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Endlich Sommerferien! Das Sommerlager der 'Blauen Tiger' steht an. Aber in Südfrankreich geschehen mysteriöse Vorfälle. Ayana bekommt einen geheimnisvollen Auftrag von ihrem Cousin. Sie soll um Mitternacht ein Päckchen aus einer Bootshütte abholen. Doch schon bald wird sie gejagt. Sam trifft auf die bildhübsche Gina, die soeben Augenzeugin einer Entführung geworden ist. Doch einen Tag später kann sich Gina weder an die Entführung noch an Sam erinnern. Joe Hart und die Blauen Tiger sind ratlos und beschließen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Keiner weiß, dass eine Geheimorganisation dahintersteckt. Und dass sich das Netz von Tarantola immer mehr zuzieht … Ein actiongeladener Jugendthriller, der von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Altersempfehlung: Ab der 5. Klasse.
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Seitenzahl: 271
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Daniel KowalskyJoe Hart und die Blauen Tiger:Im Netz von TARANTOLA
Der Autor
Daniel Kowalsky, Jahrgang 1966, verheiratet mit Birgit Stefanie, zwei Kinder (Samuel und Benjamin), geboren in Detmold (Nordrhein-Westfalen), lebt heute in Steinen bei Lörrach. Bereits als Schüler und Student war er Organisator zahlreicher Jungschar- und Jugendfreizeiten. Nach dem Studium (Theologie und Lehramt) wurde er Lehrer für Primar- und Sekundarstufe, anschließend Kaufmännischer Angestellter in den Bereichen Einkauf und Logistik. Heute aktiv in der Kinder- und Jugendarbeit. Bietet auf Anfrage Autorenlesungen an (nähere Infos unter www.joe-hart.de).
www.joe-hart.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2015 by Fontis – Brunnen Basel
Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Fotos U1: Petrenko Andriy, Marko 5, Nejron Photo; Dmitrijs Bindemanis/Shutterstock.com Innen-Illustrationen: Ephraim Heftrich, Steinen, in Zusammenarbeit mit Michael J. Ingold, Fontis-Verlag E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-736-4
Liebe Joe-Hart-Fans
Prolog
1. Das geheimnisvolle Päckchen
2. Reisepläne um Mitternacht
3. Freiwild
4. Nichts wie weg
5. Erwischt
6. Ein dicker Strich durch die Rechnung
7. Eine zauberhafte Zauberin
8. Der schwarze Jaguar
9. Entführung auf Italienisch
10. Bella Italia
11. Unliebsame Überraschungen
12. Eine unverschämte Fremde
13. Eine traumhafte Kanu-Tour
14. Amnesie
15. Das Netz zieht sich zusammen
16. Spuren
17. Die Blauen Tiger legen los
18. Die Tarantel sticht zu
19. Das Schließfach in Lugano
20. Eine wahnwitzige Jagd
21. Was ist passiert?
22. Nebel der Erinnerung
23. Schachmatt?
24. Das Nest von TARANTOLA
25. Entwischt?
26. Lago di Como
Epilog
Informationen des Autors
Ephraim Heftrich – ein Zwölfjähriger als Illustrator
Anmerkungen
Nachdem ich ständig mit der Frage bombardiert wurde: «Wann erscheint der nächste Band?», bin ich froh, Euch endlich den mittlerweile fünften Band präsentieren zu können.
Ein großer Dank geht an alle, die mich beim Schreiben und Entwickeln der Story unterstützt haben. Speziell hervorheben möchte ich dabei Matthias Mross, der mir wieder einmal ein guter Ratgeber war.
Außerdem möchte ich mich bei den Lesern bedanken, die mich durch ihre Ideen inspiriert haben. Speziell möchte ich hier Moritz Dudde und Silas Tschudi nennen: Merci Euch beiden! Eure Beiträge waren so originell, dass ich sie dann auch tatsächlich aufgegriffen habe.
Vielen Dank auch an das Lektorat vom Fontis-Verlag, insbesondere an Vera Hahn und Anne Helke sowie an die beiden Illustratoren Ephraim Heftrich und Michael J. Ingold. Und last but not least an meine Family, besonders an meine Frau Birgit, die Joe Hart zuliebe so manche Entbehrung auf sich nehmen musste.
Allen Lesern wünsche ich viel Spaß mit
JOE HART: IM NETZ VON TARANTOLA
In einer prunkvollen Villa am Luganer See saß ein elegant gekleideter Mann an seinem Schreibtisch, der noch aus der Kolonialzeit stammte. Nervös drückte er seine Havanna-Zigarre in einem mit Edelsteinen bestückten Aschenbecher aus, der im Licht der Abendsonne in bunten Farben glänzte, und brüllte aufgebracht in den goldenen Telefonhörer seines Nostalgie-Telefons:
«Was soll das heißen, es funktioniert noch nicht richtig? Das lasse ich nicht gelten! Es muss einfach funktionieren! Glaub mir, mit dieser Erfindung sind wir in der Lage, die genialsten Coups durchzuziehen! Diese Projekte werden als die Verbrechen des Jahrhunderts in die Polizei-Geschichte eingehen. Aber wenn es nicht richtig funktioniert, dann können wir unsere Pläne komplett vergessen.»
