Joe unter den Piraten - Jack London - E-Book

Joe unter den Piraten E-Book

Jack London

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Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Das Jugendbuch beschreibt die Abenteuer des Joe Bronson. Der Junge wächst im San Francisco des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf und bekommt mit seinem Freiheitsdrang in der Schule nur Ärger. Auch mit seinem Vater, einem ordnungsliebenden, pflichtbewussten Unternehmer, hat er nur Schwierigkeiten, und so haut er von daheim ab. Unter den Seeleuten in der Bucht von San Francisco hofft Joe, sich den Traum von der Seefahrt und der weiten Welt zu erfüllen.

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Joe unter den Piraten

Jack London 

Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
I. Bruder und Schwester
II. Die drakonischen Reformen
III. »Rotkohl«, »Fuchs« und »Feuerwanze«
IV. Wer andern eine Grube gräbt …
V. Wieder zu Hause
VI. Die Prüfung
VII. Vater und Sohn
Zweiter Teil
VIII. Frisco Kid und der Neue
IX. An Bord der »Blender«
X. Bei den Piraten der Bucht
XI. Kapitän und Mannschaft
XII. Joe versucht zu entwischen
XIII. Freunde in der Not
XIV. Bei den Austernbänken
XV. Auf gefährlichem Ankergrund
XVI. Frisco Kid packt aus
XVII. Frisco Kid erzählt seine Geschichte
XVIII. Neue Verantwortung für Joe
XIX. Joe und Kid wollen fliehen
XX. Gefährliche Stunden
XXI. Joe und sein Vater
Impressum

Erster Teil

I. Bruder und Schwester

Laut dröhnte die Brandung des Pazifiks hinter ihnen, als sie über den schimmernden Sand liefen. Oben auf der Uferstraße sprangen sie auf ihre Fahrräder, und in schneller Fahrt tauchten sie in die grünen Alleen des Parks. Sie waren zu dritt – drei Jungen in leuchtenden Pullovern –, und sie rasten so gefährlich nahe an der Geschwindigkeitsgrenze den Radfahrweg entlang, wie man es von Jungen in leuchtenden Pullovern nicht anders erwartet. Vielleicht fuhren sie sogar zu schnell. Ein berittener Polizist war jedenfalls der Ansicht. Da er aber doch nicht ganz sicher war, gab er sich mit einer warnenden Handbewegung zufrieden, als die Jungen vorbeiflitzten. Sie nahmen die Warnung prompt zur Kenntnis und vergaßen sie nach der nächsten Biegung genauso prompt, was man ebenfalls von Jungen in leuchtenden Pullovern nicht anders erwartet.

Sie schossen durch das Tor zum Golden-Gate-Park, bogen nach San Franzisko ein und sausten mit solch einer Geschwindigkeit den langen Abhang hinunter, daß die Fußgänger stehenblieben und ihnen mit ängstlichen Gesichtern nachsahen. Durch die Straßen der Stadt flogen die hellen Pullover, schwenkten und wendeten, um die steileren Hügel möglichst zu umgehen. Waren sie aber nicht zu vermeiden, setzte jeder von den dreien alles daran, als erster oben zu sein.

Der Junge, der öfter als die anderen das Tempo bestimmte, die Jagd begann und die Kraftproben vorschlug, wurde von seinen Freunden Joe genannt. Joe war der fröhlichste und kühnste der drei, und er führte. Aber als sie an den großen, eleganten Villen der Western Addition vorbeiradelten, lachte Joe weniger laut und nicht mehr so oft, und unwillkürlich fiel er immer mehr zurück. An der Ecke Laguna-Vallejostraße bogen seine Freunde nach rechts ab. »Bis dann, Fred!« rief Joe, als er nach links abschwenkte.

»Bis dann, Charlie!«

»Bis heute abend!« riefen sie zurück.

»Nein, ich kann nicht kommen«, antwortete er.

»Mach keinen Quatsch«, bettelten sie.

»Kann wirklich nicht, muß büffeln. Wiedersehen!«

Joes Gesicht wurde ernst, als er allein weiterfuhr, und seine Augen blickten kummervoll. Er begann energisch zu pfeifen, aber sein Pfeifen wurde dünner und dünner, bis es schließlich nur noch ein sehr schüchterner Laut war und ganz verstummte, als er die Auffahrt zu einem großen zweistöckigen Haus hinaufradelte.

