Jezebels Tochter - Wilkie Collins - E-Book

Jezebels Tochter E-Book

Wilkie Collins

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Beschreibung

Ein Muss für Schmökerfans und Krimiliebhaber  Die Witwe Jezebel Fontaine tut alles, um ihre gutherzige, aber aufgrund ihres gesellschaftlichen Status nicht eben chancenreiche Tochter möglichst gut zu verheiraten. Jezebels Charme und Überzeugungskraft und nicht zuletzt der Besitz geheimnisvoller Giftfläschchen leisten ihr dabei gute Dienste. Allerdings hat sie nicht mit Mrs Wagner ge-rechnet, die im Haus des anvisierten Bräutigams zu tun hat. Von Natur aus misstrauisch, kommt die alte Dame der Lösung der rätselhaften Giftanschläge immer näher. Doch es ist ein Spiel gegen die Zeit ...Wilkie Collins spinnt ein feines Geflecht aus Geheimnissen und Intrigen, das bis zur letzten Seite fasziniert. 

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Seitenzahl: 508

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Wilkie Collins

Jezebels Tochter

Criminal-Roman

Aus dem Englischen übertragen von Thomas Eichhorn

Deutscher Taschenbuch Verlag

Neuausgabe 2014

Erstmals veröffentlicht 1997 im

Deutschen Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Titel der Originalausgabe:

›Jezebel’s Daughter‹

(London 1880)

© der deutschsprachigen Ausgabe:

1997 Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: ›The Soul of the Rose‹ (1908)

von John William Waterhouse

(bridgemanart.com/Private Collection)

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-42314-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14333-2

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ERSTER TEIL

MR. DAVID GLENNEY BEFRAGT SEIN GEDÄCHTNIS UND BEGINNT DIE ERZÄHLUNG

ERSTES KAPITEL

Was Jezebels Tochter betrifft, so beginnen meine Erinnerungen mit dem Tode zweier ausländischer Herren, die am selben Tage desselben Jahres in zwei verschiedenen Ländern starben.

Beide waren sie auf ihre Weise Männer von einiger Bedeutung, und beide einander unbekannt.

Mr. Ephraim Wagner, Kaufmann (ehemals in Frankfurt am Main ansässig), starb am dritten Septembertage 1828 in London.

Doktor Fontaine – zu seiner Zeit für Entdeckungen in der experimentellen Chemie berühmt – starb am dritten Septembertage 1828 in Würzburg.

Sowohl der Kaufmann als auch der Doktor ließen Witwen zurück. Die Witwe des Kaufmanns (eine Engländerin) war kinderlos geblieben. Die Witwe des Doktors (aus einer süddeutschen Familie stammend) hatte eine Tochter zu ihrem Troste.

Zu dieser fernen Zeit – ich schreibe diese Zeilen im Jahre 1878 und blicke ein halbes Jahrhundert zurück – war ich ein junger Mann und arbeitete in Mr. Wagners Büro. Als Neffen seiner Gattin hatte er mich in freundlichster Weise in seinen Hausstand aufgenommen. Was ich nun erzählen werde, sah und hörte ich mit eigenen Augen und Ohren. Mein Gedächtnis ist verläßlich. Wie andere alte Leute entsinne ich mich an Ereignisse, die sich zu Beginn meines Lebens zutrugen, weit deutlicher als an solche, die erst zwei oder drei Jahre zurückliegen.

Der gute Mr. Wagner war viele Monate hindurch leidend gewesen, aber die Ärzte hatten nicht unmittelbar um sein Leben gefürchtet. Er überführte sie des Irrtums und nahm sich die Freiheit zu sterben – zu einem Zeitpunkt, da sie alle erklärten, daß die erdenklichste Hoffnung auf seine Genesung bestehe. Als dieses Leid über seine Frau hereinbrach, war ich im Londoner Büro abwesend, da ich mich auf Geschäftsreise zu unserer Zweigstelle in Frankfurt am Main befand, die von Mr. Wagners Geschäftspartnern geleitet wurde. Der Tag meiner Rückkehr war der Tag nach dem Begräbnis. Er war auch zur Testamentseröffnung bestimmt worden. Mr. Wagner, muß ich hinzufügen, hatte die britische Staatsbürgerschaft angenommen, und so war sein Testament von einem englischen Rechtsanwalt aufgesetzt worden.

Die vierte, fünfte und sechste Klausel des Testaments sind die einzigen Abschnitte dieses Schriftstückes, die hier erwähnt werden müssen.

Die vierte Klausel übereignete das gesamte Vermögen des Erblassers, sowohl an Grundbesitz als auch an Barvermögen, uneingeschränkt seiner Witwe. In der fünften Klausel lieferte er einen weiteren Beweis des unbedingten Vertrauens, das er in sie setzte – er bestimmte sie zur alleinigen Testamentsvollstreckerin.

Die sechste und letzte Klausel begann folgendermaßen:

»Während meiner langen Krankheit hat meine liebe Frau den Posten meiner Sekretärin und Bevollmächtigten bekleidet. Sie hat sich so eingehend mit den Grundsätzen vertraut gemacht, nach denen ich mein Geschäft geführt habe, daß sie meine würdigste Nachfolgerin ist. Ich bezeuge ihr nicht nur mein volles Vertrauen und meine aufrichtige Dankbarkeit, sondern handle zugleich im besten Interesse der Firma, deren Vorsitz ich führe, wenn ich hiermit meine Witwe, mit allen diesbezüglichen Befugnissen und Vorrechten, zu meiner alleinigen Geschäftsnachfolgerin bestimme.«

Wir beide, der Rechtsanwalt und ich, blickten meine Tante an. Sie war in ihren Sessel zurückgesunken; ihr Gesicht verbarg sie in ihrem Taschentuch. Wir warteten respektvoll ab, bis sie sich genügend erholt habe, um uns ihre Wünsche mitzuteilen. Die Liebe und Achtung ihres Mannes, wie sie in den letzten Worten seines Testaments zum Ausdruck gekommen waren, hatten sie vollkommen überwältigt. Erst nachdem ihr ein Tränenausbruch etwas Erleichterung gebracht hatte, wurde sie sich wieder unserer Gegenwart bewußt und hatte sich soweit gesammelt, daß sie sprechen konnte.

»In ein paar Tagen werde ich ruhiger sein«, sagte sie. »Besuchen Sie mich Ende der Woche. Ich habe Ihnen beiden etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Der Rechtsanwalt erlaubte sich, eine Frage zu stellen. »Bezieht es sich in irgendeiner Form auf das Testament?« erkundigte er sich.

Sie schüttelte den Kopf. »Es bezieht sich«, antwortete sie, »auf den letzten Wunsch meines Gatten.«

Sie verbeugte sich und ging auf ihr Zimmer.

Der Rechtsanwalt blickte ihr, als sie entschwand, mit ernster und zweifelnder Miene nach. »In meiner langjährigen Berufspraxis«, sagte er und wandte sich mir zu, »ist mir manch nützliche Lehre zuteil geworden. Ihre Tante hat mir soeben eine dieser Lehren wieder in Erinnerung gerufen.«

»Darf ich fragen, welche, Sir?«

»Gewiß.« Er nahm meinen Arm und verkündete mir seine Lehre erst, nachdem wir das Haus verlassen hatten. »Mißtraue stets dem letzten Wunsch eines Mannes auf seinem Sterbebett – wenn er ihn nicht seinem Rechtsanwalt mitgeteilt und im Testament zum Ausdruck gebracht hat.«

Damals hielt ich dies für eine ziemlich beschränkte Sichtweise seinerseits. Wie konnte ich vorhersehen, daß künftige Ereignisse im Leben meiner Tante ihm recht geben würden? Wenn sie sich damit begnügt hätte, die Pläne und Projekte ihres Mannes nach seinem Tode mit ihm ruhen zu lassen, und wenn sie niemals jene übereilte Reise zu unserem Zweigbüro in Frankfurt unternommen hätte – aber welchen Sinn hat es, zu mutmaßen, was dann vielleicht geschehen oder auch nicht geschehen wäre? Meine Aufgabe ist es, auf diesen Seiten zu beschreiben, was tatsächlich geschehen ist. So will ich denn zu meiner Aufgabe zurückkehren.

ZWEITES KAPITEL

Ende der Woche war die Witwe bereit, uns zu empfangen.

Um ihrer Beschreibung Genüge zu tun: sie war eine kleine Dame mit einer bemerkenswert hübschen Figur, einem reinen und blassen Teint, einer breiten, niedrigen Stirn und großen, klugen, stetig strahlenden grauen Augen. Da sie einen weit älteren Mann geheiratet hatte, war sie noch immer (nach vielen Jahren des Ehelebens) eine auffallend attraktive Frau. Aber sie schien sich ihrer persönlichen Vorzüge niemals bewußt oder eitel zu sein auf die vortrefflichen Fähigkeiten, die sie fraglos besaß. Unter gewöhnlichen Umständen war sie ein außerordentlich sanftes und unauffälliges Wesen. Aber bei passender Gelegenheit bewies sie augenblicklich, über welche Entschlußkraft sie verfügte. In meinem ganzen Leben bin ich keiner Frau von solcher Festigkeit begegnet, wenn sie erst einmal zur Tat schritt.

Unverzüglich trug sie uns ihr Anliegen vor, ohne mit einleitenden Worten ihre Zeit zu verschwenden. Die Ärmste! Die Spuren einer schlaflosen und tränenreichen Nacht standen ihr ins Gesicht geschrieben. Aber sie nahm deshalb keinerlei Nachsicht für sich in Anspruch. Als sie von ihrem toten Gatten sprach, beherrschte sie sich – bis auf ein leichtes Zittern in ihrer Stimme – mit einem Mut, der des Mitleids und der Bewunderung zugleich wert war.

