Der Wanderer im dunklen Gewand - Karin Jundt - E-Book

Der Wanderer im dunklen Gewand E-Book

Karin Jundt

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Beschreibung

Er erwacht eines Nachts unter dem Sternenhimmel, weiß nicht, wer er ist, woher er kommt, wohin er gehen soll - und macht sich auf den Weg. Später erhält er einen Namen und damit eine scheinbare Identität. Die Frage nach seinem Ursprung, seiner Heimat, dem wahren Sein, dem Sinn verstummt indes nie. In dieses Leben hineingestellt, sucht der Wanderer seinen Weg über lichte Hügel und durch dunkle Täler, lässt sich leiten vom Fluss, lernt durch seine Erfahrungen und Erkenntnisse - und wundert sich über die immer zahlreicher werdenden goldenen Flecken an seinen dunklen Klei­dern. Jedes Mal, wenn er meint, er könne nicht mehr, wenn er erschöpft und verzweifelt ist, findet er Menschen, die ihm die Hand reichen, bis er einem Weisen - Jonathan aus dem Roman "Jonathan von der Insel" - begegnet, der ihm zur Erkenntnis seines wahren Wesens verhilft. In Francesca findet er dann auch die große Liebe, die ihn fortan auf seiner Reise begleitet. Doch sein Ziel kann er am Ende nur allein erreichen ...

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Für Sophia und Alexander, die kleinen Königskinder, die noch fast ihren ganzen Lebensweg vor sich haben

Im Fließen zum Meer liegt die Treue des Flusses zur Quelle.

Inschrift an einem Chalet

im Lötschental (Wallis, Schweiz)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel30

Kapitel 31

1

Er öffnete die Augen und blickte in den klaren Nachthimmel. Obwohl er die Sternbilder nicht beim Namen kannte, waren sie ihm wohltuend vertraut. Dann spürte er seinen Körper, nass und kalt, der linke Arm schmerzte. Er meinte, aus einem Jahrtausende währenden Schlaf aufzuwachen, ohne eine Erinnerung an die Zeit davor. Mühsam richtete er sich auf und fühlte einen pochenden Schmerz in seinem Kopf. Er schaute sich um: Er saß im Morast, am Ufer eines Teiches, dessen Wasser offenbar vollständig versickert war und nur Schlamm zurückgelassen hatte. Schwerfällig stand er auf und blickte an sich hinunter, denn er musste über und über mit dieser braunen Brühe bedeckt sein; tatsächlich, seine Kleider waren kaum zu erkennen. Als er sich an die Wange griff, spürte er eine Kruste, hier war der Lehm schon ausgetrocknet.

Er kletterte die Uferböschung empor und sah, dass er sich in einer steppenartigen Ebene befand. So weit das Auge reichte, war kein Haus, kein Licht zu sehen, nur vereinzelt Sträucher und niedrige Bäume und am Horizont, kaum erkennbar, Berge; knapp darüber stand die silberne Mondsichel. Er machte sich auf und folgte dem Weg in der Richtung, die auf den Mond zu führte.

‚Ich muss mich unbedingt waschen‘, dachte er, weil er sich für sein Aussehen schämte, ‚bevor ich jemanden treffe.‘ Dann tröstete er sich, in der Nacht würde er wohl niemandem begegnen und bis zum Tagesanbruch bestimmt auf einen Bach oder einen Brunnen stoßen.

Nachdem er schon eine längere Strecke zurückgelegt hatte, empfand er seinen Gehrhythmus als angenehm und litt nicht länger unter Kopfschmerzen. Seine Kleider waren inzwischen trocken, aber steif und schwer vor Lehm.

Er schritt forsch voran, der Pfad war gut, nicht sehr steinig, und nach ein paar Stunden meinte er, die Berge schon näher zu sehen, und stellte fest, dass die Landschaft nicht mehr so dürr wirkte, sondern höheres, saftigeres Gras wuchs. Gerade als es zu dämmern anfing, hob sich in der Ferne vor dem schmalen blassrosa Streifen des neuen Morgens eine lange Reihe Weiden ab.

