Jonathan von der Insel - Karin Jundt - E-Book

Jonathan von der Insel E-Book

Karin Jundt

4,8

Beschreibung

Der Fischer Jonathan macht einen außergewöhnlichen Fang: einen bunten, sprechenden Fisch, der Wünsche erfüllt - allerdings anders, als man es erwartet. Beim jungen Mann löst er den Prozess der bewussten inneren Entwicklung aus. Auch Jonathans Freundin Serena begegnet dem Fisch, und er weist ihr den Weg aus einer schwierigen, leidvollen Zeit. Beim Dorftrottel Beppi scheint der Fisch gar Wunder zu wirken. Die Geschichte spielt auf einer kleinen Insel im südlichen Mittelmeer; es ist die Kulisse des gewöhnlichen Alltags, wo Menschen Leidenschaft und selbstlose Liebe erfahren und die Last schweren Schicksals zu tragen haben. Es ist eine tiefsinnige, märchenhafte und zugleich spannende Erzählung von der Liebe und dem Weg zweier Menschen durch das Lichte und das Dunkle des Lebens. Was ihnen zuerst oft sinnlos scheint, fügt sich in den Kreis des Geschehens harmonisch ein, hat seinen Stellenwert im Ganzen und wird dann sinnerfüllt, sobald es ihnen gelingt, das Leben als Weg zum Höheren anzunehmen und auf die Güte und Vollkommenheit des kosmischen Plans zu vertrauen. "Jonathan von der Insel" malt ohne Mahnfinger und theoretische Belehrung in poetischer, liebevoller Weise ein ruhiges Bild, wie Menschen, die mit beiden Füssen fest in dieser Welt stehen, zugleich mit Kraft, Zuversicht und Lebensfreude dem Ruf ihrer Seele folgen. Es kann zum frohen Begleiter im Alltag werden, in schweren Zeiten Trost spenden und Mut machen.

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Meiner Mamma

ist mein allererstes

Buch gewidmet

Nicht indem wir

jeder Beziehung entsagen,

vielmehr durch alle Beziehungen

finden wir Menschen

natürlichen Zugang

zur göttlichen Allheit –

es ist der leichteste,

weiteste, innigste Weg,

sie zu erfahren.

Sri Aurobindo

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

1

Jonathan saß auf dem Elefanten und schaute der untergehenden Sonne zu. Das Meer war an diesem Abend nur leicht bewegt und umspülte sanft den mächtigen Felsen im seichten Wasser unweit des Ufers. Mit kindlichem Blick entdeckte man in ihm tatsächlich ein Tier mit großem Ohr und Rüssel – deshalb hatte ihn Jonathan als kleiner Junge so getauft. Eine eigene Magie umgab diesen Ort: Hier fühlte er sich oft von einer geheimnisvollen Kraft genährt, empfand eine Weite, die seine ganze Umgebung umfasste, und eine bis in die innere Leichtigkeit reichende Tiefe.

Er erlebte da manchmal ein Glücksgefühl, das dem Nichts zu entspringen schien.

Selbstvergessen ließ er sich an diesem Abend von der Dämmerung einhüllen, bis die Sonne völlig im Meer versunken war und am wolkenlosen Himmel nur ein zartes, beinahe durchschimmerndes warmes Licht leuchtete.

Vor dem gelborangen Hintergrund hob sich am Horizont deutlich die Silhouette eines Frachters ab. Verträumt schaute Jonathan ihm nach und wunderte sich, dass er nicht den Wunsch verspürte, die kleine Insel zu verlassen, wie viele andere junge Leute aus seinem Dorf. Dennoch überlegte er, ob es ihm wirklich bestimmt war, sein Leben als Fischer zu verbringen, Fischer wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater und wer weiß wie viele Generationen vor ihnen. Nie zuvor hatte er daran gezweifelt, aber – er erkannte es beinahe erstaunt – er hatte auch noch nie darüber nachgedacht, ob ein anderer Beruf ihm nicht lieber wäre. Er war einfach Fischer geworden, ohne es je bewusst entschieden zu haben.