»Sie wissen beide«, begann sie, »daß Mr. Wagner ein Mann war, der seinen eigenen Kopf benutzen konnte. Er hatte Vorstellungen von seiner Pflicht seinen armen und geplagten Mitgeschöpfen gegenüber, die den gängigen Meinungen, wie sie in der Welt um uns herrschen, weit voraus sind. Ich liebe und ehre sein Andenken – und werde (so Gott will) seine Ideen in die Tat umsetzen.«

Der Rechtsanwalt blickte bereits unbehaglich drein. »Beziehen Sie sich auf Mr. Wagners politische Ansichten, Madam?« erkundigte er sich.

Vor fünfzig Jahren hat man die politischen Ansichten meines alten Meisters schlichtweg für umstürzlerisch gehalten. Heutzutage – da seine Ansichten unter der allgemeinen Zustimmung der Nation durch Parlamentsbeschlüsse gebilligt worden sind – hätten ihn die Leute einen ›gemäßigten Liberalen‹ genannt und für einen Mann gehalten, der dem Gang des modernen Fortschritts mit besonnener Zurückhaltung gegenüberstehe.

»Ich habe nichts über Politik zu sagen«, antwortete meine Tante. »In erster Linie möchte ich zu Ihnen über die Meinung meines Gatten zur Frage der Frauenbeschäftigung sprechen.«

Auch hier sind die Ketzereien meines Meisters aus dem Jahre 1828 zu den orthodoxen Prinzipien des Jahres 1878 geworden. Als er über den Gegenstand unabhängig nachgedacht hatte, war er zu der Schlußfolgerung gekommen, daß viele Beschäftigungen ausschließlich Männern vorbehalten blieben, während es doch höchst angemessen sei, sie fähigen und verdienstvollen Frauen ebenso zugänglich zu machen. Die Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs anzuerkennen bedeutete für einen Mann von Mr. Wagners Charakter, ohne die geringste Verzögerung seinen Überzeugungen gemäß zu handeln. Da er zu dieser Zeit gerade sein Londoner Geschäft erweiterte, vergab er die neu zu besetzenden Stellen ohne Ansehen der Person an Männer wie Frauen gleichermaßen. An das Aufsehen, das diese mutige Neuerung damals in London hervorrief, können sich alte Leute wie ich bis auf den heutigen Tag erinnern. Nichtsdestoweniger war das kühne Experiment meines Meisters – trotz des Skandals – von Erfolg gekrönt gewesen.

»Wenn mein Gatte noch lebte«, fuhr meine Tante fort, »hätte er zweifelsohne die Absicht, dem Beispiel, das er bereits in London gegeben hat, in unserem Frankfurter Hause zu folgen. Auch dort vergrößern wir unser Geschäft und beabsichtigen, weitere Beschäftigte einzustellen. Sobald ich zu der Anstrengung in der Lage bin, werde ich nach Frankfurt gehen und deutschen Frauen dieselben Möglichkeiten bieten, wie sie mein Gatte bereits den englischen Frauen in London geboten hat. Ich besitze seine Notizen, wie diese Reform am besten zu bewerkstelligen sei, und von ihnen will ich mich leiten lassen. Und ich denke daran, dich, David«, fügte sie, sich an mich wendend, hinzu, »zu unseren Frankfurter Geschäftspartnern Herrn Keller und Herrn Engelmann zu senden und sie anzuweisen, einige der freien Stellen im Büro solange unbesetzt zu lassen, bis ich nachkommen kann.« Sie hielt inne und blickte den Rechtsanwalt an. »Haben Sie irgend etwas gegen meinen Vorschlag einzuwenden?« fragte sie.

»Ich sehe einige Risiken«, sagte er vorsichtig.

»Was für Risiken?«

»Der verstorbene Mr. Wagner verfügte in London über gewisse Möglichkeiten, Erkundigungen einzuziehen über den Charakter der Frauen, die er in sein Büro aufnahm. In einer fremden Stadt wie Frankfurt könnte es für Sie nicht so leicht werden, die Gefahr abzuwenden, daß …« Er zögerte, im Augenblick unfähig, sich hinreichend deutlich und delikat zugleich auszudrücken.

Meine Tante machte keine Zugeständnisse an seine Verlegenheit.

»Sprechen Sie sich nur offen aus, Sir«, sagte sie ein wenig frostig. »Welche Gefahr fürchten Sie?«

»Sie sind eine großmütige Natur, Madam, und großmütige Naturen werden leicht ausgenutzt. Ich fürchte, daß Frauen von schlechtem Charakter oder, schlimmer noch, Frauen, die …«

Wieder hielt er inne. Diesmal war er von einem Klopfen an der Tür unterbrochen worden.

Es war unser Bürovorsteher, der darum bat, eintreten zu dürfen. Meine Tante hob abwehrend die Hand. »Entschuldigen Sie, Mr. Hartrey – einen Augenblick noch, dann stehe ich zu Ihrer Verfügung.« Sie wandte sich dem Rechtsanwalt zu. »Was sind das für Frauen, die mich wahrscheinlich ausnutzen werden?« fragte sie.

»Frauen, die anderweitig gewiß Ihrer Nächstenliebe wert sind, aber doch zweifelhaften Umgang haben mögen«, erwiderte der Rechtsanwalt. »Eben jene Frauen – wie ich die plötzlichen Aufwallungen Ihres Mitleids zu kennen glaube –, denen zu helfen Sie aufs eifrigste bestrebt sein würden und deren schädlicher häuslicher Einfluß nichtsdestoweniger zu einer ständigen Quelle von Ärger und Besorgnis werden könnte.«

Meine Tante gab keine Antwort. Im Augenblick schienen die Einwände des Rechtsanwalts sie zu verdrießen. Sie wandte sich an Mr. Hartrey und fragte ihn ziemlich schroff, was er ihr mitzuteilen habe.

Unser Bürovorsteher war ein Gentleman von Methode und alter Schule. Er entschuldigte sich zunächst in großer Betretenheit für die Störung und förderte schließlich einen Brief zutage.

»Erweisen Sie mir die Ehre, Madam, diesen Brief zu lesen, sobald Sie sich wieder den geschäftlichen Dingen zuwenden können – und vergeben Sie mir einstweilen, daß ich mir lieber eine Freiheit im Dienst herausgenommen habe, als Sie so kurz nach dem Tode meines lieben und verehrten Herrn in Ihrem Leid zu belästigen.« Dies waren recht förmliche Wendungen; aber in der Stimme des Mannes lag echtes Gefühl. Meine Tante reichte ihm die Hand. Er küßte sie mit Tränen in den Augen.

»Was immer Sie getan haben, haben Sie recht getan, dessen bin ich gewiß«, sagte sie freundlich. »Von wem ist der Brief?«

»Von Herrn Keller aus Frankfurt, Madam.«

Meine Tante nahm ihm sofort den Brief aus der Hand und las ihn aufmerksam durch. Er ist von größtem Belang für noch ausstehende Teile dieser Erzählung. Demzufolge lege ich hier eine Abschrift vor:

»Streng vertraulich.

Lieber Mr. Hartrey!

Es ist mir unmöglich, mich in den ersten Tagen ihrer Trauer an Mrs. Wagner persönlich zu wenden. Ich bin in dringender Sorge und erlaube mir daher, Ihnen zu schreiben als demjenigen, der gegenwärtig mit der Leitung unseres Londoner Büros beauftragt ist.

Mein einziger Sohn Fritz beendet soeben seine Studien an der Würzburger Universität. Er hat, wie ich leider sagen muß, eine Zuneigung zu einer jungen Frau gefaßt, der Tochter eines Würzburger Doktors, der vor kurzem verstorben ist. Ich halte das Mädchen für eine ganz und gar ehrbare und tugendhafte Person. Aber ihr Vater hat sie nicht nur in Armut zurückgelassen, sondern – schlimmer noch – er ist verschuldet gestorben. Darüber hinaus besitzt ihre Mutter keinen guten Ruf in der Stadt. Es heißt unter anderem, daß vor allem ihre Verschwendungssucht für die Schulden ihres verstorbenen Gatten verantwortlich sei. Unter diesen Umständen möchte ich die Verbindung lösen, solange die beiden jungen Leute durch des Doktors kürzlichen Tod vorübergehend getrennt sind. Fritz hat den Plan aufgegeben, den Beruf eines Mediziners zu ergreifen, und meinen Vorschlag angenommen, mir im Geschäft nachzufolgen. Ich habe beschlossen, ihn nach London zu schicken, damit er sich in unserem Hauptbüro kaufmännisches Wissen aneigne.

Mein Sohn gehorcht mir nur widerstrebend; aber er ist ein rechtschaffener und gehorsamer Junge und beugt sich seines Vaters Wünschen.Sie dürfen ein, zwei Tage nach Erhalt dieser Zeilen mit seiner Ankunft rechnen. Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie ihm in einer Ihrer Abteilungen ein bescheidenes Plätzchen einräumten und ihn so viel wie möglich persönlich beaufsichtigten, bis ich es wagen darf,mich direkt an Mrs. Wagner zu wenden, der ich Sie meine aufrichtige Anteilnahme zu übermitteln bitte.«

Meine Tante gab ihm den Brief zurück. »Ist der junge Mann bereits eingetroffen?« fragte sie.

