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Der Wehrmachtsmajor Johann Albrecht von Reiswitz genießt in Serbien heute einen ausgezeichneten Ruf: Dort machte er sich während der deutschen Besatzungszeit ab 1941 als Berater der Militärregierung einen Namen und sorgte für den Erhalt der serbischen Kunstschätze sogar über die Kriegszeit hinaus. In seiner akribisch recherchierten Dissertationsschrift zeichnet Andreas Roth das Bild eines streitbaren Historikers, der sich nach Kräften um eine deutsch-südslawische Annäherung und Versöhnung bemühte.
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Seitenzahl: 1239
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Andreas Roth
(1899–1962)
Vom unbequemenSüdosteuropaexpertenzum Kunstschützer
Umschlaggestaltung: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien Sämtliche Abbildungen: Archiv des Autors
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ISBN 978-3-99081-024-8eISBN 978-3-99081-030-9
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Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien
Vorwort
Einleitung
Forschungsstand
Quellen
Methodik
Aufbau der Arbeit
1. Werdegang zum Wissenschaftler
1.1. Frühe akademische und politische Prägungen
1.2. Die erste Jugoslawienreise 1924 und ihre Folgen
1.3. Ein ganz persönlicher „Balkanismus“
2. Auf dem Weg in die Südosteuropaforschung
2.1. Der Autodidakt
2.2. Die drei „Einbruchstellen“
2.3. Netzwerkbildung und die zweite Jugoslawienreise 1928
3. Der Denkmalschutz und die Ohridgrabungen
3.1. Die Genese des deutsch-jugoslawischen Grabungsabkommens 1929
3.2. Die Gesellschaft zum Schutz der Altertümer
3.3. Die Ohridgrabung 1931
3.4. Die Ohridgrabung 1932
4. Der Versuch der wissenschaftlichen Etablierung
4.1. Die zwei Habilitationsversuche – erst Berlin, dann München
4.2. Der lange Weg zur Hochschuldozentur
4.3. Auf der Suche nach finanzieller Förderung
4.4. Wilhelm Treue – Reiswitz’ Verbindungsmann in Berlin
4.5. Die wissenschaftliche und publizistische Reaktion auf Reiswitz’ Habilitationsschrift
5. Bemühungen um Einflussnahme auf die deutsche Jugoslawienpolitik
5.1. Kontaktpflege
5.2. Der jüdische Freundeskreis
5.3. Inhalt und Wirkung der Jugoslawiendenkschrift 1933
6. Der Kunstschützer (1941–1944)
6.1. Die Anlaufphase des militärischen Kunstschutzes in Serbien
6.1.1. Die Initiativbewerbung für den Kunstschutz
6.1.2. Die Mobilisierung der einheimischen Helfer
6.1.3. Das Sofortmaßnahmenpaket des Kunstschutzes
6.2. Reiswitz und das „Ahnenerbe“
6.2.1. Die Genese der Zusammenarbeit mit dem „Ahnenerbe“
6.2.2. Kunstschutz und ideologische Kriegsführung
6.2.3. Die Spur des Geldes des „Ahnenerbe“
6.3. Aus- und Umformung von Reiswitz’ Engagement in Serbien
6.3.1. Das Alltagsgeschäft des Kunstschutzes
6.3.2. Die Erweiterung des Aufgabenbereiches
6.3.3. Die Abwicklung des Kunstschutzes
Fazit
Bildteil
Quellen und Literatur
1.Quellen
1.1.Archivalische Quellen
1.2.Gedruckte Quellen
2.Forschungsliteratur
2.1.Monographien, Sammelbände
2.2.Aufsätze, Beiträge in Sammelbänden
2.3.Buchbesprechungen
2.4.Internetbeiträge
Anmerkungen
Völlig verblüfft war ich vor einigen Jahren, als mir im Zusammenhang mit einer Internetrecherche zu einem Projekt an meiner Arbeitsstätte, der Deutschen Schule Belgrad, der Bericht eines gewissen Johann Albrecht von Reiswitz über deutsche Kunstschutzaktivitäten in Serbien während des 2. Weltkriegs virtuell in die Hände fiel. Im Jahre 2012 war ich aus dem nordrhein-westfälischen in den Auslandsschuldienst eingetreten und mehr oder minder zufällig auf dem Balkan gelandet. Als Geschichtslehrer zog mich schon bald die Vergangenheit Südosteuropas in ihren Bann. Gerade in Serbien gibt es enorm viele Versionen der Geschichte der Jahre 1941–1944. Je nachdem, ob ich mit einem Verfechter der Partisanenversion, einem Anhänger der königstreuen Tschetniks, einem Fürsprecher der Regierung Nedić oder einem Vertriebenenvertreter sprach. Der Kunstschutzbericht aus dem Netz verwirrte mich noch mehr, da hier ein Angehöriger der deutschen Militärverwaltung, zumindest seinen eigenen Ausführungen nach, seine Tätigkeit offenbar sehr ernst genommen und zum Wohle Serbiens durchgeführt hatte. Wie konnte das möglich sein?
Ich wollte also mehr über diesen Herrn von Reiswitz herausfinden, doch gab es so gut wie keine Literatur über ihn und den Kunstschutz der Wehrmacht im besetzten Serbien zu finden. Allerdings gelang es mir, seine drei Kinder ausfindig zu machen. Zwei davon leben in Bayern. Beide teilten mir zunächst mit, dass sie mir nur wenig über die Arbeit ihres Vaters in Serbien erzählen könnten. Als ich dann aber im Sommer 2016 Bettina von Reiswitz in München besuchte, fanden sich im Keller ihres Wohnhauses nicht nur reichhaltige Aktenbestände aus der Kunstschutzzeit, sondern auch umfangreiche Privatkorrespondenz ihres Vaters. Ich brauchte nicht lange, um eine Entscheidung zu treffen. Diese Dokumente sollten den Grundstock an Primärquellen für ein Buch über den Kunstschutz in Serbien bilden.
Bei der Bearbeitung der Quellen stellte sich schnell heraus, dass Reiswitz bei Beginn seiner Kunstschutztätigkeit bereits auf lange und vielfältige Jugoslawienerfahrung zurückblicken konnte. Zunächst als Reisender und Liebhaber von Land und Leuten – insbesondere eine junge Dame, die er in Dubrovnik traf, spielte ihren nicht unerheblichen Part. Dann als Wissenschaftler und Ausgräber. Schließlich auch als jemand, der aktiv auf die politische Annäherung von Deutschland und Jugoslawien hinarbeitete. Das Buchprojekt nahm folglich immer mehr biographische Züge an.
Da ich als vollzeitbeschäftigter Lehrer nur in beschränktem Umfang über die Muße verfügte, ein solches Buchprojekt durchzuführen, hielt ich es für eine gute Idee, mich dadurch zu disziplinieren, das Thema an der Ludwig-Maximilians-Universität in München als Doktorarbeit unterzubringen. München war schließlich auch die spätere akademische Wirkungsstätte von Reiswitz, der ursprünglich in Philosophie promovierte, aber dann zur Geschichte Südosteuropas wechselte. Seit der Veröffentlichung meiner Biographie des irischen Gesandten in Berlin von 1933–1939, Charles Bewley, im Jahre 2000 hatte ich mich nur peripher dem Universitätsbetrieb gewidmet.
Die nun neu gewonnenen Erfahrungen waren zwiespältig. Ich genoss es zum einen, bei den Doktorandenseminaren wieder in die Schülerrolle zu schlüpfen. Zum anderen aber stellte ich schnell fest, dass meine Herangehensweise an die Thematik nicht den Wünschen meiner Betreuerinnen entsprach. Weder die von mir gewählte Methodik, eine Fallstudie mit einer Biographie zu verbinden, noch meine sich mehr und mehr herauskristallisierenden Befunde stellten die beiden Gutachterinnen zufrieden. Ich hatte allerdings noch sehr lange die wohl naive Vorstellung, meine Vorgehensweise und meine Ergebnisse im Rahmen einer Disputation begründen zu können. Doch dazu sollte es nicht kommen.
Im März 2019 reichte ich die Arbeit ein, im Mai bekam ich die Rückmeldung, dass Änderungsbedarf bestehe. Die Umsetzung der gewünschten Änderungen jedoch hätten, davon war und bin ich fest überzeugt, den Inhalt meines Textes und den Gehalt meiner Befunde in eine Richtung gedrängt, mit der ich mich nicht einverstanden erklären konnte. Mein Ergebnis entsprach aber wohl, meines Erachtens, nicht den Erwartungen der Hüterinnen der derzeitigen historiographischen Deutungshoheit. Ich zog die Arbeit zurück.
Um aber dennoch einem interessierten Lesepublikum die außergewöhnliche Karriere eines zum Südosteuropaexperten mit Professur in München gewandelten preußischen Barons nahezubringen, der von offizieller serbischer Seite heute als „Lichtgestalt in deutscher Uniform“ gepriesen wird, machte ich mich auf die Suche nach einem Verlag.
Mein Dank gilt an erster Stelle den Kindern meiner Hauptfigur, Bettina, Christoph und dem kürzlich verstorbenen Stefan von Reiswitz, die meine Arbeit mit Interesse und Hilfsbereitschaft begleiteten, ohne dabei den Versuch zu unternehmen, redaktionellen Einfluss auszuüben. Ferner stehe ich tief in der Schuld meiner Frau Deirdre Roth, die sich der Arbeit in allen Teilen als kritische Korrektorin widmete und sie durch ihr Verständnis und ihre Geduld erst ermöglichte. Auch bei anderen kritischen Lesern möchte ich mich bedanken, besonders bei Dr. Jelena Volić-Hellbusch, Germanistin und Krimiautorin, und bei Georg Spielmann, geschichtsinteressiertem Buchhändler, an deren Urteil bezogen auf die narrative Stringenz meines Textes mir besonders gelegen war. Für stundenlange und kontroverse Debatten in Belgrader Cafés über das Thema Kunstschutz in Serbien schulde ich Dr. Aleksandar Bandović, Kustos am Belgrader Nationalmuseum, viel Dankbarkeit. Und nicht unerwähnt bleiben sollen die aufmunternden Worte, die mir Prof. Lothar Höbelt und Prof. Jörg Baberowski zukommen ließen, als ich dabei war, die Folgen des Bruches mit meinen Betreuerinnen zu verarbeiten.
