Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Joseph Conrad, 1857 in der heutigen Ukraine gebürtiger Pole und späterer britischer Staatsbürger, kannte die Seefahrt des 19. Jahrhunderts auf fast allen Meeren und das Leben in vielen Häfen. Dieser Band würdigt den bekannten Nautiker und Schriftsteller Joseph Conrad, den Klassiker maritimer Weltliteratur. Seine tiefsinnigen Erzählungen sind voller spannender Dramatik und vermögen auch heute noch nach weit über hundert Jahren Seeleute und maritim interessierte Leser tief zu berühren. Nur einige wenige seiner Erzählungen über seine eigenen Erlebnisse auf See werden in diesem Band wiedergegeben, um zum Lesen weiterer Werke aus seiner Feder anzuregen. - Aus Rezensionen: Ein großartiger Seemann und Erzähler. Seine Beobachtungen gehen tief in die Seele der Menschen hinein und lassen Respekt und Mitgefühl erkennen. Oder: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 337
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Joseph Conrad
Joseph Conrad - Seefahrer und Schriftsteller
Band 83 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort des Herausgebers
Joseph Conrad – Ein Leben als Seefahrer und Literat
Joseph Conrads Schiffe und Seefahrten
Die „TREMOLINO“
In Gefangenschaft
Herrscher in Ost und West
Die Schattenlinie
Die Schattenlinie – II
Die Schattenlinie – III
Joseph Conrads Leben als Literat
Seemännische Umgangssprache und Fachausdrücke
Die maritime gelbe Buchreihe
Weitere Informationen
Impressum neobooks
Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
1992 begann ich, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in dem Buch ‚Seemannsschicksale’ zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“.
Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften zu meinem Buch.
Ein Schifffahrtsjournalist urteilte über Band 1: „...heute kam Ihr Buch per Post an - und ich habe es gleich in einem Rutsch komplett durchgelesen. Einfach toll! In der Sprache des Seemannes, abenteuerlich und engagiert. Storys von der Backschaftskiste und voll von Lebenslust, Leid und Tragik. Dieses Buch sollte man den Politikern und Reedern um die Ohren klatschen. Menschenschicksale voll von Hochs und Tiefs. Ich hoffe, dass das Buch eine große Verbreitung findet und mit Vorurteilen aufräumt. Da ich in der Schifffahrtsjournalistikbranche ganz gut engagiert bin, ...werde ich gerne dazu beitragen, dass Ihr Buch eine große Verbreitung findet... Ich bestelle hiermit noch fünf weitere Exemplare... Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Buch, - das wirklich Seinesgleichen sucht...“ Uwe V.
Diese Rezension findet man bei amazon:
Ein großartiger Seemann und Erzähler. Seine Beobachtungen gehen tief in die Seele der Menschen hinein und lassen Respekt und Mitgefühl erkennen.
Oder:
Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Danke, Herr Ruszkowski.
Diese positiven Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben.
Diese Zeitzeugen-Buchreihe umfasst inzwischen über 70 maritime Bände.
Dieser Band 83 würdigt den in der heutigen Ukraine gebürtigen Polen und späteren britischen Staatsbürger, den Nautiker und Schriftsteller Joseph Conrad, den Klassiker maritimer Weltliteratur. Seine tiefsinnigen Erzählungen sind voller spannender Dramatik und vermögen auch heute noch nach weit über hundert Jahren Seeleute und maritim interessierte Leser tief zu berühren. Nur einige wenige seiner Erzählungen über seine eigenen Erlebnisse auf See werden in diesem Band wiedergegeben.
Hamburg, 2016 Jürgen Ruszkowski
Joseph Conrad
1857 – 1924
Ein Leben als Seefahrer und Literat
Text und Fakten stammen vorwiegend aus
https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Conrad
Joseph Conrad (ursprünglich Josef Teodor Konrad Nalecz Korzeniowski) wurde am 3. Dezember 1857 als Sohn polnischer Eltern in Berdyczów (Berdytschiw) unweit von Kiew (heute Ukraine) geboren, das bis 1793 polnisch gewesen war und nach der zweiten Teilung Polens unter russische Herrschaft kam.