‚Da muss Wasser sein‘, überlegte er und verließ den Weg; bald hörte er ein leises Gurgeln und Vogelgezwitscher. Es war ein kleiner Kanal, nicht sonderlich breit, aber ausreichend tief für eine gründliche Reinigung. Er versuchte, sein Hemd über den Kopf zu streifen, aber es gelang ihm nicht, so sehr klebte der Stoff an seiner Haut. Auch mit seiner Hose erging es ihm nicht besser.

„Dann halt nicht“, sagte er laut und tauchte entschlossen, angezogen wie er war, ins frische Wasser. Es war eine Wohltat, mit beiden Händen Gesicht und Haar zu schrubben und auch den Stoff, bis der Schlamm sich löste.

Danach stand er im seichten Wasser auf und sah im fahlen Tageslicht, dass seine Kleider jetzt nicht mehr dick verkrustet waren; sie hatten aber eine dunkelbraune Farbe angenommen, als ob eine hauchdünne Schlammschicht untrennbar mit ihnen verbunden wäre. Seine Haut und sogar seine Fingernägel hingegen waren rein.

Er setzte seinen Weg fort. Es verging nochmals viel Zeit, bis die Landschaft abwechslungsreicher wurde, da und dort Wäldchen die ausgedehnten Wiesenflächen unterbrachen und leichte Steigungen die Wanderung spannender gestalteten, jede Anhöhe einen neuen Ausblick eröffnete.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und hatte seine Kleider längst getrocknet, als eine Kirchturmspitze eine Siedlung ankündigte, und bald sah er den ganzen Weiler lieblich in eine Flussaue eingebettet. Wenig später erreichte er die ersten Häuser und einen Platz, auf dem Bäuerinnen Gemüse und Beeren aus ihrem Garten an einfachen Ständen feilboten.

Unterwegs, als sein Magen zum ersten Mal geknurrt und er in seine Taschen gegriffen hatte, war es für ihn keine Überraschung gewesen, darin weder Geld noch sonst etwas Wertvolles zu finden. Der Gedanke, den Bäcker um ein Stück Brot oder eine Marktfrau um etwas Obst anbetteln zu müssen, war ihm aber äußerst unangenehm. Mit müdem Gang, doch bedacht nicht zu schlurfen, schritt er langsam an den Ständen vorbei und schätzte ab, wo er die beste Chance hätte. Als er den ganzen Platz überquert hatte, kehrte er zurück, blieb immer wieder stehen und beobachtete die Frauen. Keine wirkte auf ihn freundlich genug. Der Hunger drängte zwar, aber Schüchternheit, Scham und vor allem die Angst, abgewiesen oder gar als Landstreicher beschimpft zu werden, hielten ihn zurück.

Nachdem er eine ganze Weile unentschlossen herumgeschlendert, mehrmals zögernd ein paar Schritte auf eine Marktfrau zugegangen und dann kurz davor doch zurückgeschreckt war, wandte er dem Markt den Rücken zu und flüchtete in eine Seitengasse, frustriert und verärgert.

Abseits vom Treiben und die unlösbare Aufgabe nicht mehr vor Augen, fand er tausend Rechtfertigungen für seine Feigheit: Betteln, das macht man eben nicht, und den Bauern bleibt ja nach Ablieferung des Zehnten nicht viel übrig, um einem Dahergelaufenen einfach etwas zu schenken; auch ist der Tag noch lang und sie werden hoffen, alles verkaufen zu können. Und ein bisschen Stolz muss man haben, will man die Achtung vor sich selbst nicht verlieren. So glaubte er schließlich, er mache alles richtig; das schale Gefühl, das verblieb, schrieb er seiner Müdigkeit zu.