In seiner Festrede im Juli 1946 anlässlich der Wiedereröffnung der Ludwig-Maximilians-Universität in München hob der neue Rektor, der Orthopäde Georg Hohmann (1880–1970), hervor, dass die akademische Nachkriegsgeneration zu „historisch-politischem Verständnis des Gewesenen und Gewordenen erzogen“ werden müsse und auszustatten sei mit einem „anderen Geschichtsbild als in der wilhelminischen Zeit, mit einem anderen erst recht als in der alles verfälschenden nationalsozialistischen Zeit“1. Zu diesem Zeitpunkt bemühte sich der Südosteuropahistoriker Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962), der die wilhelminische Zeit als Gymnasiast und Kriegsteilnehmer miterlebt hatte und während der „alles verfälschenden“ Hitlerherrschaft dafür gekämpft hatte, zumindest eine Dozentur zu bekommen, seine Wiedereingliederung in den Münchener Lehrbetrieb zu erreichen. In der bayerischen Hauptstadt hatte er sich vor dem Zweiten Weltkrieg habilitiert, und während des Krieges war ihm eine Dozentur zuerkannt worden. Anfang Dezember 1946 erhielt er seitens des Rektorats die Aufforderung, den „befriedigenden Beweis zu erbringen“, dass er die „positiven politischen, liberalen und sittlichen Eigenschaften“ besitze, die zur „Entwicklung der Demokratie in Deutschland“ beitragen sollten.2
Am 15.12.463 legte er in seiner „Selbstdarstellung hins. politischer Einstellung“ dar, dass er „jede Form der Diktatur“ immer „mit Entschiedenheit“ abgelehnt habe. Seit seinen Kriegserfahrungen 1917/18 sei ihm indes der Sozialismus „als das Notwendige“ erschienen. In den 1930er Jahren habe er den „Rassefanatismus“ abgelehnt und dessen Auswirkungen auf seine zahlreichen jüdischen Bekannten sogar „bekämpft und gemildert“. In seiner Habilitationsschrift befinde sich kein Satz, der „irgendwelche Konzessionen an den Nationalsozialismus“ mache, und letztlich habe er sich der politischen Zensur dadurch entzogen, dass er seine Manuskripte „bei Seite“ legte, auch „auf die Gefahr hin als ‚unproduktiv‘ betrachtet zu werden“. Nie sei er Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen.4
Seine „Balkan-Kenntnisse“, so Reiswitz, hätten ihm 1941 zur Stellung des Leiters des militärischen Kunstschutzes in Serbien verholfen. Zwei Sozialdemokraten seien es gewesen, die ihm bereits 1924 das Tor in die Welt der serbischen Intellektuellen aufgestoßen hätten. Während des Zweiten Weltkriegs habe er diese Beziehungen aufrechterhalten und gepflegt. Zusammenfassend könne er sagen, dass 1941–1944 „nicht ein einziges Objekt aus serbischen Museen verschleppt worden“ sei und dass die „Serben durch die Arbeit des Kunstschutzes überhaupt erst ein Gesetz zum Schutz ihrer Altertümer erhielten, dass die historischen Kirchen, Klöster und Baudenkmäler im Rahmen des überhaupt möglichen [sic] geschützt“ worden seien und dass „kein einziger Mensch“ durch ihn, Reiswitz, „in seiner Freiheit beschränkt“ worden sei, sondern, im Gegenteil, „viele befreit und am Leben erhalten worden sind“.5
Ein preußischer Baron im Majorsrang der Wehrmacht soll im Ersten Weltkrieg mit dem Sozialismus geliebäugelt und während der Hitlerherrschaft Juden geschützt haben? Ein Militärverwaltungsbeamter, der seine Hand über serbisches Kulturgut und serbische Intellektuelle hielt, zu einer Zeit, als „zu große Milde … das Letzte war, was man der Wehrmacht in Serbien vorwerfen konnte.“6? Im heutigen Serbien genießt Reiswitz einen ausgezeichneten Ruf: „His image in the Serbian public is strongly positive“.7 Der serbischsprachige Wikipediabeitrag über ihn beinhaltet die Aussage, dass er während des Krieges mehrfach im Sinne der serbischen Kulturdenkmäler bei deutschen Behörden interveniert habe.8
Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, zunächst herauszufinden, welchen wissenschaftlichen und politischen Positionen Johann Albrecht von Reiswitz verschrieben war. Stand er tatsächlich dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber? Das Hauptanliegen ist es, ein besseres Verständnis dafür zu gewinnen, welche Rolle Reiswitz im Zusammenhang mit dem deutschen Kunstschutz in Serbien in den Jahren 1941 bis 1944 spielte.
Hierbei offenbart sich ein insbesondere für diese Arbeit spezifisches definitorisches und somit auch methodisches Dilemma: Ist der vorliegende Text eine biographische Untersuchung oder letztlich eine Fallstudie zum Kunstschutz in Serbien? Sicherlich war Reiswitz kein wirkungsmächtiger Wissenschaftler. Er publizierte kaum, brachte es lediglich zum außerplanmäßigen Professor und hinterließ kaum Spuren bei seiner akademischen Schülerschaft. Er bekleidete kein herausgehobenes politisches oder militärisches Amt. Von daher erscheint es auf den ersten Blick wenig ertragreich, ihn zum Thema einer wissenschaftlichen Biographie zu machen. Also doch eher eine Fallstudie? Doch liefert der Kunstschutz in Serbien, streng genommen ein Einmannbetrieb, welcher nicht nur personell, sondern auch von seinen sonstigen Ressourcen und der Bedeutsamkeit der von ihm zu schützenden Kulturgüter her von den vergleichbaren Abteilungen in Frankreich, Italien und Griechenland in den Schatten gestellt wurde, überhaupt genug Stoff für eine wissenschaftliche Monographie?
Der Ausweg aus dem definitorischen und methodischen Dilemma tat sich auf, als nach dem Studium der vorhandenen Quellen und der Forschungsliteratur zu Reiswitz und zum Kunstschutz sich ein klarer Befund ergab: Ohne Reiswitz hätte es wohl keinen militärischen Kunstschutz in Serbien während des Zweiten Weltkriegs gegeben, und ohne die Tätigkeit als Kunstschützer in Serbien wäre Reiswitz als im Foucault’schen Sinne „infamer Mensch“ sicherlich „ohne Spur“ geblieben.9 Aus dieser Interdependenz ergibt sich das Spezifische dieser Studie. Auch ohne ihre jeweiligen individuellen Leiter wären in Frankreich, Italien und Griechenland Abteilungen für Kunstschutz innerhalb der Militärverwaltungen eingerichtet worden, insbesondere aufgrund der enormen Quantität und Qualität des vorgefundenen Kulturgutes. Auch ohne ihre Arbeit als Kunstschützer wären die Kunstschutzleiter in Griechenland bzw. Italien, Wilhelm Kraiker (1899–1987) und Hans Gerhard Evers (1900–1943), die zu Beginn des Krieges bereits als Privatdozenten lehrten und, anders als Reiswitz, universitär etabliert waren, biographiewürdige Wissenschaftler.
Reiswitz hingegen wird ausschließlich durch den Kunstschutz wirkungsmächtig und ohne ihn wäre der Kunstschutz in Serbien wohl wirkungslos geblieben.
Aus diesem Grund ist das Forschungsprogramm dieser Arbeit darauf ausgelegt, sich sowohl mit der Person Reiswitz als auch mit dem Thema Kunstschutz in Serbien zu beschäftigen. Es wird versucht zu ergründen, wie es zu dieser spezifischen Verflechtung kommen konnte, zumal zu einem Zeitpunkt, der, wie die nachstehenden Ausführungen zu zeigen versuchen, sowohl für Reiswitz persönlich als auch für kunstschützerische Arbeit in Serbien der denkbar unwahrscheinlichste zu sein schien.