Ärgerlich drückte er die Freisprechtaste des Telefons, so dass er den Hörer zur Seite legen und sich elegant in seinem Chefsessel aus feinstem Pekari-Leder zurücklehnen konnte. Gebannt lauschte er den Worten seines Gesprächspartners am anderen Ende der Leitung:
«Keine Sorge, Boss, wir wissen ja, woran es liegt und was wir brauchen, damit es zuverlässig funktioniert.»
«Und, was braucht ihr?»
Sein Gesprächspartner, ein gutaussehender dunkelhäutiger Amerikaner, lachte laut hörbar.
«Ein Mädchen!»
«Ich verstehe nur Bahnhof! Drück dich klarer aus!»
«Erinnerst du dich noch an diese Polizei-Razzia?»
«Ja, da haben sie unser Labor in Südfrankreich auseinandergenommen und den Blonden Engel festgenommen.»
«Und sie haben unsere einzigen Vorräte dieses Wunderpräparats sichergestellt. Da kommen wir so schnell nicht mehr dran. Und ohne dieses Präparat können wir das Projekt vergessen.»
«Und der Ersatz, den Stromburg gefunden hat, funktioniert nicht richtig, sagst du?»
«Ja, er hat nicht annähernd die gleiche Wirkung, ist nicht zuverlässig genug, genau wie seine Vorgänger. Verstehst du jetzt? Der Schlüssel für unsere Probleme ist also das Mädchen.»
Der TARANTOLA-Boss pfiff durch die Zähne: «… unsere heimliche Testperson mit dem speziellen Zusatz!»
«Richtig! Wir müssen sie in unsere Gewalt bekommen, dann können wir wieder loslegen.»
«Dann entführt sie.»
«Wir sind dran.»
«Ich will Erfolge sehen, und zwar schnell! Habt ihr etwas über den Schnüffler herausbekommen, der uns auf der Spur ist?»
«Ist ihr Cousin, ein Privatdetektiv – eine ziemlich harte Nuss.»
«Warum musstet ihr euch ausgerechnet diese Äthiopierin als Testperson auswählen? Jede andere hätte es doch auch getan!»
«Ich habe meine Gründe.»
Dem TARANTOLA-Boss ging ein Licht auf: «Also persönliche Rache. Ich verstehe.»
«Lassen wir das! Wir kreisen den Schnüffler ein und haben ihn bald.»
«Das will ich dir auch geraten haben. Denk dran, er hat Informationen über uns, die unseren Plan zunichtemachen können. Er muss schnellstens aus dem Verkehr gezogen werden, genau wie der andere … Und alle Dokumente, die er über uns gesammelt hat, müssen sichergestellt werden! Melde dich, sobald es Neuigkeiten gibt.»
«Alles klar, Boss!»
Am anderen Ende der Leitung legte Ryan Smith den Hörer auf und ballte die Faust. Mit der Erledigung dieses Auftrags verfolgte er nebenbei noch ganz andere Ziele. Verbissen flüsterte er vor sich hin:
«Blaue Tiger! Habt ihr wirklich geglaubt, dass ihr ungeschoren davonkommt? Ihr werdet alle die eisige Kälte meiner Rache schmerzhaft zu spüren bekommen. Und den Anfang macht die Äthiopierin …»
Es war stockdunkel am Strand von Portiragnes Plage1, einer kleinen Ortschaft direkt an der Mittelmeerküste Südfrankreichs. Der Mond war vollständig von dichten Wolken verdeckt, die vom Meer her landeinwärts rasten, jedoch hier im Küstenbereich keinerlei Regen von sich gaben. Ein starker Südwestwind sorgte für riesige Wellen, die sich tosend überschlugen, um anschließend am gemächlich ansteigenden Sandstrand mit einem sanften Rauschen auszulaufen.
Ayana hatte einen Auftrag zu erledigen: eine einsam gelegene Bootshütte direkt am Meer aufsuchen und von dort ein geheimnisvolles Päckchen abholen. Endlich sah sie etwa fünfzig Meter voraus die schemenhaften Umrisse eines kleinen Gebäudes. Das musste die Hütte sein. Ayana blieb abrupt stehen und schaute auf die Uhr: 0.15 Uhr – kurz nach Mitternacht. Warum nur hatte sie, ein vierzehnjähriges Mädchen, sich auf das Wagnis eingelassen, mitten in der Nacht zu dieser unheimlichen Hütte zu gehen?
Dann dachte sie an das Telefongespräch mit ihrem zehn Jahre älteren Cousin Shume2 zurück, der sie ein paar Stunden zuvor angerufen und eine seltsame Bitte geäußert hatte:
«… und denk dran, die Sache muss unbedingt noch heute Nacht laufen. Das Päckchen findest du im Tresor, der übrigens die gleiche Kombination hat wie die Tür.»
«Du bist ja wahnsinnig, mich um so etwas zu bitten.»
«Ich weiß, ich verlange sehr viel von dir, aber die Sache ist enorm wichtig. Bitte! Lass mich jetzt nicht hängen!»
Shume hatte mal wieder einen Ton in seine Stimme gelegt, dem Ayana einfach nicht widerstehen konnte, wie schon so oft. Sie mochte ihren Cousin und konnte ihm keine Bitte abschlagen. Aber wenigstens wollte sie es ihm nicht zu einfach machen. Vor allem hatte alles seinen Preis, und der sollte dieses Mal gepfeffert sein:
«Und? Warum muss das Ganze noch heute Nacht laufen?»
