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Wie alles begann… Der 12. Band der romantischen Spiegel-Bestseller-Reihe »Lost in Love – die Green Mountain-Serie« von Marie Force Als Lincoln Abbott die junge Molly mit ihrem honigfarbenen Haar zum ersten Mal sieht, ist es sofort um ihn geschehen. Er weiß: Mit dieser Frau wird er den Rest seines Lebens verbringen. Vierzig Jahre später erreicht Lincoln eine Nachricht von seinem Vater. Bis dahin wurde in der Familie Abbott nie über Lincolns Herkunft gesprochen. Doch nun beschließen Molly und Lincoln, ihren Kindern ihre unglaubliche Liebesgeschichte zu erzählen. Vom Herzklopfen des ersten Kennenlernens bis hin zu jenem Tag, der die beiden vor eine harte Entscheidung stellte… Ein bewegendes Abenteuer für dein Herz: In dieser Kleinstadt in Vermont findet jedes Mitglied der Familie Abbott seine große Liebe.
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Seitenzahl: 334
Marie Force
Jeder Schritt zu dir
Lost in Love Die Green-Mountain-Serie 12
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Lena Kraus
FISCHER E-Books
Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.
John Lennon
Freitage waren Lincoln Abbotts Lieblingstage während der Arbeitswoche, und zwar nicht nur, weil sie das Einzige waren, was zwischen ihm und zwei komplett freien Tagen stand, die er mit seiner Frau Molly verbringen durfte. Er mochte Freitage auch, weil sein Management-Team – alle seine erwachsenen Kinder – an diesem Tag besonders gut gelaunt waren, weil sie sich auf das Wochenende freuten. Eine weitere Sache, die den Freitag zum besten Tag der Woche machte, war, dass er sich an diesem Tag meistens mit Molly und ihrem Vater Elmer im Diner zum Mittagessen traf. Die beiden standen ganz oben auf der Liste seiner Lieblingsmenschen.
Lincoln liebte alles an seinem Leben in Butler, Vermont, von der atemberaubenden Landschaft über den lustigen Stadtelch Fred bis hin zum Green Mountain Country Store. Elmers Eltern hatten das Geschäft gegründet, und seit über vierzig Jahren leitete es Lincoln mit viel Herzblut, fünfzehn davon als Geschäftsführer. Aber vor allem liebte er die Familie, die er zusammen mit Molly gegründet hatte. Aus ihren zehn Kindern waren Erwachsene geworden, die er liebte und bewunderte, und es erfüllte ihn mit Stolz, dass er sie als Freunde und Kollegen bezeichnen konnte. Molly, ihre Ehe und die Kinder waren das, worauf er im Leben am meisten stolz war.
Als er auf dem Rückweg vom Mittagessen mit Molly und Elmer die Elm Street überquerte, warf er einen Blick auf die Baustelle des neuen Admiral Butler Inn. Im Hotel hatte es Anfang des Jahres gebrannt. Bei den Löscharbeiten und der Rettungsaktion der Gäste wäre sein Sohn Lucas beinahe ums Leben gekommen. Linc konnte es kaum ertragen, sich an diese Nacht zu erinnern und daran, wie knapp es gewesen war. Sein geliebter Sohn Luc war genau wie sein eineiiger Zwilling Landon Brandmeister bei der Freiwilligen Feuerwehr von Butler, und beide waren in jener Nacht im Einsatz gewesen.
Linc schüttelte die düsteren Gedanken ab und konzentrierte sich darauf, wie dankbar er war, dass Luc so gesund war und dass er sich so schnell erholt hatte. Für einen weniger fitten Menschen hätten die Verletzungen, die er erlitten hatte, leicht tödlich enden können. Lucas hatte bei dem Vorfall Amanda gerettet, mit der Landon jetzt glücklich verlobt war.
Alle sieben Söhne Lincs waren gut in Form, was vor allem daran lag, dass sie einen Großteil ihrer Zeit im Freien verbrachten. Sie kletterten, fuhren Ski und Snowboard und waren bei der Bergwacht. Vieles von dem, was sie in ihrer Freizeit machten, wollten er und Molly lieber gar nicht so genau wissen, aber es war dieses Training gewesen, das Lucas im Feuer das Leben gerettet hatte.
Lincs Neffe Noah Coleman besaß die Baufirma, die das Hotel wieder aufbaute, und Linc konnte kaum erwarten, zu sehen, was er daraus machte. Von allen Kindern – zehn Abbotts und acht Colemans – war Noah der Geheimnisvollste, der, der den meisten Abstand zur Familie wahrte, vor allem seit der schrecklichen Trennung von seiner Exfrau. Niemand wusste genau, was passiert war, denn Noah hielt die Details konsequent unter Verschluss. Linc hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Noah eines Tages wieder der Alte sein würde. Er war mal fröhlich und offen gewesen, aber von dieser Seite seiner Persönlichkeit war seit Jahren nichts mehr zu sehen.
Als Linc den Diner verlassen hatte, saßen Molly und ihr Dad noch bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Apfelkuchen, den ihre Schwiegertochter Megan gebacken hatte. Linc würde jetzt die Besprechung mit der Belegschaft leiten, die jeden Freitagnachmittag stattfand. Das Meeting war nicht wirklich nötig, aber Linc war es wichtig, einmal in der Woche alle zusammenzubringen, um Ideen auszutauschen und sich gegenseitig Energie zu geben. Ein paar ihrer besten Initiativen waren in diesen Meetings entstanden, und sie hielten konsequent daran fest, sie regelmäßig durchzuführen. Nur selten wurden sie abgesagt, zuletzt für ein langes Wochenende in ihrem Haus in Burlington und für die Hochzeit ihres Sohnes Wade, die im Juni in Boston stattgefunden hatte.