Zunächst sei an dieser Stelle kurz zu klären, worum es sich beim militärischen Kunstschutz definitorisch handelte. Am 05.02.1941 trafen der Leiter des Kunstschutzes beim Oberkommando des Heeres (OKH), Franz Graf Wolff-Metternich zur Gracht, in Begleitung seines Stellvertreters, Bernhard von Tieschowitz, in der Pariser „Galerie nationale du Jeu de Paume“, dem Umschlagort für Raubkunst, auf Hermann Göring. Die beiden obersten Kunstschützer der Wehrmacht erklärten dem „prominentesten Kunsträuber“10 des „Dritten Reiches“, dass sie für die Sicherheit der beschlagnahmten Kunstwerke verantwortlich seien. Irritiert beklagte sich Göring darüber, dass er sich nun noch mit einer weiteren Dienststelle abgeben müsse, und verwies die OKH Vertreter rüde des Saales.11
Diese Anekdote veranschaulicht deutlich das Spannungsverhältnis zwischen Kunstraub und Kunstschutz im Kriege. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren bereits die völkerrechtlichen Fundamente für den Schutz von Kulturgütern im Kriegsfalle geschaffen worden. Die von Deutschland ratifizierte Haager Landkriegsordnung von 1907 legte in Artikel 27 das Folgende fest: „Bei Belagerungen und Beschiessungen sollen alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die geschichtlichen Denkmäler, die Hospitäler und Sammelplätze für Kranke und Verwundete so viel wie möglich zu schonen, vorausgesetzt, dass sie nicht gleichzeitig zu einem militärischen Zwecke Verwendung finden.“ Ergänzt wurde dies in Artikel 56: „Das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienste, der Wohltätigkeit, dem Unterrichte, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem Staate gehören, ist als Privateigentum zu behandeln. Jede Beschlagnahme, jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist untersagt und soll geahndet werden.“12 Doch führte, wie es der Historiker Wilhelm Treue, ein guter Freund des Barons Johann Albrecht von Reiswitz, in seiner Monographie über Kunstraub ausdrückte, „keine geradlinige Entwicklung vom Barbarischen zum Humanen, von der Rechtlosigkeit zum Recht“.13
Diesen Mangel an Verbindlichkeit und auch an Vergleichbarkeit des deutschen militärischen Kunstschutzes im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg beobachtet auch die neuere Forschung, deren Fragestellungen, Erkenntnisse und Unzulänglichkeiten im Folgenden skizziert werden sollen. Es wird dabei jeweils hervorzuheben sein, welche Forschungslücken die vorliegende Arbeit im Rahmen ihrer Gesamtkonzeption zu schließen beabsichtigt. Dabei wird zunächst die wichtigste Literatur zum Thema Kunstschutz in Serbien und anderen deutsch besetzten Gebieten zu berücksichtigen sein. Danach gilt es, die zentralen Arbeiten über die deutsche Besatzungsherrschaft in Serbien zu präsentieren. Schließlich soll auch die für die vorliegende Arbeit relevante Literatur zu Wissenschaftlerkarrieren im Nationalsozialismus kurz vorgestellt werden. Diese Reihenfolge soll keinesfalls von der Person Reiswitz weg-, sondern, ganz im Gegenteil, zu ihr hinführen. Hinzu kommt, dass von einem „Forschungsstand“ zu Reiswitz nicht gesprochen werden kann, da es, abgesehen von zwei Nachrufen in wissenschaftlichen Publikationen, bislang keine biographische Sekundärliteratur zu ihm gibt.14
Seitens des deutschen Kaiserreiches wurde im Ersten Weltkrieg zwar im besetzten Nordfrankreich und Belgien Kunstschutz betrieben, doch bestand ein Unterschied zwischen den beiden Wirkungsräumen allein schon darin, dass Belgien unter deutscher Zivil-, Nordfrankreich aber unter Militärverwaltung stand. In beiden Gebieten – dies war eine Gemeinsamkeit – fehlte es an einem „programme préalable“ seitens der Besatzer.15
Es wird mit dieser Studie nicht beabsichtigt, einen Vergleich zwischen den Kunstschutzkampagnen der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg in Südosteuropa und dem deutschen Kunstschutz in Serbien 1941–1944 zu leisten, zumal, wie zuletzt im Mai 2018 auf einer Tagung in Berlin über Kunstschutz im Ersten Weltkrieg festgestellt wurde, der Kunstschutz im Ersten Weltkrieg auf dem Kriegsschauplatz Balkan bislang „wenig Beachtung“ fand.16 Symptomatisch ist dafür schon der Titel des Aufsatzes von Popović, „The Forgotten Expeditions of the Central Powers in South-East Europe during World War I“.17 Den Forschungsstand zum Kunstschutz auf dem genannten Kriegsschauplatz referieren die Herausgeber im Eingangsaufsatz ihres 2017 erschienenen Sammelbandes.18
Die Abwesenheit einer verbindlichen Richtschnur für den Kunstschutz in den besetzten Gebieten führte im Zweiten Weltkrieg dazu, dass die Kunstschützer vor Ort eher reagierten denn agierten, wie es Fuhrmeister19 schon im Mai 2010 in München auf einer Tagung über den deutschen Kunstschutz in Norditalien im Zweiten Weltkrieg feststellte. Fuhrmeister war es auch, der den übrigen Teilnehmern Folgendes auftrug: „The first major objective of research into German military art protection in Italy is to collect and assemble the widely scattered documents. Furthermore, analyzing private notes and reconstructing the lives of the members of the art protection project as completely as possible are essential to a nuanced evaluation of the measures taken. This is because they could contain information about the frictions between the regime and the executing individuals.“20 Dieser Aufforderung versucht die vorliegende Arbeit nachzukommen, allerdings nicht auf Norditalien bezogen, sondern auf Serbien.
Die Münchener Tagung fand im Gebäude des Zentralinstituts für Kunstgeschichte (ZI) statt, dem ehemaligen Munich Collecting Point.21 In der Bibliothek des ZI entdeckte Fuhrmeister zwei Berichte aus der Feder von Reiswitz, verfasst 1943 bzw. 1944, die er als Grundlage seines Aufsatzes über den Kunstschutz in Serbien nahm.22 Obgleich Fuhrmeister nur für sich beansprucht, „ein Desiderat zu skizzieren“, fällt er dennoch ein dezidiertes Urteil. Der Kunstschutz in Serbien scheine „stets vom Primat einer deutschen Überlegenheit – in kultureller wie in wissenschaftlicher Hinsicht – durchdrungen gewesen zu sein“ und die „wissenschaftliche Dimension der Kunstschutzarbeit“ sei nur „zum bloßen Vorwand“ geworden. Dieses Urteil versucht die vorliegende Arbeit unter Rückgriff auf eine erweiterte Quellenbasis, die u.a. auch die von Fuhrmeister gewünschten „private notes“ umfasst, auf den Prüfstand zu legen.23
Fuhrmeister behauptet, Reiswitz sei im Januar 1940 Mitglied der NSDAP geworden.24 Dies trifft nicht zu, wie eine Nachfrage des Verfassers beim Bundesarchiv in Berlin ergab.25 In einem undatierten Schreiben aus dem Nachlass an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität München, den Ägyptologen Alexander Scharff (1892–1950), welches vom Kontext her aus dem Jahre 1946 stammt, legte Reiswitz allerdings dar, dass vom 13.11.40–30.06.41 eine „Parteianwärterschaft“ seinerseits bestand.
Ein von Fuhrmeister 2016 nicht beachteter Beitrag zum Kunstschutz in Serbien stammt von Vujošević aus dem Jahre 2002, der im Freiburger Militärarchiv im Bestand „Territorialbefehlshaber Südost-Europa“ auf weitere drei Reiswitz’sche Kunstschutzberichte, diesmal aus dem Jahre 1941, stieß. Anders als Fuhrmeister enthielt er sich allerdings einer Bewertung der Arbeit des Belgrader Kunstschutzes, sondern bot die Texte lediglich mit einigen erläuternden Bemerkungen in serbischer Übersetzung dar.26 Vujošević schreibt in der Zusammenfassung seines Textes, dass es allerdings an weiteren Quellen mangele.27 Diesen Misstand wird die vorliegende Arbeit versuchen, im Rahmen und als Folge des oben beschriebenen Forschungsprogramms zu beheben.
Die dritte Abhandlung über den Kunstschutz in Serbien wurde von Kott vorgelegt. Sie berücksichtigte die Vorarbeiten von Vujošević und Fuhrmeister, konnte aber zusätzlich auf die Ergebnisse von Bandović eingehen, der sich des sogenannten „Musealkurses“ annimmt, welcher unter der Ägide von Reiswitz zur Schulung des serbischen Wissenschaftlernachwuchses 1942 erstmalig ermöglicht wurde. Ferner befasst sich Bandović mit der Einrichtung eines Amtes für Denkmalschutz seitens des Kunstschutzes und den archäologischen Grabungen auf der Belgrader Burganlage, dem Kalemegdan. Den „Musealkurs“ beurteilt er wie folgt: „The course became the turning point in the history of archaeology, a sort of parallel university in the occupied city“. Aus ihm ging eine „whole generation of post-war archaeologists, art historians and architects“ hervor.28 Der Einfluss von Reiswitz, auch aufgrund der Kalemegdangrabungen, spiegelt sich zudem in der methodologischen Ausrichtung der jugoslawischen Archäologie der Nachkriegszeit wieder: „The symbiosis developed before and during the WWII between German and Serbian archaeology did not disappear during the post-war period.“29
Kott schließt sich dem Urteil von Bandović an, erweitert es sogar noch um andere modernisierende Aspekte der Kunstschutztätigkeit von Reiswitz: „Nicht nur die Nachwuchsausbildung, sondern auch die Interdisziplinarität bzw. das Zusammenwirken unterschiedlicher Behörden und Ebenen sowie der Einsatz weiblicher Wissenschaftler“ sei [von Reiswitz] „gefördert“ worden. Zu diesem Ergebnis kommt Kott durch die Hinzuziehung weiterer Primärquellen, vor allem des mittlerweile erschlossenen Archivbestands zum Thema Kunstschutz im Nachlass Metternich, der sich im Archivdepot der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. auf Schloss Ehreshoven befindet. Ferner hat sie die Akten zur Ausgrabung von Reiswitz und dem Archäologen Wilhelm Unverzagt am Ohridsee im heutigen Nordmazedonien im Archiv des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte teilausgewertet. Sie revidiert das äußerst negative Urteil Fuhrmeisters über die Kunstschutzarbeit von Reiswitz und bescheinigt ihm, „eher ‚zivile‘ Verhaltensweisen verfolgt“ und „seine serbischen Partner durchaus als Partner betrachtet zu haben.“ Sie klassifiziert das Wirken von Reiswitz dann aber dennoch nach Hachtmann30 als „neokolonialistische Praxis wissenschaftlicher Durchdringung unter nationalsozialistischen Vorzeichen“, wobei sie letztere besonders in der Zusammenarbeit Reiswitz’ mit der SS-Forschungseinrichtung „Das Ahnenerbe“ sieht.31
Kott kann bislang sicherlich als die Doyenne der internationalen Kunstschutzforschung bezeichnet werden, nicht nur wegen ihrer Publikationsdichte, sondern auch wegen der zeitraum- und territorial übergreifenden Spannbreite ihrer Arbeit. Sie ist die bislang einzige, die den Versuch unternahm, den deutschen Kunstschutz des Ersten mit dem des Zweiten Weltkriegs am Beispiel des besetzten Frankreichs zu vergleichen und kam zu folgendem Ergebnis: „Von einem Weltkrieg zum anderen hatte sich der ’Kunstschutz’ von einer Abteilung ohne echten Status, Personal und Material zu einer zentralisierten, gut organisierten und materiell abgesicherten militärischen Einrichtung entwickelt. Die Motivationsfaktoren, die in beiden Fällen zu seiner Schaffung seitens der Machthaber führten, waren in erster Linie kulturpolitischer (der Rückführungsplan), wissenschaftlicher (die kunstgeographischen Forschungen und die Fotokampagnen) und kriegswirtschaftlicher Art (die Metallrequirierung). Der Propagandafaktor spielte vor allem im Ersten Weltkrieg eine weitere, wichtige Rolle. Doch in beiden historischen Situationen war der sicherlich authentische Wille der Beteiligten nach Bewahrung des Kunsterbes der besetzten Länder im Rahmen der völkerrechtlichen Verträge und im Namen des Weltkulturerbeschutzes für die Rechtfertigung einer Kunstschutzorganisation nicht ausschlaggebend.“32 Es gilt zu überprüfen, ob dieses Urteil auch auf Serbien zutrifft.
