Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
John Riew ist eine Erzählung von Theodor Storm. Auszug: Mein Haus steht auf dem Lande, in einer holzreichen Gegend zwischen einem Kirchdorf und einem kleinen, in breiten Kastanienalleen fast vergrabenen Orte, welcher allmählich um einen Gutshof ausgewachsen ist, von beiden kaum zehn Minuten fern. Fast täglich mache ich nach rechts oder links meinen Spaziergang, und im Frühling und Sommer ergötzt mich dann das Leben, das hier aus den Bauerngehöften, im Orte aus den kleinen Häusern der dort wohnenden Handwerker oder Handelsleute auf den Weg oder in die Vorgärten hinausdringt; die Kinder des Gutsortes und ich, wir grüßen uns allzeit ganz vertraulich; um Weihnachten aber beehren sie mich von beiden Seiten, sei es als »ruge Klas« oder als »Kasper und Melcher aus dem Morgenland«, und sind freundschaftlicher Behandlung sicher.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 85
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Mein Haus steht auf dem Lande, in einer holzreichen Gegend zwischen einem Kirchdorf und einem kleinen, in breiten Kastanienalleen fast vergrabenen Orte, welcher allmählich um einen Gutshof ausgewachsen ist, von beiden kaum zehn Minuten fern. Fast täglich mache ich nach rechts oder links meinen Spaziergang, und im Frühling und Sommer ergötzt mich dann das Leben, das hier aus den Bauerngehöften, im Orte aus den kleinen Häusern der dort wohnenden Handwerker oder Handelsleute auf den Weg oder in die Vorgärten hinausdringt; die Kinder des Gutsortes und ich, wir grüßen uns allzeit ganz vertraulich; um Weihnachten aber beehren sie mich von beiden Seiten, sei es als »ruge Klas« oder als »Kasper und Melcher aus dem Morgenland«, und sind freundschaftlicher Behandlung sicher.
Deshalb plagte mich ein Haus am Ende des Gutsortes. Ich selber hatte es teilweis bauen sehen, und als ich einmal einige Monate fort gewesen war, stand es bei meiner Heimkehr fertig da; aber so oft ich später daran vorbeiging, es wollte mir nicht vertraut werden, denn in diesem Hause war kein Leben: niemals sah ich einen Menschen dort hinein- oder herausgehen, niemals regte sich etwas hinter den blanken Fenstern, die je zwei zu den Seiten des vertieften Säuleneinganges aus den roten schwarzgefugten Mauern auf einen mit dunklen Koniferen vollgepflanzten Vorgarten hinausgingen. Den Einblick wehrten ungewöhnlich hohe Vorsätze von schwarzblauem Drahtgewebe; dahinter sah man schattenartig und regungslos nur die weißen Gardinen herabhängen. Alles war sauber und wie unberührt, aber zwischen den gelben Klinkern, von denen ein breiter Fries um das Haus lag, und zwischen den drei Granitstufen der Haustreppe trieben die grünen Grasspitzen hervor. Und dennoch sollte das Haus bewohnt sein: ein Auswärtiger – so hörte ich – habe das früher dort gestandene geräumige, aber verfallene Gebäude in Erbgang oder sonst wie erworben und statt dessen durch einen fremden Maurermeister den jetzigen Bau dorthin setzen lassen; ja, nicht er allein, es sollte außerdem von einer ältlichen kränkelnden Frau und von einem gar argen zwölfjährigen Buben bewohnt sein; wie aber das Verhältnis der drei Personen zu einander war, darüber wußten die von mir Befragten nicht Bescheid zu geben: die Bewohner schienen nur mit einander zu verkehren.
Von dem Jungen freilich ging bald allerlei Gerede: er sollte aus der Volksschule wegen dort unzähmbaren Wesens fortgewiesen sein und seit einiger Zeit die vornehme Institutsschule besuchen, wo die Knaben Französisch und Englisch, sogar Latein und Griechisch lernen konnten; auch hier war er schon ein paarmal eingesperrt gewesen; dennoch sollte der alte Riewe – diesen bei uns nicht ungewöhnlichen Namen trug der Hausherr – ihn zu seinem Erben eingesetzt haben. Bändigen sollte auch er ihn nicht können; ja, man erzählte, als nach einer neuen Schulstrafe der alte Herr mit liebreicher Ermahnung auf den Knaben eingedrungen sei, habe dieser plötzlich eine freche Gebärde nach ihm hingemacht und, aus der Tür rennend, auf Plattdeutsch noch zurückgeschrien: »Din Geld krieg ick doch, ohl Riew'!«
Ich frug wohl diesen und jenen, woher denn der Mann gekommen sei; die einen meinten: aus Lübeck, die andern: aus Flensburg oder Hamburg; auch wohl, was er denn sonst getrieben haben möge, und diese machten ihn zu einem Makler, die andern zu einem früheren Schiffskapitän. Ich hätte mich bei der Gutsobrigkeit erkundigen können, aber, obgleich die Dinge mich sonderbar interessierten, welche Veranlassung hätte ich zu solch offizieller Erkundigung gehabt?
