerdings wach. Ist doch logisch.“

Jetzt war Jasmin alles klar. „Ach so, daher konnten wir uns bisher auch nie treffen. Sag mal, wie heißt du denn?“

„Ich heiße Petra“, antwortete Petra. „Und du?“

„Du wohnst seit vier Jahren unter meinem Bett und weißt nicht, wie ich heiße?“, empörte sich Jasmin erneut.

„Na, hör mal“, erwiderte Petra trotzig, „ich wohne schließlich auch seit vier Jahren unter deinem Bett, ohne dass du weißt, wie ich heiße! Woher soll ich denn wissen, wie du heißt?“

„Okay, schon gut“, lenkte Jasmin sofort ein, „ich heiße Jasmin.“

„Ach Mensch“, lachte Petra, „ich hab dich nur auf den Arm genommen, natürlich weiß ich, wie du heißt. Jasmin ist ein sehr schöner Name. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen!“ Petra streckte ihr die winzig kleine Hand entgegen. Jasmin nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und schüttelte sie ganz behutsam. Und obwohl sie sie wirklich nur ganz, ganz vorsichtig bewegte, flog die kleine Petra ganz schön hoch und runter.

„Sehr… erfreut… dich… endlich… kennen… zu… lernen…“, stotterte Petra, während sie auf- und niedersauste. „Ja, und nun? Was machen wir jetzt? Jetzt haben wir uns endlich kennengelernt, wollen wir irgendetwas zusammen spielen?“, fragte sie aufgeregt.

„Was spielen? Bist du verrückt!“, flüsterte Jasmin beschwörend. „Meine Mutter würde durchdrehen, wenn sie wüsste, dass ich jetzt was spiele. Es ist ein Uhr nachts!“

„Ach ja, stimmt, schade!“ Enttäuscht ließ Petra die Schultern hängen.

„Genau, es ist ein Uhr nachts. Und irgendwie hab ich immer noch das Gefühl zu träumen. Ich leg mich jetzt einfach wieder hin, dann mache ich das Licht wieder aus…“ In diesem Augenblick erst bemerkte Jasmin, dass in ihrem Zimmer Licht brannte. „Wieso ist das Licht überhaupt an?“

„Äh, weißt du“, entgegnete Petra verlegen, „das Licht, äh, das mach ich nachts immer an, damit ich besser gucken kann.“

„Du machst das Licht in meinem Zimmer an, ohne mich zu fragen?“ Jasmin funkelte sie wieder wütend an.

„Wie soll ich dich denn fragen?“, verteidigte sich Petra nun und blickte genauso wütend zurück. „Du schläfst doch andauernd.“

„Ach so, ja, das stimmt natürlich.“ Dagegen war nichts zu sagen. „Gut, dann mache ich das Licht wieder aus, leg mich schlafen, und morgen früh will ich sehen, ob ich mich immer noch an dich erinnere. Wenn es dich tatsächlich gibt, dann treffen wir uns morgen wieder.“

Entschlossen legte sich Jasmin wieder hin und zog die Bettdecke bis unter die Nasenspitze hoch.

„Einverstanden“, sagte Petra. „Bis morgen. Und gute Nacht!“

Jasmin glaubte immer noch fest, dass sie nur träumte. Also kümmerte sie sich nicht weiter um Petra, machte das Licht aus, drehte sich zur Seite und schloss die Augen.

„Merkwürdige Geschichte!“, dachte sie noch beim Einschlafen.

In der nächsten Nacht schlief Jasmin wie gewöhnlich tief und fest. Zunächst versuchte Petra, sie ganz vorsichtig zu wecken, indem sie leise in das Ohr hineinrief: „Hey, Jasmin, aufwachen…“ Aber als das nicht half, trat sie ihr schließlich mit dem Fuß ein paar Mal kräftig gegen die Nase. Sofort war Jasmin hellwach. „Au! Was ist denn los?“

„Hör mal, wir sind verabredet!“, sagte Petra vorwurfsvoll.