Während Kott 2007 den deutschen Kunstschützern im Zweiten Weltkrieg zumindest noch „authentischen Willen“ zusprach, so hat sich in jüngster Zeit dieses Bild, vorsichtig ausgedrückt, negativiert. Bandović sieht nun in Reiswitz jemanden, der im Sinne von Ian Kershaw lediglich dem „Führer entgegenarbeitete“33. Fuhrmeister geht in seiner jüngsten Publikation sogar noch darüber hinaus und postuliert, das die „wissenschaftliche Dimension der Kunstschutzarbeit“ in Serbien unter Reiswitz „streng genommen zum bloßen Vorwand“34 geworden sei. Auch diese Einschätzungen werden unter die Lupe zu nehmen sein.
Die Kunstschutztätigkeit, die außer in Frankreich und Serbien in der dem OKH unterstehenden institutionalisierten Form auch in Griechenland35 und Norditalien36 stattfand, wurde bislang nur in Aufsatzliteratur untersucht. Eine Monographie von Fuhrmeister dazu ist im September 2019 erschienen, konnte aber aus Zeitgründen hier nicht mehr in Bezug auf Italien ausgewertet werden.37 Für die Universität Trier bereitet Raik Stolzenberg eine Dissertation unter dem Titel „Der ‚Kunstschutz‘ der deutschen Wehrmacht im besetzten Griechenland (1941–1944)“ vor. In Griechenland arbeitete der militärische Kunstschutz eng mit dem Deutschen Archäologischen Institut38 gegen die Bestrebungen des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg39 zusammen. Letztlich setzten sich nach Gaertringen die Kunstschützer durch.40 Kankeleit folgt zum Teil dieser Sichtweise: „Festzuhalten bleibt, dass während der Besatzungszeit kein systematischer Raub oder eine von oben verordnete Zerstörung der Antiken stattgefunden hat.“ Andererseits aber moniert sie die Ignoranz der Archäologen gegenüber den Schattenseiten der Besatzung: „Die in Griechenland tätigen deutschen Archäologen waren Repräsentanten eines gebildeten Großbürgertums philhellenischer Prägung. Sie profitierten von der nationalsozialistischen Ideologie, die ihre ‚geistige und kulturelle Überlegenheit‘ gegenüber anderen Völkern manifestierte. Mit staatlicher Unterstützung konnten sie sich auf ihre archäologischen Aktivitäten konzentrieren und alle Verbrechen, die in der direkten Umgebung stattfanden, ignorieren.“41 Trifft diese Diagnose auch auf Serbien zu?
Floudas Aufsatz ist eine Fallstudie über den auf Kreta tätigen österreichischen Kunstschützer August Schörgendorfer (1914–1976). Methodisch folgt sie, wie auch die vorliegende Arbeit, dem „paradigmatic shift of emphasis from collective to personal narratives“ und besorgt, ähnlich wie die vorliegende Studie, eine „combined study of official and personal archival testimonies“. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass „archaeological research during the Nazi regime was not just dictated from above“, wobei der Fall Schörgendorfer auch zeige, „how military and research institutions in totalitarian regimes prevailed over archaeological ethics, and also how their priorities were filtered through personal academic interests and ambitions.“42 Es wird zu überprüfen sein, in welchem Wechselspiel militärische Interessen und die persönlichen Ambitionen von Reiswitz sich im Falle des Kunstschutzes in Serbien bewegten. Inwieweit war Reiswitz’ Tätigkeit „dictated from above“?43
Gesamtdarstellungen der deutschen Besatzungsherrschaft in Serbien liegen in ausreichender Zahl vor.44 Keines dieser Überblickswerke aber widmet sich der Arbeit des Kunstschutzes. Marjanović, der im Jahre 1963 eine Studie des deutschen Besatzungssystems vorlegte, erwähnt lediglich ein nicht näher bezeichnetes „Command for the Gathering of War Booty“45, womit vermutlich der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg gemeint war.
Gegen Ende seiner 1993 erschienenen Studie über die deutsche Besatzungspolitik in Serbien von 1941 bis 1942 konstatiert der Politikwissenschaftler Manoschek: „Das im NS-System typische institutionelle Chaos gab es auch in Serbien.“46 Obwohl Manoschek in serbokroatischer Sprache verfasste Literatur ignorierte – wie z. B. Kresos ursprünglich 1970 als Magisterarbeit vorgelegte grundlegende Studie über die deutsche Militärverwaltung47 –, so bietet sein Buch doch weiterhin eine hinreichende Einführung in die Struktur der militärischen Besatzung Serbiens. Allerdings befasst sich Manoschek in der Hauptsache nur mit einem der beiden Stäbe des Chefs der Militärverwaltung, dem Kommandostab. Den Verwaltungsstab, innerhalb dessen der Kunstschutz angesiedelt war, behandelt Manoschek nur äußerst kursorisch. Der Nachfolger Harald Turners als Chef der Militärverwaltung, Egon Bönner, wird mit keinem Wort erwähnt. Der Kunstschutz tritt gar nicht in Erscheinung.
Kresos Abhandlung hingegen widmet sich – anders als neun Jahre zuvor Čulinović48 – detailliert auch und gerade der Arbeit des Verwaltungsstabes. Der 2015 verstorbene Kreso erwähnt auch Bönner und dessen Nachfolger Danckwerts – bei beiden Namen gerät die Schreibweise durcheinander49 – doch fehlt die Nennung von Reiswitz. Die Arbeit des Kunstschutzes beschreibt Kreso als lediglich im deutschen Interesse. Allerdings hebt er hervor, dass der Kunstraub keine „offizielle Aufgabe“ des Kunstschutzes gewesen sei. Dafür sei der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg zuständig gewesen, dessen Tätigkeit in Serbien gestreift wird.50 Trifft dies tatsächlich zu? Oder war der militärische Kunstschutz nicht doch in den Kunstraub verwickelt?51
Allen bisherigen Darstellungen des Wirkens der deutschen Militärverwaltung in Serbien ist gemein, dass sie sich sich entweder mit rein militärischen bzw. wirtschaftlichen Fragen befassen, oder aber mit der Judenvernichtung. Bislang fehlt eine Gesamtschau, die über den Gesamtzeitraum der Jahre 1941–1944 alle Abteilungen der Militärverwaltung abdeckt, auch das Bauwesen, die Finanzen, die Justiz, das Arbeitsressort und auch die dem SS-Standartenführer Dengel unterstehende Pferdezucht, so dass es noch nicht möglich ist, den Kunstschutz im Kontext der Militärverwaltung zu beurteilen.
Schlarp gelangte bereits 1986 zu dem Schluss, dass eine „effektive Koordination“ der wirtschaftspolitischen Maßnahmen durch die deutschen Besatzer auch in Serbien an der „Unfähigkeit der nationalsozialistischen Machthaber“ scheiterte. Wie „effektiv“ bzw. „unfähig“ arbeitete der Kunstschutz? Das „Dritte Reich“ konnte nur „marginal“ von der Indienststellung der serbischen Wirtschaft während des Krieges profitieren und erlitt darüber hinaus durch die „ausbeuterische Praxis“ einen erheblichen „Vertrauensverlust“.52 Inwiefern trifft dieses Szenario auch auf den von der Wehrmacht eingerichteten Kunstschutz zu?
Schlarp weist darauf hin, dass innerhalb der Militärverwaltung die Beamten des Verwaltungsstabes, zu denen auch Reiswitz gehörte, nicht nur die serbische Kollaborationsregierung zu kontrollieren hatten, sondern auch versuchen sollten, die serbische „Bevölkerung für die Sache des Reiches zu gewinnen“. Der kulturelle Bereich, zu dem der Kunstschutz gehörte, hatte dabei durchaus Handlungsspielraum, war „sehr viel unabhängiger als etwa das Finanzwesen oder der Bergbau.“53 Konnte der Kunstschutz diese Gelegenheit nutzen?
