Jerry der Insulaner - Jack London - E-Book
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Jerry der Insulaner E-Book

Jack London

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Beschreibung

Dieses eBook: "Jerry der Insulaner" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Solange das dauerte, vergaß Jerry Meringe ganz. Wie er noch genau wußte, hatte der Habicht einen scharfen Schnabel und scharfe Krallen gehabt. Man mußte sich also hüten vor diesem flatternden Ungeheuer, das mit Donnergepolter hin und her sauste. Und Jerry hielt, sprungbereit und immer nach einem Halt suchend, die Augen fest auf das Großsegel gerichtet und ließ jedesmal, wenn es sich eine Bewegung erlaubte, ein gedämpftes Knurren hören."

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Jack London

Jerry der Insulaner

e-artnow, 2018 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-8443-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Es ist das Unglück mancher Romanschriftsteller, daß Roman und Unwahrheit in den Augen des Durchschnittslesers ein und dasselbe ist. Vor mehreren Jahren gab ich einen Südseeroman heraus. Er spielte auf den Salomoninseln. Die Handlung wurde von Kritikern und Referenten als äußerst schätzenswertes Produkt der Einbildungskraft gelobt. Aber mit der Wahrheit – sagten sie – wäre es nichts. Natürlich gäbe es, wie jedermann wüßte, nirgends auf der Welt mehr kraushaarige Kannibalen, und noch weniger liefen sie unbekleidet herum und schnitten sich gegenseitig – und gelegentlich auch einem Weißen – die Köpfe ab.

Aber nun hört mal zu: Ich schreibe diese Zeilen in Honolulu, Hawai. Gestern sprach mich ein Fremder am Strand von Waikiki an. Er erwähnte einen gemeinsamen Freund, Kapitän Kellar. Als ich mit dem »Sklavenschiff« Minota bei den Salomoninseln Schiffbruch erlitt, war es Kapitän Kellar, der Führer des »Sklavenschiffes« Eugénie, der mich rettete. Jetzt hatten die Schwarzen sich Kapitän Kellars Kopf geholt, wie der Fremde mir erzählte. Er wußte es. Er hatte in der Nachlaßsache Kellars Mutter vertreten.

Hört: Neulich bekam ich einen Brief von Mr. C. M. Woodford, Regierungskommissar der britischen Salomoninseln. Er war nach einem langen Aufenthalt in England – er hatte seinen Sohn nach Oxford gebracht – auf seinen Posten zurückgekehrt. In den meisten öffentlichen Bibliotheken kann man ein Buch mit dem Titel »Ein Naturforscher unter den Kopfjägern« finden. Der Naturforscher ist Mr. C. M. Woodford. Er hat das Buch geschrieben. Um aber wieder auf den Brief zu kommen: Unter anderm erzählte er ganz kurz und beiläufig, daß er gerade eine merkwürdige Arbeit beendet hätte. Durch seine Reise nach England hätte sich die Sache verzögert. Es handelte sich um eine Strafexpedition nach einer Nachbarinsel, bei welcher Gelegenheit er, wenn möglich, auch die Köpfe einiger gemeinsamer Freunde hätte holen wollen – eines weißen Händlers, seiner weißen Frau und Kinder und seines weißen Buchhalters. Die Expedition hätte Erfolg gehabt, und Mr. Woodford schloß seinen Bericht mit folgender Bemerkung: »Was mir besonders auffiel, war der Umstand, daß die Gesichter weder Schmerz noch Schrecken, sondern eher Ernst und Ruhe ausdrückten« – dies schreibt er, man beachte es, von Männern und Frauen seiner eignen Rasse, die er gut gekannt hatte, und die oft in seinem Hause zu Gast gewesen waren.

Andre Freunde, mit denen ich in den schönen, ausgelassenen Tagen auf den Salomoninseln bei Tisch gesessen habe, sind seitdem heimgegangen – auf dieselbe Art und Weise. Du meine Güte! Ich machte einmal auf der Teakholzjacht Minota eine Werbefahrt nach Malaita und nahm meine Frau mit. An der Tür unsrer winzigen Kajüte waren noch die Beilhiebe zu sehen, die von einem vor einigen Monaten geschehenen Vorfall erzählten. Der Vorfall war, daß Kapitän Mackenzie der Kopf genommen wurde. Kapitän Mackenzie war damals Führer der Minota. Als wir in Langa-Langa ankamen, dampfte gerade der britische Kreuzer Cambrian nach Bombardement eines Dorfes ab.

Ich habe keinen Anlaß, dieses Vorwort zu meiner Erzählung mit weiteren Einzelheiten zu belasten, aber ich versichere, daß ich deren eine Menge besitze. Ich hoffe, den Leser einigermaßen überzeugt zu haben, daß die Abenteuer meines Hundes, des Helden dieses Buches, wirklich erlebte Abenteuer aus einer wirklichen Kannibalenwelt sind. Bei Gott! – als ich meine Frau mit auf die Fahrt mit der Minota nahm, fanden wir an Bord einen niggerjagenden, anbetungswürdigen kleinen irischen Terrier vor, der glatthaarig wie Jerry war und Peggy hieß. Wäre Peggy nicht gewesen, so wäre dieses Buch nie geschrieben worden. Die kleine Hündin war der größte Schatz des prächtigen Schiffers der Minota. So sehr verliebten meine Frau und ich uns in sie, daß Charmian sie nach dem Schiffbruch der Minota ihrem Schiffer mit voller Überlegung und ganz schamlos stahl. Ich gestehe ferner, daß ich den Diebstahl meiner Frau mit voller Überlegung und ganz schamlos billigte. Wir hatten Peggy ja so lieb! Lieber königlicher, herrlicher kleiner Hund, begraben zur See an der Ostküste von Australien! Ich muß hinzufügen, daß Peggy, ebenso wie Jerry, auf der Meringe-Plantage an der Meringe-Lagune geboren war. Seine Heimat war die Insel Isabel, die nördlich von der Floridainsel liegt, wo das Gouvernement seinen Sitz hat, und wo der Regierungskommissar Mr. C. M. Woodford wohnt. Ferner und endlich: Ich kenne Peggys Vater und Mutter gut, und oft hat mir das Herz geklopft, wenn ich das treue Paar nebeneinander den Strand entlanglaufen sah. Er hieß Terrence, sie Biddy.