Und plötzlich tauchte auch die Frage in ihm auf – zum ersten Mal in seinem Leben –, ob sein Schicksal von einer höheren Macht gelenkt oder gar vorbestimmt sei und inwieweit er es mit seinem Geist und seinem Willen überhaupt beeinflussen könne. Wie er sich vom monotonen Meeresrauschen tragen ließ, ohne wirklich nachzusinnen, und in Empfindungen schwebte, die er nicht in Worte kleiden, nicht dem Denken preisgeben mochte, entfaltete sich in ihm die Antwort als ein inneres Bild. Er befand sich in einer wilden, blühenden Urlandschaft und stieg einen steilen Pfad hinauf. Ein Licht, das von oben durchs Dickicht drang, warf einen Schein auf seinen nächsten Schritt und erhellte ihn, nur ihn; alle, die er schon zurückgelegt hatte, und alle, die noch vor ihm lagen, waren in Dämmerung gehüllt. Er spürte, wie er auf seiner Wanderung durchs Leben geleitet und geführt wurde, und er erkannte, dass er nicht weit voraus in die Ferne blicken noch seinen Weg planen musste, sondern nur mutig und vertrauensvoll vorwärts gehen wie ein Kind an der Hand der Mutter, das nicht um das Ziel weiß und nicht nach der Richtung fragt. In dieser hingebenden Zuversicht empfand er eine wohltuende Ruhe und frohe Unbeschwertheit.

Nach und nach verblasste das innere Bild und verbarg sich sogleich tief in seiner Seele, ohne ein greifbares, in Worte gefasstes Wissen zu hinterlassen, und er kehrte zurück in die Wirklichkeit des Felsens, auf dem er immer noch bewegungslos saß.

Die Dunkelheit brach schnell herein und zündete am Himmel mehr und mehr Sterne an. Da machte Jonathan sich auf. Es war nicht weit ins Dorf, kaum eine halbe Stunde. Obwohl es keinen Weg gab, bewegte er sich flink über den steinigen Grund, wich geschickt den Ginsterbüschen aus, trat fest auf das von der Sommerhitze völlig ausgedorrte niedere Gestrüpp. Er kannte das Gelände gut, und seine Augen hatten Zeit gehabt, sich an die Nacht zu gewöhnen.

2

Wie Jonathan in die Gasse einbog, wo er zusammen mit seinem Vater Salvino ein einfaches Haus bewohnte, kam ihm der Dorftrottel entgegen. Mit beiden Händen trug er einen Aluminiumtopf und war so darauf konzentriert, ihn gerade zu halten, um nichts zu verschütten, dass er den Fischer übersah und an ihm vorbeigegangen wäre, hätte dieser ihn nicht freundlich gegrüßt: „Ciao, Beppi, wohin gehst du so spät?“

„Mamma schickt mich zu Concetta, ich soll ihr diese Suppe bringen“, antwortete er in seiner lallenden Sprache und deutete mit dem Kinn auf den Topf, den er angestrengt und krampfhaft festhielt.

„Wie geht es ihr denn?“, fragte Jonathan.

„Gestern konnte sie kurz aufstehen, aber heute ist sie wieder zu schwach und liegt nur im Bett. Den ganzen Nachmittag war ich bei ihr, aber meistens hielt sie die Augen geschlossen und redete nicht. Ich glaube, sie wird bald sterben.“

„Meinst du?“

„Ja. Ihre Katze liegt sonst immer auf ihrem Bett, am Fußende, aber heute saß sie auf dem Stuhl daneben.“

Beppi, er mochte wenig über dreißig sein, war von Geburt an geistig behindert. Dreimal ließ man ihn die erste Klasse wiederholen, versetzte ihn dann in die zweite, und damit war seine obligatorische Schulpflicht erfüllt. Richtig lesen und schreiben hatte er allerdings nicht gelernt: Mit Mühe kritzelte er seinen Namen und buchstabierte einzelne Wörter, vor allem die ihm wohl vertrauten Namen der Schiffe im Hafen und die Schilder der Geschäfte. Er war aber liebenswürdig und hilfsbereit, und die Leute hatten nichts gegen ihn. Zudem war er ein dankbares Opfer für ihre Hänseleien. Seine undeutlichen, manchmal widersinnigen Sätze, die sie nicht verstanden, überhörten sie einfach.

Aber jetzt wollte Jonathan erfahren, was er sich in seinem Kopf zusammenreimte und fragte nach: „Was weiß denn die Katze von Concettas Tod?“

Der Topf, den Beppi immer noch trug, wurde ihm sichtlich schwer und er stellte ihn ab; er wollte es ausführlicher erklären, weil die Leute die einfachsten Zusammenhänge oft nicht begriffen, wenn er sie ihnen schilderte.