Wappen von Berdytschiw
– Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges lebten in dieser Gegend der ukrainischen Sowjetrepublik noch viele Polen. Sie wurden unter Stalin nach der Westverschiebung Polens in ehemals deutschen Landschaften zwangsweise umgesiedelt. –
Conrads Vater, Apollo Korzeniowski, war Schriftsteller und polnischer Patriot, der William Shakespeare und Victor Hugo ins Polnische übersetzte. Er regte seinen Sohn an, polnische und französische Literatur zu lesen. Aufgrund seines Engagements für die Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit wurde der Vater 1861 verhaftet, zunächst im X. Pavillon der Zitadelle Warschau eingekerkert und neun Monate später ins nordrussische Wologda verbannt, wohin ihn seine Ehefrau Ewelina (geborene Bobrowska) und sein Sohn begleiteten. 1865 starb dort Conrads Mutter (Josef war erst acht Jahre alt). Der Vater wurde aus der Verbannung schließlich entlassen, wohnte noch kurze Zeit in Krakau, wo Conrad das Gymnasium besuchte, und starb 1869 (Josef war also mit 11 Jahren Vollwaise).
Das Sorgerecht für das damals elfjährige Kind erhielt dessen Onkel Tadeusz Bobrowski. Er erlaubte dem sechzehnjährigen Jugendlichen 1874 ins französische Marseille zu gehen, um Seemann zu werden.
Joseph Conrads Schiffe und Seefahrten
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers durch S. Fischer Verlag entnommen dem Werk ‚Joseph Conrad, Der Tragiker des Westens’
aus von Hermann Stresau – Berlin 1937
1875 – S „MONTBLANC“: Marseille – Westindien (Martinique, St. Thomas) – Le Havre – 25.06.1875 – 24.12.1875
1876-77 S „ST ANTOINE“ – Marseille – St. Pierre, St. Thomas, Port au Prince – Nordküste Südamerikas (Venezuela) – Marseille – 10.07.1876 – 15.02.1877
1877 – S „TREMOLINO“ – Fahrten zwischen Marseille und Barcelona – In Erinnerung an dieses Schiff schrieb Joseph Conrad nachfolgende Erzählung:
Die „TREMOLINO“
Es stand geschrieben, dass ich im Mittelmeer, in der Kinderstube unserer Seefahrerahnen, lernen sollte, auf den Wegen meines Berufes zu wandeln und zuzunehmen in der Liebe zur See. Meine Liebe war blind, wie junge Liebe es oft ist, aber verzehrend und selbstlos, wie alle wahre Liebe sein muss. Ich verlangte nichts von ihr, nicht einmal Abenteuer. Darin zeigte ich vielleicht mehr unbewusste Weisheit als hohe Selbstverleugnung. Abenteuer stellen sich nicht auf Verlangen ein. Wer auszieht, um mit Vorbedacht Abenteuer zu suchen, wird erleben, dass er nur Früchte findet, die beim Pflücken in Staub zerfallen, es sei denn, die Götter liebten ihn und er wäre groß unter den Helden wie der vortreffliche Ritter Don Quijote de la Mancha. Aber wir gewöhnlichen Sterblichen mittelmäßiger Gesinnung, die nur allzu beflissen sind, böse Riesen als ehrliche Windmühlen anzusehen, nehmen die Abenteuer wie Engelserscheinungen auf. Plötzlich und unvermittelt wird unser Behagen von ihnen gestört. Sie kommen, wie ungebetene Gäste es gerne tun, oft zu ungelegenen Zeiten. Und wir sind froh, sie unerkannt und ohne Dank für die hohe Gunst wieder ziehen zu lassen. Wenn man nach vielen Jahren von der mittleren Biegung des Lebensweges aus zurückschaut auf die Ereignisse der Vergangenheit, die uns als ein freundliches Gedränge nachzusehen scheinen, indessen wir eilends dem kimmerischen Ufer zustreben, so mögen wir hier und dort in der grauen Menge eine in schwacher Ausstrahlung glühende Gestalt erkennen, auf die sich scheinbar alles Licht unseres schon abendlichen Himmels vereinigt hat. Und an dieser Glut erkennen wir unsere wirklichen Abenteuer, diese einstmals ungebetenen Gäste, die wir in unserer Jugend unversehens aufgenommen haben.