«Ich erkläre es dir ein anderes Mal, nicht jetzt am Telefon.»
«Dann ist die Sache gefährlich?»
«Nicht wirklich … ich will einfach nicht, dass dich jemand sieht. Die Sache ist aber sehr eilig. Du musst das Päckchen gleich am Morgen per Express mit der Post abschicken.»
«Und warum holst du es nicht selber ab?»
«Nun ja, ähm, wie soll ich es dir erklären? Ich sitze gerade fest und kann nicht aus dem Haus …»
«Erzähl keinen Müll! Was ist los?»
«Na gut. Ich bin gerade in Italien und brauche dieses Päckchen, ganz dringend! Ayana, ich war doch schon immer dein Lieblingscousin, nicht wahr?»
«Ich soll also – als vierzehnjähriges Mädchen! … mitten in der Nacht! – zu dieser einsamen Hütte gehen und dort für dich etwas abholen! Und du behauptest, die Sache sei nicht gefährlich! Zum Glück passieren in Südfrankreich ja keine Verbrechen! Junge, du hast Nerven! …»
Shume zögerte, ließ sich aber nicht beirren: «Nimm das Pfefferspray mit, das ich dir beim letzten Mal gegeben habe – außerdem bist du ja nicht ganz wehrlos nach dem zweijährigen Selbstverteidigungskurs, an dem du teilgenommen hast. Mit mir als Trainer!»
«Weißt du eigentlich, wie ich mich gerade fühle? Meine Eltern sind vor etwa einer Woche nach Äthiopien geflogen, alleine, ohne mich, hörst du?» Ayana seufzte und fügte leise hinzu: «… weil meine Ferien noch nicht begonnen haben und …»
«… und weil du es vorzogst, mit dieser Jugendgruppe aus Deutschland zum Sommerferienlager zu fahren, anstatt deine Eltern zu begleiten – ich weiß. Und deshalb fühlst du dich jetzt schlecht?»
«Nein, es ist wegen Tante Abeba. Sie wohnt bei mir zu Hause und soll sozusagen den Aufpasser spielen. Es ist alles einfach nur schrecklich. Sie hat nur schlechte Laune und macht mir das Leben zur Hölle.»
«Ich glaube, da bist du nicht ganz unschuldig, wenn ich an den verlorenen Geldbeutel denke. Du hast ja für sie eingekauft und ihn irgendwo verloren. Die ist immer noch sauer auf dich, das sag ich dir!»
«Hör endlich auf, mich auf die Schippe zu nehmen! Ich habe nicht für sie eingekauft und auch keinen Geldbeutel verloren!»
«Doch, Ayana, glaube mir, du hast … nur, du kannst dich an nichts mehr erinnern, was an diesem Nachmittag passiert ist! Ich erkläre dir ein anderes Mal, woran das liegt.»
«Nervtöter!»
«Ach, lassen wir das einfach.»
«Auf jeden Fall würde ich am liebsten gleich meine fertig gepackte Reisetasche nehmen, die restlichen zwei Schultage schwänzen und zu Isabel und Julia nach Düsseldorf fahren.»
«Und was hindert dich daran?»
Ayana stutzte, denn mit so einer Frage hatte sie nicht gerechnet.
«Ich bin blank! Meine Eltern haben meiner Tante das Geld für die Ferien gegeben, und sie hält mich auf dem Trockenen, wohl wissend, dass ich bereit wäre, von heute auf morgen abzuhauen.»
«Und was sagen deine Eltern dazu?»
«Die sind nicht erreichbar, seitdem sie nach Äthiopien geflogen sind.»
Shume lachte laut hörbar: «Einmal in Äthiopien angekommen – und schon vergessen sie ihre eigene Tochter und haben nur noch Augen für die Verwandtschaft. So sind sie halt, daran kann ich nichts änd…»
Ayana unterbrach ihn: «Schluss jetzt! Die Sache läuft so: Ich helfe dir, du hilfst mir! Das ist der Deal! Ansonsten kannst du dir das Päckchen an den Hut stecken.»
«Meinetwegen, kommen wir zur Sache: Was verlangst du?»
«Hundertfünfzig Euro. Bar auf die Hand.»
«Du bist ja verrückt!»
«Ich weiß. Aber ich habe meinen Preis.»
«Das ist viel zu viel!»
«Dann such dir jemand anderen, der für dich den Boten spielt.»
«Fünfzig Euro!»
«Achtzig, und außerdem leihst du mir fünfhundert Euro, so dass ich alle Unkosten für die Ferien gedeckt habe. Du bekommst die Knete zurück, sobald ich wieder flüssig bin.»
«Du hast ja einen Knall – so viel Geld! Und vor allem, wer garantiert mir, dass ich das Geld jemals zurückbekomme?»
«Meine Tante hat das Feriengeld von meinen Eltern bekommen. Sie rückt es nur noch nicht raus. Achtzig auf die Hand und fünfhundert geliehen, mein letztes Angebot!»
«Halsabschneiderin!»
«Schön, dann sind wir also im Geschäft.»