»Ah, Joe!«

Er hielt seinen Schritt vor der Tür zur Bibliothek an. Bessie war da, das wußte er, und arbeitete fleißig an ihren Hausaufgaben. Sie mußte sogar schon fast fertig sein, denn sie war immer vor dem Abendessen fertig, und es konnte nicht mehr lange bis zum Abendessen dauern. Joe hatte seine Aufgaben überhaupt noch nicht angerührt. Der Gedanke machte ihn wütend. Schlimm genug, daß die eigene Schwester, obwohl sie zwei Jahre jünger war, in derselben Klasse saß. Aber geradezu unerträglich war es, dauernd von ihr in den Zensuren um mehrere Längen geschlagen zu werden. Nicht, daß er dumm war. Er wußte selber am besten, daß er nicht dumm war. Aber aus irgendeinem Grunde – wie es kam, wußte er selber nicht – waren seine Gedanken nie da, wo sie sein sollten, und meistens kam er unvorbereitet in die Schule.

»Joe, komm doch bitte einmal her.« Diesmal war nur ein ganz winziger Anflug von Vorwurf in ihrer Stimme. »Ja?« sagte er und schleuderte den Vorhang mit einer ungestümen Bewegung zur Seite. Es klang barsch, aber im nächsten Augenblick, als er das kleine zarte Mädchen sah, das ihn mit wehmütigen Augen über den großen, mit Büchern überhäuften Arbeitstisch hinweg anblickte, tat es ihm schon halb leid. Bessie hatte sich mit Bleistift und Schreibblock in einen Sessel gekuschelt, dessen üppige Ausmaße sie noch zarter und zerbrechlicher erscheinen ließen, als sie wirklich war.

»Was gibt's denn, Schwesterchen?« fragte er freundlicher und ging zu ihr hinüber.

Sie nahm seine Hand und drückte sie gegen ihre Wange, und als er neben ihr stand, schmiegte sie sich an ihn.

»Was ist los mit dir, Joe?« fragte sie leise. »Willst du es mir nicht sagen?«

Er schwieg. Es kam ihm blödsinnig vor, seinen Kummer einer kleinen Schwester zu beichten – mochten ihre Zensuren hundertmal besser sein als die eigenen. Und es kam ihm ebenfalls blödsinnig vor, daß die kleine Schwester ihn nach seinem Kummer fragte. – Wie weich ihre Wange ist, dachte er, als sie ihr Gesicht sanft gegen seine Hand drückte. Wenn er sich nur losreißen könnte! Es war alles so blöd! Aber er könnte sie kränken, und seiner Erfahrung nach waren kleine Mädchen sehr leicht gekränkt. Bessie löste Joes Finger und drückte einen Kuß auf seine Handfläche. Es war, als ob ein Rosenblatt darauf fiele, und außerdem wollte sie auf diese Art ihre Frage wiederholen.

»Nichts ist los!« sagte er entschieden. Und dann platzte er doch ganz unvermittelt heraus: »Wegen Vater!«

Joes Kummer sprach aus Bessies Augen. »Aber Vater ist so gut und so lieb, Joe«, begann sie. »Warum versuchst du nicht wenigstens, es ihm recht zu machen? Er verlangt doch gar nicht viel von dir, und er will doch nur dein Bestes. Und du bist doch auch gar nicht so dumm wie manche anderen Jungen. Wenn du dir nur ein bißchen Mühe gäbest …«

»Schon wieder eine Predigt!« explodierte er und entriß ihr grob seine Hand. »Jetzt fängst auch du schon an, mir Vorschriften zu machen. Demnächst fallen wohl auch noch die Köchin und der Stalljunge über mich her!«

Er stieß die Hände in die Taschen. Vor ihm stieg das Bild einer düsteren und trostlosen Zukunft auf, die angefüllt war von unzähligen nicht enden wollenden Moralpredigten. » Darum hast du mich gerufen?« fragte er und wandte sich zum Gehen.

Wieder griff sie nach seiner Hand. »Nein, nicht darum. Aber du sahst so bedrückt aus, da hab' ich gedacht, ich …« Ihre Stimme versagte, und sie begann noch einmal von neuem. »Was ich dir eigentlich sagen wollte: Wir wollen am nächsten Sonnabend über die Bucht nach Oakland fahren und von dort aus eine Wanderung durch die Berge machen.«

»Wer ist ›wir‹?«

»Myrtle Haze …«

»Was, die Ziege?« unterbrach er.