Wenn das Mittelmeer, die ehrwürdige (und manchmal schrecklich missgelaunte) Kinderfrau aller Seefahrer, meine Jugend wiegen sollte, so wurde die Beschaffung der für diese Operation nötigen Wiege durch das Geschick dem zufälligsten Haufen unverantwortlicher junger Leute (immerhin waren sie alle älter als ich) anvertraut, die in frohem Leichtsinn und wie betrunken vom provençalischen Sonnenschein das Leben nach dem Muster von Balzacs Histoire des Treize (Die Geschichte der Dreizehn) vertändelten, wozu denn noch ein Schuss Romantik de cape et d'epJe (von Verwegeneren) kam.
Das Schiff, das meine Wiege war in diesen Jahren, war am Flusse Savona von einem berühmten Schiffbauer gezimmert worden, getakelt hatte es ein anderer tüchtiger Mann in Korsika, und in seinen Papieren war es als Tartane von sechzig Tonnen beschrieben.
Balancelle
In Wirklichkeit war es eine richtige Balancelle mit zwei kurzen, nach vorn geneigten Masten und zwei gebogenen Rahen, die jede die Länge des Rumpfes hatten; sie war ein rechtes Kind des Lateinischen Meeres, ihre beiden riesigen Segel ähnelten den spitzen Schwingen am schlanken Rumpf eines Seevogels, und sie hatte auch wirklich etwas von einem Vogel, wenn sie so leicht über die Wogen hinstreifte, statt sie zu durchschneiden.
Sie hieß „TREMOLINO“. Wie ist das zu übersetzen – der Bebende? Was für ein Name für das tollkühnste kleine Fahrzeug, dessen Seiten jemals in zornige Gischt eintauchten! Es ist wahr, ich habe sie tage- und nächtelang unter meinen Füßen zittern gefühlt, aber das rührte nur von der angespannten Straffheit ihres treuen Mutes her. Sie hat mich in ihrer kurzen, aber glänzenden Laufbahn nichts gelehrt, aber sie hat mir alles gegeben. Ich schulde ihr das Erwachen meiner Liebe zur See, die sich beim Beben ihres schnellen kleinen Körpers und beim Summen des Windes am unteren Liek ihrer Lateinersegel mit sanfter Gewalt in mein Herz stahl und mein Denken unter ihre despotische Herrschaft brachte. Die TREMOLINO! Ich kann bis zum heutigen Tage diesen Namen nicht aussprechen und nicht einmal niederschreiben, ohne dass mir die Brust seltsam eng wird und mir vor der Lust und Scheu meiner ersten empfindsamen Leidenschaft der Atem stockt.
Wir vier bildeten (um ein Wort zu gebrauchen, das heutzutage jeder Gesellschaftsschicht geläufig ist) ein „Syndikat“, dem die TREMOLINO gehörte: ein internationales und erstaunliches Syndikat. Und wir waren alle glühende Royalisten der schneeweißen legitimistischen Richtung – der Himmel allein weiß warum! In allen menschlichen Gemeinschaften findet sich gewöhnlich einer, der ihr durch die Autorität des Alters und der größeren Lebenserfahrung einen Gesamtcharakter verleiht. Wenn ich erwähne, dass der Älteste von uns sehr alt, äußerst alt war – beinahe dreißig Jahre alt – und dass er in ritterlicher Unbekümmertheit zu erklären pflegte: „Ich lebe von meinem Schwerte“, so meine ich, über den Stand unserer Lebensweisheit hinreichend Auskunft gegeben zu haben. Er war ein Gentleman aus Nord-Carolina, J. M. K. B. waren die Initialen seines Namens, und er lebte, soviel ich weiß, wirklich von seinem Schwerte. Er starb auch später durch das Schwert, und zwar bei irgendeiner Balgerei auf dem Balkan um der Sache einiger Serben oder Bulgaren willen, die weder Katholiken noch Gentlemen waren – jedenfalls nicht in dem erhabenen, aber genauen Sinne, den er mit diesem letzten Wort verband.