Auf den Vorarbeiten von Schlarp fußend, befasst sich Ristović in seiner ursprünglich 1991 erschienenen und 2005 wiederaufgelegten Studie insbesondere mit der deutschen Wirtschaftsplanung in Bezug auf Südosteuropa und kommt zu dem Ergebnis, dass Serbien nur eine passive Rolle zugedacht war und es damit zusammen mit Griechenland in der „neofeudal pyramid of conquered and vassal ‘allied’ peoples and states“ in Südosteuropa den Bodensatz bildete. Allerdings ist die Befundlage nicht eindeutig dahingehend, ob Serbien reiner Agrarstaat und Arbeitskräftelieferant sein sollte oder aber zum deutschen Nutzen innerhalb der anvisierten „Großraumwirtschaft“ auch Nutznießer industrieller Modernisierung hätte sein können. Als aktiver Planer oder gar akzentsetzende Stelle jedenfalls tritt die Belgrader Militärverwaltung, anders als bei Schlarp, bei Ristović kaum in Erscheinung. Auch Erpenbeck hatte in seiner Studie, trotz ihres Titels, die „Militärverwaltung“ nur insoweit im Fokus, als es um rein militärisch-operative Belange ging, die Sache des Kommandostabes waren. Der Verwaltungsstab findet nur kurze Erwähnung.54
Abgesehen von Brownings Aufsatz über Turner55 fehlt es völlig an biographischen Studien über die Militärverwaltungschefs Bönner und Danckwerts. Selbst der von Reiswitz als „Arsch mit Ohren“ bezeichnete Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft in Serbien, Franz Neuhausen, wurde bislang nicht bedacht. Über untergeordnete Beamte im Range von Oberkriegs- bzw. Militärverwaltungsräten und darunter gibt es ebenfalls keine wissenschaftlichen Arbeiten, abgesehen von wenigen Ausnahmen, die aber in keinem Fall an eine biographische Studie heranreichen.56
Wie an einer Gesamtdarstellung der nichtmilitärischen Arbeit der deutschen Verwaltung im besetzten Serbien fehlt es auch an einem opus magnum zur Politik der Kollaborationsregierung. Überzeugende Vorarbeit hat hier Stojanović geleistet.57
In Abwesenheit struktureller Verbindlichkeit ergeben sich individuelle Handlungsspielräume, da letztlich politische Entscheidungen „nicht von Strukturen, sondern von Menschen getroffen“58 werden. In den Jahren 1941–44 wurden im besetzten Serbien viele der unheilvollsten Entscheidungen von österreichischen Militärs getroffen. Diese Diagnose stellt Manoschek und gibt dabei sogar den „cool tone“ – so Steinberg – des Historikers auf: „Manoschek is particularly angry at his fellow Austrians.“59 Viele dieser österreichischen Offiziere waren bereits im Ersten Weltkrieg in Serbien in Erscheinung getreten und trachteten nun nach Genugtuung für die von ihnen als Schmach empfundene Niederlage.60 Der erste Chef der Militärverwaltung, der aus Hessen stammende Jurist Harald Turner, zeichnete sich allerdings eher durch seine antisemitische denn serbophobe Grundhaltung aus und vermochte schon im August 1942, nachdem die Mordaktionen abgeschlossen waren, Serbien für „judenfrei“ zu erklären.61
Konnte bei dieser Konstellation ein preußischer Baron dienstlich reüssieren, der es als Historiker strikt ablehnte, „eine heranwachsende Generation in den Vorurteilen der Habsburgischen Monarchie … zu erziehen“62, und zu dessen engsten Freunden ein Berliner und ein Belgrader Jude zählten? Konnte ein zu fünfzig Prozent Kriegsversehrter mit nach Aussage des dritten Chefs der Militärverwaltung „fraglicher“63 soldatischer Eignung, dem noch kurze Zeit vor seinem Amtsantritt als Leiter des Kunstschutzes in Serbien der spätere Rektor der Universität München „unmännliche Unentschlossenheit“ attestiert hatte, erfolgreich wirken? Vermochte ein Mann, dem nach seiner Ankunft in Belgrad im Juli 1941 mehrfach nachgesagt wurde, Freimaurer und Serbenfreund zu sein, seine Aufgabe als einziger Kunstschützer im Lande so erfüllen, dass er 2014 in der offiziellen Geschichte des serbischen Militärmuseums als „Lichtgestalt in deutscher Uniform“64 etikettiert wurde? Konnte der schwächliche Serbenfreund und seit mehreren Jahren erfolglos um eine Dozentur kämpfende parteilose Südosteuropahistoriker im Range eines Majors seinen ganz persönlichen Plan der Denkmalspflege, den er siebzehn Jahre zuvor bereits zu konzipieren begonnen hatte, als Angehöriger einer Wehrmacht, die in Belgrad 1941 rund 4.750 Geiseln erschoss,65 im Alleingang in die Tat umsetzen?
Studien, die das Wirken einzelner Wissenschaftler zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland erhellen, sind keine Seltenheit,66 insbesondere nachdem das wissenschaftliche Genre der Biographie in Deutschland wieder verstärkt salonfähig wurde.67 Zunehmend werden einzelne Gelehrte nicht mehr ausschließlich entweder als Opfer, Täter oder Mitläufer gesehen. Es ist erkannt worden, dass viele Forscher versuchten, die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, der ein „Masterplan“68 fehlte, für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Diese Ziele konnten sowohl wissenschaftlicher Natur sein als auch persönliche Ambitionen in den Vordergrund stellen. In der Regel handelte es sich aber um ein Wechselspiel bei der Nutzung von Ressourcen.69 Die Minderheit der bislang untersuchten Wissenschaftler war schon fest im Wissenschaftsbetrieb etabliert, sei es in den Universitäten, oder auch in bestehenden oder nach 1933 neu geschaffenen Forschungseinrichtungen. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu ergründen, wo der Münchener Südosteuropahistoriker Johann Albrecht von Reiswitz in diesem Zusammenhang zu verorten ist. Insofern kann sie auch einen Beitrag leisten zur Erforschung der Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität zur Zeit des „Dritten Reiches“.
Historikerkarrieren im Nationalsozialismus haben ebenfalls das Augenmerk der Forschung auf sich gezogen.70 Eine Vielzahl von Studien widmet sich der Frage nach dem aktiven Beitrag von Geschichtswissenschaftlern bei der Legitimierung und Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft.71 Auch die Gruppe der Ost- bzw. Südosteuropahistoriker hat dabei bereits Aufmerksamkeit erfahren72, wobei in der Regel die Tätigkeit der Ordinarien oder aber die Arbeit bestimmter Forschungseinrichtungen unter die Lupe genommen wurde. In ihrer Arbeit über den Osteuropahistoriker Peter Scheibert (1915–1995) kommt die Autorin zu dem Schluss, dass wegen der signifikanten Ambivalenzen, Kontinuitäten und Widersprüche „für die Zeit des ‚Dritten Reiches‘ und auch für die Frage nach der … Motivationsstruktur die Biographie eines Historikers in jedem Einzelfall zu hinterfragen ist.“73 Dieser Aussage schließt sich der Verfasser an.
Der private Nachlass – im Folgenden schlicht „Nachlass“ – von Johann Albrecht von Reiswitz, der dem Verfasser durch die Familie des 1962 Verstorbenen zu Studienzwecken übergeben wurde, ist zwar fragmentarisch und ungeordnet, doch umfasst er eine reichhaltige Überlieferung an sowohl privatem als auch dienstlichem Schrifttum, das erstmalig zu Forschungszwecken herangezogen werden konnte und die Quellenbasis der Arbeit bildet. Dokumente aus dem Nachlass werden dergestalt zitiert, dass sie im Fußnotenapparat eindeutig identifizierbar bleiben. Bei Briefen werden z.B. das Datum und die Namen von Absender und Empfänger genannt, ohne allerdings in jedem Einzelfall den Nachlass als Quelle anzugeben.74 Alle Archivalien hingegen, die nicht aus dem Nachlass stammen, werden gemäß der üblichen wissenschaftlichen Verfahrensweise zitiert.
Reiswitz hatte die Gewohnheit, auch von seiner Privatkorrespondenz Durchschläge zurückzubehalten. Mehrere hundert Kopien von Briefen an seine Frau konnten in dieser Form ausgewertet werden. Seine Briefe aus Belgrad in den Jahren 1941–44 beinhalten sowohl private wie dienstliche Komponenten.75 Da die Originale wohl verloren gegangen sind, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob und inwieweit die Briefe an seine Frau und an eine geringere Zahl weiterer privater Empfänger, wie seine Mutter oder eine enge Freundin, der Militärzensur unterlagen. Auffällig ist, dass er durchaus, wenn auch in der Regel nicht zu detailliert und oft in Anspielungen, Kritik an der deutschen Besatzungpolitik bzw. einzelnen Vertretern der Militäradministration übte. Die Briefe an seine Frau Erna Böcks (1906–1988) dienen in dieser Studie weniger einer psychologischen Evaluation von Reiswitz, wozu sie durchaus herangezogen werden könnten, da er in ihnen häufig auf seine Sorgen und Nöte als Besatzer einging. Sie bieten vielmehr eine ausgezeichnete Grundlage dafür, persönliche Schwerpunkte, die er seiner Arbeit als Kunstschützer setzte, zu ermitteln. Sie können damit als Korrektiv zur dienstlichen Korrespondenz dienen. Generell kann von einem hohen Glaubwürdigkeitsgrad der Briefe von Reiswitz an seine Frau ausgegangen werden, die ihm ebenfalls regelmäßig an seine Feldpostadresse schrieb. Die Briefe von Erna von Reiswitz, „Böckschen“, wurden hier aber nicht ausgewertet, da sie inhaltlich fast ausschließlich um rein private Themen kreisten. Von einer Analyse der Beziehung der Eheleute zueinander oder der von Reiswitz zu seinen Kindern ist angesichts der Fragestellungen dieser Arbeit ebenfalls abgesehen worden. Aus der Ehe mit Erna Böcks ging der Sohn Stefan (geb. 1931) hervor. Die Ehe wurde 1948 geschieden. Ein Jahr später heiratete Reiswitz Elisabeth Reichel (1918–1995). Aus dieser zweiten Ehe stammen der Sohn Christoph (geb. 1950) und die Tochter Bettina (geb. 1956).
Hinzu kommen aus dem privaten Nachlass Durchschläge von Briefen an diverse Einzelpersonen, die einerseits häufig aus dem Bereich der Wissenschaft stammen, andererseits aber auch romantische billets doux umfassen. Zum Teil ergänzen sich Reiswitz’ Durchschläge mit den Originalbriefen seiner Korrespondenzpartner, so dass streckenweise ein vollständiger Briefwechsel erhalten geblieben ist. Für die Rekonstruktion der Genese von Reiswitz’ Interesse an Serbien war insbesondere die Auswertung von Reiswitz’ Korrespondenz mit Vida Davidović, einer jungen Serbin aus dem heutigen Zrenjanin, von Bedeutung.
Neben Briefen finden sich im Nachlass auch tagebuchartige Aufzeichnungen. Diese reichen von unvollständig erhaltenen Dienst- und Taschenkalendern hin zu längeren, teilweise sehr intimen Tagebuchnotizen. Den Aussagen seiner Kinder zufolge führte Reiswitz regelmäßig privat Tagebuch, doch sind nur gewisse Jahrgänge und auch diese nicht immer vollständig erhalten.76
Im Laufe der vorliegenden Arbeit wird ganz bewusst aus vielen Primärquellen Reiswitz’scher Provenienz ausführlich zitiert, so dass der Leser ein besseres Gespür dafür entwickelt, der Gedankenwelt und dem „Duktus“77 des Protagonisten zu folgen. Ein vielleicht aus platzökonomischer Sicht zu rechtfertigender Verzicht auf solche längeren Passagen oder ihre Kürzung bzw. Paraphrasierung würden dem gewählten methodischen Zugriff nicht gerecht. Dabei gilt es klar zu konstatieren, dass bei aller Würdigung der Quellen diese damit nicht den argumentativen Diskurs der Arbeit beherrschen. Ein weiteres Argument für die Einbindung längerer Zitate ist dem besonderen Umstand schuldig, dass derzeit die im Privatnachlass befindlichen Quellen der Forschung nur schwer zugänglich sind.