Er beschloss weiterzuziehen, bis sich eine bessere Gelegenheit böte, eine einfachere, die keine Überwindung erforderte, eine Situation, der er gewachsen wäre. Nachdem er den nächsten Hügel hinter sich und das Dorf nicht mehr in Sichtweite wusste, das Läuten der Kirchenglocken nicht länger in seine Ohren drang, er also nicht mehr an den Schauplatz seines Versagens erinnert wurde, gestand er sich ein, dass er völlig erschöpft war. Die Beine schmerzten ihn und an den Füßen hatte er Blasen. Seit irgendwann in den frühen Nachtstunden bis weit in den Morgen hinein war er ununterbrochen marschiert, und wehte auch ein frühlinghaft frischer Wind, so brannte die Sonne doch schon stark auf seinen ungeschützten Nacken. Unter einer Linde ließ er sich ins Gras sinken, lehnte mit dem Rücken an den Stamm und schlummerte bald ein.

2

Großvater und Enkel saßen nebeneinander auf der Mole und schauten dem Tragflügelboot nach, das gerade das Hafenbecken verließ. Sirio, der sich nicht viel aus Schiffen machte, dachte an sein Schwesterchen, das erst vor ein paar Tagen zur Welt gekommen war, und fragte unvermittelt: „Nonno, wo war Grazia vorher?“

„In Mammas Bauch und –“

Der Fünfjährige unterbrach seinen Großvater und setzte eine altkluge Miene auf: „Das weiß ich doch, ich bin ja kein Baby mehr, das an den Storch glaubt! Aber davor?“

„Davor war sie im Himmel, aber sie war nicht das Baby, das du gestern im Krankenhaus gesehen hast, sondern ein kleines Licht, weißt du, wie der Funke der Wunderkerze.“

Jonathan hatte sich den Jungen auf die Knie gesetzt, damit er ihn anschauen konnte, während er über solch wichtige Dinge mit ihm sprach.

„Warum ist aus dem Licht ein Baby geworden?“

„Weil der kleine Funke ein großes, helles Licht werden will, und dazu muss er zuerst ein Baby werden, das zu einem größeren Kind heranwächst, später erwachsen ist wie die Mamma, nachher so alt wie die Nonna. Wenn ein Mensch dann stirbt, wird er wieder zu einem Funken und leuchtet schon etwas heller als der alte. Danach wird er wieder als Baby geboren und so geht es immer weiter, jedes Mal wird der Funke heller und schließlich ein großes strahlendes Licht.“

Sirio schwieg eine Weile. „War ich auch einmal ein Funke?“, fragte er endlich, und man sah ihm an, dass er angestrengt nachdachte.

„Ja, jeder Mensch ist ein kleines Licht, bevor er auf die Welt kommt.“

„Warum erinnere ich mich nicht daran?“

„Weil es ein Spiel ist.“ Ein heiterer Glanz leuchtete in Jonathans Augen. „Wenn du auf die Erde kommst, siehst du die andere Welt, wo du ein Funke warst, nicht mehr – das ist, wie wenn du dich beim Versteckspiel zur Wand hinstellst und die Augen schließt. Der liebe Gott ist es, der sich versteckt und darauf wartet, dass du ihn suchst.

Damit das Spiel aber nicht allzu leicht und schnell zu Ende ist, vergisst du alles – sogar dass du ihn suchen sollst und alles nur ein Spiel ist.“

Wieder überlegte Sirio und meinte: „Deshalb weinen die Babys so oft! Sie sind traurig, weil sie nicht wissen, wie das Spiel geht.“

Der Großvater war tief berührt vom kindlichen Wissen.

„Ja, deshalb, und auch weil sie doch noch eine Ahnung haben, dass sie diesen leuchtenden Funken in sich tragen, ihn aber nicht mehr sehen und fühlen.“

„In sich tragen? Das Baby ist also nicht ein verwandelter Funke?“, fragte der Junge erstaunt. „Ist der Funke aus der anderen Welt geboren worden und das Baby nur darum herum gebaut?“

„Genau so ist es. Ganz genau genommen ist der Funke nur als Mensch verkleidet – weißt du noch, wie du beim Karnevalsumzug als Pirat verkleidet warst?“

„Natürlich weiß ich das noch, ich bin doch kein Baby, das alles vergessen hat!“, gab Sirio selbstbewusst zurück.