Armer J. M. K. B., Américain, Catholique et gentilhomme, wie er sich in gehobenen Augenblicken selbst zu bezeichnen liebte. Ich möchte wohl wissen, ob heute in Europa noch Gentlemen zu finden sind, die ein tadelloses Aussehen, kühne Gesichter und elegante, schmale Gestalten, die bezaubernd höfliche Manieren und einen düsteren, schicksalsschweren Blick haben und von ihrem Schwerte leben. Seine Familie war, glaube ich, im Bürgerkrieg ruiniert worden und führte in der Alten Welt ein wanderndes Leben. Henry C…, der Nächste an Alter und Weisheit in unserer Schar, war vor der unbeugsamen Starrheit seiner Familie ausgerissen, die, wenn ich mich recht erinnere, in einem reichen Vorort Londons fest eingewurzelt war. Auf ihr beachtliches Ansehen hin stellte er sich Fremden leutselig als „schwarzes Schaf“ vor. Ich habe niemals einen harmloseren Ausgestoßenen gesehen. Niemals.
Immerhin waren seine Leute so gnädig, ihm dann und wann ein wenig Geld zu schicken. Er war in die Provence und den ganzen Süden verliebt, in seine Menschen, sein Leben, seinen Sonnenschein und seine Dichtung; engbrüstig, lang und kurzsichtig durchschlenderte er die Straßen und Gassen, warf seine langen Beine dem Körper weit voraus und hatte seine weiße Nase und den roten Schnurrbart in ein aufgeschlagenes Buch vergraben, denn er pflegte im Gehen zu lesen. Wie er es fertigbrachte, weder Abhänge noch Treppen oder Kais hinabzustürzen, ist ein großes Geheimnis. Die Seiten seines Mantels beulten sich vor lauter Taschenausgaben verschiedener Dichter. Wenn er nicht damit beschäftigt war, in Parks, Restaurants, Straßen und an ähnlichen öffentlichen Plätzen Virgil, Homer oder Mistral zu lesen, verfasste er Sonette (auf französisch) über die Augen, die Ohren, das Kinn, die Haare und andere sichtbare Vollkommenheiten einer Nymphe namens Therese, der Tochter, wie mich die Ehrlichkeit festzustellen zwingt, einer gewissen Madame Leonore, die ein kleines Matrosencafe in einer der engsten Straßen der Altstadt betrieb.
Ein reizenderes Gesicht, klar wie eine antike Gemme und in den Farben so köstlich wie Blumenblätter, war niemals auf einen, ach! einen etwas untersetzten Körper gepflanzt worden. Er las ihr in dem Café seine Verse mit der Unschuld eines Kindes und der Eitelkeit eines Dichters laut vor. Wir folgten ihm recht gerne dorthin, sei es auch nur, um die göttliche Therese unter den wachsamen schwarzen Augen Madame Leonores, ihrer Mutter, lachen zu sehen. Sie konnte sehr hübsch lachen, weniger über die Sonette, die sie wohl kaum zu schätzen wusste, als über die französische Aussprache des armen Henry, die ganz einzigartig war. Sie hörte sich wie Vogelgezwitscher an, wenn Vögel jemals stotternd und nasal gezwitschert haben.
Unser dritter Partner war Roger P. de la S..., ein provençalischer Graf vom reinsten skandinavischen Schlag, blond und sechs Fuß groß, wie es sich für einen Nachkommen der seeräuberischen Nordmänner gehört, herrisch, scharf, geistreich und verachtungsvoll; in seiner Tasche hatte er eine Komödie in drei Akten und in seiner Brust ein Herz, das die hoffnungslose Leidenschaft zu seiner schönen Base zerfressen hatte. Sie war mit einem reichen Häute- und Talghändler verheiratet. Er pflegte uns ohne Umstände zum Essen mit in ihr Haus zu nehmen. Ich bewunderte die sanfte Geduld der guten Dame. Ihr Mann war eine verträgliche Seele mit einem großen Vorrat von Selbstverleugnung, die er für „Rogers Freunde“ verbrauchte. Ich vermute, im Stillen schauderte er vor diesen Überfällen. Aber es war ein Carlistensalon, und als solche wurden wir gerne gesehen.
Als Carlismus (auch Karlismus) bezeichnet man eine monarchistische Bewegung in Spanien, die seit 1833 Angehörige einer auf Carlos María Isidro von Bourbon zurückgehenden Seitenlinie des bourbonischen Königshauses und mehrheitlich seit 1952 Angehörige einer auf Francisco Javier von Bourbon-Parma zurückgehenden Seitenlinie des Hauses Bourbon-Parma als Thronprätendenten favorisiert.