«Du kannst von Glück sagen, dass ich bei dem Päckchen auch noch Geld deponiert habe …»
Ayana erreichte die Bootshütte, die etwa fünfundzwanzig Meter vom Wasser entfernt direkt neben den Dünen stand. Sie schaute sich um und lief erst einmal herum, um sicherzustellen, dass sie nicht beobachtet wurde.
Nein, um diese Uhrzeit schien kein Mensch mehr unterwegs zu sein. Warum nur wollte ihr Cousin, dass sie nicht gesehen wurde? Und was war an dem Päckchen so wichtig, dass er sich auf ihre Forderungen eingelassen hatte? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Shume, der diese Hütte selber gebaut hatte, verstand sein Handwerk. Bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass sie ganz hervorragend gegen Einbrüche gesichert war, ungewöhnlich für eine simple Bootshütte, in der sich neben ein paar Kajaks und Surfbrettern nur noch ein kleines Motorboot befand. Die Tür war mit einem speziellen Sicherheitsschloss ausgestattet, und die wenigen Fenster waren für einen Einbruch einfach zu schmal. Das Bootstor daneben war robust und offenbar nur von innen zu öffnen.
Ayana schaltete ein kleines LED-Licht an, schob eine unscheinbare Abdeckung am Türrahmen zur Seite; eine beleuchtete Mini-Tastatur kam zum Vorschein. Zum Glück kannte Ayana die zehnstellige Zahlenkombination auswendig, deren Eingabe zum Öffnen der Tür notwendig war. Beim Eintippen zitterten ihre Finger vor Aufregung, so dass sie sich prompt vertippte. Sie drückte sogleich die Abbruch-Taste und gab die Kombination erneut ein. Dann hörte sie, wie sich ein Mechanismus in der Tür selbständig entriegelte.
«Yeah!»
Schnell öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein. Sie wagte es nicht, das Licht anzuschalten. Stattdessen begnügte sie sich mit dem dünnen LED-Licht ihrer Taschenlampe und suchte nach einem Tresor, der sich schräg gegenüber der Eingangstür befinden sollte.
Bingo! Da war er.
Hoffentlich ließ sich der Tresor problemloser öffnen als die Tür.
Ihre Finger waren immer noch zittrig. Trotzdem schaffte sie es diesmal, die Kombination einzugeben, ohne sich zu vertippen.
Sie drehte am Metallrad des Tresors und öffnete mit einiger Kraftanstrengung die schwere Metalltür.
Sofort sah sie den Umschlag, in dem sich ein Bündel Banknoten befand. Außerdem erblickte sie das bereits adressierte Päckchen, das sie mitnehmen sollte. Ayana öffnete den Umschlag, nahm den mit Shume vereinbarten Geldbetrag heraus und legte den Rest wieder zurück in den Tresor. Dann nahm sie das Päckchen und steckte es zusammen mit dem Geld in ihren Jeans-Rucksack, den sie erst vor kurzem in Cap d'Agde auf einem Wochenmarkt für nur zehn Euro erstanden hatte. Sie verriegelte den Tresor und wandte sich wieder der Tür zu, um die Hütte zu verlassen.
Doch sie stutzte: Bildete sie es sich nur ein, oder hatte sie gerade von draußen her ein Geräusch gehört? Sie lauschte …
Da! Ein zweites Mal. Was war das? Oder sollte sie lieber fragen: Wer war das?
Ayana hielt die Luft an, legte ihr rechtes Ohr an die verschlossene Tür und lauschte. Nichts. Nur der Wind wehte. Vielleicht hatte eine etwas stärkere Windböe das Geräusch verursacht. Aber was, wenn nicht?
Ayana packte das kalte Grauen bei dem Gedanken, dass da draußen jemand auf sie warten könnte. Schnell verriegelte sie die Tür und lehnte sich an die Wand, um sich zu sammeln. Sie bereute es zutiefst, dass sie sich auf dieses Geschäft eingelassen hatte.
Nach einer kurzen Pause raffte sie sich auf und schaute vorsichtig durch die Fenster nach draußen: Nichts zu sehen. Dann machte sie sich selber Mut: «Sei kein Feigling, Ayana! Da ist niemand. Du gehst jetzt schnurstracks nach draußen und verschwindest von hier!»
Ayana wollte gerade eben die Tür öffnen, als sie plötzlich Stimmen hörte:
«In der Hütte ist es vollkommen dunkel, da ist niemand.»
«Und sie ist besser gesichert als ein Bunker.»
«Das kannst du laut sagen. Ich habe alle Fenster und Türen überprüft – zwecklos, es ohne unser Spezialwerkzeug überhaupt zu versuchen.»
«Und was ist mit dem Boten?»
«Ich bin mir nicht sicher, ob er schon heute Nacht hier auftaucht. Und wenn – das kann Stunden dauern.»
«Mein Gefühl sagt mir, dass wir nicht lange warten müssen …»
Danach war es wieder still.
Ayana war wie vor den Kopf geschlagen. Panik ergriff sie. Draußen waren zwei Männer, die auf einen Boten warteten. Und der Bote? Damit war wahrscheinlich sie gemeint. Was wurde hier eigentlich gespielt? Woher wussten diese Typen von dem Päckchen? Und wie konnten sie wissen, dass es in dieser Nacht von hier abgeholt werden sollte?
Eines stand fest: Sie befand sich in höchster Gefahr. Ihr wurde schwindelig vor Angst, so dass sie sich setzen musste. Tief durchatmend versuchte sie, sich zu beruhigen, was dringend nötig war, um klare Gedanken zu fassen.