„Tiere spüren doch, wenn sie sterben; also spüren sie auch, wenn Menschen sterben“, setzte er an. „Darum will die Katze der Seele von Concetta nicht im Wege sein, wenn sie davonfliegt.“

Wie es seine Art war, sprach er langsam und legte zwischen den Sätzen Pausen ein, die es Jonathan erlauben sollten, über das Gehörte nachzudenken. Dieser erfasste die offensichtliche Logik dennoch nicht und bohrte weiter:

„Warum soll die Katze am Fußende ein Hindernis sein, nicht aber auf dem Stuhl?“

„Ja“, fuhr Beppi geduldig fort, „weil die Seele von Concetta den Körper doch durch die Füße verlassen will, und wenn sie die Katze da liegen sieht, könnte sie sich fürchten und im Körper bleiben, und Concetta müsste noch lange leiden, weil sie nicht sterben kann.“

Jonathan schüttelte den Kopf. Eine Seele, die sich vor der Katze fürchtete – das konnte er noch nachvollziehen. „Dass die Seele den Körper durch die Füße verlässt, hast du bestimmt nicht vom Herrn Pfarrer gehört!“, schalt er mit gespielter Strenge.

Beppi überlegte einen Augenblick: „Vielleicht ist es nicht immer so, aber bei Concetta ganz bestimmt. Durch ihr Lästermaul will ihre Seele sicher nicht – du weißt doch, wie sie ständig über alle schimpft! Und ihre Augen, wie sie einen manchmal zornig anblitzen! Nein, das ist kein Weg für eine Seele. Ihr Bauch und ihr Hintern sind so dick, da ist kein Durchkommen. Ihre Füße hingegen, die sind gut. Auf ihnen stand sie immer, wenn sie arbeitete, und sie trugen sie jeden Morgen in die Frühmesse. Wenn ich sie an den Fußsohlen kitzelte, lachte und lachte sie und war zufrieden… Ja, durch ihre Füße wird ihre Seele hinausfliegen“, wiederholte er mit Nachdruck. Überzeugt, jetzt alle nötigen Erläuterungen gegeben zu haben, hob er seinen Topf an, grüßte kurz und ging.

3

Serena legte die Zeitschrift beiseite und schaute zum Fenster hinaus. Wie schön waren die sanften mittelitalienischen Hügel, die selbst im Sommer, ausgetrocknet und versengt, noch lieblich wirkten. Die Landschaft raste an ihr vorbei, aber für sie hätte der Zug noch schneller fahren müssen, so sehr sehnte sie sich nach daheim, nach ihren Eltern, dem Fischerdorf, dem Meer und der felsigen Küste. Die Mittagshitze machte sie schläfrig, sie schloss die Augen.

Bilder und Erinnerungen aus ihrer Kindheit tauchten auf: der Treppenaufgang zur Kirche, das Schulzimmer mit dem Riss in der Wandtafel, wie sie mit ihren Freunden bis zum Hafen um die Wette lief oder in der Macchia Verstecken spielte… Es tat ihr weh. Sie öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder vor ihrer Vergangenheit. Jetzt war sie neunzehn, schnell erwachsen geworden, und nichts war mehr wie früher.

Der Lärm der ein- und aussteigenden Menschen lenkte sie ab, nachdem der Zug in den Bahnhof von Rom eingefahren war. Kaum setzte er sich aber wieder in Bewegung, rollten auch ihre Gedanken erneut los; vor allem der eine, den sie eine Weile erfolgreich verdrängt hatte, ließ sich nicht länger fernhalten, je näher sie ihrer Heimat kam. Ob sie die Lider schloss oder mit offenen Augen hinausstarrte, sie sah nur ihn: Jonathan, den liebsten Gefährten ihrer Kindheit und Jugend. Jonathan, wie er mit ihr zusammen den majestätischen Elefantenfelsen erklomm, Jonathan, wie er ihre Hände fasste und sie aus seinen tiefblauen Augen ohne zu lachen anschaute, um ihr ein Geheimnis zu entlocken, Jonathan, wie er auf dem Fischkutter Netze flickte und ihr Geschichten vom Meer und von fernen Ländern erzählte, erfundene, wunderbare Geschichten, die sie träumen ließen, Jonathan, wie er ihr zum Abschied sagte: „Jedes Mal, wenn du an mich denkst, denke ich auch an dich, und unsere Gedanken treffen sich im Himmel und spielen miteinander.“

Nach der Primarschule hatten ihre Eltern sie zu Verwandten nach Mailand geschickt, damit sie dort bessere Schulen besuchte. In der ersten Zeit trauerte sie der sorgenlosen Freiheit der Insel nach, vermisste Jonathan sehr und schrieb ihm oft, Briefe voller Sehnsucht und Liebe.