»Ich halte sie nicht für eine Ziege«, antwortete Bessie mit Nachdruck. »Sie ist eines der nettesten Mädchen, die ich kenne.«

»Was überhaupt nichts bedeutet, wenn ich an die Mädchen denke, die du kennst. Aber nur weiter, wer sonst noch?«

»Pearl Sayther und ihre Schwester Alice und Jessie Hilborn und Sadie French und Edna Crothers – das sind die Mädchen.«

Joe schnaufte verächtlich. »Und wer sind die Jungens?«

»Maurice und Felix Clement, Dick Schofield, Burt Layton und …«

»Das genügt! Lackaffen, die ganze Bande!«

»Ich – ich wollte dich und Fred und Charlie bitten«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Darum habe ich dich hereingerufen – um euch zu bitten, mitzukommen.«

»Und was habt ihr alles vor?« fragte er.

»Wandern, Blumen pflücken – der Klatschmohn blüht jetzt gerade –, irgendwo, wo es hübsch ist, Mittag essen und …«

»... wieder nach Hause gehen«, beendete er den Satz für sie.

Bessie nickte. Joe steckte seine Hände wieder in die Tasche und ging auf und ab.

»Der reinste Kindergarten!« sagte er schroff. »Und was für ein Kindergartenprogramm! Nichts für mich, vielen Dank!« Sie preßte ihre zitternden Lippen aufeinander und mühte sich tapfer weiter um ihn. »Was würdest du denn lieber tun?« fragte sie.

»Was ich lieber tun würde? Mit Fred und Charlie irgendwohin gehen und irgend etwas tun, ganz gleich, was.« Er hielt ein und sah sie an. Geduldig wartete sie darauf, daß er weitersprach. Er wußte selber, daß es ihm unmöglich war, in Worte zu fassen, was er fühlte und was er wollte. All sein Kummer und seine ganze Unzufriedenheit stiegen in ihm auf und nahmen von ihm Besitz.

»Ach, du verstehst mich nicht!« brach es aus ihm heraus. »Du kannst mich gar nicht verstehen. Du bist ein Mädchen. Du möchtest immer nett und ordentlich sein und dich brav aufführen und in der Schule anderen voraus sein. Du machst dir nichts aus Gefahr und Abenteuer, und du machst dir auch nichts aus Jungens, die Mumm und Mut haben und was riskieren. Du ziehst süße kleine Streber mit weißen Kragen vor, die immer saubere Sachen anhaben und immer geschniegelt sind. Die auch in der Pause am liebsten immer in der Klasse bleiben und sich vom Lehrer verhätscheln lassen und immer gerne hören wollen, daß sie besser sind als alle anderen. So nette, kleine, brave Jungens, die niemals in der Klemme sitzen, weil sie soviel mit Herumspazieren zu tun haben und mit Blumenpflücken und Mittagessen in Mädchengesellschaft, daß sie gar nichts ausfressen können. Die Sorte kenne ich. Die haben Angst vor ihrem eigenen Schatten. Und nicht mehr Mumm in den Knochen als ein paar alte Schafe. Schafe sind sie, sonst nichts. Nun, ich bin kein Schaf, basta. Ich will bei eurem Picknick nicht mitmachen. Und damit du es genau weißt: Ich mache überhaupt nicht mit.«

Bessies braune Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Lippen bebten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Wozu taugten Mädchen eigentlich? Dauernd mußten sie heulen und Theater machen und sich in anderer Leute Sachen einmischen. Blöde Geschöpfe waren sie.

»Dir kann man aber überhaupt nichts sagen, ohne daß du gleich anfängst zu heulen«, begann er und versuchte, sie zu besänftigen. »Ich wollte dir doch nicht weh tun, Schwesterchen. Bestimmt nicht. Ich …«

Hilflos blickte er zu ihr hinab. Sie schluchzte und versuchte doch gleichzeitig, zitternd vor Anstrengung, ihr Schluchzen zu beherrschen, während große Tränen ihre Wangen hinunterliefen.

»Mensch, Mädchen können sich vielleicht anstellen!« rief er und verließ wütend das Zimmer.