Von diesem vordergründigen Ziel abgesehen, waren die Carlisten lange Jahre die Hauptpartei in einem innerspanischen Kulturkampf, welcher sich von der napoleonischen Besatzung bis zum Spanischen Bürgerkrieg von 1936 hinzog und in drei Bürgerkriegen verfochten wurde, den sogenannten Carlistenkriegen. In diesem Kulturkampf kämpften die Carlisten mit ihrer absolutistischen, katholischen aber auch regionale Sonderrechte achtenden Gesinnung gegen die liberalen, später die republikanischen Kräfte in Spanien.
https://de.wikipedia.org/wiki/Carlismus
Die Möglichkeit, Katalonien im Interesse des Rey netto aufzuwiegeln, der damals eben über die Pyrenäen gezogen war, wurde dort viel besprochen.
Don Carlos wird ohne Zweifel viele wunderliche Freunde gehabt haben (es ist das übliche Los aller Thronprätendenten), aber unter ihnen keine maßloseren Phantasten als das TREMOLINO-Syndikat. Wir trafen einander in einer Taverne auf den Kais des Hafens. Die alte Stadt Massilia hat gewiss seit den Tagen der frühesten Phönizier niemals eine wunderlichere Reedergesellschaft kennen gelernt. Wir kamen zusammen, um den Operationsplan für jede Reise der TREMOLINO zu besprechen und festzusetzen. An diesen Operationen war auch ein Bankhaus beteiligt – ein sehr angesehenes Bankhaus. Aber ich fürchte, ich sage am Ende zu viel. Damen waren auch daran beteiligt (ich fürchte wirklich, ich sage zu viel) – alle möglichen Damen, manche waren alt genug, um auf etwas Besseres zu verfallen, als ihre Zuversicht auf Prinzen zu setzen, andere waren jung und voller Illusionen.
Eine dieser letzteren war durch ihre Imitationen verschiedener hochstehender Persönlichkeiten, die sie uns im Vertrauen vorführte, höchst unterhaltend. Sie fuhr andauernd nach Paris, um für die Sache – Por el Rey! (Mit dem König) – zu sprechen. Denn sie war eine Carlistin und zudem von baskischem Geblüt; im Ausdruck ihres tapferen Gesichtes lag etwas von einer Löwin (besonders, wenn sie ihr Haar löste), aber sie hatte die flüchtige kleine Seele eines mit feinen Pariser Federn bekleideten Sperlings, der sich den Spaß machte, unerwartet hervorzuflattern und Verwirrung zu stiften.
Aber ihre Imitation eines wirklich sehr hochstehenden Pariser Standesherrn, den sie darstellte, wie er mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke eines Zimmers stand, sich den Hinterkopf rieb und hilflos jammerte: „Rita, du bist mein Tod“, genügte, um einen (wenn man jung und sorgenfrei war) vor Lachen bersten zu lassen. Sie hatte einen alten Onkel, Pfarrer einer kleinen Berggemeinde in Guipuzcoa und gleichfalls ein sehr eifriger Carlist. Ich als das seefahrende Mitglied des Syndikates (dessen Pläne zu einem großen Teil von Doña Ritas Nachrichten abhingen) wurde oft mit demütig liebevollen Botschaften an den alten Mann betraut. Diese Botschaften hatte ich den aragonesischen Maultiertreibern (die zu gewissen Zeiten die TREMOLINO in der Nachbarschaft des Golfs von Rosas bestimmt erwarteten) zu treulicher Weiterbeförderung landeinwärts zusammen mit den verschiedenen gesetzwidrigen Gütern zu übergeben, die heimlich aus den Luken der TREMOLINO an Land gebracht wurden.
Nun habe ich, was die übliche Fracht meiner Seewiege betrifft, wirklich zu viel verraten (ich befürchtete ja, es würde mir am Ende so gehen). Aber es soll auf sich beruhen. Und wenn jemand zynisch vermerkt, ich müsse damals ein viel versprechender Jüngling gewesen sein, so soll auch das auf sich beruhen. Mich geht nur der gute Ruf der TREMOLINO an, und ich versichere, dass ein Schiff an den Sünden, Vergehen und Torheiten seiner Männer immer unschuldig ist.