„Du schon wieder?“ Verwirrt schaute Jasmin das Streichholzmädchen auf ihrer Nasenspitze an.

„Ja, natürlich ich, wer sonst?“ Petra strahlte. „Wir wollten uns doch heute wieder treffen.“

Jasmin war immer noch ganz verdattert. „Dann gibt es dich also wirklich!“

„Ja, natürlich gibt es mich wirklich!“ Kopfschüttelnd lachte Petra sie an.

Kapitel 3

Petras Geschichte

In den folgenden Nächten trafen sich Jasmin und Petra immer wieder zur verabredeten Stunde. Sobald Petra aufgewacht war, sich geduscht, angezogen und gefrühstückt bzw. gespätstückt hatte, sprang sie unter dem Bett hervor, schnappte sich eine von Jasmins lang herabhängenden Haarsträhnen, kletterte hinauf und weckte sie.

Zwar brauchte Jasmin einige Sekunden, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen und sich klarzumachen, dass sie nicht träumte, sondern tatsächlich ein wunderbares, kleines Streichholzmädchen zur Freundin hatte, doch dann spielten die beiden sofort drauflos.

Natürlich konnten sie nur leise spielen und mussten darauf achtgeben, nicht zu laut zu kichern, weil Jasmins Mutter sie sonst gehört hätte. Meistens spielten sie etwa eine Stunde, dann musste Jasmin weiterschlafen. Schließlich war es ja mitten in der Nacht und am nächsten Morgen Schule! Aber so kurz die Zeit auch war, die die beiden Mädchen zusammen verbringen konnten, sie genossen jede einzelne Minute!

Nach einigen Nächten fragte Jasmin schließlich, wie Petra überhaupt in dieses Haus gekommen sei. Petra setzte sich in Jasmins hohle Hand hinein, seufzte tief und erzählte ihre traurige Geschichte:

„Ich habe vor vier Jahren meine ganze Familie verloren. Wir lebten alle zusammen in einem großen Schrank einer netten Menschenfamilie. Aber eines Tages zog diese Menschenfamilie um, und der Schrank, in dem wir wohnten, wurde aus dem Haus getragen und auf einen großen Transporter geladen. Während der Fahrt wackelte der Schrank so sehr, dass ein Stückchen der Rückwand herausbrach und ich herausgeschleudert wurde. Natürlich habe ich versucht, wieder durch das Loch reinzukrabbeln, aber es gelang mir nicht, denn der Lastwagen fuhr so wild.

Als der Umzugswagen endlich mit einem harten Ruck bremste, wurde ich so sehr an die Wand geschleudert, dass ich halb ohnmächtig liegen blieb. Die Möbelpacker luden jedes einzelne Möbelstück ab und brachten es weg. Aber ich konnte nirgendwo hineinschlüpfen, denn überall waren Füße, die mich einfach zerquetscht hätten.“

Der leere Umzugswagen war also mit der kleinen Petra fortgefahren. Sie hatte die ganze Zeit in der Ecke gekauert und sich nicht herausgewagt. So wurde sie von ihrer Familie getrennt und wusste seitdem auch nicht, was mit ihr geschehen war. Die nächste Familie, die einen Umzug mit diesem Wagen machte, war Jasmins Familie. Kaum waren die Möbel eingeladen, kroch die verschreckte und hungrige Petra aus ihrem Versteck heraus und schlüpfte in die erstbeste Kiste hinein. Zum Glück war es Jasmins Spielzeugkiste!

Unter Jasmins Bett richtete sie sich ein neues Zuhause ein. Zuerst fand sie eine leere Streichholzschachtel. Darin wollte sie schlafen. Ihre Matratze waren einige Staubflocken und die Bettdecke eine alte Wollsocke (zum Glück gewaschen!). Im Laufe der Zeit fand sie noch viele weitere praktische Dinge, eine kleine Spiegelscherbe zum Beispiel oder eine Puppenhaarbürste, mit der sie sich regelmäßig kämmte. Denn auch wenn niemand sie sah und sie niemanden kannte, wollte sie sich pflegen und nicht verwahrlosen.