„Dann ist Grazia ja gar kein richtiges Baby!“, fügte er beinahe empört an. Es dauerte einen Augenblick, bis Jonathan diese Schlussfolgerung durchschaute.

„Du meinst, weil auch du kein richtiger Pirat warst, sondern der verkleidete Sirio – du treibst mich richtig in die Enge mit deinem scharfen Verstand!“ Er lachte von Herzen. „Grundsätzlich hast du recht. Aber das Lebensspiel unterscheidet sich ein bisschen vom Karneval. Pass auf: Grazia meint, sie sei ein Baby, und Mamma, Papi und alle Leute glauben das auch. So sind die Spielregeln: Wir alle wissen nicht mehr, dass wir nur verkleidete Funken sind. Das Spiel gewinnt, wer den lieben Gott findet. Selbst wenn wir diese Verkleidung am Anfang nicht besonders mögen, gewöhnen wir uns mit der Zeit daran und können sie nicht einfach ausziehen; deshalb ist es für uns so, als wären wir wirklich nur Babys, Kinder, Erwachsene oder Alte – als ob du im Karneval meintest, ein echter Pirat zu sein. Verstehst du das?“

Sirio nickte. Es kam ihm aber in den Sinn, dass ihm solche Zeitvertreibe meistens schnell verleideten. „Und wenn ich keine Lust mehr habe mitzuspielen?“

Jonathan stand auf, hob den Jungen auf den Arm, um nach Hause zu gehen. Er lenkte ihn ab, indem er ihn auf einen streunenden Hund aufmerksam machte, der im Abfalleimer wühlte. Er mochte seinem kleinen Enkel noch nicht erzählen, wie schwierig es für die Menschen ist, dieses Spiel zu beenden, wie oft sie sich in dieser Welt allein und verlassen vorkommen, vom großen Licht getrennt, und sich nicht als dessen Funken erkennen, sondern nur ihre Hülle, ihre dunkle Verkleidung sehen. ‚Und doch‘, dachte er, und sein Herz wurde dabei weit und froh, ‚genügt es schon, dieses Leben als göttliches Spiel zu durchschauen, um Freude daran zu finden – und das ist nicht gar so schwer.‘

3

Auf der staubigen Landstraße näherte sich ein Mann dem Schlafenden unter dem Baum und setzte sich neben ihn.

Es dauerte lange, bis dieser erwachte und die Augen aufschlug. Er erschrak, weil jemand bei ihm war, doch der Fremde beruhigte ihn mit einem Lächeln und einem freundlichen Gruß, den er, noch leicht verwirrt, erwiderte.

Daraufhin brachte der andere, der lange genug hatte warten müssen, ohne Umschweife sein Anliegen vor: „Ich bin ein armer Wandersmann und bitte dich um ein paar Kreuzer, damit ich mir im nächsten Dorf etwas zu essen kaufen kann.“

Sogleich spürte auch der eben Erwachte seinen leeren Magen wieder. Er antwortete nicht sofort, musterte die abgetragene Kleidung des Fremden, seine staubigen Füße, das zerzauste Haar und den langen Bart; er musste von weit her kommen. Trotzdem: Dass er sich nicht schämte, ihn einfach anzubetteln!

Der Mann schien in seinen Gedanken zu lesen und sah ihn aus klaren, durchdringenden Augen an: „Ich habe meinen Stolz vor geraumer Zeit abgelegt. Ist er nicht etwa nur die Tarnung der Angst? In der Demut liegt die wahre Stärke. – Nein, ich schäme mich nicht mehr, um das zu bitten, was ich brauche, und fürchte die Verweigerung nicht.