Es lag nicht an der TREMOLINO, dass unser Syndikat so sehr auf den Verstand und die Weisheit und die Nachrichten der Doña Rita angewiesen war. Sie hatte zum Besten der Sache – Por el Rey! – ein kleines eingerichtetes Haus am Prado gemietet. Sie mietete immer kleine Häuser zu irgend jemandes Bestem, für Elende oder für Betrübte, für heruntergekommene Künstler, ausgebeutelte Spieler, zeitweise unglückliche Spekulanten, – vieux amis (alte Freunde) – alte Freunde, wie sie entschuldigend und mit einem leichten Zucken ihrer schönen Schultern zu erklären pflegte.
Ob auch Don Carlos einer der „alten Freunde“ war, lässt sich schwer sagen. Man hat in Rauchsalons von noch unwahrscheinlicheren Dingen gehört. Ich weiß nur, dass ich an einem Abend, als gerade die Nachricht von einem beträchtlichen carlistischen Erfolge die Getreue erreicht hatte, den Salon des kleinen Hauses betrat und plötzlich um Hals und Rücken gefasst und beim Gepolter umfallender Möbel zu einer in warmem tiefem Alt gesummten Walzermelodie rücksichtslos durch das Zimmer gewirbelt wurde.
Als ich aus der schwindlig machenden Umarmung entlassen wurde, setzte ich mich auf den Teppich – plötzlich und ohne Verstellung. In dieser wenig würdevollen Lage wurde ich gewahr, dass J. M. K. B. mir ins Zimmer gefolgt war, elegant, unheilvoll, tadellos mit weißer Schleife und großer Hemdbrust stand er ernst da. Als Antwort auf seinen höflich finsteren, langen Frageblick hörte ich Doña Rita in einiger Verwirrung und Unruhe murmeln: „Vous êtes bête, mon cher. Voyons! ça n’a aucune conséquence.“ (Dumm sind Sie, mein Lieber. Mal sehen! es hat keine Wirkung). Wenn ich auch durchaus zufrieden war, dass dieser Fall keine besonderen Folgen haben sollte, so hatte ich doch die Ansätze zu einem gewissen weltlichen Sinn schon in mir.
Ich brachte meinen Kragen wieder in Ordnung – um die Wahrheit zu sagen: Es hätte ein runder über einer kurzen Jacke sein müssen, aber es war kein runder – und bemerkte passend, ich wäre gekommen, um mich zu verabschieden, denn ich wollte noch in dieser Nacht mit der TREMOLINO in See gehen. Unsere Gastgeberin wandte sich, immer noch ein wenig außer Atem und ein ganz kleines bisschen in Unordnung gebracht, streng an J. M. K. B. und wünschte zu wissen, wann er mit der TREMOLINO oder sonst wie ins königliche Hauptquartier abzureisen gedächte. Beabsichtigte er, fragte sie ironisch, etwa bis zum Vorabend des Einzuges in Madrid zu warten? So stellten wir durch die gescheite Anwendung von Takt und Strenge das atmosphärische Gleichgewicht des Raumes wieder her, und zwar lange bevor ich mich um Mitternacht von ihnen trennte, die sich indessen wieder sanft und mild versöhnt hatten. Ich ging zum Hafen hinunter und rief die TREMOLINO von der Kajenkante aus mit dem üblichen leisen Pfiff an, unserem Signal, das der immer wachsame Dominic, der „Padrone“ unweigerlich hörte.