Honolulu.  5. Juni 1915.

Jack London

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Erst als ihn Herr Haggin unter den einen Arm nahm und mit ihm das Achterende des wartenden Walbootes betrat, ahnte Jerry, daß ihm etwas Unangenehmes bevorstand. Herr Haggin war Jerrys geliebter Herr, und war sein geliebter Herr die ganzen sechs Monate seines Lebens gewesen. Jerry kannte Herrn Haggin nicht als »Herr«, denn der Ausdruck »Herr« fand sich nicht im Wortschatz Jerrys, der ein glatthaariger, goldbrauner irischer Terrier war.

Aber in Jerrys Wortschatz hatte »Herr Haggin« doch einen ebenso bestimmten Klang und Sinn, wie ihn das Wort »Herr« im Wortschatz der Menschen in bezug auf ihre Hunde besitzt. »Herr Haggin« war das Geräusch, das Jerry stets von Bob, dem Buchhalter, und Derby, dem Vorarbeiter der Plantage, hatte hervorbringen hören, wenn sie seinen Herrn ansprachen. Ferner hatte Jerry stets die männlichen Zweibeiner, die gelegentlich einmal die Plantage besuchten, wie zum Beispiel die, die jetzt mit der Arangi gekommen waren, seinen Herrn als »Herr Haggin« anreden hören.

Aber Hunde sind nun einmal Hunde, und in ihrer unklaren, wortlosen, prachtvollen Heldenverehrung schätzen sie die Menschen nicht richtig ein, denken von ihren Herren besser und lieben sie mehr, als den Tatsachen angemessen wäre. »Herr«, wie Jerry »Herr Haggin« auffaßte, bedeutet für sie mehr, weit mehr als für Menschen. Der Mensch betrachtet sich selbst als Herrn seines Hundes, aber der Hund sieht in seinem Herrn »Gott«.

Nun befand sich allerdings das Wort »Gott« ebensowenig in Jerrys Wortschatz, trotz der Tatsache, daß er bereits einen bestimmten und recht umfangreichen Wortschatz besaß. »Herr Haggin« war der Klang, der »Gott« bedeutete. In Jerrys Herz und Kopf, in dem geheimnisvollen Mittelpunkt der ganzen Bewußtsein genannten Vorgänge, nahm der Klang »Herr Haggin« denselben Platz ein, wie »Gott« im menschlichen Bewußtsein. Durch Wort und Klang verband sich für Jerry mit »Herr Haggin« dieselbe Vorstellung wie für den gottesfürchtigen Menschen mit »Gott«. Kurz: Herr Haggin war Jerrys Gott.

Und als daher Herr Haggin, oder Gott, oder wie man ihn nun in der Beschränkung, die die Sprache einem auferlegt, nennen will, als er plötzlich Jerry mit unwiderstehlicher Gewalt unter den Arm nahm und in das Walboot stieg, dessen schwarze Besatzung sich unmittelbar darauf in die Riemen legte, hatte Jerry sofort ein ängstliches Gefühl, daß etwas Ungewöhnliches geschah. Noch nie war er an Bord der Arangi gewesen, die er jedesmal, wenn die Riemen der Schwarzen plätschernd durchs Wasser strichen, größer werden und näher kommen sah.

Erst vor einer Stunde war Jerry vom Plantagenhaus nach dem Strande gekommen, um die Arangi abfahren zu sehen. Zweimal hatte er in seinem halbjährigen Leben dieses prachtvolle Erlebnis gehabt. Und prachtvoll war es wirklich, an dem weißen Korallenstaubstrande hin und her zu laufen und sich unter der weisen Führung von Biddy und Terrence an dem Herumtollen zu beteiligen und es sogar noch, zu vermehren.

Da war die Niggerjagd. Jerry war der Haß gegen die Nigger angeboren. Das erste, was er als wimmernder Welpe auf der Welt gelernt hatte, war die Tatsache, daß Biddy, seine Mutter, und sein Vater Terrence die Nigger haßten. Ein Nigger war etwas, das man anknurrte. Ein Nigger, der nicht zum Haushalt gehörte, war etwas, das angefallen, gebissen und zerrissen werden mußte, wenn es sich erfrechte, dem Hause zu nahe zu kommen. Das tat Biddy. Das tat Terrence. Und indem sie es taten, dienten sie ihrem Gott – Herrn Haggin. Nigger waren tieferstehende zweibeinige Geschöpfe, die für ihre zweibeinigen weißen Gebieter arbeiteten und fronten, weit fort in den Arbeiterbaracken wohnten und soviel geringer und tieferstehend waren, daß sie nicht wagen durften, der Wohnung ihres Herrn nahe zu kommen.

Und Niggerjagd war ein Abenteuer. Das hatte Jerry fast ebenso schnell gelernt, wie er laufen gelernt hatte. Man nahm die Gelegenheit wahr. Solange Herr Haggin, Derby oder Bob dabei war, ließen sich die Nigger das Gejagtwerden gefallen. Aber es kam vor, daß die weißen Herren nicht dabei waren. Dann hieß es: »Hüte dich vor den Niggern!« Man mußte vorsichtig sein, wenn man jagte. Denn dann, wenn die weißen Herren es nicht sahen, hatten die Nigger die Gewohnheit, nicht nur finster dreinzublicken und zu murren, sondern vierbeinige Hunde mit Steinen und Knüppeln anzugreifen. Jerry hatte gesehen, wie seine Mutter auf diese Weise mißhandelt wurde, und ehe Jerry Vorsicht gelernt hatte, war er selbst in dem hohen Gras vermöbelt worden von Godarmy, dem Schwarzen, der an einer aus Kokosfaser geflochtenen Schnur einen porzellanenen Türknauf um den Hals trug. Ja, mehr noch: Jerry erinnerte sich eines andern Erlebnisses im hohen Grase, als er und sein Bruder Michael mit Owmi gekämpft hatten, einem andern Schwarzen, der leicht kenntlich war an den Zahnrädern einer Weckuhr auf seiner Brust. Michael hatte einen so heftigen Schlag auf den Kopf erhalten, daß sein linkes Ohr Schaden gelitten hatte, einschrumpfte und merkwürdig gefühllos wurde und jetzt stolz nach oben gedreht war.