Äußerst ertragreich waren die im Nachlass gefundenen Aktenbestände des Kunstschutzes in Serbien, die Reiswitz im September 1944 nach Deutschland transportieren ließ. In den Folgejahren kam es zu unfreiwilligen und freiwilligen Teilabgaben dieser Bestände an verschiedene Archive. Reiswitz übergab auf Befehl der amerikanischen Besatzungsmacht einen Teil der Akten dem Munich Collecting Point, von wo aus diese viele Jahre später ins Bundesarchiv – Militärarchiv gelangten und vom Verfasser erstmalig ausgewertet werden konnten.78 Ein weiterer Teilbestand gelangte nach seinem Tod auf Umwegen in die Bayerische Staatsbibliothek und wurde dort erstmalig von Kott teilinventarisiert und ausgewertet. Ferner beherbergt der Nachlass Reiswitz im Archiv der Universität München mehr als ein Dutzend Kisten, von denen der Verfasser allerdings nur fünf einsehen durfte. Diese beinhalten ebenfalls dienstliche Vorgänge aus der Kunstschutzzeit in Serbien. Detaillierten Packlisten zufolge, die im Bundesarchiv – Militärarchiv überliefert sind, konnte aber dennoch nicht das gesamte Kunstschutz-Aktenmaterial ausfindig gemacht werden, das Reiswitz 1944 nach Deutschland bringen ließ. Ein Teil ist vielleicht auf dem Weg von Serbien nach Deutschland den Kriegswirren zum Opfer gefallen, oder nach dem Tode von Reiswitz vernichtet worden. Gut möglich ist es auch, dass ein Teil des Materials in Serbien verblieb, da Reiswitz auf eine Fortsetzung seiner Arbeit durch den serbischen Denkmalschutz hoffte. Oder aber die fehlenden Bestände befinden sich in den nicht zugänglichen Kisten des Archivs der Münchener Universität. Es wäre wünschenswert und entspricht auch dem Willen der Nachkommen, wenn der private Nachlass, der sich momentan noch beim Verfasser befindet, und die Nachlässe in der Staatsbibliothek bzw. im Universitätsarchiv zusammengeführt werden könnten.
In Serbien wurde das Archiv der Stadt Belgrad konsultiert, wo Spuren von Reiswitz auszumachen waren, ferner das Archiv Serbiens mit seinen Beständen über die Arbeit des serbischen Unterrichtsministeriums79 in Verbindung mit dem Kunstschutz, der Fond Marambo im Archiv Jugoslawiens, wo sich Dokumente über den Archivschutz finden, das Archiv des Museums in Zrenjanin, wo die Fundstücke der vom Kunstschutz organisierten Grabung von Crna Bara liegen. Das Archiv der Matica Srpska in Novi Sad beherbergt die Kriegstagebücher des Reiswitz-Freundes und Staatsarchivdirektors Milan Jovanović Stojimirović und die Außenstelle des Archivs der Serbischen Akademie der Wissenschaften in Sremski Karlovci den Nachlass des Archäologen Miodrag Grbić.
Ferner wurden diverse Archivalien aus Deutschland ausgewertet. Am reichhaltigsten sind sicherlich die Bestände des Bundesarchivs in Berlin bzw. des Bundesarchivs – Militärarchivs in Freiburg. Ersteres beinhaltet den „Ahnenerbe“-Bestand über die Grabungen in Serbien während des Zweiten Weltkrieges und die Ahnenerbe-Akten der wichtigsten daran beteiligten Wissenschaftler, aber auch die Akten der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu den Reiswitz gewährten Stipendien. In Freiburg ruht die militärische Personalakte von Reiswitz ebenso wie ein Teil seiner Lageberichte und der Kunstschutzakten. Aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes wurde Material zur Auseinandersetzung zwischen Reiswitz und Fritz Valjavec herangezogen und die überschaubaren Bestände zum Kunstschutz in Serbien durchgesehen.
Das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München führt die Personalakte von Reiswitz, die schon Fuhrmeister heranzog. Im Archiv der Humboldt-Universität liegen die Bestände von Reiswitz’ Promotions- und Habilitationsverfahren, seine Personalakte und seine Dozentenschaftsakte. In der Bibliothek der Humboldt-Universität fand sich auch Reiswitz’ ungedruckte Dissertationsschrift. Das Archiv des Museums für Vor- und Frühgeschichte bewahrt Akten über Reiswitz’ Ohridausgrabung auf, ebenso das Archiv des Deutschen Archäologischen Instituts, dass auch Akten über die schon vor Kriegsbeginn mit Jugoslawien 1941 geplanten Ausgrabungen am Kalemegdan, ebenso wie auf die Biographica-Mappe des Kunstschutz-Mitarbeiters Friedrich Holste enthält. Um die Ohridgrabung geht es auch in der Korrespondenz von Wilhelm Unverzagt, die im Archiv der Römisch-Germanischen Kommission in Frankurt am Main aufbewahrt wird. Im Berliner Geheimen Staatsarchiv ist das Reiswitz vom preußischen Kultusminister über Jahre hinweg gewährte Stipendium dokumentiert.
Hinzu kommen Archivalien aus dem Archiv des Peabody Museum for Archaeology and Ethnology in Cambridge, USA, über die Reise des Reiswitz-Konkurrenten Fewkes in Mazedonien und ein Hinweis zu Fewkes aus dem Archiv der University of Pennsylvania Museum of Archaeology and Anthropology. Schließlich wurden die Direktionsakten des Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien konsultiert, welche Auskunft über die Arbeit des Archivschutzes in Belgrad geben.
Über den Privatnachlass Reiswitz und die archivalischen Quellen hinaus wurde für die vorliegenden Studie eine Vielzahl von zeitgenössischen, vornehmlich jugoslawischen Zeitungsartikeln ausgewertet, die in der Bibliographie nicht im Einzelnen nachgewiesen, aber in den Fußnoten dokumentiert sind. Zitate in serbokroatischer Sprache wurden vom Verfasser in der Regel ins Deutsche übertragen.
Die vorliegende Untersuchung geht im Wesentlichen biographisch vor. Dieses Genre wird – so zumindest urteilt Ernst Peter Fischer – in Deutschland vernachlässigt: „Wissenschaftshistoriker lassen hierzulande lieber ihre Finger von Würdigungen in Gestalt von Lebensbeschreibungen.“80 Sie versteht sich aber nicht als klassische Biographie eines „großen“ Wissenschaftlers. Reiswitz veröffentlichte zeit seines Lebens lediglich eine Monographie und eine sehr überschaubare Zahl kleinerer Schriften. Als Hochschulprofessor wirkte er in München nur vierzehn Jahre. Auch wird das Leben von Reiswitz weder in allen Einzelheiten noch stringent chronologisch rekonstruiert. So kommt es kapitelbezogen zu thematisch bedingten, zeitlichen Überlappungen.
Doch das biographische Genre bietet durchaus die Gelegenheit, „eklektizistisch“ zu arbeiten: Eine Biographie „vereint ein Sammelsurium von Ansätzen, Methoden, Erkenntnisinteressen, ohne ein einziges ausschließlich und durchgängig zu verfolgen.“81 Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist daraufhin ausgerichtet, anhand der Person Reiswitz die Eigenart des deutschen Kunstschutzes in Serbien im Zweiten Weltkrieg zu verdeutlichen. Dabei versucht, ähnlich wie Abel, auch diese Arbeit „ein Leben, bzw. repräsentative Abschnitte hieraus, innerhalb der Geschichte zu präsentieren“.82 Viele Aspekte der Vita von Reiswitz werden in diesem Zusammenhang ausgeklammert, wie beispielsweise sein Familienleben, beziehungsweise nur gestreift, wie seine Jugend- und Militärzeit oder die Jahre nach 1945. Es wird der Versuch unternommen, Reiswitz’ „äußeren Lebenslauf“, die auf ihn „einwirkenden historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, Prozesse und Ereignisse“ in Verbindung zu seinem „inneren Lebenslauf“83 zu setzen. Reiswitz’ Übernahme des Kunstschutzes der Wehrmacht in Serbien im Jahre 1941 stellt in diesem Zusammenhang sicherlich den Zeitpunkt dar, den Pyta unter Hinweis auf Hähner als „Krise“ beschreibt, eine „Zuspitzung“, in der sich „Individuen neuartige Handlungsoperationen“ eröffnen, in denen „das personale Element in geradezu exemplarischer Weise zum Tragen“84 kommt. Für Reiswitz ergab sich bezogen auf den Kunstschutz ein „biographischer Möglichkeitsraum von bislang ungeahnter Weite“.85
Bei aller Fokussierung auf die Genese des Kunstschutzes ist die vorliegende Arbeit aber auch keine bloße Fallstudie über diesen, da sie versucht, sich seiner spezifischen Vorgeschichte und Praxis, soweit wie methodisch möglich, aus dem Blickwinkel des Protagonisten zu nähern, ohne dabei allerdings die unabdingbare „gewisse Distanz zur biographierten Person“86 zu verlieren.
Ein Ansatz, der für die vorliegende Arbeit in Erwägung gezogen wurde, ist die Netzwerktheorie.87 Allerdings reicht die Quellenlage für eine Analyse nach Düring quantitativ nicht aus.
Der Kunstschutz nimmt entsprechend der Schwerpunktsetzung den relativ breitesten Raum der Darstellung ein. Vier von insgesamt 63 Jahren des Lebens von Reiswitz beanspruchen darstellerisch rund zwei Fünftel des Textes. Doch Reiswitz legte schon im Anschluss an seine erste Jugoslawienreise 1924 konzeptionell den Grundstein für seine spätere Arbeit als Kunstschutzbeauftragter und arbeitete in gewisser Weise seither gezielt auf diese Beschäftigung hin.