Die Familie ging vor, immer, sogar vor dem Unternehmen, das sein Schwiegervater ihm anvertraut hatte, als er in den Ruhestand gegangen war. Es war eine große Ehre für Linc gewesen, das Erbe anzutreten. Elmers Eltern hatten die Firma aufgebaut, um sie an ihren Sohn weiterzugeben, und Elmer hatte es dann seinem Schwiegersohn Lincoln übertragen. Linc würde es gut führen, bis eines seiner Kinder das Ruder übernahm. Er glaubte, dass es wahrscheinlich Hunter sein würde, aber er war fest entschlossen, diese Entscheidung den Kindern selbst zu überlassen. Die fünf, die mit ihm im Büro arbeiteten, waren alle sehr gut qualifiziert und in der Lage, die Geschäftsleitung zu übernehmen, wenn es Zeit dazu war. Aber das war noch weit weg. Linc hatte viel zu viel Spaß, um über seinen Ruhestand nachzudenken. Solange er und Molly ab und zu verreisen konnten, war alles gut, so wie es war.
Er liebte seine Arbeit, die Herausforderung, den Country Store so zu leiten, dass das Geschäftsmodell zukunftsfähig war und weiterwuchs, das Geschäft selbst jedoch seinen altmodischen Charme beibehielt. Ein Beispiel dafür war der Katalog, den sie im September lanciert hatten. Ihre monatlichen Einnahmen hatten sich in den drei Monaten, seit der Katalog erschienen war, verdoppelt, so dass sie im Weihnachtsgeschäft so viel zu tun gehabt hatten wie noch nie.
Der Katalog und das Lager, in dem die Bestellungen verpackt wurden, hatten einen Schwung ins Geschäft gebracht, der deutlich spürbar war. Genauso war es mit der Intimlinie, die Linc zum Grauen seiner Kinder eingeführt hatte und die einen riesigen neuen Kundenkreis gebracht hatte. Linc musste sich oft gegen die konservativere Einstellung seiner Kinder durchsetzen, wenn es um das Wachstum des Unternehmens ging. Wenn es nötig war, gelang ihm das jedes Mal sehr gut. Wie zuletzt bei der neuen Intimlinie, und er bereute seine Entscheidungen kein bisschen. Abgesehen vom geschäftlichen Erfolg hatte die Produktlinie Amanda in die Stadt gebracht, und sie und ihre Tochter Stella würden bald offiziell zur Familie gehören, wenn Amanda seinen Sohn Landon heiratete.
Linc stieg die Treppe zu den Büros hinauf, wo ihn im Eingangsbereich Emma, die Verlobte seines Neffen Grayson, begrüßte. Ihre Schwester Lucy war mit seinem Sohn Colton verheiratet.
»Wie war die Mittagspause?«, fragte Emma.
»Super, wie immer. Ist irgendwas los?«
»Ich habe dir ein paar Anrufe weitergeleitet, aber nichts davon klang besonders eilig.«
»Danke. Ich wollte eben schon fragen, wie es Simone mit ihrer neuen Zahnspange geht.« Emmas Tochter hatte die Spange vor etwa einer Woche bekommen.
»Sie hasst sie, aber wir sagen ihr die ganze Zeit, dass sie sich daran gewöhnen wird. Sie ist noch nicht überzeugt.«
»Meine Kinder haben ihre Zahnspangen anfangs auch gehasst, aber du hast recht. Nach einer Weile vergessen sie völlig, dass sie überhaupt eine tragen.«
»Das hoffe ich. Sie fühlt sich gar nicht gut.«
»Die Arme.«
Das Telefon klingelte, und Emma machte sich wieder an die Arbeit. Linc ging in sein Büro, um die verpassten Anrufe abzuhören. Es schien, als seien die anderen noch in der Mittagspause, aber sie würden sicher rechtzeitig für das Meeting um halb zwei zurück sein. Er hörte sich eine Nachricht von Lucas’ Verlobter Dani an, die das Lager leitete.
»Hi, ich wollte nur sagen, dass ich es heute nicht zum Meeting schaffen werde. Hier ist wirklich Land unter, ich kann nicht weg. Ich frage dich am Sonntag beim Abendessen, was ich verpasst habe. Die gute Nachricht ist: Hier ist Land unter. Die schlechte Nachricht ist: Hier ist Land unter.« Sie lachte. »Bis bald.«
Linc schmunzelte. Dani hatte recht – es war toll, dass so viel los war, aber er würde mit ihr darüber sprechen müssen, wie er sie und das Team im Warenhaus besser unterstützen konnte, vor allem während der letzten Arbeitstage vor Weihnachten. Dani war so eine Bereicherung für ihr Team und ihre Familie. Sie und Luc waren einfach toll zusammen. Zu sehen, wie sein Sohn die Vaterrolle für Danis einjährige Tochter Savannah übernahm, war einfach überwältigend gewesen.
Ein Piepton, dann die nächste Nachricht.
»Lincoln. Hier ist Charlotte, deine Schwester.«
Der Klang der Stimme, die er seit mehr als vierzig Jahren nicht gehört hatte, traf ihn bis ins Mark. Er saß jetzt kerzengerade auf seinem Bürostuhl.
»Es tut mir leid, dass ich dich so unerwartet anrufe, aber ich wollte, dass du weißt, dass dein Vater sehr krank ist und nicht mehr viel Zeit hat. Er hat gesagt, er würde dich gerne sehen. Er weiß, dass er kein Recht hat, darum zu bitten, aber er bittet dich trotzdem. Bitte ruf mich doch an, wenn du kannst.« Lincolns Hände zitterten, als er sich die Nummer aufschrieb, die sie diktierte. »Ich verstehe es vollkommen, wenn ich nichts von dir höre, aber ich hoffe trotzdem, dass du dich meldest.«
Noch lange, nachdem er die Nachricht zu Ende gehört hatte, saß Lincoln absolut still da und starrte auf einen Fleck an der Wand, der von einer undichten Stelle im Dach kam, die sie letzten Winter repariert hatten. Das Dach war wieder in Ordnung, der Wasserfleck war noch da. Und warum dachte er überhaupt über so etwas nach, wenn ihm seine Schwester gerade Neuigkeiten verkündet hatte, die ihn völlig aus der Bahn werfen müssten?
Sein Vater lag im Sterben und wollte ihn sehen.