»Er ist gestern eingetroffen, Madam.«

»Und haben Sie eine Beschäftigung für ihn gefunden?«

»Ich habe mir erlaubt, ihn in der Korrespondenzabteilung unterzubringen«, erwiderte der Bürovorsteher. »Gegenwärtig fertigt er Briefabschriften an, und nach Geschäftsschluß steht ihm (bis auf weitere Anweisungen) ein Zimmer in meinem Hause zur Verfügung. Ich hoffe, ich habe richtig gehandelt, Madam?«

»Sie haben großartig gehandelt, Mr. Hartrey. Ich will Ihnen auch sogleich einen Teil der Verantwortung abnehmen. Mein Kummer soll nicht zur Vernachlässigung meiner Pflichten gegenüber den Geschäftspartnern meines Gatten führen. Ich werde persönlich mit dem jungen Mann sprechen. Bringen Sie ihn heute abend nach Geschäftsschluß hierher. Und bleiben Sie noch; ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die sich auf Angelegenheiten meines Gatten bezieht, an denen ich äußerstes Interesse habe.« Mr. Hartrey kehrte zu seinem Stuhl zurück. Nach einem kurzen Zögern stellte meine Tante ihre Frage – in Worten, die uns alle drei in Erstaunen versetzten.

DRITTES KAPITEL

»Mein Gatte unterhielt Verbindungen zu zahlreichen wohltätigen Einrichtungen«, begann die Witwe. »Gehe ich recht in der Annahme, daß er ein Vorstandsmitglied des Bethlehem Hospitals war?«

Ich sah, wie der Rechtsanwalt bei dieser Erwähnung der berühmten Nervenheilanstalt, die bei den Londonern unter der volkstümlichen Bezeichnung ›Bedlam‹ bekannt ist, unruhig wurde und einen Blick mit dem Bürovorsteher tauschte. Mr. Hartrey antwortete mit offensichtlichem Widerstreben; er sagte: »Ganz recht, Madam« – und schwieg dann. Der Rechtsanwalt, als der kühnere der beiden, fügte eine Warnung hinzu, die er direkt an meine Tante richtete.

»Ich erlaube mir zu bemerken«, sagte er, »daß es bezüglich der Position Mr. Wagners im Hospital Umstände gibt, die es wünschenswert machen, den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen. Mr. Hartrey wird meine Worte bestätigen, wenn ich Ihnen sage, daß Mr. Wagners Vorschläge hinsichtlich einer Reform der Behandlungsmethoden …«

»Die Vorschläge eines barmherzigen Mannes waren«, unterbrach ihn meine Tante, »der die Grausamkeit in jeglicher Form verabscheute und der die Folterung armer Geisteskranker mittels Peitschen und Ketten für ein Verbrechen an der Menschlichkeit hielt. Ich stimme vollkommen mit ihm überein. Wenn ich auch nur eine Frau bin, werde ich doch diese Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ich werde nächsten Montagmorgen ins Hospital gehen – und möchte Sie heute darum bitten, mich zu begleiten.«

»In welcher Eigenschaft werde ich die Ehre haben, Sie zu begleiten?« fragte der Rechtsanwalt in seinem kältesten Tonfall.

»In Ihrer Eigenschaft als Jurist«, erwiderte meine Tante. »Ich habe den Vorstehern vielleicht einen Vorschlag zu unterbreiten, und ich zähle darauf, daß er dank Ihrer Erfahrung in angemessener Form ausgedrückt wird.«

Der Rechtsanwalt war noch nicht zufriedengestellt. »Entschuldigen Sie, wenn ich mir eine weitere Frage erlaube«, beharrte er. »Beruht Ihr Vorschlag, die Irrenanstalt zu besichtigen, auf irgendeinem Wunsch des verstorbenen Mr. Wagner?«

»Mit Sicherheit nicht! Mein Gatte hat es stets vermieden, mit mir über dies traurige Thema zu sprechen. Wie Sie gehört haben, ließ er mich sogar in Unwissenheit darüber, ob er dem Vorstand der Anstalt angehöre. Nicht eine Anspielung auf irgendeinen Umstand seines Lebens, die mich hätte ängstigen oder beunruhigen können, ist je über seine Lippen gekommen.« Ihre Stimme versagte, als sie dem Andenken ihres Mannes diesen Tribut zollte. Sie wartete ab, bis sie sich ein wenig erholt hatte. »Aber in der Nacht vor seinem Tode«, fuhr sie dann fort, »als er halb wachend, halb schlafend lag, hörte ich, wie er ein Selbstgespräch führte über etwas, das er unbedingt tun wolle, wenn ihm Genesung beschieden sein sollte. Seither habe ich sein persönliches Tagebuch eingesehen und darin Eintragungen gefunden, die mir das erklärten, was ich an seinem Bett nicht zur Gänze verstanden hatte. Ich weiß mit Bestimmtheit, daß die hartnäckige Feindseligkeit seiner Kollegen ihn veranlaßt hatte, auf eigenes Risiko und eigene Kosten den Versuch zu machen, wie sich Geduld und Freundlichkeit im Umgang mit Geisteskranken auswirken würden. Im Bethlehem Hospital befindet sich gegenwärtig ein Unglücklicher, den man ohne jeden Nächsten auf der Straße gefunden hat und den mein edel gesinnter Gatte zum ersten Objekt seines humanen Experiments ausersehen hatte. Er hegte die Hoffnung, vermittels des Einflusses einer Persönlichkeit, die dem Königlichen Haushalt angehört, seine Entlassung aus einem Leben der Qual zu bewirken. Sie wissen bereits, daß mir das Andenken der Vorhaben und Wünsche meines Gatten heilig ist. Ich bin entschlossen, jenes arme, in Ketten liegende Geschöpf zu besuchen, das er, wenn er noch lebte, gerettet hätte; und ich will und werde sein Werk der Barmherzigkeit vollenden, wenn mein Gewissen mir sagt, daß eine Frau dies tun sollte.«

Als wir diese kühne Ankündigung vernahmen – ich schäme mich beinahe, es in diesen aufgeklärten Zeiten zu bekennen –, erhoben wir alle drei Protest. Der zurückhaltende Mr. Hartrey war beinahe so laut und beredsam wie der Rechtsanwalt, und ich stand Mr. Hartrey kaum nach. Vielleicht darf man zu unserer Entschuldigung sagen, daß einige der höchsten Autoritäten in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ebenso voreingenommen und ebenso unwissend gewesen wären wie wir. Wir mochten jedoch sagen, was wir wollten, unsere Vorhaltungen beeindruckten meine Tante nicht im geringsten. Wir erreichten lediglich,daß sich der resolute Zug ihres Wesens durchsetzte.

»Ich möchte Sie nicht länger aufhalten«, sagte sie zum Rechtsanwalt. »Überlegen Sie sich im Laufe des Tages Ihre Entscheidung. Wenn Sie es ablehnen, mich zu begleiten, gehe ich alleine. Wenn Sie meinen Vorschlag annehmen, senden Sie mir heute abend eine kurze Nachricht.«

Damit war die Unterredung zu Ende.

Am frühen Abend erschien der junge Keller und wurde meiner Tante und mir vorgestellt. Wir mochten ihn beide auf den ersten Blick. Er war ein gutaussehender, blonder junger Mann von frischer Gesichtsfarbe und ungezwungenem, gewinnendem Wesen – ein wenig traurig und bedrückt, was zweifelsohne der erzwungenen Trennung von seinem geliebten jungen Fräulein in Würzburg geschuldet war. Meine Tante bot ihm mit ihrer üblichen Freundlichkeit und Umsicht anstelle seines Zimmers in Mr. Hartreys Haus ein Zimmer neben dem meinen an. »Mein Neffe David spricht deutsch, und er wird dafür sorgen, daß Sie sich bei uns wohlfühlen.« Mit diesen Worten ließ unsere gute Herrin uns beide allein.

Fritz eröffnete das Gespräch mit dem gesunden Selbstvertrauen eines deutschen Studenten.

»Sie sprechen meine Sprache«, begann er. »Das ist zweifellos ein Band, das uns vereint. Ich kann Englisch recht gut lesen und schreiben, aber meine Aussprache ist miserabel. Haben wir noch andere Vorlieben gemein? Rauchen Sie vielleicht?«

Der arme Mr. Wagner hatte mir das Rauchen beigebracht. Ich antwortete meinem neuen Bekannten, indem ich ihm eine Zigarre anbot.

»Noch ein Band, das uns vereint«, rief Fritz aus. »Von nun an müssen wir Freunde sein. Geben Sie – gib mir deine Hand.« Wir tauschten einen Händedruck. Er zündete seine Zigarre an, musterte mich eingehend, schaute dann wieder weg und blies mit einem schweren Seufzer die erste Rauchwolke aus.

»Ich frage mich, ob es vielleicht noch ein drittes Band gibt, das uns vereint?« sagte er nachdenklich. »Bist du einer dieser steifen Engländer? Sag mir, Freund David, darf ich zu dir mit der Freiheit sprechen, wie sie sich nur ein zutiefst Unglücklicher herausnehmen darf?«

»So frei … Sie es wünschen«, antwortete ich. Er zögerte.

»Du mußt mir ein wenig Mut machen«, sagte er. »Duze mich. Nenne mich Fritz.«

Ich nannte ihn Fritz. Er zog seinen Stuhl zu mir heran und legte mir freundschaftlich seine Hand auf die Schulter. Mir kam der Gedanke, daß ich ihn vielleicht etwas zu vorschnell ermutigt haben mochte.

»Bist du verliebt, David?« Er stellte diese Frage ebenso gelassen, als hätte er mich gefragt, wie spät es sei.