Dann öffnete sie ihren Rucksack und kramte ihr Smartphone heraus. Aber zu ihrem Entsetzen funktionierte es nicht. Sie hörte nur eine Anweisung, dass sie ihr Handy aufladen solle.
«Mist, mein Guthaben ist aufgebraucht! Ausgerechnet!» Sie tippte verzweifelt auf die Notruftaste und wartete … Es kam kein Signal. «Na prima!»
Verzweifelt sah sie sich nach einem Telefon um. Aber die spärlich eingerichtete Hütte, die man trotz der Dunkelheit mit einem Blick überschauen konnte, besaß zwar ein Campingklo, aber kein Telefon. Klar, es war nur ein Bootshaus, wenn auch ein extrem gut gesichertes.
Wenigstens war sie in der Hütte vor den Männern sicher. Sie würde einfach die Nacht hier verbringen und bis zum Morgen warten. Wahrscheinlich würden sie ihr Vorhaben spätestens bei Morgengrauen aufgeben und von hier verschwinden.
Doch ihre Hoffnung wurde sehr schnell zerstört.
«Ich denke, wir sollten hier nicht tatenlos herumsitzen und auf den Boten warten. Wir müssen handeln!»
«Was schlägst du vor?»
«Ich werde zum Lieferwagen zurücklaufen und das Spezialwerkzeug holen. Du bleibst auf dem Posten. Wenn das Mädchen kommt, dann lass sie erst einmal das Päckchen aus dem Tresor holen. Hier, in meinem Rucksack sind Handschellen und Knebel. Sie darf auf keinen Fall laut schreien, sonst hört es jemand und wir haben im Nu die Polizei am Hals. Ich bin etwa in einer halben Stunde wieder da.»
«Alles klar!»
Während der eine der beiden Männer im Dunkeln verschwand, verschanzte sich der andere hinter einem Busch direkt neben der Vordertür der Hütte und starrte gebannt in Richtung Strand.
Dann war es wieder still. Nur das Meeresrauschen und der Wind waren zu hören.
Ayana wurde es schwarz vor Augen. Sie musste sich setzen und nachdenken. Sie wussten also, dass der Bote eine Sie war, und zwar ein Mädchen. Was wussten sie sonst noch? Wenn ihr nicht irgendetwas einfiel, dann würde sie in einer guten halben Stunde diesen Männern in die Hände fallen. Was sollte sie nur tun?!
«… endlich hatte Bongo, der kleine Afrikaner, Zeit, seine Großmutter richtig zu betrachten, die aus dem Kriegsgebiet in Afrika jetzt endlich ebenfalls eingetroffen war. Ein wenig müde sah sie aus nach der langen Reise, die hier in Deutschland im Auffanglager für Asylanten ihr vorläufiges Ende gefunden hatte. Bongo sprang ihr an den Hals und umarmte sie herzlich. Ja, er liebte seine Großmutter, und er war froh, dass sie noch am Leben war …»
Nachdem Julia die letzten Zeilen ihres eigenen Kurzromans vorgetragen hatte, schlug sie das Buch zu und beendete ihre erste Lesung als angehende Jugendautorin. Julia erhielt tosenden Applaus von den mehr als hundert Zuhörern, die vor Begeisterung aufsprangen und Julia mit Händeklatschen und Trampeln ihre Anerkennung zeigten.
Nach Julia traten Isabel und Sam auf die Bühne.
Isabel schaute ins Publikum: «Liebe Zuhörer. Wir als Blaue Tiger möchten uns ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. Und ich möchte noch einmal um einen kräftigen Applaus für unsere Autorin Julia Montenelli bitten.»
Noch einmal jubelte das Publikum Julia zu. Den italienisch klingenden Nachnamen Montenelli hatte sich Isabel ausgedacht, weil sie der Überzeugung war, dass zum Erfolg einer Autorin ein gut klingender Künstlername gehörte.
Nachdem auch der zweite Applaus abgeklungen war, sprach Sam weiter: «Meine Damen und Herren, liebe Anwesende. Der Applaus zeigt mir, dass Ihnen die Lesung gefallen hat, die wir als Jugendgruppe mit dem wohlklingenden Namen Blaue Tiger zugunsten eines wohltätigen Zwecks organisiert haben. Ich denke, Julia hat mit ihrem Kurzroman über den kleinen Bongo beispielhaft rübergebracht, was Asylanten bis zum Eintreffen in Deutschland durchmachen. Und wir haben ja bereits am Anfang durch Bilder und einen Kurzfilm gezeigt, wie es ihnen nach dem Eintreffen in Deutschland ergeht. Ja, in manchen Auffanglagern herrschen schlimme Zustände. Wir wollen durch diese Benefizveranstaltung auf solche Zustände aufmerksam machen und auch etwas dagegen unternehmen. Und Sie können helfen, heute Abend! Wir werden gleich ein paar Körbchen herumgeben und Ihnen damit die Gelegenheit zu einer Spende geben, die samt und sonders einer Stiftung zugutekommt, welche eine hervorragende Arbeit in Auffanglagern macht. Wir als Blaue Tiger würden uns riesig freuen, wenn heute Abend ein richtig hoher Betrag gesammelt werden könnte. Vielen Dank im Voraus für Ihre Spende!»