Der hohe, seitwärts von dem Hause fortlaufende und mit einem dichten Dornenzaun besetzte Erdwall begrenzte nach der Straße hin den durch alte Obstbäume verdüsterten Garten, welcher sich nach einer Waldwiese abwärts senkte. Im Sommer freilich war alles durch den Zaun verdeckt; aber jetzt war es Herbst, die Drosseln fielen in die roten Beeren, und eine Fülle bunten Laubes war von den Alleebäumen schon auf den Weg gefallen. Als ich eines Spätnachmittags jetzt dort vorüberging, gewahrte ich eine entblätterte Stelle in dem Zaun und blieb stehen, um einen Blick in das sonst unsichtbare Gartengrundstück hineinzuwerfen. Ich hatte mich auf den Fußspitzen erhoben, aber ich erschrak fast: ein blasses und – so erschien es mir – wunderbar schönes Knabenantlitz mit dunkelgelocktem Haupthaar stand dicht vor dem meinen und sah von der anderen Seite mir starr und schweigend entgegen; ich gewahrte noch, daß die großen, gleichfalls dunkeln Augen voll von Tränen standen; dann war es verschwunden, und ich hörte langsame Schritte in den Garten hinab.
War das der arge Bube, von dem die Leute redeten? Nachdenklich setzte ich meine Abendwanderung fort, denn das Gesicht, welches ich eben sah, einmal mußte ich es schon gesehen haben, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren – aber das ging ja nicht, der Knabe mochte jetzt kaum zwölfe zählen.
Noch am Abend dieses Tages hörten wir, in dem neuen roten Hause liege die alte Haushälterin im Sterben; aber das Haus selbst war am Nachmittage, als ich dort vorbeigegangen, in seiner gewohnten, wunderlichen Einsamkeit dagestanden, die Gardinen hatten, wie immer, unbewegt hinter den blauen Vorsätzen gehangen, keinen Laut hatte ich vernommen, selbst der schöne wilde Knabe hinter dem Gartenzaune war mir nur wie ein Gespenst erschienen; auch das Sterben wurde hier ganz still besorgt.
Als ich am andern Tage mit meiner Frau vorüberging, sagte ich: »Im neuen Hause hier soll eine zum Sterben liegen; zu leben scheint man nicht darin.«
»Dann wird sie schon gestorben sein,« erwiderte sie, indem sie durch die Zaunlücke in den Garten wies; »sieh nur, dort unter dem großen Apfelbaum stehen zwei Frauen und reden mit einander; das ist mir hier noch nimmer vorgekommen.«
Wir sahen sonst nichts weiter, aber meine Frau hatte recht geschlossen: noch am selben Abend lief es durch das Dorf, die Haushälterin, wie die alte Frau im roten Haus benannt wurde, habe seit jenem Vormittag ihr Tagewerk auf immer eingestellt. Einige Tage später wurde ein Sarg auf der Landstraße an meinem Hause vorbeigetragen, hinter welchem nur ein weißhaariger Mann mit einem Knaben ging, aber der Zug war, als ich vor die Tür kam, schon zu weit entfernt, das Antlitz der beiden konnte ich nicht mehr sehen. Mein Nachbar, der zu mir trat, sagte: »Der arme Bursche sah aus wie der Tod selber; es war seine Großmutter, die sie nun bei der Kirche da begraben; seine Mutter soll er nie gekannt haben.«
»Der arme Junge!« dachte auch ich; »was wird aus ihm, wird der Alte sich allein nun mit ihm abgeben?«
Als ich mit Frau und Kindern am Nachmittagstee saß, bei dem goldnen Herbstsonnenschein noch einmal im Freien auf der Terrasse, brach aus dem Armenhausgarten, welcher derzeit mit dem unseren zusammenstieß, ein lautes Schreien und Toben, unterbrochen durch die scharf redende Stimme des Armenvaters, zu uns herüber, so daß das Gespräch aufhörte und alles dorthin horchte. Die schreiende Stimme kam offenbar von einem Knaben.