Lincoln hatte keine Ahnung, was er mit dieser Information anfangen sollte. Seit jenem schrecklichen Tag vor vierzig Jahren, als er zu einer unfassbaren Entscheidung gezwungen worden war, hatte er nichts mehr von seiner Familie gehört. Er hatte die Entscheidung getroffen und sie nie bereut, keine Sekunde lang. Aber der Schmerz über alles, was er verloren hatte, war seitdem sein stetiger Begleiter, wie eine entzündete Wunde, die einfach nicht heilen wollte, trotz eines Lebens voller Glücksmomente.
Eine Sekunde lang fürchtete er, sich übergeben zu müssen, und war sich plötzlich allzu bewusst, wie das Thunfischsandwich, das er zu Mittag gegessen hatte, in seinem Magen rumorte. Er trank einen Schluck Wasser aus der Flasche auf seinem Schreibtisch. Dann nahm er das Telefon wieder in die Hand und hörte sich Charlottes Nachricht erneut an.
Die erste Charlotte, seine kleine Schwester … Vier seiner Kinder trugen die Namen seiner Geschwister, aber keines von ihnen wusste das. Sie sprachen nie über seine Familie. Irgendeine ungeschriebene Regel sorgte dafür, dass dieses eine Thema von einer Gruppe, die sonst endlos über alles sprach, nicht angerührt wurde. Es war schon lange her, dass er mit Molly über jenen verhängnisvollen Sommer, in dem sich so vieles entschieden hatte, gesprochen hatte. Ein Anruf von seiner Schwester, und er war sofort wieder mittendrin, von seinem eigenen Vater dazu gezwungen, sich zwischen der Frau, die er über alles liebte, und seiner Herkunftsfamilie zu entscheiden.
Er hatte sich für Molly entschieden, und die Trauer um seine Eltern und Geschwister seitdem jeden Tag gespürt.
Seine Mutter war schon vor einigen Jahren gestorben. Er hatte das in einem Brief vom Anwalt seines Vaters erfahren, der mehrere Wochen nach ihrem Tod an sein Büro geschickt worden war. Seitdem hatte Linc ein paarmal im Internet nach seinen Geschwistern gesucht, allerdings ohne Erfolg. Das Einzige, was er hatte finden können, waren Nachrichten zum Familienunternehmen gewesen. Er hatte keine Ahnung, ob sie geheiratet hatten, ob er Nichten und Neffen besaß, ob sie immer noch im Familienunternehmen arbeiteten und in der Nähe von Philadelphia lebten, wo sie aufgewachsen waren.
Er wusste nichts über die Menschen, die ihm in seiner Kindheit am nächsten gestanden hatten.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch eine Viertelstunde hatte, bis seine Kinder für die Besprechung zurückkamen. Wenn er Charlotte zurückrufen wollte, musste es jetzt sofort sein, sonst müsste er bis nach dem Meeting warten.
Irgendwie wusste Linc: Wenn er sie nicht jetzt sofort anrief, würde er es nie tun. Er nahm das Telefon und wählte die Nummer, dann wartete er mit angehaltenem Atem.
»Linc? Bist du das?«
Sie musste die Vorwahl 802 erkannt haben. »Ich bin’s.«
»Wie schön, deine Stimme zu hören.«
»Und deine.«
»Es tut mir leid, dir das anzutun, aber Vater … Er hat mich darum gebeten, dich anzurufen. Er hat nicht mehr viel Zeit, Linc.«
»Was ist denn mit ihm?«
»Er hat schon seit Jahren mit Emphysemen zu kämpfen, und es ist immer schlimmer geworden. Seine Ärztin hat ihm diese Woche gesagt, dass er seine Angelegenheiten in Ordnung bringen soll. Er meinte, das Einzige, was er dazu tun müsse, sei, mit dir zu sprechen.«
»Ich weiß nicht genau, was ich dazu sagen soll. Es sind jetzt vierzig Jahre …«
»Ich habe ihm gesagt, dass es zu viel verlangt ist, aber er hat mich gebeten, trotzdem anzurufen. Niemand würde es dir übelnehmen, wenn du nicht kommst.«
»Ich … ich weiß nicht.« Der Gedanke daran, diese Verletzung wieder aufleben zu lassen, war fast mehr, als er ertragen konnte. »Ich muss darüber nachdenken.«
»Das verstehe ich, aber du solltest es schnell tun. Die Ärztin hat gesagt, er habe noch eine Woche, vielleicht zwei.«
»Ich ruf dich morgen an.«
»Linc … Du hast jetzt meine Nummer. Auch wenn du dich entscheidest, Vater nicht zu sehen, ruf mich doch bitte an, wenn du ein bisschen Zeit zum Reden hast. Ich habe dich so vermisst.«
Ihre mit leiser Stimme gesprochenen Worte trieben ihm die Tränen in die Augen. Das Ultimatum seines Vaters hatte eine Menge Chaos zurückgelassen, und das nicht nur für ihn. »Ich dich auch. Danke, dass du angerufen hast. Ich melde mich.«
»Ich freue mich schon.«
Linc legte auf und dachte über Charlottes Worte nach. Sein Vater wollte ihn sehen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Seine Schwester hatte ihn vermisst. Selbst einzeln wäre jede dieser Informationen viel für ihn gewesen. Aber auf einmal … Es war mehr, als er nach diesem langen Schweigen seitens seiner Familie verarbeiten konnte. Er hatte seine Entscheidung gefällt, und er war gezwungen gewesen, damit zu leben, getrennt von den Menschen, die er als Erstes geliebt hatte.
Molly. Er brauchte sie.
Gerade, als er diesen Gedanken hatte, betrat sein Sohn Hunter das Büro. Hunter war groß und gut aussehend. Mit seinem dunklen Haar und den braunen Augen erinnerte er Linc so sehr an den großen Bruder, nach dem sein Sohn benannt worden war, den Bruder, den er viel zu jung verloren hatte.
»Was ist los?« Hunter konnte man so schnell nichts vormachen.