Petra hatte sogar verschiedene Kleider zum Anziehen, die hatte sie sich von Jasmin und ihrer besten Freundin Katja gemopst. Einmal hatten die beiden Menschenmädchen den ganzen Tag so schön mit ihren Puppen gespielt, dass sie sich abends nicht voneinander trennen wollten. Sie bettelten so lange herum, bis Katja bei Jasmin übernachten durfte, und da die beiden Freundinnen am nächsten Morgen sofort weiterspielen wollten, ließen sie alles aufgebaut.

Was glaubst du wohl, wie sich Petra wunderte, als vor ihrem Hauseingang auf einmal eine dicke Matratze am Boden lag! So konnte sie wohl kaum ihrer Wege gehen! Und dann lag da auch nicht ihre vertraute Jasmin mit den schönen langen braunen Haaren im Bett über ihr, sondern ein fremdes Kind mit einer kleinen Stupsnase, voller Sommersprossen und mit einem Haarreif, den sie mitten in der Nacht trug!

Katja war Jasmins allerbeste Freundin. Sie hatte rote Haare bis zu den Schultern und grüne Augen (die waren nun natürlich geschlossen, weil Katja schlief). Katja sammelte die verrücktesten Dinge: Nudeln, Fingerabdrücke und Magnete. Und natürlich Haarreife in allen Größen und Formen. Wenn sie groß sein würde, wollte sie Zahnärztin werden.

Und im Gegensatz zu der leise schlafenden Jasmin redete Katja nachts im Schlaf. Gerade wollte Petra Katja ein bisschen ausspionieren, als Katja plötzlich lautstark anfing zu schimpfen: „Gib mir sofort meine Unterhose her, du gemeines Ding!“ Petra erschrak derartig, dass sie die ganze Nacht einen unangenehmen Schluckauf behielt. Sie hatte wirklich geglaubt, Katja wäre wach geworden und hätte sie entdeckt. Zitternd versteckte sie sich mindestens eine Stunde lang hinter Katjas Kopfkissen und wagte kaum zu atmen.

Später schimpfte Katja noch eine ganze Weile mit ihrer Lehrerin – und das obwohl sie tief und fest schlief! Petra blieb misstrauisch und hielt lieber etwas Abstand. Wie konnte man bloß mit einer solch merkwürdigen Person befreundet sein?

Das Tolle an Katjas Übernachtungsbesuch aber war, dass Katja herrliche Puppenkleider besaß und sich Petra zwei davon stibitzen konnte. Zuvor wäre sie allerdings beinahe erneut vor Schreck in Ohnmacht gefallen, als sie im Halbdunkel plötzlich eine Gruppe von Leuten um einen Tisch sitzen sah. Nachdem sie aber bemerkt hatte, dass es nur Puppen waren, verlor sie ihre Angst und schaute, was die Versammlung denn so für Kleider trug.

Am nächsten Morgen wunderten sich Jasmin und Katja sehr, dass zwei Puppen auf einmal nackig am Tisch saßen! Die beiden Kinder hätten schwören können, dass sie allen Puppen schöne Kleider angezogen hatten, bevor sie schlafen gegangen waren…

So also kam Petra zu ihrer Kleidung, und im Laufe der Jahre richtete sie sich unter Jasmins Bett häuslich ein. Die zwei hübschen Kleider, die sie den Puppen ausgezogen hatte, waren an einer aufgebogenen Büroklammer in einer Wandspalte sorgsam aufgehängt.