II. Die drakonischen Reformen

Immer noch wütend ging Joe wenige Minuten später zum Abendessen. Er aß schweigend, obwohl seine Eltern und Bessie sich angeregt unterhielten. Da sitzt sie, die Schwester – beklagte er sich grimmig bei seinem Teller –, eben noch geheult und jetzt schon wieder nichts als Lächeln und Ausgelassenheit! Das war nun seine Art überhaupt nicht. Wenn er einmal einen hinreichend wichtigen Grund zum Heulen hatte, konnte man sich darauf verlassen, daß er mehrere Tage brauchte, um darüber hinwegzukommen. Mädchen waren Heuchler, mehr gab's da nicht zu sagen. Sie fühlten nicht einmal ein Hundertstel von dem, was sie bei ihrer Heulerei quasselten. Das war sonnenklar. Sie stellten sich bestimmt nur so an, weil es ihnen Spaß machte. Rein zum Vergnügen verdarben sie anderen Leuten, besonders Jungens, die Laune. Darum mischten sie sich in alles ein.

Bei diesen weisen Betrachtungen hielt Joe den Blick auf seinen Teller gerichtet und ließ dem Essen Gerechtigkeit angedeihen. Man kann nicht mit dem Rad von Cliff-House durch den Park nach Western Addition rasen, ohne einen sehr gesunden Appetit mitzubringen.

Ab und zu warf sein Vater ihm einen leicht besorgten Blick zu. Joe sah diese Blicke nicht, aber Bessie sah sie, jeden einzelnen. Mr. Bronson war ein Mann in mittleren Jahren, gut gebaut und von kräftiger Figur, aber durchaus nicht dick. Er hatte ein gefurchtes Gesicht mit kantigem Kinn und strengen Zügen, aber seine Augen blickten freundlich, und um seinen Mund lagen Falten, die eher Fröhlichkeit als Strenge verrieten. Schon bei flüchtigem Hinsehen entdeckte man die Ähnlichkeit zwischen ihm und Joe. Beide hatten die gleiche breite Stirn und die gleichen starken Kinnladen, auch die Augen sahen sich, wenn man den Altersunterschied mit in Betracht zog, so ähnlich wie Erbsen aus derselben Schote.

»Wie sieht's in der Schule aus, Joe?« fragte Mr. Bronson schließlich. Das Abendessen war beendet, und sie wollten eben vom Tisch aufstehen.

»Weiß nicht«, antwortete Joe gleichgültig. Dann fügte er hinzu: »Morgen sind die Prüfungen, dann wird's ja 'rauskommen.«

»Wohin willst du?« fragte seine Mutter, als er sich anschickte, den Raum zu verlassen. Sie war eine schlanke, anmutige Frau, von der Bessie ihre braunen Augen und ihr sanftes Wesen hatte.

»Auf mein Zimmer«, erwiderte Joe. Und er setzte hinzu: »Arbeiten!« Sie fuhr ihm liebevoll durch das Haar, beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn. Mr. Bronson lächelte ihm anerkennend zu, als er hinausging, und Joe eilte die Treppe hinauf, fest entschlossen, tüchtig zu schuften und die Prüfungen des kommenden Tages zu bestehen. Er ging in sein Zimmer, verriegelte die Tür und nahm an seinem Pult Platz, das zum Schulaufgabenmachen außerordentlich bequem hergerichtet war. Er ließ seinen Blick über seine Schulbücher wandern. Mit Geschichte sollten die Prüfungen am nächsten Morgen beginnen, darum wollte er sich zuerst an die Geschichtslektion machen. Er öffnete das Buch an der Stelle, an der er ein Eselsohr gemacht hatte, und begann zu lesen:

Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben.

Das war leicht. Aber was waren die drakonischen Reformen? Die mußte er nachschlagen. Er kam sich außerordentlich wissensdurstig vor, als er die vorhergehenden Seiten durchflog – bis er zufällig seine Augen über die obere Kante des Buches erhob und auf einem Stuhl eine Baseballmaske und einen Fanghandschuh erblickte. – Das Spiel am vergangenen Sonnabend hätten sie nicht verlieren dürfen, dachte er. Und sie hätten es auch nicht verloren, wenn Fred nicht mitgespielt hätte. Wenn Fred doch endlich aufhören würde, Bälle zu verpatzen. Er konnte hundert schwierige Bälle hintereinander schnappen, aber wenn es dann einmal kritisch wurde, ließ er den leichtesten fahren. Er würde ihn ins Feld hinausstellen und Jones dafür ins erste Mal zurückbringen müssen. Jones war allerdings ziemlich zappelig. Er konnte jeden Ball halten, ganz gleich, wie kritisch die Lage war, aber man war nie sicher, was er hinterher mit dem Ball anstellen würde. – Mit einem Ruck wachte Joe aus seinen Träumen auf. Das war ja eine nette Art, Geschichte zu ochsen! Er vergrub sich wieder in sein Buch und las:

Kurz nach den drakonischen Reformen …

Er las den Satz dreimal, und dann fiel ihm ein, daß er die drakonischen Reformen nicht nachgeschlagen hatte.