»Nichts Schlimmes. Mir ist nur was dazwischengekommen, und ich muss ein bisschen früher gehen. Würdest du das Meeting leiten und dich später melden?«
»Klar, kein Problem.«
Lincoln nahm seine Jacke und die Schlüssel und ging zur Tür.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Ganz sicher, mein Sohn.« Er drückte im Vorbeigehen Hunters Arm und blieb dann noch kurz bei Emma stehen. »Ich bin heute Nachmittag zu Hause, falls was ist.«
Emma runzelte besorgt die Stirn. »Oh, okay. Geht es dir gut?«
»Mir geht es gut, danke. Wir sehen uns am Montag. Schönes Wochenende.«
»Dir auch.«
Er eilte die Treppe hinunter. Er wollte jetzt wirklich nicht noch jemandem erklären müssen, warum er früher ging. Er wusste nur zu gut, dass ihm das nicht ähnlich sah. Seine Kinder kannten ihn ganz genau und würden wie Hunter und Emma sofort merken, dass etwas nicht stimmte.
Linc stieg in seinen Range Rover und machte sich auf den Weg nach Hause. Er war sich nicht sicher, ob Molly nach dem Mittagessen noch weitere Pläne mit ihrem Dad gehabt hatte, aber irgendwann würde sie schon nach Hause kommen, und er würde da sein und darauf warten. Sie würde ihm bei der Entscheidung helfen.
Molly wusste immer, was richtig war, und er hatte ihre Weisheit noch nie mehr gebraucht als jetzt.
Liebe ist die Blume, die du wachsen lassen musst.
John Lennon
Als Lincoln wenig später die Tür aufschloss, fiel ihm ein, dass er George, einen seiner beiden Labradore, bei seiner Tochter Charley in der Stadt gelassen hatte. Sie hatte George in der Mittagspause zum Joggen mitgenommen und war noch nicht zurück gewesen, als er nach Hause gefahren war. Er würde George später abholen müssen, wenn er mit Molly geredet hatte. Er ließ ihren anderen Labrador, Ringo, nach draußen und nahm sich ein Glas Wasser mit Eiswürfeln.
Was er wirklich wollte, war ein Bourbon, aber er musste einen klaren Kopf behalten. Er blieb am Küchenfenster stehen und schaute auf die schneebedeckte Landschaft hinaus, die ihm so vertraut geworden war, seit er in Vermont lebte. Damals hatte er keine Vorstellung davon gehabt, wie es war, monatelang hüfthohen Schnee zu haben. Jetzt gehörte der Schnee genauso zu seinem Leben wie seine geliebte Frau, die Scheune, die sie zu ihrem Zuhause gemacht hatten, und die zehn Kinder, die dort aufgewachsen waren.
Vermont war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, mit seinen schroffen Berggipfeln, den Espen und Tannen, der kalten, klaren Luft und der reinen, rauen Schönheit. Er hatte das Glück gehabt, sehr viel zu reisen, aber er war noch nie an einem Ort gewesen, an dem er sich wohler fühlte als in Vermont. Er hatte es gewusst, sobald Molly ihn zum ersten Mal mit nach Hause genommen hatte.
Er liebte es, wie ihr Haus zu dieser Jahreszeit nach Tannenzweigen und Gewürzen roch und wie Molly die Scheune für die Weihnachtszeit dekorierte.
Ringos aufgeregtes Bellen sagte Lincoln wenig später, dass Molly zurück war.
Sie betrat das Haus kaum eine Minute später, redete mit dem Hund, der zwischen Küche und Waschküche hin und her flitzte, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob er zu Molly wollte oder zu Lincoln.
Sie hatten Hunde, Kinder und ein gemütliches Zuhause gewollt und ein Leben in Butler, Vermont, und sie hatten das alles bekommen, und zwar haufenweise.
Lächelnd betrat Molly die Küche. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und ihre Augen funkelten, wie immer, wenn sie ihn anschaute. »Das ist ja eine schöne Überraschung. Ich dachte, du hast heute Mittag noch das Meeting.«
»Hatte ich auch. Ich meine … habe ich. Hunter hat das für mich übernommen.«
Sie schaute ihn genauer an und sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. »Was ist los, Liebling?«
»Setzt du dich zu mir?«
»Ist etwas passiert? Die Kinder …«
»Es geht allen gut.« Er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zum Küchentisch, an dem sie schon so viele wichtige Gespräche geführt hatten.
»Du machst mir Angst«, sagte sie, als sie nebeneinandersaßen.
»Tut mir leid. Meine Schwester, Charlotte, hat mich angerufen.«
Molly riss erschrocken die Augen auf. »Deine … deine … Oh. Was wollte sie denn?«
»Mir sagen, dass mein Vater im Sterben liegt und mich sehen will.«
Sie schaute ihn lange an, das Funkeln war aus ihren Augen verschwunden. Stattdessen lag ein stumpfer Ärger darin. »All diese Jahre … Und jetzt will er dich sehen? Nachdem er dich aus seinem Leben geworfen hat, aus dem Leben deiner Mutter, deiner Geschwister?«
»Ja.«
»Ich hoffe, du hast ihr gesagt, sie soll ihm sagen, wo er sich hinscheren soll.«
»Das nicht gerade.«
»Lincoln, du denkst doch nicht wirklich darüber nach, hinzufahren? Nach allem, was er dir angetan hat …«
»Ich weiß.«
»Tust du das?«, fragte sie zögerlich. »Darüber nachdenken, meine ich.«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ein Teil von mir sagt, das kann er vergessen. Wo war er während der letzten vierzig Jahre? Der andere Teil …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Der andere Teil ist der pflichtbewusste Sohn, der immer noch denkt, dass er springen muss, wenn der Vater ruft, selbst nach all den Jahren.«
Molly stand auf und sah ihn an. »Mach Platz.«
Er rutschte mit seinem Stuhl zurück, so dass sie sich auf seinen Schoß setzen konnte.
Sie schlang die Arme um ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Dass er es wagt, dir das anzutun!«
Lincoln hatte gewusst, dass sie sich ärgern würde, und zwar aus gutem Grund. Sein Vater hatte sich damals furchtbar verhalten, ihnen beiden gegenüber. Die Wahl, zu der er ihn gezwungen hatte, war einfach schrecklich gewesen. Linc legte seine Stirn an Mollys. Sie gab ihm Kraft, und das schon seit so langer Zeit. Sie und die Familie waren das Beste, was ihm je passiert war. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er das Leben führte, zu dem er bestimmt war. Nichts, nicht einmal etwas, das ihn derart abrupt in die Vergangenheit zurückversetzte, konnte daran etwas ändern.