Zufällig entdeckte sie außerdem eine undichte Stelle in einem Wasserrohr, als sie durch die Mäusegänge spazierte und von einem warmen Wassertropfen überrascht wurde. „Wie praktisch!“, dachte sie. „Eine undichte Stelle im Wasserrohr, mit Warmwasser – ideal als Dusche für mich!“ Sofort stellte sie eine alte Seifenschale, die sie gefunden hatte drunter und nutzte diese fortan als Badewanne.

Ihr Essen stahl sie sich aus der Küche oder aus Jasmins Naschdose. Dafür huschte sie Nacht für Nacht durch die Mäusegänge. Zum Glück gab es in dem alten Haus keine Ratten… vor denen hatte Petra nämlich große Angst, denn sie hatte einst von einem Mädchen gehört, das von einer Ratte schwer verletzt worden war.

Immer wenn sie gerade glaubte, sich an ein Leben alleine unter Jasmins Bett gewöhnt zu haben, fühlte sie jedoch wieder diese große Traurigkeit in ihrem Herzen und eine tiefe Sehnsucht nach ihrer Familie. Was war aus ihnen geworden? Wo waren sie? Hatten sie ihre Petra vergessen? Oder dachten sie genauso oft an sie, wie Petra es tat? Feierten sie ihren Geburtstag? Lebten sie überhaupt noch…?

Natürlich wollte Jasmin Petra sofort bei der Suche nach ihrer Familie helfen. Aber sie musste hoch und heilig versprechen, niemanden um Hilfe zu bitten und keinesfalls zu verraten, dass sie ein Streichholzmädchen zur Freundin hatte.

Kein Mensch durfte erfahren, dass es noch Streichholzmenschen gab, denn die Streichholzmenschen verstecken sich aus gutem Grund seit mehr als 100 Jahren vor den großen Menschen…

Kapitel 4

Ein schrecklich ungemütliches Frühstück

Einige Tage später wäre Petra von Jasmins Mutter fast entdeckt worden. Es war später Abend, und Jasmin schlief tief und fest. Leise schnarchte sie vor sich hin. Petra hingegen war hellwach. Sie spazierte gerade gemütlich auf Jasmins Schreibtisch herum und schaute sich das Klassenfoto an, als plötzlich Jasmins Mutter das Zimmer betrat. Vor Schreck blieb Petra fast das Herz stehen. Doch sie reagierte blitzschnell und stellte sich tot. Ganz vorsichtig atmend lag sie auf dem Schreibtisch und hoffte, dass Jasmins Mutter sie für eine Puppe hielt. Da kam auch schon die große Menschenhand und griff nach dem Streichholzmädchen. Die Mutter hob es hoch und betrachtete es von allen Seiten. Petra fühlte den Atem ganz dicht an ihrem Gesicht.

„Komisch“, wunderte sich Jasmins Mutter, „was ist denn das für eine Puppe?“ Für einen Augenblick legte sie Petra wieder auf den Schreibtisch, um ins Wohnzimmer zu gehen und ihren Mann zu holen. „Vielleicht weiß Gregor ja mehr über diese neue Puppe“, dachte sie bei sich.

Kaum war die Mutter aus dem Kinderzimmer heraus, sprang Petra auf und lief davon. Ihr Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Das wäre beinahe schiefgegangen! Was wäre bloß gewesen, wenn Jasmins Mutter sie mit ins Wohnzimmer genommen hätte!

Als die Eltern einige Augenblicke später wiederkamen, war keine Spur mehr von der kleinen hübschen Puppe zu sehen. Petra war auf den Schrank geklettert und beobachtete die beiden ängstlich, während sie sich hinter einem großen weißen Plüscheinhorn versteckte.

„Huch, das ist ja komisch“, wunderte sich Jasmins Mutter. „Da lag doch eben gerade noch diese hübsche Puppe! Wieso ist die denn jetzt plötzlich verschwunden?“

„Was denn für eine Puppe, Kerstin?“, fragte Jasmins Vater mürrisch. Er hatte gerade eine spannende Fernsehsendung gesehen und keine große Lust, nach einer kleinen Puppe zu suchen.