Ein Klopfen an der Tür. Unter lautem Rascheln blätterte Joe die Seiten um, antwortete aber nicht.

Das Klopfen wiederholte sich, und Bessies »Joe, hör doch!« drang an sein Ohr.

»Was willst du?« fragte er. Aber bevor sie antworten konnte, setzte er eilig hinzu: »Eintritt verboten! Ich habe zu tun.«

»Ich wollte nur sehen, ob ich dir vielleicht helfen kann«, schmollte sie. »Ich bin fertig, und ich dachte …«

»Selbstverständlich bist du fertig!« rief er. »Du bist immer fertig!« Er klemmte seinen Kopf zwischen beide Hände, so daß sein Blick auf das Buch gerichtet blieb. Aber die Baseballmaske plagte ihn. Je mehr er versuchte, seine Gedanken auf Geschichte zu konzentrieren, desto lebhafter sah er vor seinem inneren Auge die Maske auf dem Stuhl und all die Spiele, an denen sie teilgenommen hatte. So konnte es einfach nicht weitergehen. Behutsam legte er das Buch mit dem Gesicht nach unten auf das Pult und ging zu dem Stuhl hinüber. Mit raschem Schwung schleuderte er Maske und Handschuh unter das Bett, und zwar mit solcher Kraft, daß die Maske von der Wand zurücksprang.

Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus …

Die Maske war an der Wand abgeprallt. Ob sie wohl so weit zurückgerollt war, daß er sie sehen konnte? Nein, er wollte nicht hinsehen. War es nicht ganz gleichgültig, ob sie zurückgerollt war? Das hatte nichts mit Geschichte zu tun. Ob sie wohl …?

Er spähte über den Rand des Buches hinweg, und da lag die Maske und blinzelte ihn unter dem Bett hervor an. Das war zuviel! Es hatte einfach keinen Zweck, sich mit den Schulaufgaben abzuquälen, solange die Maske in der Nähe war.

Er ging hinüber und fischte sie auf, durchquerte den Raum zum Wandschrank hin, knallte sie hinein und verschloß die Tür. Gott sei Dank, das war erledigt. Jetzt konnte er sich an die Arbeit machen.

Wieder setzte er sich an das Pult.

Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben.

Schön und gut. Wenn er nur gewußt hätte, was die drakonischen Reformen waren! Ein sanftes Glühen legte sich über den Raum, und plötzlich bemerkte es auch Joe. Wo konnte es herrühren? Er sah zum Fenster hinaus. Die untergehende Sonne warf ihre langen Strahlen schräg gegen die tiefhängenden sommerlichen Wolkenknäuel und verfärbte sie zu einem warmen Scharlach und Rosenrot. Und von ihnen wurde das weiche, rötlich glühende Licht auf die Erde zurückgeworfen.

Sein Blick senkte sich von den Wolken auf die darunterliegende Bucht. Nun, gegen Abend, legte sich die Seebrise, und beim Fort Point kroch ein Fischerboot mit dem letzten bißchen Wind in den Hafen. Weiter draußen paffte ein Schlepper, der einen dreimastigen Schoner in die See hinausschleppte, eine quirlende Rauchsäule in die Luft. Joes Blick wanderte zur Küste von Marin County hinüber. Die Linie, an der Land und Wasser sich trafen, war bereits in Dunkelheit getaucht, und lange Schatten krochen die Berge hinauf zum Gipfel des Tamalpais, der scharfumrissen gegen den westlichen Himmel stand. Wenn er, Joe Bronson, doch nur auf diesem Fischerboot wäre und mit einem Hochseefang den Hafen anliefe! Oder noch lieber auf dem Schoner, der jetzt in den Sonnenuntergang hineinsegelte und hinaus in die Welt. Das war Leben, das hieß leben! Etwas fertigbringen in der Welt und etwas darstellen in der Welt. Statt dessen saß er da in ein enges Zimmer gesperrt und zerbrach sich den Kopf über Leute, die schon Tausende von Jahren vor seiner Geburt nicht mehr lebten.