»Was wirst du tun?«, fragte Molly nach langem Schweigen.
»Ich schätze, ich werde hingehen müssen, sonst frage ich mich für den Rest meines Lebens, ob ich das Richtige getan habe, als ich nicht hingegangen bin.«
Mollys tiefer Seufzer sprach Bände. »Es tut mir so leid für dich. Er hat kein Recht dazu, dich nach all den Jahren vor diese Entscheidung zu stellen, vor allem nicht vier Tage vor Weihnachten.«
»Nein, dazu hat er kein Recht, aber das hat ihn ja noch nie gestört.«
»Ich werde nie verstehen, wie es kommt, dass du von diesem Mann erzogen wurdest und trotzdem der liebste, liebevollste Mann, Vater, Onkel und Großvater geworden bist.«
»Das verdanke ich ganz allein meiner Mutter und einer Reihe von lieben Nannys, die mir Mitgefühl und Empathie beigebracht haben. Von ihm kommt es jedenfalls nicht.«
»Ich will dir etwas sagen, und es ist vielleicht nicht das Richtige, aber es ist das, was ich fühle.«
»Du weißt, dass du mir alles sagen kannst, mein Liebling, und dass ich deine Meinung immer hören möchte. Warum, glaubst du, bin ich sofort zu dir gekommen, nachdem ich mit Charlotte telefoniert hatte?«
»Was ich dir sagen möchte, ist das hier: Du schuldest ihm nichts, Linc. Du schuldest ihm rein gar nichts. Uns wird beigebracht, unsere Eltern zu lieben und zu ehren, aber er hat nichts getan, wodurch er deinen Respekt verdient hätte. Er ignoriert dich seit Jahrzehnten. Er hat zugelassen, dass deine Mutter stirbt, ohne dass sie dich noch einmal gesehen oder mit dir gesprochen hat. Er hat nie deine Kinder kennengelernt oder sich in dieser ganzen Zeit nach deiner Gesundheit erkundigt oder wie es dir geht. Du schuldest ihm gar nichts, und du hast jedes Recht dazu, diese alte Wunde nicht wieder aufzureißen, nur weil sich bei ihm in seinen letzten Lebensstunden plötzlich ein Gewissen entwickelt hat.«
Lincoln konnte nicht anders, als über die Nachdrücklichkeit ihrer Worte zu lächeln.
»Warum grinst du denn so?«
»Wegen dir. Du bist einfach wundervoll, und ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt.«
»Was hat das mit deinem Vater zu tun?«
»Es hat alles mit ihm zu tun. Jedes Mal, wenn ich dein wunderschönes Gesicht sehe oder deinen weisen Worten lausche, erinnerst du mich daran, warum ich mich für dich entschieden habe und warum ich mich jeden Tag wieder für dich entscheide, dienstags sogar zweimal.«
»Die Tatsache, dass du dich je entscheiden musstest, ist ja genau das Problem. Das hätte nie passieren dürfen.« Sie strich ihm mit den Fingern durchs Haar, dann strich sie es wieder glatt und schaute ihm in die Augen. Ihr Blick war besorgt – und voller Liebe. So viel Liebe. »Was willst du denn machen? Du weißt, dass ich dich unterstütze, egal, wie du dich entscheidest, auch wenn das bedeutet, vier Tage vor Weihnachten nach Philly zu fahren.«
»Ich würde dich nicht bitten, mitzukommen, mein Liebling. Ich weiß doch, wie viel du vor den Feiertagen zu tun hast.«
»Du wirst dort auf gar keinen Fall alleine hinfahren, also lass uns diesen Streit bitte einfach überspringen.«
Lincoln drückte sie fest an sich, während er versuchte, das Für und Wider abzuwägen, so, wie er das bei geschäftlichen Entscheidungen tat. Lass deine Gefühle außen vor, so sagte er es immer seinen Kindern. Manchmal war das leichter gesagt als getan.
Die Tür zur Waschküche ging auf und ließ einen kalten Windstoß herein, dicht gefolgt von George und Hunter. »Du hast jemanden im Büro vergessen.«
»Das habe ich erst bemerkt, als ich schon zu Hause war.«
Hunter sah, dass seine Mutter auf dem Schoß seines Vaters saß, und blieb in der Küchentür stehen. »Ich will euch nicht stören.«
»Tust du nicht«, sagte Linc. »Komm rein, Junge, deine Mutter und ich haben uns nur unterhalten.«
Hunter setzte sich zu ihnen an den Tisch, auf den Stuhl, wo zuvor Molly gesessen hatte. »Ist alles in Ordnung? Es sieht dir nicht ähnlich, das Freitagsmeeting zu verpassen.«
Lincoln zögerte. Er kraulte George am Ohr. Er wollte seinem Sohn sagen, was passiert war, aber dazu müsste er mit ihm über Dinge sprechen, die er nie mit seinen Kindern geteilt hatte.