„Na, diese merkwürdige Puppe, die hier gerade eben noch lag“, antwortete seine Frau. „Sie sah so aus, als wäre sie ein echtes Mädchen, nur eben sehr, sehr viel kleiner. Ich wollte dich fragen, ob du sie gekauft hast, oder ob du weißt, woher Jasmin sie hat.“

„Puppe, Puppe, was denn für eine Puppe? Jasmin hat Hunderte Puppen, keine Ahnung, was für eine Puppe du jetzt schon wieder meinst, Kerstin.“ Brummelnd ging Gregor ins Wohnzimmer zurück. „Und dafür störst du mich beim Fernsehgucken?“

„Sehr merkwürdig“, murmelte Jasmins Mutter. Sie hatte die Puppe doch eben gerade noch gesehen! Das hatte sie sich doch nicht eingebildet! Noch einmal schaute sie sich suchend um, guckte hinter und neben den Schreibtisch – aber von Puppe Petra keine Spur. Sie löschte das Licht am Schreibtisch und ging kopfschüttelnd endgültig aus dem Kinderzimmer.

Als ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren, sprang Petra aus ihrem Versteck. Nur ganz langsam beruhigte sich ihr Herzschlag, und es dauerte in dieser Nacht sehr lange, bis sie endlich unter Jasmins Bett zur Ruhe kam.

Als Jasmin am nächsten Morgen in die Küche zum Frühstück kam, fragte Mama sie gleich nach der hübschen Puppe.

„Welche Puppe meinst du denn bloß?“, fragte Jasmin erstaunt.

„Na, die ich gestern auf deinem Schreibtisch gesehen habe“, erklärte Mama. „Sie ist ungefähr so groß wie ein Finger meiner Hand, hat schwarze lange Haare, ein feines Gesicht, lange dunkle Wimpern, ein grünes Kleid und rote Schuhe an.“

Jasmin hatte keine Ahnung, von welcher Puppe Mama da sprach. Verständnislos aß sie ihr Müsli weiter.

Mama starrte in ihre Teetasse. Sie liebte es, morgens ganz heißen Tee aus ganz dünnen Porzellantassen zu trinken. Manche Tassen waren so fein, dass sogar Sonnenlicht hindurchschien.

„Irgendwas war an dieser Puppe merkwürdig“, redete Mama weiter. Mit ihren ungekämmten, zu allen Seiten abstehenden kurzen Haaren und ihrer schwarz verwischten Wimperntusche (Mama hatte gestern noch so lange ihre Kriminalgeschichten gelesen, dass sie über ihrem Buch eingeschlafen war und sich nicht mehr abgeschminkt hatte) sah sie fast ein bisschen gruselig aus.

„Sie war… wie soll ich das sagen…“ Mama überlegte einen Moment. „Sie fühlte sich fast wie echt an. Ja, das ist es. Ich hatte das Gefühl, einen kleinen Menschen in der Hand zu halten und keine Puppe. Sie lag auf deinem Schreibtisch, aber als ich sie Papa zeigen wollte, war sie auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Deshalb wollte ich dich fragen, wo du sie her hast. Weißt du, aus was für einem Material sie ist?“

Jasmin ahnte immer noch nicht, dass Mama von Petra sprach. Sie schaute sie nur verständnislos an: „Also, ich habe ehrlich gesagt überhaupt keine Ahnung, wovon du redest, Mama. Bist du sicher, dass du nicht an dein Buch denkst? Was meinst du denn bloß für eine Puppe?“

„Na, diese eine kleine Puppe mit den schwarzen Haaren und dem grünen Kleid!“

Auf einmal fiel es Jasmin wie Schuppen von den Augen: Diese Puppe ist Petra gewesen! Sie erschrak so gewaltig, dass sie einen dicken Klumpen Müsli verschluckte und einen fürchterlichen Hustenanfall bekam. Jetzt wurde sie ganz hektisch: „Diese Puppe, äh… Puppe, äh… mit den schwarzen Haaren und dem äh… grünen Kleid?“, fragte sie stotternd.