Sonst könnte ich diese Wanderung nur als einen unangenehmen, hoffnungslosen Kampf empfinden und keine Freude daran haben.“

Der andere verstand die seltsame Rede nicht und meinte: „Ich besitze nichts und weiß selbst nicht, wie ich meinen Hunger stillen soll.“ Zur eigenen Rechtfertigung, nicht aus Überheblichkeit, fügte er hinzu: „Aber ich würde meine Selbstachtung verlieren, wenn ich mich herabließe zu betteln.“

Der Fremde erhob sich, schaute ihn mitfühlend und wissend an, und während er sich freundlich verabschiedete, zog er schon weiter.

Nun war er wieder allein, immer noch müde, aber sein hungriger Magen ließ ihm keine Ruhe mehr. Also setzte auch er seinen Weg fort. Seine Gedanken kreisten weniger ums Essen als um die Worte des Mannes. ‚Den Stolz ablegen? Das ist einfacher gesagt als getan – wie soll man das schaffen, ohne sich dabei wertlos vorzukommen?

Worin liegt das Geheimnis, um aus der Demut Kraft zu schöpfen? Geht es tatsächlich nur um die Angst, wie der Mann behauptet hat? Und ist der Mut das einzige Mittel dagegen?‘ Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Weil er aber wusste, dass er den Mut zu betteln nicht aufbrächte, fühlte er sich hilflos und ohnmächtig.

Ganz mit sich beschäftigt, den Blick nach unten gerichtet, bemerkte er das nur noch einen Steinwurf entfernte Bauernhaus erst, als er eine aufgebrachte Stimme hörte.

Vor dem Stall versuchte die Bäuerin, einen Bottich auf einen Karren zu hissen, aber trotz ihres kräftigen Körpers mühte sie sich vergeblich ab und fluchte vor sich hin.

Er wollte sich nähern und ihr helfen, als ein Hahn, verfolgt von einem kläffenden jungen Hund, hinter der Tenne hervorgerannt kam und im Mann seine Rettung sah. Mit letzter Kraft flatterte er bis zu dessen Brust, krallte sich fest und kletterte, wild mit den Flügeln schlagend, bis auf seine Schulter. Hier fühlte er sich soweit in Sicherheit, dass er die ausgestandene Angst mit einem lauten Krähen bekundete. Unbeeindruckt sprang der Hund bellend hoch und schnappte erfolglos nach der Beute.

Ohne sich umzusehen, griff die Bäuerin nach einem Holzscheit, das auf dem Karren lag, schleuderte es in die Richtung des Gezankes und schrie: „Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst das Federvieh in Ruhe lassen?“

Erst jetzt bemerkte sie den Fremden, der versuchte, sich den Hund vom Leibe zu halten, ohne gebissen zu werden, und zugleich den Hahn von seiner Schulter abzuschütteln, während das Holz ihn am Knie traf. Ob des komischen Schauspiels verflog ihre Wut und sie brach in schallendes Gelächter aus.

Der junge Flegel, der um sein schlechtes Benehmen wusste und etwas wie Reue empfand, schlich mit eingezogenem Schwanz davon. Die Frau packte den Hahn, der dem Rückzug des Feindes nicht traute und keine Anstalten machte, seinen Hochstand zu verlassen, und setzte ihn auf den Boden. Dann sagte sie, immer noch kichernd: „Grüß dich, Fremder! Komm, fass mit an, allein schaffe ich das nicht.“

Er hatte keine Entschuldigung erwartet, aber dass sie gar nichts Nettes zu ihm sagte, übergangslos zu ihrem Geschäft zurückkehrte und ihn noch aufforderte, ihr zu helfen, das enttäuschte ihn. Trotzdem zögerte er nicht und hob die schwere Last auf den Wagen.

„Vergelts Gott“, bedankte sie sich, schob stöhnend den Karren an und schlug einen Feldweg ein. Er schaute ihr nach, ungläubig und gekränkt, dass sie ihm zum Dank für seine Hilfsbereitschaft nichts anbot und einfach davonzog.