Doch nach und nach drang die Atmosphäre ihrer Umgebung in ihr Wesen ein und sie lebte ihren neuen Alltag mit der ihr eigenen Intensität und Lebensfreude. Langsam verblasste das Heimweh nach ihrer Familie, der Insel und nach Jonathan. Dennoch bewohnte er ein Kämmerlein ihres Herzens, wo er immer bei ihr war, auch wenn sie nicht an ihn dachte, und er stand ihr stets näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Während der langen Sommerferien, die sie jeweils auf der Insel verbrachte, kam die alte Vertrautheit immer schnell zurück.

Die letzten drei Jahre war sie allerdings nicht mehr zu Hause gewesen. Nun kehrte sie heim. Vielleicht hatte er sie vergessen… Sein harter Fischeralltag konnte ihre besondere Freundschaft leicht entzaubern. Sie hoffte es für sie beide, es wäre das Beste, denn das Dorf war klein und ein Wiedersehen unvermeidlich. Sie malte sich aus, wie sie einander treffen und freundlich distanziert begrüßen, ein paar belanglose Worte wechseln und sich als unverbindliche Bekannte trennen würden. Ja, so sollte es sein, das wäre die einfachste Lösung. Der Schmerz, den sie bei dieser Vorstellung aber empfand, riss den künstlichen Schleier der Gleichgültigkeit, an dem sie lange gewebt hatte, gewaltsam herunter und offenbarte ihr die ganze Ausweglosigkeit ihrer Lage, die Verzweiflung über ihr Schicksal, die Angst vor der Zukunft.

Tief in ihr keimte ungebeten auch die Hoffnung, es könnte sich doch noch alles ändern, alles zum Guten wenden. Dennoch blieb es diesem aufflackernden Gedanken versagt, ihre Beklemmung über die bevorstehende Begegnung zu lösen. Sie wusste einfach nicht, wie sie auf ihn zugehen sollte. Ihn umarmen und so tun, als wäre nichts? Ihm alles erzählen? Es war ihr nie gelungen, ihm etwas zu verheimlichen. Oft hatte sie gestaunt, wenn er dasselbe wie sie dachte und fühlte, und das, was in ihrem Kopf und in ihrem Herzen vorging, miterlebte, als wäre es ein Teil von ihm.

Das war lange her. Das Kind Serena, das unbeschwerte Mädchen, gab es nicht mehr. Das Leben hatte sie mit einer seiner dunkleren Seiten bekannt gemacht, und bestimmt war Jonathan auch nicht mehr der Gleiche… Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.

4

Während Salvino ein Ersatzteil einbaute, auf das sie nun tagelang ungeduldig gewartet hatten, lag Jonathan bäuchlings auf der Mole und malte in neuen, kunstvolleren Buchstaben und einer lieblicheren Farbe den Namen ihres Fischkutters, „Maja“. Dabei träumte er wehmütig von Maja, seiner verstorbenen Mutter, und erinnerte sich an die Geschichte, die er als Kind immer wieder von ihr hatte hören wollen, ihre Geschichte, wie sie als junge Frau aus Norddeutschland durch Zufälle und Umwege auf die Insel gelangt, seinen Vater kennen und lieben gelernt hatte.

Als er mit dem Schwung des Schriftzugs zufrieden war, legte er den Pinsel beiseite und ließ den Blick aufs offene Meer hinaus schweifen. Die Fügungen des Schicksals, die seine Eltern zueinander geführt hatten, faszinierten ihn. Das konnte doch nicht bloßer Zufall sein! Die Gedanken des Vorabends tauchten wieder auf und er sah vor seinem inneren Auge nochmals das Bild seines Lebenswegs.

Da wusste er, dass die gleiche Hand, die ihn führte, auch seine Mutter geleitet hatte. Tiefes Glück durchströmte ihn, wie das Vertrauen in diese höhere Macht erneut in ihm aufwallte. Er erkannte, dass in allem stets ein Sinn liegt, auch im Schweren, das den Menschen widerfährt, und er war sicher, dass sogar im Tod seiner Mutter etwas Gutes liegen musste, obwohl er es nicht begriff.