»Ich fürchte,« sagte lächelnd unser Nachbar, der neben uns saß, »er wird nicht mit ihm fertig!«
»Mit wem?« frug ich. »Wer ist denn das?«
»Nun, das wissen Sie nicht? Der Junge von dem Riew'; er ist gleich vom Kirchhof in das Armenhaus gebracht. Er mag sich das wohl nicht gedacht haben; mit dem Erben ist es auch wohl eitel Wind!«
»Unglaublich! Empörend!« rief meine Frau, während drüben das Geschrei noch immer fortging.
Der Nachbar zuckte die Achseln. »Ja, du lieber Himmel, der Bengel ist ein Ausbund, von den schlimmsten; erst gestern haben sie ihn wieder aus der Institutsschule fortgewiesen; was soll der Alte mit ihm aufstellen? Er hat die Frau nun auch nicht mehr zur Hülfe.«
Aber die Frauen an unserem Tische schüttelten gleichwohl die Köpfe.
Ob dann der Armenvater endlich das aufgeregte Kind beruhigt hatte, oder ob die Szene nach einem andern Teil des Hauses verlegt war, kann ich nicht sagen; aber der Lärm hörte auf, und wir sprachen weiter nicht davon.
– – Einige Tage später, da ich von dem Jungen nichts mehr gemerkt hatte, frug ich über unseren Zaun den Armenvater, der einige Weiber bei der Arbeit in seinem Garten überwachte: »Nun, wie geht es mit Ihrem neuen Alumnen?«
»Wen meinen Sie?« frug der Mann zurück und sah mich wie unwissend an.
»Wen sollte ich meinen? Natürlich den Riew'schen Jungen; ich weiß nicht seinen Namen.«
»O, der! Der sitzt schon längst wieder im warmen Nest; der beerbt den Alten noch bei lebendigem Leibe. Ich hätte ihn nur behalten sollen!« fügte er mit einer entsprechenden Handbewegung hinzu.
Ich dachte an das zarte Gesicht des Knaben und sprach zu mir selber: »Es ist doch besser so.«
Es war schon in den letzten Tagen des Oktober, als ich eines Nachmittags wieder an dem Rieweschen Garten entlang ging, wo der Zaun jetzt freie Durchsicht ließ; auch war dort heute wirklich was zu sehen, denn oben im Geäste eines großen Birnbaums hing der hübsche Knabe und langte mit ausgestrecktem Leibe nach ein paar goldgelben Birnen, die noch an einem fast blätterlosen Zweige hingen. Unter ihm am Stamm sah ich einen untersetzten Mann, der mir seinen breiten Rücken zuwandte; nur seinen weißen, seitwärts abstehenden Backenbart konnte ich außerdem gewahren. »Zum Teufel, Rick, so komm herunter!« rief er; »das ist kein Mastkorb, worin du arbeitest!«
»Wart nur, Ohm!« erwiderte der Knabe; »ich krieg sie gleich, die allerletzten sollen doch nicht sitzen bleiben!« und er reckte sich stöhnend noch ein Stückchen weiter.
» By Jove! Du brichst dir um zwei Birnen noch das Genick!« Und der Alte griff in die Tasche und schien ihm eine kleine Münze hinzuhalten. »Komm herunter und kauf dir welche! Der Schuster hat dieselben.«
Der Junge aber hörte nicht danach; er suchte droben den Zweig, woran die Birnen saßen, zu sich heranzubiegen. Ich stand in plötzlichem Besinnen; auch die alte Stimme war mir bekannt. Eine untersetzte grauhaarige Gestalt aus meinen Hamburger Schülerjahren tauchte vor mir auf, daneben ein Kinder-, ein Mädchenangesicht. »Wenn er es wäre!« dachte ich bei mir selber; »und Riewe heißt er, vielleicht John Riew'!«
Da hörte ich einen Krach, und als ich aufblickte, sah ich es vor mir durch die Luft zur Erde fahren; ein gebrochener Ast baumelte oben von dem Baum herab; es war kein Zweifel, der Junge war herabgestürzt. »Man hat noch den Tod von dir!« schrie der Alte. »Sind denn die Planken heil geblieben?« Und gleichzeitig hatte er sich gebückt und wollte dem Jungen auf die Beine helfen.
Der aber war schon aufgesprungen. »Tut nichts!« sagte er, sich zuckend seine Hüfte reibend. »Unkraut vergeht nicht, Ohm!«