Und mehr noch: Sein Bruder Patsy und seine Schwester Kathleen waren seit zwei Monaten verschwunden, hatten einfach aufgehört zu sein. Der große Gott, Herr Haggin, hatte die Plantage von einem Ende zum andern durchsucht. Der ganze Busch war durchforscht, ein halbes Dutzend Nigger waren ausgepeitscht worden. Aber Herr Haggin hatte das Mysterium von Patsys und Kathleens Verschwinden nicht aufklären können. Biddy und Terrence jedoch wußten Bescheid. Und Michael und Jerry auch. Die vier Monate alten Hündchen waren in den Kochtopf in der Baracke gewandert, und ihr weicher Welpenpelz war vom Feuer verzehrt worden. Das wußte Jerry ebensogut wie sein Vater, seine Mutter und sein Bruder, denn sie hatten den unverkennbaren Geruch von verbranntem Fleisch gespürt, und Terrence hatte in seiner Wut Mogam, den Hausburschen, angefallen und war von Herrn Haggin ausgescholten und verprügelt worden, der nichts gerochen hatte und nichts verstand, und der stets strenge Disziplin unter allen Geschöpfen halten mußte, die sich unter seinem Dache befanden. Aber am Strande, wenn die Schwarzen, deren Dienstzeit abgelaufen war, mit ihren Warenkisten auf dem Kopfe kamen, um mit der Arangi abzufahren, war die Niggerjagd nicht mit Gefahr verbunden. Alte Zechen konnten beglichen werden, und es war die letzte Gelegenheit, denn die Schwarzen, die mit der Arangi abfuhren, kamen nie wieder. Heute zum Beispiel fuhr Biddy, die die Behandlung, die ihr von Seiten Lerumies zuteil geworden war, nicht vergessen hatte, mit den Zähnen in seinen bloßen Schenkel, daß er kopfüber mit Warenkiste und all seiner irdischen Habe ins Wasser stürzte, und dann lachte sie ihn aus, des Schutzes von Herrn Haggin sicher, der lachend dabeistand.

Ferner war auf der Arangi gewöhnlich wenigstens ein Buschhund, den Jerry und Michael vom Strande aus so anbellten, daß sie sich fast das Maul verrenkten. Einmal hatte Terrence, der fast ebenso groß und sicher ebenso mutig wie ein Airedale-Terrier war – Terrence, der Prächtige, wie Tom Haggin ihn nannte –, einen solchen Buschhund am Strande erwischt und ihm eine wundervolle Tracht Prügel verabreicht, wozu Jerry und Michael sowie Patsy und Kathleen, die damals noch lebten, mit heftigem Kläffen und scharfem Schnappen ihr Teil beigetragen hatten. Jerry hatte nie seine Begeisterung über das Haar vergessen – es roch unverkennbar nach Hund –, das nach seinem einzigen erfolgreichen Zuschnappen sein Maul gefüllt hatte. Die Buschhunde waren zwar auch Hunde – er erkannte sie als seine Art an; aber sie unterschieden sich doch irgendwie von seiner eignen stolzen Rasse, waren anders und geringer, gerade wie die Schwarzen sich von Herrn Haggin, Derby und Bob unterschieden.

Aber Jerry starrte nicht weiter auf die sich nähernde Arangi. Biddy, durch frühere bittere Verluste klug geworden, hatte sich, die Vorderpfoten im Wasser, an den Strand gesetzt und machte ihrem Schmerz durch lautes Heulen Luft. Daß das Jerry betraf, wußte dieser, denn der Kummer zerrte sehr scharf an seinem gefühlvollen, leidenschaftlichen Herzen, wenn ihm die Ursache auch nicht ganz klar war.

Was bevorstand, wußte er nicht, außer, daß es ein Unglück, eine Katastrophe war, die mit ihm zusammenhing. Und als er sich jetzt umsah und sie am Strande erblickte, rauhhaarig und unglücklich, konnte er auch Terrence sehen, der sich besorgt in der Nähe hielt. Auch er war rauhhaarig, ebenso wie Michael, und wie auch Patsy und Kathleen gewesen; Jerry war das einzige glatthaarige Mitglied der Familie.

Ferner war Terrence, was zwar Jerry nicht, wohl aber Tom Haggin wußte, ein königlicher Liebhaber und ergebener Gatte. Einer der Eindrücke Jerrys war, wie Terrence mit Biddy meilenweit den Strand entlang oder durch die Kokospalmenalleen laufen konnte, beide vor Freude lachend. Außer seinen Brüdern und Schwestern und den verschiedenen Buschhunden, die sich hin und wieder einmal zeigten, waren sie die einzigen Hunde, die Jerry kannte, und so dachte er, daß Hunde eben so sein müßten: Er und sie – verheiratet und treu. Tom Haggin aber wußte, wie ungewöhnlich das war. »Eine reine Liebesheirat«, erklärte er immer wieder mit warmer Stimme und feuchten Augen. »Er ist ein Gentleman, der Terrence, ein richtiger vierbeiniger Mann. Ein Mannshund, wenn es je einen gegeben hat, und treu wie Gold. Und gewaltig! Donnerwetter! Sein Blut ist durch tausend Generationen rein erhalten, und dazu hat er einen kühlen Kopf und ein warmes, tapferes Herz!«

Wenn Terrence Kummer fühlte, so verlieh er ihm jedenfalls keinen Ausdruck, aber der Umstand, daß er sich andauernd in Biddys Nähe hielt, zeigte seine Sorge um sie. Michael jedoch, der von seiner Mutter angesteckt war, saß neben ihr und kläffte ebenso wütend über den immer breiter werdenden Wasserstreifen hinüber, wie er jede Gefahr angekläfft haben würde, die im Dschungel kroch und raschelte. Auch das schnitt Jerry ins Herz, und dazu kam noch das sichere Gefühl, daß ein trauriges Schicksal – er wußte nicht welches – seiner wartete.