Die „Maja“ war also wieder seetüchtig. Wie sie sich aber zum Auslaufen bereit machten, klagte Salvino über ein starkes Schwindelgefühl, und seine Stirn brannte, als hätte er hohes Fieber. Jonathan sorgte sich und wollte gleich zum Arzt laufen, aber sein Vater hielt ihn zurück:

„So schlimm ist es nicht. Wir müssen endlich wieder etwas verdienen. Geh, hol Beppi, fahr mit ihm zusammen hinaus; er ist kräftig und kann dir helfen. Ich lege mich zu Hause hin, dann wird es bestimmt besser.“ Jonathan zögerte kurz, nickte schließlich und gehorchte.

Der Fang war außerordentlich. Der junge Fischer bedauerte, dass sein Vater es nicht miterlebte, denn selten hatte er die Netze so voll gesehen. Kaum waren sie zurück im Hafen, fielen die ersten Regentropfen. Er schickte Beppi nach Hause und machte sich allein daran, den Kutter zu entladen. Einen besonders großen Fisch hob er zärtlich auf, hielt ihn in den Armen, streichelte ihn liebevoll und dankte ihm als Stellvertreter für alle anderen.

In diesem Augenblick, als ein Sonnenstrahl die Wolken aufriss und einen Regenbogen über die Insel warf, begann der eben noch reglose, unscheinbare Fisch in denselben Farben zu schillern, aber nicht einer Spiegelung gleich oder wie wenn die Schuppen das Licht brechen, sondern in einer leuchtenden, kräftigen bunten Bemalung – und er bewegte sich. Weil ihm am Morgen beim Aufstehen übel gewesen war, dachte Jonathan sofort an eine Sinnestäuschung – sie hatten wohl beide, er und sein Vater, am Abend davor etwas Verdorbenes gegessen.

Wie um sich selbst zu beweisen, dass es sich nur um ein Trugbild handelte, sagte er laut, mehr zu sich selbst als zum Fisch, den er immer noch festhielt: „Na dann fang doch auch noch an zu reden!“

„Wenn du mich frei lässt, erfülle ich dir einen Wunsch“, vernahm er sogleich eine Stimme, die vom Fisch zu stammen schien.

Nun war Jonathan sicher, dass er nicht halluzinierte, so wie es einem immer ergeht, während man etwas erlebt – wer misstraut schon seiner eigenen Wahrnehmung? Dennoch blieb ein Zweifel, an Märchen mochte er nicht glauben. „Nur einen?“, erwiderte er in verunsicherter Ironie. „In der Geschichte, die meine Mutter mir als Kind erzählte, sind es drei!“

Der Fisch verdrehte missbilligend die Augen und meinte verdrossen: „Ja, ja, den meisten habe ich bisher drei Wünsche zugestanden, das ist wahr. Aber in ihrer Verblendung rufen die Menschen mit dem ersten ja doch nur etwas herbei, das sie unglücklich macht, und verbrauchen die beiden anderen, um die Folgen des vorangegangenen zu mildern.“

„Nun, wenn sie doch zur Einsicht kommen, es bereuen und in Ordnung bringen wollen – das ist doch gut, nicht? Dann haben die zwei anderen offenen Wünsche ja ihre Berechtigung“, warf Jonathan ein.

Auf diese oder eine ähnliche Frage hatte der Fisch nur gewartet; seine Aufgabe war nämlich eine wichtigere, als kurzzeitig das menschliche Begehren nach vermeintlichem Glück zu stillen. Mit der Würde eines alten Weisen und tragender Stimme erklärte er: „Kein Wunsch ändert wirklich etwas, der erste nicht und der zweite und dritte auch nicht. Der kosmische Plan, der das ganze Universum mit all seinen Wesen lenkt, ist vollkommen. Er ist allumfassend, ein jedes ist darin mit dem anderen verbunden wie in einem feinen Netz: Wenn man an einer Stelle auch nur ein klein wenig zupft, bewegt sich das ganze Gewebe. Doch der Allwissende rückt es nach seiner gütigen Vorsehung wieder so zurecht, dass es für alle von Neuem stimmt. Undenkbar, wenn jede Tat, ja sogar ein Gedanke, die Macht besäße, entgegen dem weisen Plan des Göttlichen das ganze Netz zu verändern!“

„Also ist doch alles Vorbestimmung!“, rief Jonathan, dem seine Überlegungen beim Elefantenfelsen augenblicklich gegenwärtig waren.