Wieder folgte ein Applaus, und auch der anschließend zusammengelegte Betrag konnte sich sehen lassen.
Kurz nach Mitternacht kehrten die Blauen Tiger erschöpft in ihr Hauptquartier zurück, das keine fünf Minuten von der Aula entfernt war, in der die Benefizveranstaltung stattgefunden hatte.
Isabel ergriff das Wort: «So, Leute, jetzt können wir den großen Erfolg unserer Benefizveranstaltung so richtig feiern und den Rest des Abends für andere wichtige Sachen nutzen …»
«… zum Beispiel die vor uns liegende Reise planen», ergänzte Julia tatendurstig.
Dieter, der dreiundzwanzigjährige Gruppenleiter der Blauen Tiger, übernahm das Wort: «Schön, dass ihr alle dabei sein könnt! Und weil einige von euch müde sind, machen wir auch nicht mehr so lange. Aber wir sollten die Gelegenheit nutzen und noch über das vor uns liegende Sommer-Zeltlager in Österreich reden …»
Während Dieter weitersprach, schweifte Isabel mit ihren Gedanken ab. Nein, sie fieberte dem Sommerlager nun wirklich nicht entgegen. Sie hatte ihre ganz eigene Meinung zum Thema Zeltlager. Isabel hasste Übernachtungen in klammen Zelten, in denen es ihr eindeutig an Komfort fehlte. Doch andererseits wollte sie bei den Blauen Tigern dabei sein, auch wenn sie Zeltlager nicht mochte.
«… bevor ihr mir allerdings Löcher in den Bauch fragt, würden mich noch ein paar Sachen interessieren. Wo befindet sich Joe gerade?»
Alle zuckten mit den Schultern, nur Julia meldete sich:
«Er hat mich gestern angerufen und mir erzählt, dass er seinen Vater, also Bill Hart, für eine zweitägige Reise begleitet. Als ich nach dem Grund fragte, hat er sehr geheimnisvoll getan und von irgendwelchen geheimdienstlichen Ermittlungen gesprochen, bei denen er Bill helfen soll. Er wird aber rechtzeitig in Österreich zu uns stoßen.»
Isabel musste schallend lachen: «Julia, da hat er dir aber einen ganz schönen Bären aufgebunden! Von wegen geheimdienstliche Ermittlungen! Die Privatschule von Joe hat ein paar Tage früher Ferien. Und sein Daddy macht jetzt mit ihm einen Vater-Sohn-Kurzurlaub, und zwar in … Ach, ich darf ja nicht verraten, wo.»
Julia, die in Joe verliebt war, wunderte sich, dass Isabel mehr wusste als sie.
«Woher weißt du das alles?»
Isabel grinste schelmisch: «Betriebsgeheimnis!»
Dieter schaltete sich dazwischen: «Das kriegst du sicherlich noch raus. Aber hat jemand etwas von Ayana gehört? Beim letzten Telefongespräch sagte sie mir, sie könne wahrscheinlich nicht beim Zeltlager in Österreich dabei sein, weil sie ihre Eltern nach Äthiopien begleiten müsse.»
Julia meldete sich: «Da gibt es gute Neuigkeiten. Ayana fliegt nicht nach Äthiopien, sondern begleitet uns.»
Dieters Gesicht erhellte sich, denn er mochte die kecke Äthiopierin. «Klasse! Und wie sieht es bei dir aus, Sam? Bist du dabei?»
Sam schluckte und schüttelte traurig den Kopf:
Ein missmutiges Murmeln folgte, und Theo fragte nach: «Was? Darfst du etwa nicht mit? Aber warum denn nicht?»
«Statt mit euch ins Zeltlager zu fahren, soll ich meine Eltern in die Ferien begleiten. Und ich sage euch: Mein Vater hat seinen Urlaub ganz bewusst genau auf die Zeit vom Zeltlager gelegt, weil er nicht will, das ich euch begleite. Er hat wortwörtlich gesagt – ich zitiere: ‹Sam, glaub mir, es ist besser für dich, wenn du mit dieser Gruppe nichts mehr zu tun hast. Da steckt doch irgendwie der Wurm drin. Ich für meinen Teil kann es einfach nicht erlauben, dass du dich mit dieser Chaos-Truppe wieder kopfüber in ein neues Abenteuer stürzt.›»
Ein empörter Aufschrei ging durch die Reihen: «Also ehrlich! Der übertreibt ja maßlos …»
Schlussendlich fasste Nick den allgemeinen Unmut in episch klingende Worte:
«Wir wurden soeben beleidigt und geschmäht. Man hat die Ehre der Blauen Tiger mit Füßen getreten. Männer! Frauen! Das dürfen wir auf keinen Fall auf uns sitzen lassen …»
«Ja, den werden wir uns vorknöpfen …!»
«Lassen wir das!», unterbrach Dieter die Diskussion. «In einem Punkt hat er ja recht. Um es mal vorsichtig auszudrücken: Bei unseren letzten vier Reisen steckten wir jedes Mal mindestens einmal ganz gewaltig in der Klemme. Und das ist noch ziemlich stark untertrieben. Ihr wisst selber, was wir alles erlebt haben. Sams Vater hat einfach Angst um seinen Sohn. Letztendlich müssen wir seine Entscheidung respektieren, aber …»
«Aber? …», hakten Theo und Benny nach. Der Rest der Gruppe hing wie gebannt an den Lippen von Dieter, der fortfuhr:
«… aber das letzte Wort ist, glaube ich, noch nicht gesprochen. Außerdem, so leicht geben sich die Blauen Tiger ja wohl nicht geschlagen!»