Für seine sechs Monate wußte Jerry einerseits ein ganz Teil und anderseits doch wieder sehr wenig. Er wußte, ohne darüber nachzudenken und ohne sich seines Wissens bewußt zu sein, warum Biddy, die doch ebenso klug wie tapfer war, nicht ganz dem Gebot ihres Herzens folgte, ins Wasser sprang und ihm nachschwamm. Wie eine Löwin hatte sie ihn verteidigt, als der große Puarka (was in Jerrys Wortschatz zusammen mit Grunzen und Quieken die Lautverbindung oder das Wort für »Schwein« war) versucht hatte, ihn zu fressen, als er unter dem auf hohen Pfählen erbauten Plantagenhaus eingeklemmt gewesen war. Und wie eine Löwin war Biddy, als der Küchenboy ihn mit einem Stock geschlagen hatte, um ihn aus der Küche zu vertreiben, auf den Schwarzen losgesprungen, hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Schlag mit dem Stock entgegengenommen und ihn dann zu Boden geworfen, daß er sich zwischen seinen Töpfen und Pfannen wälzte, bis sie (zum ersten Male knurrend) von Herrn Haggin fortgezogen wurde, der gar nicht schalt, sondern sogar dem Küchenboy eine scharfe Rüge erteilte, weil er gewagt hatte, die Hand gegen den vierbeinigen Hund eines Gottes zu erheben.

Jerry wußte, warum seine Mutter sich nicht ins Wasser stürzte und ihm nachschwamm. Das salzige Meer sowohl wie die Lagunen, die mit dem salzigen Meer in Verbindung standen, waren tabu. »Tabu« hatte als Wort und Klang keinen Platz in Jerrys Wortschatz. Aber die Bedeutung, der Sinn war äußerst lebendig in seinem Bewußtsein. Er wußte dunkel und unklar, aber unwiderleglich, daß es nicht nur nichts Gutes, sondern etwas höchst Unheilvolles war. Es führte zu dem undeutlichen Gefühl, daß es für einen Hund einfach ein Ende mit Schrecken bedeutete, ins Wasser zu gehen, wo, zuweilen an der Oberfläche, zuweilen aus der Tiefe auftauchend, große schuppige Ungeheuer mit riesigen Kiefern und schrecklichen Zähnen schlüpften, glitten und lautlos ruderten, Ungeheuer, die einen Hund im Nu schnappten und verschlangen, wie Herrn Haggins Hühner Körner schnappten und verschlangen.

Oft hatte er seinen Vater und seine Mutter vom sicheren Strande aus in ihrem Haß diese schrecklichen Ungeheuer wütend anbellen hören, wenn sie, dicht am Strande, wie treibende Baumstämme an der Oberfläche erschienen. »Krokodil« gehörte nicht zu Jerrys Wortschatz. Es war ein Bild, das Bild eines treibenden Baumstammes, der sich von andern Baumstämmen dadurch unterschied, daß er lebendig war. Jerry hörte, merkte sich und erkannte viele Wörter, die für ihn genau solche Gedankenwerkzeuge waren, wie sie es für die Menschen sind, da ihm aber von Geburt und Art die Sprache fehlte, konnte er sich nicht in diesen vielen Wörtern ausdrücken. Dennoch gebrauchte er in seinen Denkprozessen Bilder, ganz wie sprachbegabte Menschen in ihren eignen Denkprozessen Wörter gebrauchen. Und schließlich gebrauchen ja auch sprachbegabte Menschen, ob sie wollen oder nicht, wenn sie denken, Bilder, die Wörtern entsprechen und sie ergänzen. Vielleicht erweckte in Jerrys Gehirn das Bild eines treibenden Baumstamms eine deutlichere und umfassendere Vorstellung, als das Wort »Krokodil« und das begleitende Bild es in dem menschlichen Bewußtsein tun. Denn Jerry wußte wirklich mehr von Krokodilen als der Mensch im allgemeinen. Er konnte ein Krokodil aus größerer Entfernung riechen und von andern Geschöpfen unterscheiden als irgendein Mensch, ja selbst ein Salzwasserneger oder ein Buschmann. Er wußte, wenn ein aus der Lagune aufgetauchtes Krokodil ohne Laut und Bewegung und vielleicht schlafend hundert Fuß entfernt auf dem Boden der Dschungel ruhte.

Er wußte mehr von der Sprache der Krokodile als irgendein Mensch. Er hatte bessere Vorbedingungen für sein Wissen. Er kannte ihre vielen Laute, die aus Grunzen und Schlürfen bestanden. Er kannte ihre Wutlaute, ihre Furchtlaute, ihre Freßlaute, ihre Liebeslaute. Und diese Laute waren ein ebenso ausgesprochener Teil seines Wortschatzes wie Wörter in dem eines Menschen. Und diese Krokodillaute waren Gedankenwerkzeuge. Nach ihnen erwog, beurteilte und bestimmte er seine eigne Handlungsweise, genau wie ein Mensch; oder er entschloß sich wie irgendein Mensch, aus Faulheit überhaupt nichts zu tun, sondern nur aufzupassen und sich klarzumachen, was um ihn her vorging und keine entsprechende Handlung von seiner Seite erforderte. Und doch gab es sehr vieles, das Jerry nicht wußte. Er kannte nicht die Größe der Welt. Er wußte nicht, daß die Meringe-Lagune mit ihrem Hintergrund von hohen Wäldern und ihrem schützenden Kranz von kleinen Koralleninseln keineswegs die ganze Welt war. Er wußte nicht, daß sie nur ein Bruchteil der großen Isabelinsel, und daß diese wiederum nur eine von tausend Inseln war, von denen viele größer waren, und die alle zusammen die Salomoninseln ausmachten, welche die Menschen auf der Karte durch eine Gruppe von Pünktchen auf der unendlichen Weite des Stillen Ozeans bezeichnet haben.