Mama nickte.

„Die… nein, die kenn ich nicht, die kenne ich ü-ber-haupt nicht!“ Jasmin hatte so entschieden mit der Hand auf den Tisch gehauen, dass ihr Müsli über den halben Tisch spritzte. „Also, ich meine“, fügte sie hastig hinzu, „die Puppe kenn ich natürlich schon, aber… aber ich kenn sie noch nicht lange. Also ich meine, das ist so eine Puppe, die ich zwar seit Kurzem kenne, aber die mir so ü-ber-haupt nicht gehört.“ Jasmin war ganz rot im Gesicht geworden. „Diese Puppe habe ich nur ein einziges Mal gesehen, und ich werde sie bestimmt nie wieder sehen! Sie gehörte nämlich einer Freundin“, fügte sie noch hastig hinzu.

Auch Papa guckte jetzt neugierig hinter seiner Zeitung hervor. Normalerweise würde ihn nicht einmal ein Dinosaurier, der durch die Küche lief und Mama und Jasmin fraß, hinter seiner Zeitung hervorlocken, aber Jasmin hatte so heftig reagiert, dass sogar Papa aufmerksam wurde.

„Warum redest du denn jetzt so hektisch?“, wunderte sich Papa. „Mama hat dich doch nur gefragt, ob du diese hübsche Puppe kennst. Vielleicht weißt du ja, woher sie deine Freundin hat.“

„Nein, keine Ahnung“, antwortete Jasmin sofort entschieden – und etwas zu laut. „Also, davon habe ich überhaupt keine Ahnung. Nicht den lei-ses-ten Schimmer. Ich weiß rein gar nichts darüber!“

Mama zog die Augenbrauen hoch. Jasmin blinzelte sie unschuldig an, senkte die Stimme und wiederholte bekräftigend: „Ich weiß wirklich ganz und gar nicht, wo meine Freundin diese Puppe her hat. Außerdem fand ich diese olle Puppe auch ü-ber-haupt nicht interessant.“ Jasmin zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie nur ein einziges Mal ausgeliehen.“

Jetzt setzte Jasmin eine betont gelangweilte Miene auf. Sie redete ohne Punkt und Komma, um Mama bloß nicht misstrauisch zu machen. „Im Übrigen spiele ich längst nicht mehr mit Puppen.“ Jetzt lehnte sie sich auch noch lässig im Stuhl zurück. „Ich bin richtig froh, dass ich nicht mehr mit Puppen spielen muss, vor allem nicht mit so kleinen, hässlichen, blöden Puppen.“

Mama guckte sie skeptisch an: „Also, ich finde, dass du total spinnst! Die Puppe war wunderschön und so toll verarbeitet, als wäre sie ein echtes kleines Mädchen! Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass du sie blöd findest. Ich überlege, deiner Cousine zum Geburtstag auch so eine süße Puppe zu kaufen. Frag doch mal deine Freundin, wo sie sie her hat.“

„Auf keinen Fall!“, schrie Jasmin und sprang wutentbrannt auf. Doch als sie Mamas erstauntes Gesicht sah, setzte sie sich rasch wieder hin. „Ich meine“, flüsterte sie nun beschwörend, „du kannst natürlich tun, was du möchtest, liebe Mama.“ Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl umher. „Aber leider kann ich sie nicht fragen, denn leider, leider ist meine Freundin weggezogen.“

„Wer ist weggezogen?“, fragte schrecklicherweise nun auch Papa dazwischen. Jetzt hatte Jasmin nicht nur Mama, sondern auch Papa am Hals.

„Na, das Mädchen, dem die Puppe gehört“, log Jasmin weiter. „Sie war nur ganz kurz in meiner Klasse, und deshalb haben wir nur ein einziges Mal miteinander gespielt.“ Jasmin wurde es immer heißer. Was für ein fürchterliches Frühstück!