Ich war jung genug, um zu erröten. Fritz nahm mein Erröten als hinreichende Antwort. »Mit jedem Augenblick, den ich in deiner Gesellschaft verbringe«, rief er begeistert aus, »mag ich dich lieber – finde ich dich noch sympathischer. Du bist verliebt. Ein Wort noch – stehen dir Hindernisse im Wege?«

Mir standen Hindernisse im Wege. Sie war zu alt für mich und zu arm für mich – und wie die Zeit verging, wurde nichts daraus. Ich gestand ein, daß es Hindernisse gebe, während ich es mit der Scheu des Engländers vermied, auf Einzelheiten einzugehen. Meine Antwort reichte Fritz vollkommen aus – mehr als vollkommen. »Gütiger Himmel!« rief er aus, »wie unser Schicksal sich gleicht! Beide sind wir unglücklich – unglücklich im äußersten Maße! David, ich kann mich nicht länger zurückhalten; ich muß dich entschieden umarmen!«

Ich widerstand nach besten Kräften – aber er war der Stärkere. Seine langen Arme erwürgten mich beinahe; sein borstiger Schnauzbart zerkratzte meine Wange. In einer ersten unfreiwilligen Regung von Abscheu ballte ich meine Faust. Der junge Keller hegte nicht die leiseste Ahnung (allein meine englischen Brüder werden mich verstehen), wie nahe meine Faust und sein Kopf daran waren, persönliche Bekanntschaft miteinander zu schließen. Andere Länder, andere Sitten. Heute, da ich dies schreibe, kann ich darüber lächeln.

Fritz nahm wieder Platz. »Nun ist mir leicht ums Herz, da ich es dir ausschütten kann«, sagte er. »Noch nie, mein Freund, gab es eine so romantische Liebesgeschichte wie die meine. Sie ist das süßeste Mädchen auf der Welt. Dunkel, schlank, reizvoll, anmutig, entzückend, gerade achtzehn. Das Ebenbild ihrer verwitweten Mutter, als sie so alt war, nehme ich an. Sie heißt Minna. Sie ist Madame Fontaines einzige Tochter. Madame Fontaine ist ein wahrhaft herrliches Geschöpf, eine römische Matrone – und doch das Opfer von Neid und Verleumdung. Soll man es glauben? In Würzburg gibt es Elende (ihr Mann war Chemieprofessor an der Universität) – Elende, sage ich, die die Mutter meiner Minna Jezebel nennen und meine Minna Jezebels Tochter! Ich habe mich dreimal mit meinen Kommilitonen duelliert, um diese eine Beleidigung zu rächen. Ach, David! und noch jemand ist von diesen gemeinen Verleumdungen angesteckt worden – eine mir heilige Person – mein Erzeuger! Ist es nicht furchtbar? Mein guter Vater erweist sich in dieser einen Angelegenheit als Tyrann, erklärt, daß ich niemals Jezebels Tochter heiraten werde, verbannt mich durch väterlichen Befehl in dies fremde Land und setzt mich auf einen Büroschemel, um Briefe zu kopieren. Ha! er kennt mein Herz nicht. Es gehört meiner Minna, und ihres gehört mir. In Leib und Seele, in Zeit und Ewigkeit sind wir eins. Siehst du meine Tränen? Sprechen sie nicht für mich? Das Herz wird einem leichter, wenn man weint. Es gibt ein deutsches Volkslied darüber. Wenn ich mich etwas beruhigt habe, werde ich es dir vorsingen. Die Musik ist ein großer Tröster; die Musik ist die Freundin der Liebe. Auch darüber gibt es ein deutsches Volkslied.« Er wischte sich plötzlich die Tränen aus den Augen und stand auf; anscheinend war ihm ein neuer Gedanke gekommen. »Hier ist es furchtbar langweilig«, sagte er. »Ich bin es nicht gewohnt, die Abende zu Hause zu verbringen. Gibt es in London Musik? Hilf mir, Minna für ein, zwei Stunden zu vergessen. Bring mich dorthin, wo es Musik gibt.«

Ich war seiner Schwärmereien bereits mehr als überdrüssig und für jede Abwechslung dankbar. So half ich ihm, Minna bei einem Vauxhall-Konzert zu vergessen. Er hielt dafür, daß es unseren englischen Orchestern an Geist und Finesse fehle. Dafür tat er später unserem englischen Ale alle Ehre an. Als wir die Vauxhall Gardens verließen, sang er mir eines seiner deutschen Volkslieder mit einer Leidenschaftlichkeit vor, die jeden in der Nachbarschaft, der über einen leichten Schlummer verfügte, aufgeweckt haben muß.

Als ich mich in mein Schlafzimmer zurückzog, fand ich einen geöffneten Brief auf meinem Toilettentisch vor. Er war vom Rechtsanwalt an meine Tante gerichtet und lautete dahingehend, daß er sich entschieden habe, sie ins Irrenhaus zu begleiten – ohne daß er sich zu weiteren Zugeständnissen hinreißen ließ. Meine Tante hatte mir den Brief zum Lesen überlassen und mit Bleistift eine Zeile daruntergeschrieben:

»Du kannst mit uns kommen, wenn du möchtest.«

Der Brief hatte meine heftige Neugier geweckt. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich beschloß, beim Besuch in Bedlam dabei zu sein.

VIERTES KAPITEL

Am vereinbarten Montag waren wir bereit, meine Tante ins Irrenhaus zu begleiten.

Ob sie ihrem eigenen Urteil mißtraute oder ob sie sich für die unbesonnene Handlung, die zu begehen sie im Begriff stand, so vieler Zeugen wie möglich zu versichern wünschte, kann ich nicht sagen. Jedenfalls dehnte sie zunächst die Einladung, die sie bereits dem Rechtsanwalt und mir gegenüber ausgesprochen hatte, auch auf Mr. Hartrey und Fritz Keller aus.

Beide lehnten es ab, uns zu begleiten. Der Bürovorsteher entschuldigte sich mit dienstlichen Angelegenheiten; es sei der Tag zur Erledigung der Auslandskorrespondenz, und er könne seinen Schreibtisch nicht verlassen. Fritz erfand keine Ausrede; er gestand auf seine freimütige Weise die Wahrheit. »Ich habe Abscheu vor Irren«, sagte er, »sie entsetzen und verstören mich so, daß ich mir selber halb irr vorkomme. Bitten Sie mich nicht, Sie zu begleiten und ach! gehen Sie selber auch nicht, gnädige Frau.«

Meine Tante lächelte traurig – und ging uns voran aus dem Haus.

Wir besaßen eine eigens für uns ausgefertigte Besuchserlaubnis. Der ansässige Leiter des Hospitals persönlich hielt sich zu unserer Verfügung. Er empfing meine Tante mit ausgesuchter Höflichkeit und schlug uns einen Rundgang durch das gesamte Gebäude vor – nebst einer Einladung, später mit ihm das Mittagessen in seinen privaten Räumen einzunehmen.

»Bei anderer Gelegenheit werde ich mich glücklich schätzen, von Ihrer Freundlichkeit Gebrauch zu machen«, erwiderte meine Tante, als er geendet hatte. »Im Augenblick liegt mir daran, lediglich eines der unglücklichen Geschöpfe in dieser Anstalt zu besuchen.«

»Lediglich eines?« wiederholte der Anstaltsleiter. »Einen unserer Patienten von höherem Rang, nehme ich an?«

»Im Gegenteil«, erwiderte meine Tante. »Ich möchte ein armes, gänzlich verlassenes Geschöpf besuchen, das man auf der Straße gefunden hat und das hier, soviel ich weiß, unter keinem besseren als dem Namen Jack Straw bekannt ist.«

Der Anstaltsleiter blickte sie in schierem Erstaunen an.

»Gütiger Himmel!« rief er aus. »Sind Sie sich darüber im klaren, daß Jack Straw zu den gefährlichsten Verrückten gehört, die sich hier im Hause befinden?«

»Ich habe gehört, daß sein Charakter so sein soll, wie Sie ihn beschreiben«, gab meine Tante ruhig zu.

»Und trotzdem wünschen Sie ihn zu sehen?«

»Zu diesem Zwecke bin ich hier – und zu keinem anderen.«

Der Anstaltsleiter blickte abwechselnd mich und den Rechtsanwalt an, in der stummen Bitte, ihm, so wir es vermöchten, diesen unbegreiflichen Wunsch meiner Tante zu erklären. Der Rechtsanwalt unternahm es, für uns beide zu antworten. Er erinnerte den Anstaltsleiter an Mr. Wagners eigentümliche Ansichten, was die Behandlung Geisteskranker betreffe, und an das Interesse, das er an diesem speziellen Fall bekundet habe. Dem fügte meine Tante hinzu: »Und Mr. Wagners Witwe empfindet dasselbe Interesse und hat die Ansichten ihres verstorbenen Gatten geerbt.« Als er dies hörte, verbeugte sich der Anstaltsleiter zuvorkommend und fügte sich in die Umstände. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie einen Augenblick warten lasse«, sagte er und läutete eine Glocke.

Ein Diener erschien in der Tür.

»Haben Yarcombe und Foss heute Dienst im Südflügel?« fragte der Anstaltsleiter.

»Ja, Sir.«

»Schicken Sie einen von ihnen sofort hierher.«

Wir warteten ein paar Minuten und vernahmen dann eine schroffe Stimme vor der Tür. »Da bin ich, Sir«, knurrte sie.

Der Anstaltsleiter reichte meiner Tante mit ehrerbietiger Geste den Arm. »Erlauben Sie mir, Madam, Sie zu Jack Straw zu führen«, sagte er mit einem Anflug von spielerischer Ironie in der Stimme.