Er hatte allerdings eine unklare Vorstellung, daß es darüber hinaus oder jenseits noch irgend etwas gab. Aber was das war, blieb ihm ein Mysterium. Es konnten plötzlich Dinge dorther kommen, die zuvor nicht gewesen waren. Hühner und Puarkas und Katzen, die er nie zuvor gesehen, hatten eine merkwürdige Art und Weise, unversehens auf der Meringe-Plantage zu erscheinen. Einmal hatte sogar eine Invasion von seltsamen vierbeinigen gehörnten und haarigen Geschöpfen stattgefunden, deren Bild, das er in seinem Gehirn registriert hatte, im menschlichen Gehirn mit dem Worte »Ziege« zusammengefallen wäre.

Ebenso war es mit den Schwarzen. Aus dem Unbekannten, dem Irgendwo und Irgendwas, das für ihn zu unbestimmt war, als daß er etwas davon hätte wissen können, erschienen sie plötzlich ganz ausgewachsen, ergingen sich auf der Meringe-Plantage mit Lendenschurz und Knochenpfriemen durch die Nase und wurden von Herrn Haggin, Derby und Bob an die Arbeit geschickt. Daß ihr Erscheinen mit der Ankunft der Arangi zusammenfiel, war eine Gedankenverknüpfung, die als etwas ganz Selbstverständliches in Jerrys Kopf entstand. Aber er zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber, nur daß sich eine weitere Gedankenverknüpfung damit verband, nämlich, daß ihr gelegentliches Verschwinden ins Jenseits ebenfalls mit der Abfahrt der Arangi zusammenfiel.

Jerry forschte nicht nach den Zusammenhängen dieses Erscheinens und Verschwindens. Es fiel ihm nie ein, sich seinen goldbraunen Kopf mit der Lösung dieses Rätsels zu beschweren. Er nahm es als eine Selbstverständlichkeit hin, wie er die Nässe des Wassers und die Wärme der Sonne hinnahm. So war nun einmal das Leben und die Welt, die er kannte. Er hatte nur die unbestimmte Vorstellung, daß etwas existierte – was, nebenbei, vollkommen der unbestimmten Vorstellung der meisten Menschen von den Mysterien von Geburt und Tod und dem Jenseits entspricht, die sie nicht zu fassen vermögen. Wer könnte übrigens sagen, ob nicht die Jacht Arangi, die als Handels- und »Sklavenschiff« zwischen den Salomoninseln fuhr, in Jerrys Bewußtsein dem geheimnisvollen Boot geglichen haben mag, das den Verkehr zwischen zwei Welten vermittelte, wie einmal das Boot, das nach der Meinung der Menschen von Charon über den Styx gerudert wurde. Aus dem Nichts kamen Menschen. Ins Nichts gingen sie. Und sie kamen und gingen stets mit der Arangi.

Und zur Arangi fuhr Jerry an diesem weißglühenden Tropenmorgen im Walboot unter Herrn Haggins Arm, während Biddy am Strande wehklagte und Michael, dem jede Spitzfindigkeit fremd war, dem Unbekannten den ewigen Trotz der Jugend entgegenschleuderte.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Aus dem Walboot über die niedrige Seite der Arangi und die sechszöllige Teakholzreling an Deck war nur ein Schritt, und Tom Haggin machte ihn leicht mit Jerry unterm Arm. Auf Deck befand sich eine aufregende Versammlung. Aufregend wäre sie für jeden unbereisten zivilisierten Menschen gewesen, und aufregend war sie für Jerry; für Tom Haggin und Kapitän Van Horn dagegen war es eine ganz alltägliche Sache.

Das Deck war klein, weil die Arangi klein war. Ursprünglich eine aus Teakholz erbaute Lustjacht mit Messingnägeln, Kupferhaut und eisernem Bodenbeschlag wie ein Kriegsschiff und einem Flossenkiel aus Bronze war sie für die »Sklavenjagd« und den Niggertransport zwischen den Salomoninseln verkauft. Mit Rücksicht auf das Gesetz nannte man das jedoch »Rekrutieren«.

Die Arangi war ein Arbeiterwerbeschiff, das die neu eingefangenen schwarzen Kannibalen von den entfernteren Inseln zur Arbeit nach den neuen Plantagen schaffte, wo weiße Männer feuchte, verpestende Sümpfe und Dschungeln in reiche, stattliche Kokospalmenhaine verwandelten. Die beiden Masten der Arangi bestanden aus Oregon-Zedernholz und waren so geputzt und gewachst, daß sie wie gelbbraune Opale im Sonnenglast schimmerten. Ihre außergewöhnlich großen Segel befähigten sie, wie der Teufel zu fahren, und gaben gelegentlich Kapitän Van Horn, seinem weißen Steuermann und seiner fünfzehnköpfigen schwarzen Besatzung alle Hände voll zu schaffen. Sie maß sechzig Fuß über Deck, und die Querbalken ihres Decks waren durch keine Aufbauten geschwächt. Nur an wenigen Stellen war das Deck durchbrochen: für das Skylight der Kajüte und die Laufbrücke, die Luke vorn über dem winzigen Vorderkastell und die kleine Luke achtern, die zum Vorratsraum führte, ohne daß jedoch Querbalken durchschnitten worden waren.