»Erzähl es ihm«, sagte Molly leise. »Es ist Zeit.«
»Jetzt mache ich mir wirklich langsam Sorgen.« Hunter schaute von seiner Mutter wieder zurück zu seinem Vater. »Irgendjemand sollte mir wirklich sagen, was los ist.«
Weil es keinen einfachen Weg gab, diese Geschichte zu erzählen, fing Lincoln mit dem Höhepunkt – oder eher gesagt, mit dem Tiefpunkt – an: »Du weißt ja, dass ich keinen Kontakt zu meiner Familie habe.«
Hunter nickte. »Du hast nie erzählt, warum, und ich habe früh gemerkt, dass es besser ist, nicht danach zu fragen.«
»Ich habe mich mit meinem Vater gestritten.«
»Das ist nicht wirklich wahr.« Molly warf Hunter einen Blick zu. »Dein Großvater hat deinem Vater ein furchtbares Ultimatum gestellt, und jetzt liegt er im Sterben und bereut das anscheinend. Er hat deine Tante Charlotte, von der dein Vater ebenfalls seit vierzig Jahren nichts gehört hatte, gebeten, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass er ihn sehen möchte.«
»Ich habe eine Tante namens Charlotte?«
»Und Onkel mit den Namen Hunter, Will und Max. Hunter ist mit zwanzig bei einem Unfall gestorben.«
Hunter nahm diese Informationen wie gewohnt ruhig und nachdenklich auf. »Es tut mir leid, dass du ihn verloren hast.«
»Es war das Schlimmste, was mir je passiert ist, bis mein Vater mich dazu gezwungen hat, mich zwischen meiner Familie und deiner Mutter zu entscheiden.«
Hunter starrte ihn ungläubig an. »Er hat dich zu einer Wahl gezwungen …?«
»Ja, und als ich mich für deine Mutter entschieden habe, habe ich von niemandem von ihnen mehr gehört, abgesehen von einem einzigen Brief vom Anwalt meines Vaters, in dem stand, dass meine Mutter ein paar Wochen zuvor verstorben war.«
»Gott, Dad, das ist … Das ist wirklich unglaublich. Es tut mir so leid.«
»Ist schon lange her«, seufzte Lincoln.
»Und es war damals genauso unglaublich wie jetzt«, fügte Molly hinzu.
»Was willst du machen?«, fragte Hunter.
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Wir brauchen eine Familiensitzung«, erklärte Hunter. »So treffen wir doch immer wichtige Entscheidungen, oder?«
»Ja, aber …« Lincoln zögerte. Das würde bedeuten, diese unschöne Geschichte mit der ganzen Familie zu teilen.
»Lass uns dir auch mal helfen, Dad. Du hilfst uns doch auch immer.«
»Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Molly. »Und Hunter hat recht – so machen wir das immer, wenn wichtige Entscheidungen anstehen.«
Lincoln wusste nicht, ob es gut war, seine Kinder mit dieser Geschichte zu belasten, aber er musste zugeben, dass sie es normalerweise so machten, wenn wichtige Entscheidungen anstanden. Jetzt, wo er die sprichwörtliche Katze aus dem Sack gelassen hatte, gab es ohnehin kein Zurück. »Okay.«
»Ich rufe die anderen an.« Hunter stand auf und ging zum Telefon.
»Es ist das Richtige, es ihnen zu sagen«, sagte Molly, als sie wieder alleine waren.
»Bist du dir da sicher?« Lincoln lächelte schwach.
»Außer dir und meinem Vater sind die Kinder die klügsten Menschen, die ich kenne. Sie wissen sicher, was zu tun ist.«
»Du solltest Elmer auch Bescheid sagen. Ohne ihn ist es kein richtiger Familienrat.«
»Hunter«, rief Molly. »Ruf Gramps auch an.«
»Mach ich.«
Molly stand auf. »Ich schätze, ich sollte mich darum kümmern, dass bei diesem Meeting was zu essen da ist.«
»Hey, Mol?«
»Ja?«
»Danke. Du weißt schon. Danke, dass du immer hinter mir stehst.«
»Immer. Jederzeit. Egal, wie du dich entscheidest, du hast immer noch uns. Wir lassen nicht zu, dass irgendwer dir weh tut. Nicht mal dein eigener Vater.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und machte sich dann an die Arbeit, um der hungrigen Meute etwas zu kochen.
Die Kinder konnten wirklich immer etwas essen, aber Lincoln drehte sich bei dem Gedanken an Essen in Verbindung mit dieser schwierigen Entscheidung der Magen um. Seine Gedanken kreisten wie wild, aber er landete immer wieder bei dem Moment, der sein Leben für immer verändert hatte, auf eine Art, die er sich nicht hätte träumen lassen.
Als er Molly Stillman zum ersten Mal gesehen hatte, war sie gerade aus dem Bus gestiegen, in dem sie die dreißigstündige Fahrt von Vermont nach Mississippi verbracht hatte. Sie war dort, um über den Sommer Häuser für diejenigen zu bauen, die ihre bei dem furchtbaren Sturm im Vorjahr verloren hatten.
Sie hatte gerade ihren Abschluss am Middlebury College gemacht, wollte mehr von Amerika sehen und anderen helfen, bevor sie anfing, im Familienunternehmen in Vermont zu arbeiten. Damals hatte sie langes honigfarbenes Haar gehabt, Sommersprossen auf der Nase und diese Neugier, die ihn sofort angezogen hatte. Er sah die junge Molly in ihren Töchtern – in Hannahs Neugier, Ellas Freundlichkeit und Charleys Zielstrebigkeit.
Linc arbeitete freiwillig beim selben Hausbauprojekt wie Molly, nachdem er gerade in Yale mit dem Studium fertig geworden war. Danach wollte er ein Jahr in Oxford studieren, weil er schon immer in England hatte leben wollen. Er wollte die Orte besuchen, die für die Beatles, seine Lieblingsband, besonders wichtig gewesen waren. Die beiden Monate in Mississippi sollten nur ein kurzer Zwischenstopp sein, bevor der Rest seines Lebens begann.
Er hatte damals keine Ahnung, dass diese beiden Monate alles verändern würden.
Das Erste, was Linc aufgefallen war, als er in Gulfport (damals hatte das Städtchen 39600 Einwohner) ankam, war die Hitze gewesen. Man hatte ihm im Voraus gesagt, dass es in Mississippi heiß sein würde, aber nichts hätte ihn auf die dicke, heiße Feuchtigkeit vorbereiten können, die wie eine Decke über der Landschaft lag und ihm das Atmen schwer machte. Glücklicherweise sorgte eine Meeresbrise von der Golfküste ab und zu für etwas Erleichterung.