„Ja und nein“, berichtigte der Fisch. „Dein Leben – und das aller Wesen – hat ein Ziel, das ist gegeben. Wie und wann du es erreichst, auf welchen Wegen und Umwegen, darüber entscheidest du aber in jedem Augenblick selbst. Du wählst, welche Chancen du annimmst und welche du ablehnst. Dabei dient alles, ich betone: alles, was dir geschieht, einzig dem Zweck, dich deinem Ziel näher zu führen. Du kannst nichts erlangen, was dir nicht vom Göttlichen zugestanden wird, und niemand kann dir etwas antun, weder Gutes noch Böses, wenn der Allmächtige es nicht zulässt. Sieh in allem stets einen Wink der weisen Hand, die hilfreich eingreift und die Gegebenheiten so formt und ausrichtet, dass du dich stetig dem Lebensziel näherst. Deshalb erhältst du auch immer wieder, unendlich oft, die Gelegenheiten, die du davor nicht wahrgenommen hattest.“

Wissbegierig lauschte Jonathan jedem Wort und verstand, bis eine einzige Frage ihm noch auf den Lippen brannte: „Wie können wir denn ein Ziel erreichen, das wir gar nicht kennen? Sag mir: Welches ist dieses Ziel, der Sinn unseres Daseins auf der Erde?“

„Wenn dies zu wissen dein Wunsch ist, den ich dir erfüllen soll“, antwortete der Fisch ernst, „sollst du es erfahren.“

Schnell unterbrach ihn Jonathan: „Warte! Du meinst, das wäre dann mein Wunsch gewesen?“

„Ja“, sagte der Fisch, „und es ist der bedeutendste, den sich ein Mensch erfüllen kann.“

Jonathan fühlte, dass das Wissen um den Sinn des Lebens tatsächlich das wertvollste Geschenk war, das er bekommen konnte, und auch das einzige, das er wirklich brauchte. Dennoch zögerte er – gab es nicht doch Verlockenderes? – und schämte sich gleichzeitig dafür. „Woher weiß ich denn, ob deine Antwort die Wahrheit ist? Ich glaube ja nicht einmal richtig, dass du Wünsche erfüllen kannst…“

„Nicht nur ich, alle besitzen dieses Wissen und diese Macht…“, begann der Fisch und seine Stimme hörte sich ein wenig traurig an, weil er daran dachte, wie die Menschen nicht an das Höhere glauben, das sie in Wirklichkeit sind.

Jonathan wandte ein: „Hast du mir nicht gerade erklärt, wir würden in einem kosmischen Theater wie Marionetten immer wieder zurechtgerückt?“

„Du bist ein aufmerksamer Zuhörer. Aber wörtlich habe ich mich nicht so ausgedrückt. Ihr seid keine Holzpuppen, die an Fäden tanzen! Ihr besitzt einen freien Willen – auch wenn er in Wahrheit nicht dem entspricht, was ihr darunter versteht. Der Vergleich mit dem Theater gefällt mir hingegen, den muss ich mir merken.“ Er war sichtlich zufrieden mit seinem Schüler und lächelte wohlwollend, so gut ein Fisch sein Maul eben verziehen kann.

Die Zeit für tiefere Erklärungen war indes noch nicht reif; darum ging er nicht weiter auf den Einwand ein und setzte den zuvor angefangenen Satz fort: „Alle haben diese Macht: Glaube im Innersten deines Herzens, dass du fliegen kannst wie ein Seeadler, und wie ein Seeadler wirst du durch die Lüfte segeln. Glaube, dass du mit einem Wort Kranke heilen kannst, und du wirst die gleichen Wunder wirken, die Jesus und die Heiligen vollbracht haben. Alles ist in dir, alle Weisheit, alle Kraft. Aber ihr Menschen glaubt lieber an andere als an euch selbst. So vertraue eben auf mich, Jonathan, und sprich deinen Wunsch aus.“

„Jetzt gleich?“, fragte der junge Mann beinahe erschrocken. „Gib mir Zeit zum Überlegen!“

„Einverstanden“, willigte der Fisch ein, „obwohl dein Denken dich nicht dahin führen wird, wo deine Seele schon weilt. Doch mach ruhig zuerst deine Erfahrungen.