Wir verließen das Zimmer. Der Rechtsanwalt und ich folgten meiner Tante und ihrer Begleitung. Der Mann, der vor der Tür gewartet hatte, bildete den Schluß. Ob er Yarcombe oder Foss war, tat wenig zur Sache. In jedem Falle war er ein grobschlächtiger, finsterer, gräßlich aussehender Geselle. »Einer unserer Gehilfen«, erklärte der Anstaltsleiter. »Es ist gut möglich, daß wir noch einen zweiten brauchen, wenn Ihr Besuch bei Jack Straw erfreulich für Sie verlaufen soll.«

Der Anstaltsleiter öffnete eine massive, mit mächtigen Riegeln versehene Tür. Wir stiegen ein paar Treppenstufen hinauf und durchquerten einige düstere Steinflure, die durch weitere Türen gesichert waren. Zu beiden Seiten ertönten, bald von fern, bald in nächster Nähe, Schreie von Wut und Schmerz, die mitunter von gellendem Gelächter abgelöst wurden, das noch schrecklicher klang als die Schreie. Wir durchschritten eine letzte Tür, die massivste von allen, die jene schrecklichen Laute aussperrte, und fanden uns in einem kleinen, kreisförmigen Saal wieder. Hier hielt der Anstaltsleiter inne und lauschte einen Augenblick. Es herrschte Totenstille. Er winkte dem Gehilfen und wies auf eine Eichentür mit schweren Beschlägen.

»Sehen Sie hinein«, sagte er.

Der Mann schob eine kleine Klappe in der Tür auf und schaute durch die Stäbe, die die Öffnung sicherten.

»Schläft er oder ist er wach?« fragte der Anstaltsleiter.

»Er ist wach, Sir.«

»Ist er bei der Arbeit?«

»Ja, Sir.«

Der Anstaltsleiter wandte sich an meine Tante.

»Sie haben Glück, Madam – Sie werden ihn sehen, wenn er Ruhe hält. Er vergnügt sich damit, daß er aus seinem Stroh Hüte, Körbe und Untersetzer macht. Sehr ordentliche Arbeit, das kann ich Ihnen versichern. Einer unserer Ärzte, ein Mann mit höchst bemerkenswertem Sinn für Humor, hat ihm daraufhin seinen Spitznamen verliehen. Soll ich die Tür öffnen?«

Meine Tante war sehr bleich geworden; ich sah, daß sie einer heftigen Erregung Herr zu werden suchte. »Geben Sie mir erst noch ein, zwei Minuten Zeit«, sagte sie. »Ich will mich sammeln, bevor ich hineingehe.«

Sie setzte sich auf eine steinerne Bank vor der Tür. »Was wissen Sie über diesen armen Mann?« fragte sie. »Ich frage nicht aus eitler Neugierde – ich habe bessere Gründe. Ist er jung oder alt?«

»Seinen Zähnen nach zu urteilen«, erwiderte der Anstaltsleiter, als ob er von einem Pferd spräche, »ist er gewiß noch jung. Aber aus seinem Gesicht ist jede Farbe gewichen, und sein Haar ist ergraut. Soweit wir ausfindig machen konnten (wenn er bereit ist, von sich zu sprechen), rühren diese Eigentümlichkeiten seines Aussehens daher, daß er sich einmal versehentlich vergiftet hat und nur knapp dem Tode entronnen ist. Aber wie und wo dies geschehen ist, kann oder will er uns nicht sagen. Wir wissen nichts über ihn, außer daß er ohne jeden Nächsten ist. Er spricht englisch, aber mit einem komischen Akzent – und wir wissen nicht, ob er ein Ausländer ist oder nicht. Sie sollten wissen, daß er hier nur stillschweigend geduldet wird. Dies ist eine Einrichtung der Königlichen Gesellschaft zur Förderung und Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, und in der Regel nehmen wir nur die Geisteskranken der gebildeten Stände hier auf. Aber Jack Straw hat ein unglaubliches Glück gehabt. Da er, wie ich annehme, zu toll war, um auf sich selber achtzugeben, ist er in einer der anliegenden Straßen von der Kutsche einer hochgestellten Persönlichkeit überrollt worden, die auch nur zu nennen eine Taktlosigkeit meinerseits wäre. Diese Persönlichkeit (ein Fräulein von höchstem Stande, soviel darf ich Ihnen versichern) hat der Unfall mit solcher Sorge erfüllt – ohne die geringste Ursache, denn der Mann wurde nicht ernsthaft verwundet –, daß sie ihn tatsächlich in ihrer Kutsche hierhergebracht und uns angewiesen hat, ihn aufzunehmen. Ach, Mrs. Wagner, das Herz Ihrer Hoheit ist Ihrer Hoheit Ranges würdig. Gelegentlich erkundigt sie sich nach dem glücklichen Tropf, der unter die Hufe ihrer Pferde geraten ist. Wir verschweigen ihr, was er uns für Scherereien macht. Wir haben spezielle Eisen anfertigen lassen, um ihn unter Kontrolle zu halten, und wenn ich mich nicht irre«, sagte der Anstaltsleiter, indem er sich an seinen Gehilfen wandte, »mußten wir erst letzte Woche eine neue Peitsche kommen lassen.«

Der Mann steckte seine Hand in die weite Tasche seines Mantels und zog eine gräßliche Peitsche hervor, die in zahlreiche Lederschnüre auslief. Er stellte dieses Folterinstrument mit allen Anzeichen von Stolz und Vergnügen zur Schau. »Das hält ihn unter Kontrolle, Madam«, sagte der Bursche fröhlich. »Fassen Sie mal an!«

Meine Tante sprang auf. Sie war so entrüstet, daß ich glaube, sie hätte ihm eins mit seiner eigenen Peitsche übergezogen, wenn ihn sein Vorgesetzter nicht ohne Umstände zurückgestoßen hätte. »Ein etwas übereifriger Diener«, sagte der Anstaltsleiter und lächelte zuvorkommend. »Bitte entschuldigen Sie ihn.«

Meine Tante zeigte auf die Tür der Zelle.

»Öffnen Sie!« wies sie ihn an. »Lassen Sie mich irgend etwas sehen, daß ich nicht noch einmal dieses Ungeheuer hier anschauen muß!«

Der Anstaltsleiter war offensichtlich von der Festigkeit ihres Tons überrascht. Er kannte die verborgene Entschlußkraft nicht, die der bloße Anblick der Peitsche in ihr freigesetzt hatte. Die Blässe war aus ihrem Gesicht gewichen; sie zitterte nicht mehr; ihre klaren grauen Augen hatten einen glänzenden, stetigen Blick. »Dieser Bursche hat sie aufgebracht«, raunte mir der Rechtsanwalt zu, während er sich nach dem Gehilfen umsah. »Jetzt hält sie nichts mehr zurück, David – jetzt wird sie ihren Willen bekommen.«

FÜNFTES KAPITEL

Der Anstaltsleiter öffnete eigenhändig die Zellentür.

Wir fanden uns in einem engen, hohen Gewölbe wieder, das einem Turmverließ glich. Hoch droben in den düsteren Steinmauern befand sich eine schmale, vergitterte Öffnung, durch die Luft und Licht hereindrang. In einem Winkel zwischen zwei Mauern sahen wir den ›glücklichen Tropf‹ des Anstaltsleiters bei seiner Arbeit auf dem Boden sitzen. Zu beiden Seiten hatte er je ein Bündel losen Strohs. Die schrägen Lichtstrahlen aus der hohen Fensterluke fielen auf sein vorzeitig ergrautes Haar nieder und enthüllten das seltsam fahle Gelb seiner Gesichtsfarbe und die jugendliche Feinheit seiner Hände, die emsig bei der Arbeit waren. Eine schwere Kette hielt ihn an die Wand gefesselt. Sie war nicht nur an seiner Hüfte befestigt, sondern umspannte auch seine Beine zwischen Knöchel und Knie. Gleichzeitig war sie lang genug, um ihm in einem Umkreis von etwa fünf oder sechs Fuß, soweit ich es abschätzen konnte, eine Reihe von mühsamen Bewegungen zu gestatten. Über seinem Kopf hing, zum Gebrauch für den Notfall bereit, eine kleine Kette, die offensichtlich zum Fesseln seiner Handgelenke bestimmt war. Wenn ich mich nicht durch seine kauernde Haltung täuschen ließ, war er von kleinem Wuchs. Seine zerlumpte Kleidung bedeckte kaum seine abgemagerte Gestalt. In glücklicheren Tagen mußte er ein wohlgestalter kleiner Mann gewesen sein; seine Füße und Knöchel waren ebenso wie seine Hände von feinem und zierlichem Bau. Er war so in seine Beschäftigung vertieft, daß er das Reden vor der Zelle offensichtlich nicht gehört hatte. Erst als der Gehilfe (der auf ein Zeichen des Anstaltsleiters hinter uns geblieben war) die Tür zuschlug, blickte er auf. Wir sahen nun seine großen, leeren, geduldigen braunen Augen, seine ausgezehrten Gesichtszüge und seine nervös-empfindsamen Lippen. Einen Augenblick lang blickte er mit stummer kindlicher Neugier von einem der Besucher zum anderen. Dann erspähte sein schweifender Blick den Gehilfen, der mit der Peitsche in der Hand hinter uns wartete.

Augenblicklich änderte sich der gesamte Gesichtsausdruck des Irren. Wütender Haß glitzerte in seinen Augen; seine Lippen, die er plötzlich in wilder Grimasse öffnete, entblößten seine Zähne wie die Reißzähne eines Raubtiers. Meine Tante gewahrte die Richtung, in die er blickte, und stellte sich so, daß sie die verhaßte Gestalt mit der Peitsche verbarg und seine Aufmerksamkeit auf sich selber lenkte. Mit bestürzender Plötzlichkeit änderte sich der Gesichtsausdruck des armen Geschöpfes aufs neue. Seine Augen wurden sanfter, ein schwaches, trauriges Lächeln zitterte auf seinen Lippen. Er ließ das Stroh fallen, das er geflochten hatte, und hob in einer Geste der Bewunderung seine Hände. »Die hübsche Dame!« flüsterte er vor sich hin. »Oh, die hübsche Dame!«

Er versuchte, von der Wand wegzukriechen, soweit es ihm die Kette erlaubte. Auf ein Zeichen des Anstaltsleiters hielt er inne und seufzte bitterlich. »Ich würde der Dame um alles in der Welt nicht weh tun«, sagte er. »Ich bitte Sie um Vergebung, wenn ich Sie erschreckt habe, Mistress.«

Seine Stimme klang wunderbar sanft. Aber sein Akzent war irgendwie seltsam – und vielleicht lag eine gewisse ausländische Förmlichkeit darin, daß er meine Tante Mistress nannte. Ein Engländer hätte sie wohl eher mit Ma’am angesprochen.