Und auf diesem kleinen Deck befanden sich außer der Besatzung die »retournierten« Nigger von drei ausgedehnten Plantagen. Unter »retourniert« ist zu verstehen, daß ihr dreijähriger Arbeitskontrakt abgelaufen war, und daß sie vertragsgemäß in ihre Heimatsdörfer auf der wilden Insel Malaita zurückgeschickt wurden. Zwanzig von ihnen – alles gute Bekannte von Jerry – waren von Meringe; dreißig kamen von der Bucht der tausend Schiffe auf den Russellinseln, und die übrigen zwölf von Pennduffryn an der Ostküste von Guadalcanar. Zu diesen – die sich sämtlich, in ihren merkwürdigen kreischenden Falsettstimmen schwatzend und quiekend, an Deck befanden – kamen dann noch zwei Weiße: Kapitän Van Horn und sein dänischer Steuermann Borckman, insgesamt also neunundsiebzig Seelen.

»Dachte schon, Sie hätten's im letzten Augenblick bereut«, lautete Kapitän Van Horns Gruß, und ein freudiger Schimmer leuchtete in seinen Augen auf, als er Jerry bemerkte.

»Es hätte auch nicht viel gefehlt«, antwortete Tom Haggin. »Und für einen andern hätte ich's auch nicht getan, so wahr ich lebe. Jerry ist der beste vom ganzen Wurf, abgesehen natürlich von Michael, denn die beiden sind die einzigen, die noch übrig sind, und sie sind nicht besser als die, die weg sind, Kathleen war ein Prachthund, das Ebenbild Biddys, wenn sie am Leben geblieben wäre. – Hier, nehmen Sie'n.«

Mit einem schnellen Entschluß legte er Jerry Van Horn in die Arme, drehte sich um und schritt das Deck entlang.

»Aber wenn ihm was zustößt, vergeb' ich's Ihnen nie, Schiffer«, rief er barsch über die Schulter zurück.

»Dann müssen sie erst meinen Kopf nehmen«, lachte der Schiffer.

»Auch nicht unmöglich, mein tapferer Kamerad«, knurrte Haggin. »Meringe schuldet Somo vier Köpfe, drei infolge Dysenterie und einen durch einen Baum, der vor knapp vierzehn Tagen auf ihn fiel. Es war noch dazu der Sohn eines Häuptlings.«

»Ja, und dazu kommen noch zwei Köpfe, die die Arangi Somo schuldet«, nickte Van Horn. »Sie werden sich erinnern: Voriges Jahr im Süden ging ein Bursche namens Hawkins in seinem Walboot auf dem Wege durch die Arli-Passage verloren.« Haggin, der jetzt über das Deck zurückkam, nickte. »Zwei von seiner Besatzung waren Somoleute. Ich hatte sie für die Uri-Plantage rekrutiert. Mit ihnen macht das sechs Köpfe, die die Arangi schuldet. Aber wenn schon, es gibt ein Salzwasserdorf drüben an der Wetterseite, wo die Arangi achtzehn schuldig ist. Ich rekrutierte sie für Aolo, und als Salzwasserleute wurden sie auf die »Sandfliege« gesteckt, die auf dem Wege nach Santa Cruz verlorenging. Ich habe ein schönes Konto dort an der Wetterküste, und, wahrhaftig, der Bursche, der meinen Kopf kriegt, wird ein zweiter Carnegie! Hundertundfünfzig Schweine und Muschelgeld ohne Ende hat das Dorf gesammelt für den, der mich kriegt und ausliefert.«

»Aber das haben sie nicht – bis jetzt«, schnaubte Haggin.

»Ich hab' keine Angst!« lautete die zuversichtliche Antwort.

»Das hat Arbuckle auch immer gesagt«, tadelte ihn Haggin. »Wie oft hab' ich das von ihm zu hören gekriegt. Armer alter Arbuckle. Der zuverlässigste und vorsichtigste Bursche, der je mit Niggern gehandelt hat. Er legte sich nie schlafen, ohne eine ganze Schachtel Nägel auf dem Fußboden auszustreuen, und wenn es keine Nägel gab, nahm er zusammengeknüllte Zeitungen. Ich weiß noch genau, wie wir einmal in Florida unter einem Dach schliefen und ein großer Kater eine Küchenschabe zwischen den Zeitungen jagte. Und da ging es piff, paff, puff mit seinen großen Reiterpistolen, zweimal sechs Schuß, und das Haus war durchlöchert wie ein Sieb. Einen toten Kater gab es übrigens auch. Er konnte im Dunkeln schießen, ohne zu zielen, drückte mit dem Mittelfinger ab und fand die Richtung, indem er den Zeigefinger auf den Lauf legte. Nein, mein Lieber! Es war nicht zu spaßen mit ihm. Der Nigger, der seinen Kopf kriegen konnte, schien noch nicht geboren. Aber sie kriegten ihn doch. Sie kriegten ihn. Vierzehn Jahre hielt er aus. Es war sein Küchenboy. Holte ihn sich vor dem Frühstück. Und ich entsinne mich noch gut, wie wir zum zweitenmal in den Busch zogen, um zu holen, was von ihm übriggeblieben war.«

»Ich sah seinen Kopf, nachdem sie ihn dem Kommissar von Tulagi übergeben hatten«, warf Van Horn ein.

»Und solch ein friedlicher, ruhiger, ganz alltäglicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, ganz mit dem alten Lächeln, das ich tausendmal gesehen hatte. Es war darauf eingetrocknet, als sie ihn über dem Feuer dörrten. Aber sie kriegten ihn, wenn es auch vierzehn Jahre dauerte. Mancher Kopf geht immer wieder nach Malaita, ohne abgehauen zu werden, aber schließlich geht's ihm wie dem Kruge; er kommt ohne Henkel nach Hause.«

»Ich werde schon mit ihnen fertig werden«, beharrte der Kapitän. »Wenn der Spektakel losgeht, gehe ich geradeswegs auf sie los und erzähl' ihnen was. Das begreifen sie nicht. Glauben, ich hab' irgend 'ne mächtige Teufel-Teufel-Medizin.«

Tom Haggin reichte ihm plötzlich die Hand zum Abschied, hütete sich aber, seinen Blick auf Jerry in den Armen des andern fallen zu lassen.