Eine Zeit lang stand er noch ratlos auf dem Hof herum. Er fühlte sich gedemütigt. ‚Hat das etwas mit Demut zu tun?‘, schoss ihm durch den Kopf. Dann setzte er seine Wanderung fort, entmutigt und niedergeschlagen. In seinen Gedanken spielte sich wieder und immer wieder die eben erlebte Szene ab, er fühlte den Schmerz des Holzscheits an seinem Bein, die Erniedrigung, als die Bäuerin ihn auslachte und er ohnmächtig, mit dem Hahn auf der Schulter und dem hochspringenden, kläffenden Hund, dastand. Mit gesenktem Haupt, völlig in sich gekehrt, nahm er die Reiterin, die ihm entgegengaloppierte, nicht wahr und bemerkte sie erst, als ihr langer Schatten vor ihm auftauchte. Sie riss ihr Pferd zurück und kam unmittelbar vor ihm zum Stehen. Zornig schrie sie ihn an: „Warum gehst du nicht zur Seite?“

Er schätzte den Weg als breit genug ein, dass sie an ihm hätte vorbeireiten können. Wegen ihrer vorwurfsvollen Worte fühlte er sich trotzdem schuldig, als hätte er schon wieder etwas falsch gemacht, und wollte um Verzeihung bitten. Zerknirscht schaute er zu ihr auf, brachte dann aber kein Wort hervor, als er der Schönheit des edlen Fräuleins auf dem Schimmel gewahr wurde. Sie ihrerseits schien nun von ihm angetan, denn sie ließ ihre Augen unverwandt auf ihm ruhen. Er konnte dem Blick nicht standhalten.

„Du hast edle Züge“, hörte er sie sagen. Das verwirrte ihn, ermutigte ihn aber auch, wieder aufzuschauen. Sie lächelte und fragte wohlwollend: „Wie heißt du?“

Ihre Freundlichkeit tat seinem verschüchterten Herzen wohl, und er antwortete: „Ich bin…“ Jäh unterbrach er sich, als ob eine kraftvolle Hand seine Kehle zudrückte, er bekam keine Luft mehr, ein gewaltiges Erschauern ergriff und lähmte ihn.

‚Wer bin ich?‘, schrie es in ihm, während er äußerlich unfähig war, sich zu rühren. ‚Wer bin ich?‘ Panische Angst löste seine Starre, er begann am ganzen Körper zu zittern.

Das bare Entsetzen stand in seinen Augen, als er die Reiterin noch einmal anschaute, bevor er wie wild davonrannte.

Er lief und lief, ohne sich ein Mal umzudrehen, so schnell er konnte und so lange, bis er die Grenzen seiner Kräfte überschritt. Er brach zusammen, blieb keuchend auf dem Bauch liegen, und sein Herz pochte gewaltig gegen die Brustwand. Es dauerte lange, bis er sich nur etwas erholt hatte und sich auf die Seite drehen konnte; er überrollte noch zweimal, damit er in die Wiese zu liegen kam.

Weil die körperliche Erschöpfung auch seine Panik vertrieben hatte, ließ er nun den ungeheuerlichen Gedanken zu: Er wusste nicht, wie er hieß. Er wusste nicht, wer er war. Er war, war unter dem Sternenhimmel aufgewacht, seinen Weg gegangen, er wusste: ‚Ich bin‘ – aber er wusste nicht, wer dieses Ich war, er wusste nicht, wer diese Wanderung erlebte.

Er setzte sich auf und schaute seinen Körper mit der dunkelbraunen Kleidung an. Bestimmt war er eine ganz armselige Kreatur, ein Niemand, ein Bettler – ein Bettler, der sich nicht zu betteln traut, stellte er nüchtern und bitter fest.