Wir Männer blieben in sicherer Entfernung von seiner Kette. Meine Tante jedoch trat auf ihn zu – mit der spontanen Verachtung der Gefahr, die eine Frau empfindet, wenn ihre Leidenschaft stark erregt ist. Der Anstaltsleiter ergriff sie am Arm und hielt sie fest. »Sehen Sie sich vor«, sagte er. »Sie kennen ihn nicht so gut wie wir.«

Jacks Augen weiteten sich langsam und wandten sich dem Anstaltsleiter zu. Wieder öffnete er seine Lippen. Ich fürchtete, aufs neue den Ausdruck wilder Wut auf seinem Gesicht zu erblicken. Ich irrte mich. Im selben Augenblick, da ein neuer Wutausbruch bevorstand, bewies der Unglückliche, daß er es unter sichtlicher Anspannung seiner Kräfte vermochte, sich zu beherrschen. Mit beiden Händen ergriff er die Kette, die ihn an der Wand festhielt, und klammerte sich mit solch krampfartiger Heftigkeit an ihr fest, daß ich beinahe erwartete, die Knochen seiner Finger durch die Haut treten zu sehen. Sein Kopf fiel ihm auf die Brust, seine ausgemergelte Gestalt bebte. All das dauerte nur einen Augenblick. Als er wieder aufblickte, richtete er seine armen leeren Augen auf meine Tante. Sie schwammen in Tränen. Sofort schüttelte sie den Griff des Anstaltsleiters ab. Bevor er noch eingreifen konnte, beugte sie sich über Jack Straw und legte ihm eine ihrer schönen weißen Hände sanft auf den Kopf.

»Wie heiß dein Kopf ist, armer Jack!« sagte sie schlicht. »Kühlt ihn meine Hand ein wenig ab?«

Noch immer die Kette umklammernd, antwortete er wie ein verschüchtertes Kind. »Ja, Mistress, sie kühlt ihn ab. Dankeschön.«

Sie hob einen kleinen Strohhut auf, an dem er gearbeitet hatte, als seine Tür aufgegangen war. »Das hast du sehr hübsch gemacht, Jack«, fuhr sie fort. »Erzähle mir doch, wie du darauf gekommen bist, solche hübschen Dinge aus deinem Stroh zu machen.«

Er blickte in einer plötzlichen Anwandlung von Zutrauen zu ihr auf; ihr Interesse am Hut hatte ihm geschmeichelt.

»Einst«, sagte er, »gab es eine Zeit, da waren meine Hände das Verrückteste an mir. Sie haben sich gegen mich gewandt und mir mein Haar und mein Fleisch zerrauft. Ein Engel hat mir im Traum gesagt, wie ich sie stillhalten könne. Er hat gesagt: ›Laß sie mit deinem Stroh arbeiten.‹ Den ganzen Tag lang habe ich Stroh geflochten. Und ich hätte die ganze Nacht weitergemacht, wenn sie mir nur ein Licht gegeben hätten. Meine Nächte sind schlimm, meine Nächte sind schrecklich. Die scharfe Luft frißt sich in mich hinein, die schwarze Finsternis erschreckt mich. Soll ich Ihnen sagen, was der größte Segen auf der Welt ist? Das Licht des Tages! Das Licht des Tages!! Das Licht des Tages!!!«

Mit jeder Wiederholung wurde seine Stimme lauter. Er stand im Begriff, in einen schrillen Schrei auszubrechen – da klammerte er sich jedoch noch fester an seine Kette und beruhigte sich augenblicklich. »Ich bin schon still, Sir«, sagte er, noch ehe der Anstaltsleiter ihn tadeln konnte.

Meine Tante legte ein gutes Wort für ihn ein. »Jack hat versprochen, mich nicht zu erschrecken, und ich bin sicher, daß er Wort hält. Hast du niemals Eltern oder Freunde gehabt, die gut zu dir waren, mein armer Junge?« fragte sie ihn und wandte sich ihm wieder zu.

Er blickte zu ihr auf. »Niemals«, sagte er, »bis Sie hierhergekommen sind und mich besucht haben.« Als er sprach, blitzte Verständigkeit in der hellen Dankbarkeit seiner Augen auf. »Fragen Sie mich etwas anderes«, bat er, »dann werden Sie sehen, wie ruhig ich antworten kann.«

»Stimmt es, Jack, daß du dich einmal versehentlich vergiftet und dabei beinahe dein Leben verloren hast?«

»Ja!«

»Wo war das?«

»Weit weg in einem anderen Land. Im großen Zimmer des Doktors. Als ich des Doktors Mann war.«

»Wer war dieser Doktor?«

Er hielt seinen Kopf mit der Hand fest. »Lassen Sie mir Zeit«, sagte er. »Es tut mir weh, wenn ich mein Gedächtnis zu sehr anstrenge. Lassen Sie mich erst meinen Hut fertigmachen. Ich möchte ihn Ihnen schenken, wenn er fertig ist. Sie wissen nicht, wie geschickt ich mit meinen Fingern und Daumen bin. Schauen Sie nur her.«

Er machte sich am Hut zu schaffen, vollkommen glücklich, daß meine Tante ihm zusah. Der Rechtsanwalt hatte das Unglück, eine mißliche Wendung herbeizuführen. Dieser vortreffliche Gentleman, der sich bis hierhin zurückgehalten hatte, glaubte es nunmehr seiner Bedeutung zu schulden, eine führende Rolle bei diesem Geschehen zu übernehmen. »Hier kommt meine Berufserfahrung zustatten«, sagte er. »Ich will ihn wie einen verstockten Zeugen behandeln. Sie werden sehen, daß wir nur so etwas aus ihm herausbekommen werden. – Jack!«

Der verstockte Zeuge fuhr unbeirrbar mit seiner Arbeit fort. Der Rechtsanwalt (der sich wohlweislich aus dem Bereich der Kette hielt) erhob seine Stimme. »He!« rief er, »du bist doch nicht taub, oder?«

Jack blickte mit einem schelmischen Ausdruck in den Augen zu ihm auf. Jemand, der weniger von sich selbst eingenommen gewesen wäre, hätte sich dies eine Warnung sein lassen und nicht weiter gesprochen. Der Rechtsanwalt aber fuhr fort.

»Nun, mein Freund! jetzt wollen wir mal miteinander reden. Jack Straw ist doch bestimmt nicht dein richtiger Name. Wie heißt du denn?«

»Wie es Ihnen beliebt«, sagte Jack. »Wie heißen Sie?«

»Oh – nicht so, Jack; so kommst du mir nicht davon. Du mußt doch Vater und Mutter haben.«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Wo bist du geboren worden?«

»In der Gosse.«

»Wie bist du großgezogen worden?«

»Manchmal mit einem Knuff auf den Kopf.«

»Und ein andermal?«

»Ein andermal mit einem Fußtritt. Seien Sie doch still und lassen Sie mich meinen Hut fertigmachen.«

Der enttäuschte Rechtsanwalt versuchte es mit der Bestechung als letztem Mittel. Er hielt einen Schilling hoch. »Siehst du das?«

»Nein, seh ich nicht. Ich sehe nichts als meinen Hut.«

Diese Antwort setzte dem Verhör ein Ende. Der Rechtsanwalt blickte den Anstaltsleiter an und sagte: »Ein hoffnungsloser Fall, Sir.« Der Anstaltsleiter blickte den Rechtsanwalt an und erwiderte: »Vollkommen hoffnungslos.«

Jack machte seinen Hut fertig und gab ihn dann meiner Tante. »Gefällt er Ihnen, jetzt, wo er fertig ist?« fragte er.

»Er gefällt mir sehr gut«, antwortete sie, »und bei Gelegenheit werde ich ihn mit Bändern schmücken und dir zuliebe tragen.«

Sie wandte sich an den Anstaltsleiter und hielt ihm den Hut hin.

»Schauen Sie«, sagte sie. »Nicht ein Fehler in diesem ganzen komplizierten Flechtwerk. Der arme Jack hat genug Verstand, um sich auf diese schwierige Arbeit zu konzentrieren. Und Sie geben ihn als unheilbar auf, wenn er so etwas kann?«

Der Anstaltsleiter tat ihre Frage mit einer Handbewegung ab.

»Das ist rein mechanisch«, erwiderte er. »Das hat nichts zu bedeuten.«

Jack griff nach der Hand meiner Tante. »Ich möchte Ihnen etwas sagen – aber leise«, flüsterte er. Sie beugte sich zu ihm hinab und lauschte.

Ich sah sie lächeln und fragte sie, nachdem wir die Anstalt verlassen hatten, was er gesagt habe. Jack hatte seine Meinung vom obersten Verantwortlichen des Bethlehem Hospitals in folgenden Worten kundgetan: »Hören Sie nicht auf ihn, Mistress; er ist ein armer Tölpel. Und klein außerdem – kaum sechs Zoll größer als ich!«

Aber meine Tante war mit Jacks Feind noch nicht fertig.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen Umstände bereite«, nahm sie das Gespräch wieder auf, »aber ich habe noch etwas zu sagen, bevor ich gehe, und möchte es Ihnen unter vier Augen sagen. Können Sie ein paar Minuten für mich erübrigen?«

Der liebenswürdige Anstaltsleiter erklärte, daß er ihr gänzlich zur Verfügung stehe. Sie wandte sich Jack zu, um sich von ihm zu verabschieden. Die plötzliche Entdekkung, daß sie im Begriff stand, ihn zu verlassen, war mehr, als er ertragen konnte; er verlor die Selbstbeherrschung.