»Achten Sie auf meine Retournierten,« ermahnte er ihn, als er über die Schiffseite kletterte, »bis Sie den letzten von ihnen an Land gesetzt haben. Die Nigger haben keine Ursache, Jerry oder sein Geschlecht zu lieben, und ich möchte nicht, daß ihm etwas von ihrer Hand zustößt. Im Dunkel der Nacht kann es sehr leicht geschehen, daß er über Bord verschwindet. Lassen Sie kein Auge von ihm, ehe sie den letzten los sind.«

Als Jerry sah, daß Herr Haggin ihn verließ und im Walboot wegfuhr, wurde er unruhig und gab seine Angst in einem leisen Winseln zu erkennen. Kapitän Van Horn drückte ihn an sich und streichelte ihn mit der freien Hand.

»Vergessen Sie nicht die Abmachung«, rief Tom Haggin über das Wasser herüber. »Wenn Ihnen etwas zustößt, soll Jerry wieder zu mir zurückkommen.«

»Ich werde ein Dokument darüber aufsetzen und es bei den Schiffspapieren verwahren«, lautete die Antwort Van Horns.

Zu dem reichen Wortschatz Jerrys gehörte auch sein eigner Name, und als die beiden Männer miteinander sprachen, hatte er ihn verschiedentlich gehört. Er hatte daher eine unklare Ahnung, daß die Unterredung sich auf das unklare und nicht zu erratende Etwas bezog, das ihm widerfahren sollte. Er wurde immer unruhiger, und Van Horn setzte ihn auf das Deck. Er sprang an die Reling, schneller, als man von einem unbeholfenen sechs Monate alten Hündchen hätte erwarten sollen, und auch der schnelle Versuch Van Horns, ihn zu halten, nutzte nichts. Aber er prallte zurück vor dem offenen Wasser, das gegen die Seite der Arangi schlug. Das Tabu war über ihm. Das Bild des treibenden Baumstamms, der kein Baumstamm, sondern ein lebendes Wesen war, erwachte plötzlich in seinem Kopfe und hielt ihn zurück. Es war nicht die Vernunft, sondern das zur Gewohnheit gewordene Verbot.

Er setzte sich auf seinen Stummelschwanz, hob die goldbraune Schnauze zum Himmel und stieß ein langgezogenes Welpengeheul aus, das Schrecken und Kummer ausdrückte.

»Schon gut, Jerry, alter Junge, nimm dich zusammen und sei ein Mann«, suchte Van Horn ihn zu beruhigen.

Aber Jerry wollte sich nicht trösten lassen. War dies auch zweifellos ein weißhäutiger Gott, so war es doch nicht sein Gott. Herr Haggin war sein Gott, und ein höherer Gott noch dazu. Selbst er erkannte das, ohne weiter darüber nachzudenken. Sein Herr Haggin trug Hosen und Schuhe. Dieser Gott neben ihm auf dem Deck glich mehr einem Schwarzen. Nicht allein, daß er keine Hosen trug und barfüßig und barbeinig ging, er hatte um die Lenden, gerade wie ein Schwarzer, einen strahlend bunten Schurz, der wie ein Schottenrock fast bis auf die sonnenverbrannten Knie fiel.

Kapitän Van Horn war ein stattlicher Mann und ein Mann, der Eindruck machte, was Jerry allerdings nicht wußte. Wenn je ein Holländer aus einem Rembrandtschen Bilde getreten ist, so war es Kapitän Van Horn, trotz der Tatsache, daß er in New York geboren war, wie seine Knickerbocker-Vorfahren vor ihm bis zurück zu jener Zeit, da New York noch nicht New York, sondern New Amsterdam hieß. Um seine Kleidung zu vervollständigen, trug er auf dem Kopfe einen großen, weichen Filzhut von entschieden Rembrandtscher Wirkung, der schief auf dem einen Ohr saß; eine weißbaumwollene Fünfzigpfennigunterjacke bedeckte seinen Oberkörper, und von einem Gürtel um seinen Leib baumelten ein Tabaksbeutel, ein Klappmesser, einige Patronenbündel und eine riesige automatische Pistole in einem Lederhalfter herab.

Am Strande erhob Biddy, die eine Zeitlang ihren Kummer unterdrückt hatte, von neuem ihre Stimme, als sie das Winseln Jerrys hörte. Und Jerry, der einen Augenblick innehielt, um zu lauschen, hörte Michael neben ihr herausfordernd über das Wasser bellen und sah, ohne sich dessen bewußt zu sein, Michaels welkes Ohr, das wie stets aufwärts zeigte. Während Kapitän Van Horn und Steuermann Borckman Befehle erteilten, und während Großsegel und Besan der Arangi hochzugehen begannen, machte Jerry dem ganzen Weh seines Herzens Luft in einer Klage, die am Ufer Bob Derby gegenüber »die hervorragendste Gesangsleistung« nannte, die er je von einem Hund gehört hätte, und die, wäre der Ton etwas voller gewesen, Caruso Ehre gemacht hätte. Aber dieser Gesang war zuviel für Haggin, der, sobald er wieder an Land war, Biddy pfiff und sich schnell vom Strande entfernte.