„Wie gesagt, ich habe nur einmal mit ihr gespielt und nur einmal diese Puppe ausgeliehen. Tja, und dann ist sie schon wieder umgezogen. Pech halt!“ Wieder zog Jasmin die Schultern hoch. Nahm dieses Kreuzverhör denn nie mehr ein Ende? „Sie ist ziemlich weit weggezogen“, fügte Jasmin hinzu und hoffte, dass das Gespräch nun endlich vorbei wäre.

Natürlich war es das nicht!

„Wohin ist sie denn gezogen?“, fragte Mama ganz neugierig.

„Öh, nach Australien“, antwortete Jasmin blitzschnell.

„Nach Australien? Und warum?“ Hatte Mama denn nichts anderes zu tun, als diese schrecklichen Fragen zu stellen? Konnte sie nicht einfach schweigend wie Papa Zeitung lesen und Jasmin in Ruhe frühstücken und groß werden lassen?

Stattdessen musste Jasmin nun immer weiterschwindeln. Bestimmt kam sie dafür später in die Hölle. „Ja, weißt du, ihr Vater hat dort Arbeit gefunden. Tja, und dann hat er Lisa von der Schule abgeholt und gesagt: ‚Komm, wir ziehen nach Australien.‘ Und Lisa ist direkt nach der Schule nach Australien gezogen. Und die kommen auch nie wieder. Das ist sicher!“ Bedauernd schaute sie Mama an. „Man kann sie auch gar nicht anrufen. Da wo sie sind, gibt es auch keine Telefone. Sie haben auch keine Adresse, gar nichts…“

Hoffentlich ließ Mama jetzt locker.

„Hm? Das sind ja komische Freundinnen. Na ja, also wenn du meinst, dass es so schwierig ist.“ Erleichtert atmete Jasmin auf. Mama gab sich geschlagen.

Von wegen! Schon kam der nächste Angriff: „Weißt du denn noch, ob sie die Puppe hier in Deutschland gekauft hat?“, fragte Mama.

„Oh nein, nein, nein“, stöhnte Jasmin, „das weiß ich nicht.“

Als sie daraufhin Mamas enttäuschtes Gesicht sah, tat Jasmin so, als würde sie angestrengt überlegen. „Die hat sie nicht in Deutschland gekauft. Im Gegenteil. Sie hat die Puppe während ihrer Weltreise ganz, ganz weit weg, ich glaube sogar in Ost-China gekauft.

Wenn ich mich recht erinnere, wusste sie selbst nicht mal mehr, wo sie sie her hat. Ich hab sie einmal danach gefragt, und da hat sie gesagt: ‚Oh, das weiß ich kein bisschen mehr. Vielleicht haben wir sie in Ost-China oder Uruguay oder Honolulu oder in irgendeinem anderen Land gekauft. Aber ich weiß das wirklich nicht mehr.‘ Also“, Jasmin zuckte nochmal bedauernd die Schultern, „die wusste es echt nicht.“

„Schade, aber da kann man wohl nichts machen.“ Jasmin nickte beipflichtend mit dem Kopf. Endlich gab Mama auf. Angespannt kaute Jasmin auf ihrem Müsli herum, als Mama auf die Uhr schaute. Plötzlich kam Leben in sie. „Schnell, was sitzt du hier und redest den ganzen Morgen! Mach dich fertig, damit du zur Schule kommst! Es ist schon Viertel vor!“

Darauf hatte Jasmin nur gewartet! Endlich raus hier. „Ich bin schon längst fertig. Ich hol nur noch schnell meinen Ranzen. Tschüss Petra – äh Mama! Und gute Nacht, äh, ich meine schönen Tag!“

Nachdenklich schaute Mama ihr nach. „Findest du nicht, dass sich Jasmin komisch verhält, Gregor?“