»Bleiben Sie bei mir!« schrie der arme Teufel und ergriff ihre beiden Hände. »Oh, seien Sie barmherzig und bleiben Sie bei mir!«

Sie bewahrte ihre Geistesgegenwart – sie ließ es nicht zu, daß wir uns einmischten, um sie zu beschützen. Ohne vor ihm zurückzuschrecken, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich zu befreien, redete sie ihm leise zu.

»Wir wollen uns für heute die Hand geben«, sagte sie. »Du hast dein Versprechen gehalten, Jack – du bist ruhig und vernünftig gewesen. Ich muß dich ein Weilchen verlassen. Laß mich los.«

Widerspenstig schüttelte er den Kopf und hielt sie weiter fest.

»Schau mich an«, fuhr sie unbeirrt fort, ohne Furcht vor ihm zu zeigen. »Ich möchte dir etwas sagen. Du bist nun nicht mehr ohne Freunde, Jack. Du hast in mir einen Freund gefunden. Schau mich an.«

Ihre klare, feste Stimme übte ihre Wirkung auf ihn aus; er schaute auf. Ihre Blicke trafen sich.

»Nun laß mich los, wie ich dich gebeten habe.«

Er ließ ihre Hand los, zog sich in seine Ecke zurück und brach in Tränen aus.

»Ich werde sie niemals wiedersehen«, stöhnte er leise. »Niemals, niemals wieder!«

»Du wirst mich morgen wiedersehen«, sagte sie.

Er schaute sie unter Tränen an und blickte dann mit plötzlichen Mißtrauen wieder fort. »Das meint sie nicht ernst«, murmelte er, noch immer mit sich selber redend, »das sagt sie nur so, um mich zu beruhigen.«

»Du wirst mich morgen wiedersehen«, wiederholte meine Tante. »Das verspreche ich dir.«

Er war beeindruckt, aber nicht überzeugt; er kroch, soweit die Kette es ihm erlaubte, und legte sich ihr zu Füßen wie ein Hund. Sie überlegte einen Augenblick – und schließlich gelang es ihr, sein Vertrauen zu gewinnen.

»Soll ich dir etwas dalassen, auf das du für mich achtgibst, bis ich wiederkomme?«

Es war wie eine Offenbarung für ihn: er hob den Kopf und schaute sie in atemloser Spannung an. Sie gab ihm eine kleine Handtasche, in der sie ihr Taschentuch sowie ihre Börse und ihr Riechfläschchen mit sich zu führen pflegte.

»Ich vertraue sie dir ganz und gar an, Jack: du wirst sie mir wiedergeben, wenn wir uns morgen treffen.«

Diese schlichten Worte versöhnten ihn nicht nur mit ihrem Aufbruch – sie schmeichelten auch auf hintergründige Weise seiner Eitelkeit.

»Ihre Handtasche wird morgen in Stücke gerissen sein«, flüsterte der Anstaltsleiter, als uns die Tür geöffnet wurde.

»Verzeihen Sie«, gab meine Tante zurück, »aber ich glaube, ich werde sie wohlbehalten wiederbekommen.«

Das letzte, was wir vom armen Jack sahen, bevor die Tür zuschlug, war, wie er die Handtasche in beide Arme schloß und sie küßte.

SECHSTES KAPITEL

Als wir nach Hause zurückkehrten, traf ich Fritz Keller, der in dem von einer Mauer umgebenen Garten auf der Rückseite des Hauses seine Pfeife rauchte.

Heutzutage ist es vielleicht nicht überflüssig, zu bemerken, daß Kaufleute vom alten Schlage damals noch unmittelbar über ihren Kontoren in der Stadt wohnten. Das Geschäft des verstorbenen Mr. Wagner befand sich in zwei geräumigen benachbarten Häusern, die miteinander in Verbindung standen. Eines dieser Gebäude war für die Büros und Lagerräume bestimmt. Das andere (mit dem Garten auf der Rückseite) war Mr. Wagners privater Wohnsitz.

Fritz kam mir zur Begrüßung entgegen und hielt plötzlich inne. Seine Haltung änderte sich. »Etwas ist geschehen«, sagte er. »Ich kann es an deinem Gesichtsausdruck sehen. Hat es irgend etwas mit dem Verrückten zu tun?«

»Ja. Soll ich dir erzählen, was geschehen ist, Fritz?«

»Nicht um alles in der Welt. Ich verschließe meine Ohren vor allen grausigen und betrüblichen Geschichten. Ich würde mir den Verrückten nur vorstellen – laß uns von etwas anderem reden.«

»Wahrscheinlich wirst du ihn in ein paar Wochen sowieso zu sehen bekommen.«

»Du willst mir doch nicht etwa sagen, daß er in dieses Haus kommt?«

»Ich fürchte, das ist zumindest wahrscheinlich.«

Fritz schaute mich an, als hätte ihn der Donner gerührt. »Es gibt Eröffnungen«, sagte er, »die im Stehen nur schwer zu ertragen sind. Wir wollen uns setzen.«

Er ging voraus in das Sommerhäuschen, das weiter hinten im Garten stand. Auf seinem Holztisch sah ich eine Flasche des englischen Ales, welches mein Freund so höchlich lobte, und zwei Gläser.

»Ich hatte eine Vorahnung, daß wir einen Trost dieser Art gebrauchen könnten«, sagte Fritz. »Fülle dein Glas, David, und dann fange mit dem Schlimmsten an und erzähle es mir, bevor wir mit der Flasche fertig sind.«

Ich fing mit dem Besten an – das heißt, ich erzählte ihm dasselbe, was ich bereits auf den vorhergehenden Seiten berichtet habe. Fritz bekundete großes Interesse: er war voller Mitgefühl für Jack Straw, aber nicht im geringsten zu dem Vertrauen bekehrt, das meine Tante in ihn setzte.

»Jack ist ein äußerst bemitleidenswertes Geschöpf«, bemerkte er, »aber Jack ist auch ein schwelender Vulkan – und schwelende Vulkane brechen aus, wenn die Naturgesetze sie dazu zwingen. Meine einzige Hoffnung ist der Anstaltsleiter. Er wird gewiß nicht diesen Tollen auf uns loslassen, wenn deine Tante die einzige ist, die ihn unter Kontrolle halten kann. Was hat sie eigentlich in der persönlichen Unterredung im Empfangszimmer vorgebracht, nachdem ihr Jack verlassen hattet? – Einen Augenblick, mein Freund, bevor du beginnst«, sagte Fritz und tastete unter der Bank herum, auf der wir saßen. »Ich hatte eine zweite Vorahnung, daß wir eine zweite Flasche brauchen könnten – hier ist sie! Fülle dein Glas und setze dich zurecht, wie auch ich es tun will – damit ich den moralischen Schock überstehe, den du mir gleich bereiten wirst. Ich glaube, David, diese zweite Flasche ist sogar noch bekömmlicher als die erste. Und was hat deine Tante nun gesagt?«

Meine Tante hatte viel mehr gesagt, als ich ihm erzählen konnte.

Im wesentlichen lief es darauf hinaus: Nachdem sie die Peitsche und die Ketten und den Mann gesehen hatte, hatte sie tatsächlich beschlossen, sich auf das gefährliche Experiment einzulassen, das ihr Mann unternommen hätte, wenn er noch lebte! Was die Möglichkeit betraf, Jack Straws Entlassung aus dem Hospital zu bewirken, so konnte die einflußreiche Persönlichkeit, die unter Mißachtung der Vorschriften auf seiner Aufnahme in die Anstalt bestanden hatte, auch auf seiner Entlassung bestehen und mittels Fürsprache derselben Person, deren Interesse an dieser Angelegenheit Mr. Wagner in den letzten Tagen seines Lebens geweckt hatte, für diesen Zweck gewonnen werden. Nachdem sie ihre zukünftigen Pläne dergestalt dargelegt hatte, bat meine Tante den Rechtsanwalt, ihre Wünsche und Absichten in einem formellen Schriftstück kundzutun, das als vorläufige Eingabe an die Leiter der Anstalt aufgesetzt werden sollte.

»Und was hat der Rechtsanwalt dazu gesagt?« erkundigte sich Fritz, nachdem ich das Vorgehen meiner Tante soweit geschildert hatte.

»Der Rechtsanwalt hat sich geweigert, ihrer Bitte zu entsprechen. Er sagte: ›Es wäre unverzeihlich, selbst für einen Mann, ein solches Risiko einzugehen. Ich glaube nicht, daß es in England eine zweite Frau gibt, die an so etwas auch nur dächte.‹ Dies waren seine Worte.«

»Haben sie deine Tante irgendwie beeindruckt?«

»Nicht im geringsten. Sie entschuldigte sich, seine kostbare Zeit verschwendet zu haben, und wünschte ihm einen guten Morgen. ›Wenn mir niemand helfen will‹, sagte sie ruhig, ›muß ich mir selber helfen.‹ Dann wandte sie sich an mich. ›Du hast gesehen, wie sorgfältig und sauber der arme Jack arbeiten kann‹, sagte sie, ›du hast gesehen, wie er beinahe einen Wutanfall erlitten hat und doch imstande war, sich in meiner Gegenwart zu beherrschen. Und darüber hinaus hast du gesehen, wie er bei der einen Gelegenheit, als er seine Selbstbeherrschung verlor, sie wiederfand, als ich ihm ruhig und freundlich zugesprochen habe. Ist dein Gewissen ruhig, David, wenn ein solcher Mann sein Leben mit der Kette und der Peitsche zubringen soll?‹ Was hätte ich darauf sagen sollen? Sie war zu bedachtsam, um mich zu nötigen; sie bat mich nur, es zu bedenken. Ich habe es seither unablässig zu bedenken versucht – und je mehr ich es versuche, desto mehr fürchte ich die Folgen, wenn dieser Irre in unser Haus gebracht wird.«

Fritz schauderte bei dieser Aussicht.