Schweigsam hob er eine Laterne hoch, um mir für die Schritte über die schmale, federnde Laufplanke, unser primitives Fallreep, zu leuchten. „Dann kann es ja losgehen“, murmelte er, sowie mein Fuß das Deck betreten hatte. Ich war der Vorbote plötzlicher Abfahrten, aber nichts in der Welt konnte so plötzlich kommen, dass es Dominic überrascht hätte. Sein dicker, schwarzer Schnurrbart, den er jeden Morgen vom Barbier an der Ecke des Kais brennen ließ, schien ein stetes Lächeln zu verbergen. Aber niemand, glaube ich, hatte jemals den wirklichen Schnitt seiner Lippen gesehen. Wenn man die langsame, unerschütterliche Ernsthaftigkeit dieses breitbrüstigen Mannes sah, konnte man meinen, er hätte nie in seinem Leben gelacht. In seinen Augen lauerte ein Schatten völlig abgebrühter Ironie, als wäre seiner Seele keine Erfahrung fremd geblieben; wenn sich seine Nasenlöcher nur um das geringste weiteten, so verliehen sie seinem Gesicht einen ungewöhnlich kühnen Ausdruck. Dies war das einzige Mienenspiel, zu dem er sich verstand; er war ein Südländer vom beherrschten, überlegten Schlag. Sein ebenholzschwarzes Haar kräuselte sich schwach an den Schläfen. Er mag vierzig Jahre alt gewesen sein, und er war ein gewaltiger Seefahrer auf dem Binnenmeer. –
Er war so schlau und verschlagen, dass er an List mit dem von Unglück geschlagenen Sohn des Laertes und der Anticlea hätte wetteifern können. Wenn er seinen Witz und seine Kühnheit nicht gegen die Götter selbst kehrte, so nur, weil die olympischen Götter tot sind. Ihn konnte gewiss keine Frau in Angst und Schrecken versetzen. Ein einäugiger Riese würde nicht die allergeringste Aussicht gegen Dominic Cervoni aus Korsika, nicht Ithaka, gehabt haben; er war auch kein König oder Sohn von Königen, aber doch aus sehr achtbarer Familie – einer echten Caporali, wie er versicherte. Das mag ja nun stimmen oder nicht. Die Caporali-Familien gehen bis ins zwölfte Jahrhundert zurück.
Aus Mangel an erhabeneren Gegnern kehrte Dominic seine an gottlosen Listen fruchtbare Kühnheit gegen die irdischen Mächte, wie sie durch Zollhäuser und alle dazugehörigen Sterblichen – Sekretär, Beamte und Guardacostas zu Lande und zur See – verkörpert werden. Er war der richtige Mann für uns, dieser moderne und ungesetzliche Irrfahrer mit seiner eigenen Legende von Liebe, Gefahr und Blutvergießen. Manchmal erzählte er uns in gemessenem, ironischem Tone Bruchstücke davon. Er sprach Katalonisch, das Italienisch von Korsika und das Französisch der Provence mit der gleichen leichten Ungezwungenheit. In seinem Landzeug, wie ich ihn einmal mit zu Doña Rita nahm, in weißem, gestärktem Hemd, schwarzer Jacke und rundem Hut, sah er sehr stattlich aus. Er verstand es, sich durch taktvolle und raue Zurückhaltung, die noch einen grimmen, wenn auch nicht aufdringlichen Mutwillen in Ton und Gebärde unterstrichen wurde, sehr interessant zu machen.
Er hatte die äußerliche Sicherheit mutiger Männer. Nach einer halbstündigen Unterhaltung im Esszimmer, während der sie auf geradezu erstaunliche Weise miteinander in Fühlung kamen, sagte uns Rita auf ihre beste grande-dame-Manier: „Mais il est Parfait, cet komme.“ (Aber er ist perfekt, dieser Mann) Er war vollkommen. Wenn er an Bord der TREMOLINO in einen schwarzen caban, den malerischen Mantel der Seeleute des Mittelmeeres, eingehüllt dastand, sah er mit dem dichten Schnurrbart und seinen wissenden, durch den Schatten der tiefen Kapuze betonten Augen piratenhaft und mönchisch aus und überdies geheimnisvoll eingeweiht in die furchtbarsten Mysterien des Meeres.
Jedenfalls war er vollkommen, wie Doña Rita festgestellt hatte. Das einzig Unzulängliche (und sogar Unerklärliche) an unserem Dominic war sein Neffe Cesar. Es war ergreifend, zu sehen, wie ein trostloser Ausdruck der Scham die rücksichtslose Kühnheit in den Augen dieses Mannes verschleierte, der über alle Skrupel und Ängste erhaben war.