Von daher wird die Zeit bis 1924 nur knapp referiert, unter besonderer Berücksichtigung von Reiswitz’ Sozialisation als Soldat und junger Intellektueller ohne parteipolitische Bindungen (Kapitel 1.1.). Die folgenden Kapitel (1.2.–2.1.) befassen sich mit der Ausformung seiner besonderen Zuneigung zu Südslawien, einer Leidenschaft, die, von einer persönlichen Liebesbeziehung ausgehend, zu einem wissenschaftlichen Programm wurde. Dieses Programm, das Reiswitz als seine drei „Einbruchstellen“ bezeichnete, wird in Kapitel 2.2. ausgefächert. Die beiden Folgekapitel (2.3.–3.1.) beinhalten eine vertiefte Untersuchung von Reiswitz’ Jugoslawienreisen in den Jahren 1928 und 1929, die seiner Suche nach wissenschaftlichen und politischen Ansprechpartnern dienten. Zudem widmete er sich ersten praktischen Umsetzungsversuchen seines an den drei „Einbruchstellen“ orientierten Programms einer deutsch-jugoslawischen Annäherung vermittels bilateralen Kulturaustausches. In Kapitel 3.2. wird am Beispiel der von Reiswitz unterstützten serbischen Gesellschaft zum Schutz der Altertümer ein exemplarischer Einblick gegeben in die potentielle Tragweite einer Implementierung seines Programms. Kapitel 3.3. und 3.4. dokumentieren im Kontext der multilateralen Kulturbeziehungen die von Reiswitz initiierten deutsch-jugoslawischen archäologischen Ausgrabungen am Ohridsee, die einerseits Ausfluss seiner persönlichen Forschungsinteressen waren, andererseits aber auch einen Schritt hin zum von Reiswitz erstrebten rapprochement der ehemaligen Kriegsgegner darstellten.
Die Kapitel 4.1–4.3. richten das Augenmerk auf Reiswitz’ akademischen Werdegang im nationalsozialistischen Deutschland und die damit verbundenen wissenschaftlichen, politischen und finanziellen Kalamitäten. Kapitel 4.4. widmet sich einem exemplarischen Exkurs, um am Beispiel seiner Beziehung zu dem Historiker Wilhelm Treue deutlich zu machen, mit welchen Strategien Reiswitz seiner politischen und akademischen Isolierung begegnete, aus der er durch seine Habilitationsschrift, deren Rezeption in Kapitel 4.5. thematisiert wird, auszubrechen versuchte. Nachdem Reiswitz durch die Publikation seiner Habilitationsschrift auf sich aufmerksam gemacht hatte, versuchte er dieses akademische Kapital in politisches umzumünzen, stets mit Blick auf die deutsch-jugoslawische Annäherung. Diesem Unterfangen ist Kapitel 5. gewidmet.
Insgesamt sind die ersten fünf Hauptkapitel dieser Arbeit von ihrer Grundstruktur her vornehmlich chronologisch ausgerichtet, obgleich die jeweilige thematische Schwerpunktsetzung es auch gelegentich erfordert, dass Rückblenden und zeitliche Vorgriffe erfolgen.
Kapitel 6.1.1. beschäftigt sich mit Reiswitz’ schwieriger Lage zu Beginn des Jahres 1941, als der Kriegsausbruch mit Jugoslawien zunächst sein bisheriges wissenschaftliches Lebenswerk zum Einsturz zu bringen drohte, ihm dann aber in nahezu paradoxer Weise gerade durch die Zerstörung Jugoslawiens die Möglichkeit eröffnet wurde, seine jahrelangen Planungen in die Tat umzusetzen.
Die Kunstschutzarbeit in Serbien selbst wird auf zwei Ebenen analysiert. Zunächst geht es in Kapitel 6.1.2. um die Hinüberrettung seiner persönlichen Netzwerkbildung in Jugoslawien aus dem Vorkriegsjahren in die bittere Realität eines militärischen Kunstschutzes in Restserbien unter deutscher Besatzung. In Kapitel 6.1.3. tritt das Programmatische anstelle des Persönlichen in den Vordergrund, indem Reiswitz’ Versuch der Umsetzung seines idiosynkratischen Denkmalschutzplanes dargestellt wird.
Das Kapitel 6.2. ist dem wissenschaftlich innovativsten, aber gleichzeitig auch politisch fragwürdigsten Teil der Arbeit von Reiswitz in Serbien gewidmet, der von ihm in die Wege geleiteten Zusammenarbeit mit der SS-Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe“. Das Zustandekommen dieser Allianz wird in Kapitel 6.2.1. beschrieben, in Kapitel 6.2.2. der politische Kontext erhellt und schließlich in Kapitel 6.2.3. die Spur des Ahnenerbe-Geldes verfolgt.
In Kapitel 6.3.1. geht es um das „Routinegeschäft“ des Kunstschutzes unter Reiswitz’ Führung, und in Kapitel 6.3.2. wird der über den reinen Kunstschutz sukzessive erweiterte Aufgabenbereich von Reiswitz eingeführt. Schließlich wird in Kapitel 6.3.3. die Abwicklung des Kunstschutzes erhellt und kurz auf die Nachkriegskarriere von Reiswitz eingegangen.
Am 18. Januar 1912, einem Donnerstag, als die Berliner bei klirrender Kälte den anstehenden Stichwahlen zum 13. Reichstag entgegensahen, saßen drei Jugendliche in einer geräumigen Wohnung der Carmerstraße 10 in Charlottenburg.88 Der achtzehnjährige Rudolf, genannt Rolf, und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Johann Albrecht, genannt Hans oder Alli/Ally, sowie die schon neunzehnjährige Schwester, Elisabeth. Die Mutter der drei, die vierzigjährige Maria Theresia Baronin von Reiswitz, geborene Kracker von Schwarzenfeld, befand sich zu Besuch bei ihrer erkrankten Schwester in Wetzlar und hatte Berlin tags zuvor verlassen. Ihr Ehemann, der 1863 auf dem Stammsitz der Familie im schlesischen Wendrin geborene Rittmeister a.D. des preußischen Leibkürassierregiments, Albrecht von Reiswitz, war daheim geblieben. Doch ohne die Mutter lief es nicht so richtig. Am Morgen hatten die Kinder bereits verschlafen und wachten erst um 7 Uhr auf, da der Wecker nicht richtig klingelte, sodass die beiden Jungen zu spät zum Unterricht in das 1895 gegründete, altsprachliche Wilmersdorfer Bismarck-Gymnasium kamen. Rolf stand ein Jahr vor dem Abitur. Er beschloss, eine weitere Verspätung zu vermeiden und stellte den Wecker übereifrig auf 5 Uhr. Alli versicherte seiner verreisten Mutter, dass es „schöhn“ [sic] gewesen sei in der Schule und fügte seinem handgeschriebenen Brief, versehen mit dem eingeprägten Familienwappen, stolz Folgendes hinzu: „Rolf treibt mit mir sehr liebevoll ‚La petite chèvre de M. Seguin‘ und wir ochsen brüderlich miteinander.“ Währenddessen besorgte der Vater bei „Sarotti“ süße Geburtstagsgeschenke.89
Die Ziege des Monsieur Seguin spielt die Hauptrolle in einer 1869 erstveröffentlichten Geschichte von Alphonse Daudet (1840–1897) und wird im weiteren Verlauf der Arbeit als Tropus verwendet werden. Blanquette flüchtet aus ihrem sicheren Stall und begibt sich auf Abenteuersuche in die Berge. Dort trifft sie auf eine Herde Gemsen, mit denen sie sich anfreundet, mit einem Böcklein sogar romantisch anbändelt. Als es Abend wird, ruft der besorgte Monsieur Seguin Blanquette, sie solle doch in den Stall zurückkommen. Doch Blanquette hört nicht auf ihn. Sie glaubt, den Gefahren der Nacht gewachsen zu sein und sich alleine gegen den bösen Wolf wehren zu könnnen. Doch da irrt sie. Sie hält ihn zwar lange hin mit ihren kleinen Hörnern, aber am Ende, kurz vor Tagesanbruch, vermag sie sich nicht mehr zu widersetzen: „Le loup se jeta sur la petite chèvre et la mangea.“90 Ob der kleine Alli in späteren Jahren die Moral der Geschichte, sich nicht ohne Not mit den überlegenen Kräften des Bösen auseinanderzusetzen, beherzigen würde?
Zweieinhalb Jahre nach der gemeinsamen Französischlektion trennten sich die Wege der Brüder Reiswitz. Fünf Jahre lang hatten Alli und Rolf, der am 30.11.1893 in Breslau geboren worden war, mit den Eltern in der Schweiz, am Luganer See, gewohnt. Dort war Alli am 08.07.1899 geboren worden. Im Jahre 1904 zog die Familie nach Berlin um. Ab dem Herbst 1909 besuchte Alli dort das Bismarck-Gymnasium. Für das Winterhalbjahr 1913/1914 schickten seine Eltern ihn auf das Alumnat im schlesischen Niesky. Kurz vor Kriegsbeginn 1914 nahm Johann Albrecht vom 04.–09.07. in Dänemark an einem Sommerlager des der Wehrerziehung verpflichteten Jungdeutschland-Bundes teil.91 Nach dem Kriegsausbruch wurde der frischgebackene Abiturient Rolf Soldat und fiel als Leutnant des 1. Garde-Ulanenregiments am 02.05.15 an der Ostfront, nahe dem Dorf Staszkowka, am ersten Tag der Schlacht bei Gorlice-Tarnów. Unter dem Kommando des späteren Generalfeldmarschalls August von Mackensen (1849–1945), welcher viele Jahre später zu Reiswitz als Kunstschützer in Belgrad Kontakt aufnehmen sollte, unternahm hier in Galizien die neuaufgestellte 11. Armee einen erfolgreichen Vorstoß gegen russische Kräfte, der an sich nur geringe deutsche Verluste mit sich brachte: „In großer Zahl warfen die Russen ihre Waffen fort und ergaben sich.“92 Zwei Jahre später starb Allis Vater in der Charlottenburger Wohnung, am 09.04.17, zwei Tage, nachdem er zum dritten Mal einen Schlaganfall erlitten hatte. Doch weder der Tod des Bruders noch der des Vaters, durch welchen seine Mutter und Schwester ohne erwachsenen männlichen Schutz zurückblieben, ließen Alli daran zweifen, dass auch er nun seinen Dienst am Vaterland zu verrichten hatte. Am 02.05.17 kommentierte er den Tod von Rolf mit den Worten: „Heute vor 2 Jahren fiel Rolf in Galizien! … Der glückliche!“
Alli selbst rückte am 30.07.17, drei Wochen nach seinem 18. Geburtstag, als Fahnenjunker in das 1. Garde-Feld-Artillerie-Regiment ein, kaserniert zunächst in Berlin. Am ersten Tag machte er sehr positive Erfahrungen. Er bekam eine nagelneue Ausstattung, das Exerzieren sei „ganz nett“, das Essen „schmeckte herrlich“ und die Unterhaltung auf der Stube drehte sich „unmoralisch über Weiber und Prostituierte“. Die Wanzen im Bett allerdings trübten den Eindruck.93 Zeit seines Lebens sollte Alli großes Interesse am weiblichen Geschlecht haben.94
Doch schnell verblasste das malerische Bild vom Soldatensein, und schon am 02.09.17 stellte der junge Reiswitz fest: „Gott, ich verdumme ja vollkommen! Es ist zum verrückt werden, jeder Tag an dem ich nichts lese, ist ein verlorener Tag.“95 Auch am Sinn des Krieges an sich begann er zu zweifeln: „Was wird das denn für ein Sieg, für den wir kämpfen? Wahnsinn! Verfluchter Wahnsinn einiger überspannter Köpfe ist der Krieg.“ Er stellte fest, dass Deutschland schuldlos, geleitet aber von „Idiotendiplomaten … gegen eine Welt von Feinden seinen Verzweiflungskampf führt“, und sah voraus, dass Deutschland „nie aufhören wird zu siegen“ – aber schließlich „dennoch verlieren wird“.