«Jawoll! Wir werden darum kämpfen, dass er dabei sein darf, so wahr wir Blaue Tiger heißen!»
Dieter schmunzelte: «Also los, ich bitte um Vorschläge, wie wir Herrn Arnold vielleicht umstimmen können.»
Es folgten total verrückte Ideen, die nur in den Köpfen der Blauen Tiger entstehen konnten. Der harmloseste Vorschlag kam am Anfang noch von Julia:
«Ich denke, wir sollten ihn einfach lieb darum bitten, dass er Sam mitgehen lässt, und ihm versichern, dass wir uns nicht in Gefahr begeben.»
Theo schüttelte entschieden den Kopf: «Nein, das funktioniert nicht. Sams Vater ist ein Erwachsener, und Erwachsene lassen sich nicht so einfach umstimmen. Wir sollten stattdessen die Sache mal von der Psychologie her betrachten! Sams Vater hat Angst vor Gefahr – große Angst! Also, meine Schwester hatte mal ein ähnliches Problem wie Sams Vater. Sie hatte eine höllische Angst vor Spinnen. Ein Psychologe hat sie dann in einer Therapie so lange mit Spinnen in Kontakt gebracht, bis die Angst überwunden war.»
Dieter hakte nach: «Und? Was schlägst du als Therapie für Sams Vater vor?»
Theo ließ die Katze aus dem Sack: «Ganz einfach! Wir sollten Herrn Arnold in Situationen bringen, die richtig gefährlich sind. Glaubt mir, nur so kann er seine Angst überwinden!»
Sofort griff Klaus die Idee auf: «Wie wär's, wenn wir ihn gleich mal zum Aufwärmen mit unserem Freund Josua Gais aus Südtirol auf eine Motorradtour über die Alpen schicken? Wenn Joe hier wäre, wüsste er von diesen halsbrecherischen Motorradfahrten ein Liedchen zu singen …»
Dirk, der Jüngste in der Gruppe, nickte und dachte mit Schaudern an die Horrorgeschichten zurück, die ihm Joe über seine Motorradfahrten mit Josua erzählt hatte.
«Stimmt, der fährt auf steinigen Bergwegen wie auf einer Autobahn.»
Sam lachte laut: «Und anschließend darf er Bill Hart bei einem seiner Geheimdiensteinsätze begleiten und sich an einer handfesten Schießerei mit der Mafia beteiligen.»
Alexander war begeistert: «Ja, und danach binden wir ihn an einen Stuhl und werfen ihn mit einem Fallschirm aus einem Hubschrauber! Dann weiß er, was echte Gefahr ist!»
Benny war Feuer und Flamme: «Danach lassen wir ihn an einem Seil frei über dem Vesuv baumeln, damit er so richtig schwindelfrei wird.»
Nicks Augen leuchteten: «Und als krönenden Abschluss schicken wir ihn mit Reinhold Messner auf eine Expedition an den Südpol, und zwar im Winter.»
Dieter musste über diese sogenannte Angst-Therapie lachen.
«Ihr habt Nerven! Also, bei dem Pensum würden sogar bei Indiana Jones die Nackenhaare zu Berge stehen …»
Auch Isabel musste lachen. Aber sie hatte ihre ganz eigenen Gedanken. In einem musste sie den Jungs recht geben. Sie kannte Sams Vater sehr gut. Wenn der sich einmal festgelegt hatte, dann war er stur – und da würde auch ein Erdbeben nichts an seinem Entschluss ändern. Es gab vielleicht noch eine ganz andere, viel bessere Möglichkeit. Nur würde es schwer werden, Dieter und die Blauen Tiger davon zu überzeugen …
Sie ahnte nicht, dass genau in dieser Nacht etwas geschah, das ihren eigenen Plänen in die Hände spielte:
PRESSEMITTEILUNG
STARKE UNWETTER IM SALZBURGER LAND: ÜBERSCHWEMMUNGEN / STRASSEN ÜBERFLUTET / ZUGAUSFÄLLE / ZELTPLATZ DURCH GEWALTIGEN ERDRUTSCH KOMPLETT ZERSTÖRT
Ayana befand sich in höchster Gefahr. Aber sie verdrängte ihre Angst und begann ihre Möglichkeiten zu überdenken.
Dadurch, dass einer der Männer zum Lieferwagen zurückgegangen war, hatte sie es nur noch mit einem einzelnen Gegner zu tun. Und der lag direkt neben dem Vordereingang und wartete – auf sie. Während der vordere Eingang dem Meer zugewandt war, lag ein zweites Bootstor auf der Rückseite der Hütte, also dem Meer abgewandt. Und zwar unbeobachtet.