Als Jerry sie verschwinden sah, ergab er sich einigen noch carusoartigeren Leistungen, zum größten Vergnügen eines aus Pennduffryn Retournierten, der neben ihm stand. Er verlachte und höhnte Jerry mit einem Falsettlachen, das eher an die Laute der Bewohner von Dschungelbäumen, halb Vogel und halb Mensch, erinnerte als an einen Menschen, der ganz Mensch und daher Gott war. Das wirkte auf Jerry als ein ausgezeichnetes Gegengift. Der Zorn, daß ein gewöhnlicher Nigger ihn auslachte, überwältigte Jerry, und im nächsten Augenblick hatten seine nadelscharfen Welpenzähne dem verblüfften Neger lange parallele Schrammen in den bloßen Schenkel gerissen, aus denen sofort das Blut drang. Der Neger sprang erschrocken beiseite, aber in Jerrys Adern rollte das Blut von Terrence, dem Prächtigen, und wie sein Vater es vor ihm getan, ließ er nicht nach, ehe er auch den andern Schenkel des Schwarzen mit einem roten Muster versehen hatte.

In diesem Augenblick war der Anker gelichtet, das Großsegel gesetzt, und Kapitän Van Horn, dessen scharfem Blick keine Einzelheit des Zwischenfalls entgangen war, wandte sich, nachdem er dem schwarzen Rudergast einen Befehl erteilt hatte, um Jerry Beifall zu spenden.

»Immer los, Jerry!« feuerte er ihn an. »Krieg ihn! Nieder mit ihm! Auf ihn! Krieg ihn! Krieg ihn!«

Um sich zu verteidigen, trat der Neger nach Jerry, der, statt wegzulaufen, vorwärtsging – auch ein Erbteil von Terrence –, dem nackten Fuß auswich und das schwarze Bein mit einer neuen Reihe roter Striche versah. Das war zuviel, und der Schwarze, der mehr Van Horn als Jerry fürchtete, machte kehrt und floh nach vorn, wo er auf die acht Lee-Enfield-Gewehre kletterte, die unter Bewachung eines Mannes von der Besatzung oben auf dem Kajütsskylight lagen. Jerry stürmte zum Skylight, sprang hoch und fiel wieder zurück, bis Kapitän Van Horn ihn zu sich rief.

»Ein richtiger Niggerjäger, dies Hündchen, ein richtiger Niggerjäger!« vertraute Van Horn Borckman an, während er sich niederbeugte, um Jerry zu streicheln und ihm das wohlverdiente Lob zu erteilen.

Und unter der liebkosenden Hand dieses Gottes – das war er ja, wenn er auch keine Hosen trug – vergaß Jerry für einen Augenblick das Schicksal, das ihn betroffen hatte.

»Das ist ein Löwenhund – mehr ein Airedale als ein irischer Terrier«, sagte Van Horn, immer noch Jerry streichelnd, zu seinem Steuermann. »Sehen Sie, wie groß er schon ist. Sehen Sie sich den Knochenbau an. Was für eine Brust! Aus dem wird mal was! Den sollen Sie mal sehen, wenn er erst in das richtige Verhältnis zu seinen Beinen hineingewachsen ist!«

Jerry war gerade sein Kummer wieder eingefallen, und er wollte an die Reling stürzen, um nach Meringe zu starren, das von Sekunde zu Sekunde ferner und kleiner wurde, als ein Stoß des Südostpassats die Segel traf und die Arangi niederpreßte. Und das Deck hinab, das augenblicklich einen Winkel von fünfundvierzig Grad bildete, glitt und rutschte Jerry, während seine Krallen vergebens einen Halt auf der glatten Fläche suchten. Er landete am Fuße des Besanmastes, während Kapitän Van Horn, dessen scharfes Seemannsauge den Korallenflecken vor dem Bug sah, den Befehl »Hart Lee!« gab.

Borckman und der schwarze Rudergast wiederholten den Befehl, das Rad drehte sich, die Arangi schwang sich wie durch Zauberei in den Wind und richtete sich sofort wieder auf, während die Vorsegel flatterten und die Schoote hinüberschossen.

Jerry, dessen Gedanken noch in Meringe weilten, benutzte das wiedergewonnene Gleichgewicht, um sich zusammenzunehmen und an die Reling zu laufen. Aber er wurde durch das Krachen der Großschootblöcke gegen den schweren Deckbügel abgelenkt, als das Großsegel, prall im Winde, mit einem mächtigen Schwung über ihn hinwegfuhr. Er entging dem Segel durch einen wilden Sprung (der allerdings nicht den übertraf, den Van Horn machte, um ihm zu Hilfe zu kommen) und befand sich nun direkt unter dem Großbaum, während das mächtige Segel über ihm aufragte, als ob es im nächsten Augenblick niederstürzen und ihn zerschmettern wollte.

Es war die erste Erfahrung, die Jerry mit einem Segel machte. Er kannte diese Tiere nicht und noch weniger ihre Lebensweise, aber in ihm war noch aus der Zeit seiner frühesten Jugend die flammende Erinnerung an den Habicht lebendig, der aus den Wolken herab mitten auf den Hof geschossen war. Und in Erwartung dieses furchtbaren drohenden Stoßes kauerte er sich auf dem Deck zusammen. Über ihm, wie ein Blitz aus heiterm Himmel, war ein geflügelter Habicht, unfaßbar größer als der, dem er einst begegnet war. Aber in seinem Zusammenkauern lag keine Furcht. Es war nur ein Spannen, ein Sammeln aller Kräfte unter der Herrschaft seines Willens zum Sprung, um diesem ungeheuren, drohenden Etwas entgegenzugehen. Aber im Bruchteil einer Sekunde, so schnell, daß Jerry nicht einmal dazu kam, den Schatten dieses Dinges zu erreichen, war das Großsegel mit einem erneuten Krachen der Blöcke gegen den Bügel hinübergeschwungen und blähte sich auf der andern Halse. Van Horn war nichts davon entgangen. Er hatte schon früher junge Hunde gesehen, die über ihre erste Begegnung mit dem windfangenden, himmelverdunkelnden, schattenwerfenden Segel so erschrocken waren, daß sie fast Krämpfe bekamen. Dies war der erste Hund, den er unerschrocken mit gefletschten Zähnen springen sah, um sich mit dem mächtigen Unbekannten zu messen.

Von unmittelbarer Bewunderung erfüllt, hob Van Horn Jerry auf und nahm ihn auf den Arm.