Er riß sich mit einem Ruck vom Fenster los, wo ihn eine unsichtbare Gewalt zurückhalten wollte, und trug seinen Stuhl und sein Geschichtsbuch entschlossen in den hintersten Winkel des Zimmers. Dort setzte er sich mit dem Rücken zum Fenster hin.

Einen Augenblick später, so erschien es ihm wenigstens, sah er sich wieder am Fenster stehen und träumend hinausschauen. Wie er dort hingekommen war, wußte er nicht. Seine letzte Erinnerung war das Auffinden einer Überschrift auf einer Seite rechts im Buch, die »Das Gesetz und die Verfassung Drakons« lautete. Und dann war er, offenbar wie ein Schlafwandler, zum Fenster gegangen. Wie lange er wohl da gestanden hatte? Das Fischerboot, das er auf der Höhe von Fort Point entdeckt hatte, näherte sich nun dem Meigg-Kai. Das bedeutete, daß fast eine Stunde vergangen sein mußte. Die Sonne war längst untergegangen, ein feierliches Grau hing schwer über dem Wasser, und die ersten blassen Sterne blinkten über dem Gipfel des Mount Tamalpais.

Mit einem Seufzer drehte er sich um und wollte in seine Ecke zurückgehen, als eine langer, durchdringender Pfiff schrill an sein Ohr klang. Das war Fred. Joe seufzte erneut. Das Pfeifen wiederholte sich. Dann fiel ein zweiter Pfiff ein. Das war Charlie. Sie warteten an der Ecke, die Glückspilze! Nun, heute abend würden sie ihn nicht zu sehen bekommen. Beide Pfiffe vereinigten sich zu einem Duett. Joe wandt sich auf seinem Stuhl und stöhnte. Nein, heute brauchten sie nicht mit ihm zu rechnen, wiederholte er im stillen, stand aber gleichzeitig auf. Es war ihm völlig unmöglich, mit den beiden zu gehen, solange er keine Ahnung hatte von den drakonischen Reformen. Dieselbe Macht, die ihn an das Fenster gefesselt hatte, schien ihn nun quer durch das Zimmer an das Pult zu zerren. Sie zwang ihn, das Geschichtsbuch oben auf die anderen Schulbücher zu legen, und bevor es ihm selber klar wurde, hatte er die Tür aufgeschlossen und die Halle zur Hälfte durchschritten. Er wollte umkehren, aber da kam ihm der Gedanke, daß er ja eine kleine Weile nach draußen gehen und dann zurückkommen und seine Aufgaben machen konnte.

Eine sehr kleine Weile, versprach er sich selber, als er die Treppe hinunterging. Schneller und schneller stieg er hinab, bis er am Fuß der Treppe schließlich drei Stufen auf einmal nahm. Er stülpte seine Mütze über den Kopf und verließ das Haus hastig durch den Seiteneingang. Als er an der Ecke ankam, lagen die Reformen des Drakon so weit hinter ihm in der Vergangenheit wie Drakon selber, während die Prüfungen des kommenden Tages nicht weniger weit vor ihm in der Zukunft lagen.

III. »Rotkohl«, »Fuchs« und »Feuerwanze«

»Was habt ihr vor?« fragte Joe, als er bei Fred und Charlie ankam.

»Drachen«, antwortete Charlie. »Los, los, wir haben lange genug auf dich gewartet.«

Die drei gingen die Straße zum Berghang hinunter. Dort blickten sie auf die Union Street hinab, die tief unten zu ihren Füßen lag. Das da unten nannten sie den »Höllenschlund«, und der Name paßte. Sich selber nannten sie »Bergbewohner«, und sie betrachteten einen Abstieg der Bergbewohner in den Schlund als ein großes Abenteuer. Drachensteigenlassen in technischer Vollendung gehörte zu den feinsten Vergnügungen dieser drei Bergbewohner. Sechs oder acht Drachen, die sich an einem meilenlangen Zwirnsfaden in die Wolken aufschwangen, waren für sie etwas ganz Alltägliches. Aber sie waren gezwungen, ihren Vorrat an Drachen oft zu ergänzen. Denn wenn sie Pech hatten und die Schnur riß, oder ein abtrudelnder Drachen zerrte die anderen mit, oder der Wind flaute plötzlich ab, dann fielen ihre Drachen in den Schlund, und von dort konnten sie nicht zurückgeholt werden. Das lag daran, daß die jungen Leute unten im Schlund einer Piraten- und Räuberbande mit merkwürdigen Ideen von Eigentum und Besitz angehörten.