Nach Beendigung seiner Schießausbildung in der Artillerieschule Jüterbog südlich von Berlin ging es für ihn am 22.01.18 an die Westfront. Nahezu hymnisch beschwingt blickte er seiner Feuertaufe entgegen: „Jetzt fahre ich hinaus, die Frucht zu ernten, trenne mich von der Stätte, wo ich die Kunst suchte und fand. Mit Hilfe der göttlichen Kunst wurden mir meine Inlandssoldatenzeit, meine Lehrjahre leicht.“ Er schien die Absicht gehabt zu haben, den Krieg als Möglichkeit zu nutzen, „das Wesen [m]eines Volkes noch tiefer [zu] ergründen.“ Sein – bis dahin in lateinischer, danach in deutscher Schrift geführtes – „Tagebuch eines Fahnenjunkers“ beendete er mit den Worten: „Sonnenschein liegt über Berlin, ich öffne das Fenster – etwas wie Frühling liegt in der Luft!!!“96
Nach zwei Monaten in der Etappe an der Westfront nahm er ab dem 21.03.18 an der letzten deutschen Großoffensive teil, dem „Unternehmen Michael“. Am 01.04. äußerte er sich noch zuversichtlich. Die Versorgungslage sei wegen der vielen Hals über Kopf von der Zivilbevölkerung verlassenen Dörfer gut und „der Hauptstoß im Westen wird ja auch wohl noch glücken“.97 Einen Tag später fiel seiner Einheit ein englisches Proviantdepot in die Hände: „Wir … trinken den ganzen Tag köstlichen Burgunder … und Bordeaux“.98 Am 05.04. dann aber wurde er bei Hargicourt in der Nähe von St. Quentin schwer durch einen Kopfschuss verwundet. Mit einem Munitionszug erfolgte der Rücktransport in Richtung Heimat. Am 08.04. wurde er in Valenciennes operiert und blieb dort bis zum 19.04. Seit dem 13.04. bekam er bereits keine Schmerzmittel mehr, „es muss und wird auch so gehen“.99 Zwei Tage später beruhigte er seine Mutter, die innerhalb von drei Jahren mit Rolf erst den ältesten Sohn und dann den Ehemann verloren hatte, mit dem Hinweis darauf, dass er „genügend verpflegt“ werde, sogar „Kakao, Keks und andere Herrlichkeiten … in Hülle und Fülle“ bekomme. 100 Dann ging es weiter ins St.-Joseph-Hospital nach Köln-Kalk, wo er bis zu seiner Verlegung ins Berliner Elisabeth-Krankenhaus bis zum 07.05.18 rekonvaleszierte.
Zwar sollte Reiswitz den Rest seines Lebens unter verminderter Sehfähigkeit und häufigen Kopfschmerzen leiden, doch lässt sich der nun fast Neunzehnjährige nicht beirren und erhält schon im Oktober 1918 sein Reifezeugnis im Rahmen der Notabiturregelungen. Dem Tagebuch zufolge entließ ihn die Prüfungskommission mit den Worten: „Denken Sie nicht etwa, dass deswegen, weil wir Ihnen die Reife geben, wir etwa glauben, Sie seien schon reif.“ Selbstkritisch bestätigte Reiswitz im Tagebuch diese Beurteilung: „Bon, man hat es mir geschenkt, ich weiß auch, dass es wahnsinnige Faulheit und großes Glück waren, die mir 1 Jahr vor normaler Zeit das Examen verschafften, aber ich weiß auch ich habe … 6 Wochen unter beschwerendsten Umständen gearbeitet.“101
Für ein Mitglied des deutschen Adels war sein Leben bis zum Ende des Krieges nicht untypisch verlaufen. Ohne besonders wohlhabend zu sein, führte Reiswitz bis zum Ableben seines Vaters ein materiell recht sorgenfreies Leben. Sein Fronteinsatz war kurz, aber dennoch mit lebenslangen gesundheitlichen Beeinträchtigungen verknüpft.
Bevor er sich aber an der Berliner Universität einschreiben konnte, hatte der politische Umsturz in Deutschland begonnen, gefolgt von der deutschen Kapitulation am 11.11.1918. Bereits einen Monat vor Kriegsende zeigte sich Reiswitz desillusioniert, sowohl angesichts der militärischen Lage, als auch mit Blick auf die politischen Zustände in Deutschland: „Endlich, mich völlig kaputt machend, mich zum Wahnsinn bringend, ist die politische Lage. Man bedenke: Nach Westen standen wir auf siegreichem Vormarsch im Feindesland, im Osten haben wir den Feind völlig besiegt und Serbien, Montenegro, Rumänien besetzt. Überall sind wir Sieger. Und da verdirbt uns die veraltete Form unseres Regimes, an dessen Spitze ein völlig unfähiger Kopf als I.M. [Ihre Majestät] steht, unfähige Personen erzeugend alle Siege. Durch den von Wahnsinn grüßenden Größenwahn unseres Kaisers und die völlige Unfähigkeit unserer maßgebenden Politiker fällt Bulgarien ab, rüstet Rumänien von Neuem zum Kriege, fällt in Folge dessen die mazedonische, fällt die Palästinafront, können nicht völlig in unsere Hand gegebene Gegner sich wieder gegen uns rüsten, und beginnt unsere Westfront zu wanken.“ Er stellte sich die Frage: „Wie konnte das kommen?“ und hat auch eine Antwort parat: „Sehr einfach, durch unser veraltetes Regime. Also, fort mit ihm. Über Nacht bekommt Deutschland die parlamentarische Verfassung. Gut, dreimal gut. Es war die einzige noch mögliche Rettung. Hoffen wir, dass es nicht zu spät sei.“102
Zwei Tage zuvor, am 03.10.18, hatte Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) den liberalen Prinzen Max von Baden (1867–1929) zum Reichskanzler ernannt, und es waren Sozialdemokraten ins Kabinett eingetreten. Für Reiswitz war das kaiserliche Regime und das damit verbundene Demokratiedefizit maßgebend verantwortlich für den Kriegsverlauf: „Hätten wir diese Verfassung gehabt, 10 Jahre vor dem Kriege, oder wenigstens zu Beginn dieses Krieges, so würde Friede wieder herrschen und überall wären wir Sieger geblieben.“103
Doch lediglich eine Verfassungsänderung konnte die deutsche Niederlage nun nicht mehr verhindern, da die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) dem Kabinett Max von Badens unterbreitete, von Erich Ludendorff (1865–1937), dem stellvertretenden Chef der dritten Obersten Heeresleitung und wahrem Herrscher über Deutschland, nicht akzeptiert wurden. Und folglich kam es, den Ausführungen des gerade frischgebackenen Abiturienten Reiswitz zufolge, „wie es kommen musste. In kaum einer Woche hat sich unser Schicksal erfüllt. Die Türkei fiel nach Bulgarien ab. Heute ist der Waffenstillstand unterzeichnet und die Türkei nebst Dardanellen ausgeliefert der Entente. Bulgarien ist Republik. Die Alliierten haben es besetzt. Serbien ist wiedererobert. Die Alliierten nähern sich der Save und Drina. Österreich ist von uns durch den Verrat des Kaisers Karl abgefallen, auseinandergefallen. Ungarn ist selbständig und wird die Alliierten durchmarschieren lassen. … Die Balkanfrage ist für uns verloren … Wilson zieht den Frieden hin, auf den wir bedingungslos einzugehen scheinen … Im Deutschen Reichstag fordert Polen Danzig, will Elsass-Lothringen an Frankreich. Von innen heraus droht die Anarchie durch Polen und Bolschewikis.“
Neben dem von Reiswitz bereits im Oktober ausgemachten Hauptschuldigen an der deutschen Niederlange, dem Kaiser und der dahinter stehenden monarchischen Verfassung, drohte Deutschland also nun auch Ungemach durch die Bestrebungen des polnischen Nationalismus einerseits und durch kommunistische Umsturzversuche andererseits. Doch auch Anfang November war für Reiswitz weiterhin klar, dass die Niederlage programmiert war: „Da nutzt keine Regierung etwas, und sei sie noch so tüchtig, hier rächt sich das ancien régime deren, deren Folge alle diese diplomatischen débacles waren und sind, die unsere Siege verdarben und verderben.“ Doch war er zu diesem Zeitpunkt keinesfalls Befürworter einer bedingungslosen Kapitulation: „[Der SPD-Politiker und Staatsminister ohne Portefeuille unter Max von Baden, Philipp] Scheidemann beantragt Abdankung des Kaisers. S.M. [Seine Majestät] … bei Nacht und Nebel ins Große Hauptquartier, nachdem er vorher dumm genug war, [am 26.10.18] Ludendorff zu entlassen“, welcher die Kriegshandlungen nun doch fortsetzen wollte.