Nachdem sie sich durch den dunklen Raum getastet hatte, untersuchte sie das Tor. Sie musste versuchen, es zu öffnen und unbemerkt zu entkommen. Aber die Sache war komplizierter, als sie zunächst angenommen hatte. Wie ließ sich dieses Tor öffnen? Sie sah keinen Riegel oder Griff …
Lucio hatte sich neben dem Eingang zur Bootshütte versteckt und lauerte wie paralysiert einem vierzehnjährigen äthiopischen Mädchen auf, das jeden Augenblick aus der Dunkelheit auftauchen musste. Als Mann fürs Grobe, so nannte man diejenigen in der Geheimorganisation TARANTOLA, welche die Drecksarbeit erledigten, hatte er vom Boss aus Lugano den Auftrag erhalten, das Mädchen abzufangen. Nein, er sollte sie auf keinen Fall töten, auch wenn ihm ein Mord nichts ausmachte. Er würde das Mädchen abfangen, sobald sie wieder aus der Hütte kam, ihr das Päckchen abnehmen und sie betäuben, damit die Entführung ohne unnötige Komplikationen verlief.
Lucio musste lachen: Die Übergabe der beiden Päckchen sollte noch in derselben Nacht in Grenoble stattfinden. Als Kontaktpersonen waren ihm zwei ehrenwerte Mitarbeiter von TARANTOLA genannt worden: Ryan Smith und Luigi Belmonte.
Aber wann kam diese junge Äthiopierin endlich? Wenn sie wider Erwarten nicht erscheinen würde, dann hatten sein Kollege und er die Anweisung, sich Zutritt zur Hütte zu verschaffen, das Päckchen aus dem Tresor zu holen und anschließend dem Mädchen daheim einen Besuch abzustatten und sie ohne großes Aufsehen zu entführen. Für Lucio war so ein Auftrag reine Routine, nichts Besonderes. Er hatte bisher niemals über Sinn und Zweck seiner Aufträge nachgedacht, sondern einfach exakt gemäß Anweisung gehandelt. Aber in diesem Fall überlegte er sich schon, welches Interesse TARANTOLA an diesem jungen Mädchen hatte. Reichte es nicht, einfach das Päckchen zu holen und von hier zu verschwinden? Nein, auch wenn er den Sinn nicht verstand. Er durfte seinen Auftrag nicht in Frage stellen, so unlogisch er ihm auch erschien. Das wurde von ihm erwartet, und das war eine seiner Stärken …
Aber was war das? Lucio hörte von der Rückseite der Hütte her ein scharrendes Geräusch. Das musste das Zufahrtstor vom Bootshaus sein! Jemand öffnete es gerade. Aber wie war das möglich? Er hatte niemanden in der Hütte gesehen, geschweige denn jemand sie betreten sehen. Und das Tor ließ sich seiner Meinung nach nur von innen öffnen.
Er sprang auf, lief um die Hütte herum, zog seinen Revolver und nahm sofort das Tor ins Visier: niemand zu sehen, und innen war es nach wie vor dunkel. Vorsichtig schlich er sich näher ans Tor heran, dessen Torflügel jetzt sperrangelweit nach außen hin geöffnet waren, und riskierte vorsichtig einen Blick ins Innere der Hütte.
Plötzlich hörte er das Geräusch einer Spraydose, spürte einen feuchten Luftstrahl im Gesicht und bekam sofort ein starkes Reizen in den Augen, das zu einem brennenden Schmerz anschwoll. Dieser wurde so quälend, dass er die Waffe fallen ließ und sich verzweifelt die Augen rieb, was aber das Brennen nur noch verschlimmerte. Was passierte hier?
Im selben Augenblick hörte er direkt vor sich ein weiteres Geräusch und erhielt einen gezielten Schlag auf eine ganz spezielle Stelle seines Körpers. Sofort ging er in die Knie und krümmte sich vor Schmerz. Doch das war noch nicht alles. Denn plötzlich setzte starker Schwindel ein, und Lucio brach endgültig zusammen …
Ayana atmete auf und steckte die Spraydose, mit der sie ihren Gegner außer Gefecht gesetzt hatte, in die Jackentasche. Das Pfefferspray von Shume hatte es wirklich in sich. Neben dem üblichen Wirkstoff, der ein starkes Brennen in den Augen hervorrief, enthielt es noch einen speziellen Zusatz, der den Gegner für ein paar Minuten benebelte, wenn er den Wirkstoff einatmete.
Woher hatte Shume dieses Spray? In einem normalen Geschäft konnte man dieses Zeug mit Sicherheit nicht kaufen. So etwas war illegal. Aber das war Ayana in diesem Augenblick egal. Das Spray hatte seine Arbeit getan und ihr die Chance gegeben, zu entkommen.
Ayana schnappte sich das Päckchen und fing an zu laufen, weg von der Hütte, weg vom Meer – bloß fort! Sie musste jeden Augenblick damit rechnen, dass der Mann, den sie mit einem Trick überwunden hatte, wieder aufstand. Und dann war das Überraschungsmoment nicht mehr auf ihrer Seite.
Schnell erreichte sie einen der vielen Durchgänge, die vom Strand durch die Dünen in den Ort führten. Ayana blieb stehen und schaute sich um. Niemand war ihr gefolgt. Sie atmete erleichtert auf, immer noch laut schnaufend. In diesem Augenblick brach der Mond durch die dünne Wolkendecke und machte die Nacht fast zum Tag. Hier bei den Dünen stand sie wie auf dem Präsentierteller. Und beide Männer, mit denen sie es zu tun hatte, waren bewaffnet. Sie musste weiter …