Ein großer, muskulöser Afroamerikaner namens Joseph Tolman hatte ihn am Busbahnhof abgeholt. Sein strahlendes Lächeln und sein kräftiger Händedruck nahmen Lincoln sofort für ihn ein. »Vielen Dank, dass du hier bist.« Er bedeutete Linc, ihm zu seinem Pick-up zu folgen. »Wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können, wenn wir rechtzeitig fertig werden wollen, um die zweite Hälfte unserer Fördergelder zu bekommen.«
Nach Hurricane Frederic hatten sich Tolman und ein paar örtliche Baufirmen zusammengeschlossen, um den der Naturkatastrophe obdachlos gewordenen Menschen zum ersten September einhundertfünfzig günstige Häuser zur Verfügung zu stellen. Sie hatten im ganzen Land inseriert und um freiwillige Helferinnen und Helfer gebeten, die einen Sommer lang im Gegenzug für ihre Hilfe die Grundlagen des Bauens lernen würden. Linc hatte diese Möglichkeit, sich etwas Handwerkliches anzueignen und dabei auch noch anderen zu helfen, bevor er nach Oxford ging, sofort gefallen.
Seit sie vor drei Jahren seinen älteren Bruder Hunter verloren hatten, war nichts mehr so wie vorher gewesen. Linc hatte nach dem unfassbaren Verlust mit seiner eigenen Trauer gekämpft und es schwerer als vorher gefunden, zu Hause zu sein, wo die Trauer wie ein dunkler Schleier alles im Haus umfing.
Den Sommer in Philadelphia zu verbringen war also nicht seine erste Wahl, und das Bauprojekt war eine tolle Möglichkeit gewesen, dem zu entgehen. Als er davon erfahren hatte, hatte er sich sofort auf die Chance, etwas völlig anderes zu machen, gestürzt und sich noch am selben Tag angemeldet.
»Mein Freund, der mir von Ihrem Projekt erzählt hat, hat gesagt, es macht nichts, dass ich noch keine Erfahrung im Bauwesen habe«, meinte Linc, als sie im Pick-up saßen.
Sobald Joseph den Motor anließ, schallte der neue Song von AC/DC, »You Shook Me All Night Long« aus dem Radio. Joseph stellte lächelnd den Ton leiser. »Dein Freund hatte recht. Wir bringen dir alles bei, was du wissen musst. Dabei sorgen wir auch dafür, dass deine zarten Händchen ein bisschen rauer werden.«
Linc lachte über diesen Seitenhieb, den Joseph im besten Südstaatenakzent vorbrachte. »Ich habe bisher mein ganzes Leben am Schreibtisch verbracht, so kommt es mir jedenfalls vor.«
»Dann wird es ja höchste Zeit für ein bisschen Praxis.«
»Das dachte ich auch.«
»Wir arbeiten sechs Tage die Woche von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, aber die Sonntage gehören ganz dir. Es gibt sieben Meilen weißen Sandstrand direkt in Gulfport.«
»Davon habe ich gelesen, und ich kann es kaum erwarten, mir den Strand anzusehen. Ich werde dort mit Sicherheit an sehr vielen Sonntagen sein.« Seine liebsten Sommerferien hatte er als Kind mit seinen Großeltern in deren Ferienhaus an der Küste von Jersey verbracht.
»Wir haben für die Freiwilligen einen Campingplatz angelegt. Ist nicht gerade nobel, aber es gibt dort alles, was ihr braucht.«
»Ist bestimmt super.«
»Als sich abzeichnete, dass wir die Deadline für die Finanzierung verpassen würden, hat einer meiner Partner vorgeschlagen, die Colleges um Hilfe zu bitten. Wir wissen es wirklich zu schätzen, dass ihr hier seid.«
»Und ich weiß es zu schätzen, dass ihr mich davor bewahrt, den Sommer zu Hause bei meinem Vater zu verbringen.«
»Er macht dir wohl viele Vorschriften?«
»Sie haben ja keine Ahnung. Er kann es kaum erwarten, dass ich mit dem Studium fertig bin und das Familienunternehmen übernehme.«
»Das da wäre?«
»Er ist Immobilienmakler.«
»Klingt interessant.«
Linc lachte. »Nicht wirklich, aber man kann davon leben.« Die Firma war sehr erfolgreich, dank der Vision und der unermüdlichen Arbeit seines Vaters. Doch je näher der Zeitpunkt rückte, an dem Linc Teil des Führungsteams werden sollte, desto mehr fühlte er sich im Leben eines anderen gefangen.
»Und ist das auch das, was du willst?«, fragte Joseph.
»Ich freue mich nicht besonders darauf, falls es das ist, was Sie wissen möchten, aber ich habe es jedenfalls vor.« All ihre Pläne hatten sich verändert, als Hunter gestorben war, und sein Vater plötzlich Linc als seinen neuen Nachfolger im Visier hatte. Was Linc wollte, schien keine Rolle zu spielen. Aber weil er keine wirkliche Alternative hatte, hatte er bei den Plänen seines Vaters mitgemacht, wenn auch nicht mit großer Begeisterung.
»Hm«, machte Joseph.
»Sie können ruhig sagen, was Sie wirklich denken.«
»Dann werde ich nur sagen – das Leben ist kurz. Du solltest tun, was dich glücklich macht, nicht, was von dir erwartet wird.«
»Das sehe ich ganz genauso, aber ich habe bisher nichts gefunden, was mehr Sinn für mich macht als der Familienbetrieb.«
»Vielleicht hast du noch nicht am richtigen Ort gesucht.«
»Das könnte sehr gut sein, deshalb habe ich die Möglichkeit, den Sommer über hier zu arbeiten, auch sofort wahrgenommen. Ich bin jetzt an einem Ort, wo ich noch nie war, und tue etwas, was wirklich Sinn macht.«
»Die Arbeit, die du hier tun wirst, wird so vielen so viel bedeuten. Wir haben hier hundertfünfzig Familien, die ihr Zuhause verloren haben. Sie werden die Ersten sein, denen wir die fertigen Häuser anbieten. Für viele von ihnen wird es das erste eigene Haus, und sie freuen sich sehr darauf.«
»Es ist wirklich toll, was ihr hier macht.«
»Das finde ich auch, aber es ist viel stressiger, als wir es uns vorgestellt haben, weil es für die Finanzierung diese starren Fristen gibt. Ich habe schon ganz graue Haare davon.«
Linc schätzte Joseph auf Ende dreißig, und wirklich, in seinem sonst völlig schwarzen Haar gab es ein paar graue Strähnen. »Das ist es sicher wert, wenn diese Familien erst mal glücklich in ihren neuen Häusern leben.«
»Sag mir das ruhig immer wieder.« Joseph bog nach links auf einen Feldweg ab, der zu dem Campingplatz führte, wo schon einige Zelte standen. »Ihr habt eure eigenen Zelte und teilt euch die Sanitäranlagen.« Er zeigte auf ein Gebäude am linken Rand des Grundstücks.