»An dem Tage, an dem Jack in dieses Haus kommt, werde ich es verlassen«, sagte er. Die Auswirkungen, die das Experiment, das meine Tante erwog, für uns alle zur Folge haben mochte, kamen ihm plötzlich, während er sprach, zu Bewußtsein. »Was werden Mrs. Wagners Freunde denken?« fragte er kläglich. »Sie werden sich weigern, sie zu besuchen – sie werden sagen, daß sie selber verrückt geworden ist.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen, meine Herren – ich werde mich nicht darum kümmern, was meine Freunde sagen.«

Wir sprangen beide verwirrt auf. Meine Tante persönlich stand mit einem Brief in der Hand in der offenen Tür der Sommerlaube.

»Nachrichten aus Deutschland, Fritz, soeben eingetroffen.«

Mit diesen Worten übergab sie ihm den Brief und verließ uns.

Wir sahen uns einander in Beschämung an, um die Wahrheit zu sagen. Fritz warf einen besorgten Blick auf den Brief und erkannte die Handschrift, in der die Adresse geschrieben war. »Von meinem Vater«, sagte er. Als er den Umschlag öffnete, fiel ein zweiter darin enthaltener Brief zu Boden. Als er ihn aufhob und anschaute, errötete er. Das Siegel war unversehrt – der Stempel war von Würzburg.

SIEBTES KAPITEL

Fritz hielt den Brief aus Würzburg ungeöffnet in der Hand.

»Er ist nicht von Minna«, sagte er, »die Handschrift ist mir unbekannt. Vielleicht weiß mein Vater etwas darüber.« Er wandte sich dem Brief seines Vaters zu, las ihn und gab ihn mir dann ohne jede Bemerkung.

Herr Keller schrieb in Kürze folgendes:

»Der beigefügte Brief hat mich, wie Du siehst, durch die Post erreicht – mit der schriftlichen Bitte, ihn an meinen Sohn weiterzuleiten. Wie in allen meinen Beziehungen richte ich mich auch in den Beziehungen zu meinem Sohn strikt nach den Grundsätzen der Ehre. Ich übersende Dir den Brief genauso, wie ich ihn empfangen habe. Aber ich kann nicht umhin, den Poststempel der Stadt zu bemerken, in der die Witwe Fontaine und ihre Tochter weiterhin leben. Wenn Minna oder ihre Mutter die Absender des Briefes sein sollten, muß ich dir offen mitteilen, daß ich dir untersage, mit ihnen in Briefwechsel zu treten. Solange ich lebe, sollen die beiden Familien niemals durch Heirat vereint werden. Wisse, mein lieber Sohn, daß dies in deinem besten Interesse gesagt ist. Dein Dich liebender Vater.«

Während ich diese Zeilen las, hatte Fritz den Brief aus Würzburg geöffnet. »Jedenfalls ist er lang genug«, sagte er und wendete auf der Suche nach einer Unterschrift die eng beschriebenen Seiten um.

»Nun?« fragte ich.

»Nun«, wiederholte Fritz, »es ist ein anonymer Brief. Die Unterschrift lautet: ›Dein unbekannter Freund‹.«

»Vielleicht bezieht er sich auf Fräulein Minna oder ihre Mutter«, vermutete ich. Fritz kehrte zur ersten Seite zurück und blickte, rot vor Zorn, zu mir auf. »Noch mehr abscheuliche Verleumdungen! Noch mehr Lügen über Minnas Mutter!« platzte er heraus. »Komm her, David! Schau ihn dir an. Was meinst du? Ist das die Handschrift einer Frau oder eines Mannes?«

Die Handschrift war so sorgfältig verstellt, daß es unmöglich war, seine Frage zu beantworten. Der Brief ist (wie die übrige Korrespondenz, die in dieser Erzählung Verwendung findet) kopiert worden und befindet sich als Abschrift in meinem Besitz. Ich gebe ihn hier wieder aus Gründen, die für sich selbst sprechen – ohne das geringste daran zu ändern, nicht einmal die plumpe Vertraulichkeit der Anrede.

»Mein lieber Freund!

Du hast mir vor langer Zeit eine Gefälligkeit erwiesen. Frage dich nicht, worin sie bestanden hat oder wer ich bin. Ich bin jemand, der sich für eine Gefälligkeit revanchieren möchte. Dabei laß es sein Bewenden haben.

Du bist verliebt – in Jezebels Tochter. Nun werde nicht gleich zornig! Ich weiß, Du hältst Jezebel für eine Frau, der man bitteres Unrecht angetan hat; ich weiß, Du bist töricht genug gewesen, Dich zur Verteidigung ihrer Ehre in Würzburg zu duellieren.

Dir genügt es, daß sie eine zärtliche Mutter ist und daß ihre unschuldige Tochter sie von ganzem Herzen liebt. Ich streite nicht ab, daß sie eine zärtliche Mutter ist; aber reicht der mütterliche Instinkt allein aus, um für eine Frau zu zeugen? Eine Katze ist auch eine zärtliche Mutter, Fritz; aber trotzdem beißt sie und kratzt! Und die arme kleine Minna, die in niemandem etwas Schlechtes vermutet, die die Schlechtigkeit nicht einmal sähe, wenn sie vor ihren Augen offen zutage läge – ist sie ein glaubwürdiger Zeuge, soweit es den Charakter der Witwe betrifft? Pah!

Zerreiße nicht in einem Wutanfall meinen Brief; ich werde nicht weiter mit Dir darüber rechten. Mir sind gewisse kriminelle Umstände bekannt geworden, die geradewegs auf diese Frau deuten. Ich will Dir, da ich aufrichtige Achtung für Dich hege, diese Umstände in aller Deutlichkeit schildern, in der lebhaften Hoffnung, daß ich Dir die Augen öffnen mag, was die Wahrheit betrifft.

Beginnen will ich mit dem Tode von Professor Doktor Fontaine in seinen Räumlichkeiten an der Würzburger Universität am dritten September des gegenwärtigen Jahres 1828.

Der arme Mann starb an Typhusfieber, wie Du weißt – und starb in Schulden, ohne seinerseits Geld verschwendet zu haben, wie Du ebenfalls weißt. Er hatte alle seine Verwandten überlebt und in finanzieller Hinsicht von niemanden etwas zu erhoffen oder zu erwarten. Unter diesen Umständen konnte er anstelle eines Testamentes nur die schriftliche Formulierung seiner letzten Wünsche hinterlassen.

In diesem Schriftstück bat er die Verwandten seiner Witwe in zugleich respektvoller und dringlicher Weise, seine Witwe und Tochter ihrer Obhut anvertrauen zu dürfen. Dann kam er auf sich selbst zu sprechen und bestimmte, daß er mit dem geringsten Aufwand bestattet werden solle, um der Universität so wenig Unkosten wie möglich zu bereiten. Drittens und letztens bestimmte er einen Universitätskollegen dazu, seinen Wünschen gemäß über diejenigen Mittel und Geräte seines Laboratoriums zu verfügen, die sich zum Zeitpunkt seines Todes in seinem persönlichen Besitz befanden.

Die schriftlichen Anweisungen an seinen Kollegen sind von solch gewichtiger Bedeutung, daß ich es als meine Pflicht ansehe, sie wortwörtlich für Dich abzuschreiben.

So beginnen sie:

›Hiermit bestimme ich meinen lieben alten Freund und Kollegen Professor Stein – der sich gegenwärtig im Auftrage der Universität in München befindet – nach meinem Tode zu meinem alleinigen Bevollmächtigten. Er soll über jene Dinge verfügen, die sich in meinem Laboratorium befinden. Die verschiedenen Geräte, die ich bei meinen chemischen Forschungen verwendet habe und die mein Eigentum sind, finden sich alle auf dem langen Tannenholztisch, der zwischen den beiden Fenstern steht. Sie sollen zunächst meinem Nachfolger zum Kauf angeboten werden. Lehnt er es ab, sie zu erwerben, können sie alsdann nach München gesandt werden, um je nach Gelegenheit einzeln vom Hersteller verkauft zu werden. Die Einrichtung des Laboratoriums, sowohl beweglich als auch stationär, gehört gänzlich der Universität, bis auf diejenigen Gegenstände, die sich in dem eisernen Tresor befinden, der in die Südwand des Raumes eingelassen ist. Was diese Gegenstände betrifft, die gänzlich mein Eigentum sind, ersuche ich meinen Beauftragten und Bevollmächtigten in aller Eindringlichkeit, meinen Anweisungen bis auf den kleinsten Buchstaben zu folgen:

(1) Professor Stein wird dafür Sorge tragen, daß ein verläßlicher Zeuge zugegen ist, wenn er den Wandtresor öffnet.

(2) Der Zeuge wird nach dem Diktat Professor Steins eine genaue schriftliche Liste der Inhalte des Tresors aufnehmen. Diese sind: Flaschen, die Medikamente enthalten, Büchsen, die Pulver enthalten, und ein kleines Arzneikästchen mit sechs Fächern, in deren jedem sich eine mit Etikett versehene Flasche befindet, die ein flüssiges Präparat enthält.

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