Dennoch brauchte er einen Namen, fürs Erste zumindest einen Namen, den er den Leuten nennen konnte, bis er wieder wusste, wer er wirklich war. Ob die Erinnerung je zurückkäme? Er hatte nicht die blasseste Vorstellung von den Ereignissen vor seinem Erwachen am Rande des Teiches. Jetzt, wie er darüber nachdachte, erstaunte es ihn, dass er, ohne sich zu fragen, was er da tue und woher er käme, aufgebrochen war und, ohne zu überlegen, den erstbesten Weg eingeschlagen hatte.

Eben war die Sonne untergegangen. Die Dämmerung brachte indes nicht noch mehr Düsternis, vielmehr einen lichten Hoffnungsschimmer, als ein Gleichnis bildhaft vor seinem inneren Auge erschien: ‚Wenn ich mich in einem brennenden Haus befinde, muss ich nicht fragen, wer es angezündet hat und aus welchem Grund – ich muss nur schnell hinaus.‘ Dabei klang in ihm etwas an, was ihm vertraut war, und er fühlte sich sogleich sicher und geborgen.

Er verstand, dass es keinen Sinn hatte, über das Warum und Woher seiner Lage zu rätseln: Er musste sie als gegeben annehmen und daraus in gewisser Weise einen neuen Anfang machen, wie einen Schritt in ein neues Leben, ganz gleich, was früher je gewesen sein mochte, in einer Zeit, bevor er in den Sumpf geraten war.

Überzeugt, sein Dasein zu meistern, zweifelte er auch nicht mehr daran, alles würde sich schon bald zum Guten wenden. Er wollte sich nur noch eine Weile hier erholen und dann weiterziehen.

4

Der Wanderer hatte also frischen Mut gefasst, während er immer noch am Wegrand in der Wiese saß. Im letzten fahlen Licht sah er eine kleine, dunkle Gestalt den Pfad entlangkommen. Nur ganz schnell tauchte in ihm erneut Besorgnis auf, was jetzt wohl wieder geschehen werde – die Begegnungen an diesem Tag waren nicht gerade angenehm gewesen –, doch die neu gewonnene Zuversicht war mächtiger und er schaute dem Bevorstehenden hoffnungsvoll und gespannt entgegen. Er schärfte den Blick: Es musste eine Frau sein, er konnte ihren weiten, bis zum Boden reichenden Rock ausmachen. Sie ging aufrecht und mit forschem Schritt, doch beinahe lautlos. Weder das Aufsetzen ihres Fußes auf dem schotterigen Grund noch das Knirschen der Steine waren zu hören, nur ein leises Rauschen und Wehen des Stoffes ihrer Kleidung hob sich von der Abendstille ab.

Ob sie ihn wohl bemerkt habe, fragte er sich, reglos, wie er dasaß. Es war nämlich schon ziemlich dunkel, und nichts deutete darauf hin, dass sie ihn sah. Doch wenige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. Sie zeigte sich keineswegs überrascht und grüßte ihn freundlich mit einer warmen Stimme, die weitaus jugendlicher klang, als das weiße Haar und das runzelige Gesicht vermuten ließen.

Während er ihren Gruß erwiderte, stand er auf, nicht ohne Mühe und mit einem leisen Stöhnen, denn der lange Fußmarsch, das unfreiwillige Fasten und das irre Davonlaufen hatten seine Kräfte aufgezehrt.

„Du wirst dein Nachtlager doch nicht hier aufschlagen wollen?“, fragte die Alte scherzhaft.

„Nein, wollen nicht“, antwortete er, „aber ich werde wohl müssen, weit und breit ist keine Hütte und kein Stall, wo ich mich ins Heu legen könnte.“

Sie lachte. „Wenn dir eine weitere Stunde Weg nicht zu viel ist, darfst du dich auf ein richtiges Bett freuen“, bot sie ihm an, ohne zu erwägen, dass er vielleicht in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sein könnte.

Mit staunenden, dankbaren Augen schaute er sie an. Sie schien es nicht zu bemerken, wartete auch seine Zusage nicht ab, sondern forderte ihn auf: „Dann komm mit.