In einem großen Zelt in der Mitte des Platzes, dessen Seiten offen waren, war eine größere Gruppe beschäftigt.
»Essen«, sagte Joseph, als er Lincolns Blick folgte. »Meine Frau Keisha und ein paar andere Frauen kochen für die Freiwilligen. Keisha leitet auch meine Firma und kümmert sich um unsere Kinder.«
»Ihr habt wirklich viel zu tun.«
»Du hast ja keine Ahnung. Komm, ich stelle dich ihr und den anderen vor.«
Lincoln stieg aus dem Truck und folgte Joseph ins Küchenzelt. »Das hier ist Lincoln Abbott aus Pennsylvania. Er lebte zuletzt in Yale. Linc, das hier ist meine Frau Keisha, unsere Tochter Jasmine, mein Geschäftspartner Desmond, seine Frau Charity und ihre Tochter Shanda.«
Linc schüttelte den Erwachsenen die Hand und ging vor der kleinen Shanda in die Hocke. Sie musste etwa drei Jahre alt sein. »Schön, euch kennenzulernen.«
»Ebenso.« Keisha hatte ein warmes, herzliches Lächeln, goldbraune Haut und leuchtend braune Augen. Ihr geflochtenes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, damit es ihr bei der Arbeit nicht im Weg war. »Du hast noch keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast.«
»Das ist sicher wahr, aber irgendetwas riecht jedenfalls sehr gut.«
»Du wirst sehr hart arbeiten, aber ich kann dir eines versprechen, dass du hier speisen wirst wie ein König«, sagte Joseph.
Linc lief das Wasser im Mund zusammen. »Das klingt nach einem fairen Deal.«
Ein Traum, den du alleine träumst, ist nur ein Traum. Ein Traum, den ihr zusammen träumt, ist Wirklichkeit.
John Lennon
Die Erinnerung an seine Ankunft in Mississippi brachte Linc zum Lächeln. Joseph und Keisha hatten ihn so herzlich willkommen geheißen. Bis heute waren die beiden mit ihm und Molly gut befreundet. Sie hatten in diesem Sommer viele wichtige Freundschaften geschlossen und diese auch in den folgenden Jahren gepflegt. Dieser Sommer hatte aus Hitze, harter Arbeit, gutem Essen, tollen Freundschaften, Lektionen fürs Leben und Liebe bestanden.
Apropos Liebe, Molly war gerade mit ihrem Enkelsohn Caden auf dem Arm zurück in die Küche gekommen. Der kleine Kerl zwitscherte nur so vor Aufregung, als er Linc sah, der die Arme nach ihm ausstreckte.
Molly reichte ihn Linc.
Linc vergrub seine Nase am Hals des Babys, atmete den süßen Geruch ein und gab Caden dann einen Kuss aufs flaumige Köpfchen. »Wo ist denn dein Daddy, mein Kleiner?«
»Unter der Dusche«, antwortete Molly. »Er hat gesagt, er kommt in ein paar Minuten runter zum Familienrat.«
Max war mittags von der Arbeit gekommen, um mit Caden einen Arzttermin wahrzunehmen, damit Molly für ihren Freitagslunch mit Linc und Elmer in die Stadt fahren konnte. Normalerweise wäre Max jetzt wieder auf dem Weg zur Arbeit – entweder mit Colton auf dem Berg oder mit Landon auf der Weihnachtsbaumfarm. Aber weil Lincoln diesen bedeutungsschweren Anruf bekommen hatte, war an diesem Tag rein gar nichts normal.
»Alles okay, Dad?«, fragte Hunter.
»Alles okay. Ich bin natürlich sehr aufgewühlt, aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen.«
»Dann ist ja gut.« Hunter war sichtlich erleichtert.
Es war wirklich erstaunlich, wie sehr das Ganze nach all den Jahren immer noch schmerzte. Linc drückte seinen Enkelsohn fester an sich und versuchte, sich auf das Positive zu konzentrieren. Die Familie, die er mit Molly gegründet hatte, war mehr als genug, um die Leere zu füllen, die seine Herkunftsfamilie zurückgelassen hatte. Aber so war das nicht. Nicht ganz. Wie könnte man die Menschen, mit denen man aufgewachsen war, je ersetzen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass eines seiner Kinder den Kontakt zu ihm und Molly oder zu seinen Geschwistern abbrechen würde.
Als die Kinder noch kleiner gewesen waren, hatten sie sich ständig gestritten, wie das unter Geschwistern eben ist. Linc hatte sie immer daran erinnert, dass die besten Freunde, die sie im Leben haben würden, die Menschen waren, mit denen sie ihr Zuhause teilten. Seine Kinder hatten das oft genug gehört, um es umzusetzen, und waren noch heute unzertrennlich. Elmer bewunderte das sehr und sprach oft darüber.
Lincoln sah das als eine seiner größten Lebensleistungen an, weil er nur allzu gut wusste, dass es nicht immer so war und dass Familienbande viel zerbrechlicher waren, als sie aussahen.
Im Laufe der nächsten halben Stunde trudelten die Kinder nach und nach in der Scheune ein. Als Erstes kam Ella, dann Landon, Colton und Will. Hannah hatte die kleine Callie dabei, und Lucas trug noch seine Feuerwehruniform. Luc war so froh, dass er endlich wieder arbeiten konnte, nachdem er nach dem Brand im Hotel lange krankgeschrieben gewesen war. Es war eine echte Erleichterung, ihn gesund, stark und in Uniform zu sehen.
Max kam nach unten und sah sofort, dass Caden an seinen Großvater gekuschelt döste. Er war so ein toller Vater!
»Was steht auf der Agenda?« Charleys Wangen waren gerötet von der Kälte.