„Ich hätte niemals gewagt, ihn an Bord Ihrer Balancelle zu bringen“, entschuldigte er sich einmal mir gegenüber. „Aber was soll ich tun? Seine Mutter ist tot, und mein Bruder ist in den Busch gegangen.“
Auf diese Weise erfuhr ich, dass unser Dominic einen Bruder hatte. „In den Busch gehen“ heißt nur, dass ein Mann in Verfolg einer erblichen Vendetta seine Pflicht getan hat. Die Blutrache, die seit langer, langer Zeit zwischen den Familien Cervoni und Brunaschi bestand, war so alt, dass sie schließlich beinahe ausgeglommen wäre. Eines Abends saß Pietro Brunaschi nach einem arbeitsreichen Tage unter seinen Olivenbäumen auf einem Stuhl an der Mauer seines Hauses, er hatte eine Schüssel Suppe auf den Knien und ein Stück Brot in der Hand. Dominics Bruder, der mit einem Gewehr auf der Schulter nach Hause ging, fühlte sich durch dieses Bild der Zufriedenheit und Ruhe, das so offensichtlich darauf berechnet war, seine Haas- und Rachegefühle zu wecken, plötzlich beleidigt. Er und Pietro hatten nie einen persönlichen Streit gehabt, aber, wie Dominic erklärte, „walle unsere Toten schrien aus ihm“. Er rief hinter einer Mauer aus Steinen hervor: „O Pietro! Gib acht, was da kommt!“ Und als der andere arglos aufsah, zielte er auf die Stirne und glich die alte Vendettarechnung so sauber aus, dass der tote Mann mit der Suppenschüssel auf den Knien und dem Stück Brot in der Hand still sitzen blieb.
Darum – denn in Korsika verlassen deine Toten dich nicht – musste Dominics Bruder in den maquis gehen, in den wilden Bergbusch, um die Gendarmen für den unbedeutenden Rest seines Lebens an der Nase herumzuführen, darum war Dominic die Obhut über seinen Neffen und die Aufgabe zuteil geworden, einen Mann aus ihm zu machen.
Man kann sich kein aussichtsloseres Vorhaben denken. Es fehlte einfach an Material für die Aufgabe. Wenn die Cervonis keine schönen Männer waren, so waren sie doch gut und kernig in Fleisch und Blut. Aber dieser ungemein magere und fahle Jüngling schien nicht mehr Blut in den Adern zu haben als eine Schnecke.
„Eine verfluchte Hexe muss das Kind meines Bruders aus der Wiege gestohlen und dieses verhungerte Teufelsgezücht dafür hineingelegt haben“, sagte mir Dominic manchmal. „Sehen Sie ihn an! Sehen Sie ihn doch nur an!“
Es war kein Vergnügen, Cesar anzusehen. Seine pergamentartige Haut schimmerte am Schädel totenbleich durch die dünnen Strähnen schmutzig braunen Haares und schien knapp und unmittelbar auf seine großen Knochen geklebt zu sein. Er war keineswegs verunstaltet, aber von allen Wesen, die ich je gesehen oder mir vorgestellt habe, kam er dem, was man üblicherweise unter dem Worte „Scheusal“ versteht, am allernächsten. Dass diese Wirkung seinem inneren Wesen entsprang, unterliegt für mich keinem Zweifel. Eine vollkommen und hoffnungslos verderbte Natur drückte sich körperlich aus, aber wenn man jedes seiner Glieder für sich betrachtete, so war weiter nichts Erschreckendes daran. Man hatte den Eindruck, er müsse sich feucht und kalt wie eine Schlange anfühlen. Dem geringsten Vorwurf, der mildesten und gerechtesten Ermahnung begegnete er mit tückischem Blick, mit bösem Zucken seiner dünnen, trockenen Oberlippe und einem hassvollen Knurren; gewöhnlich fügte er auch noch das bedrohliche Geräusch knirschender Zähne hinzu.
Nicht um seiner Lügen, seiner Frechheit und Faulheit, sondern um dieses bösartigen Betragens willen schlug sein Onkel ihn manchmal zu Boden. Man darf sich darunter keinen brutalen Angriff vorstellen. Dominics stämmiger Arm machte besonnen eine weite horizontale Bewegung, einen würdevoll wegfegenden Schwung, und Cesare kippte wie ein Kegel um – das sah spaßig aus. Aber wenn er erst dalag, wand und krümmte er sich auf dem Deck und knirschte vor ohnmächtiger Wut – das war ziemlich schrecklich anzusehen. Und es geschah auch mehr als einmal, dass er vollkommen verschwand – das sah überraschend aus. Dies ist die volle Wahrheit. Manche dieser majestätischen Hiebe ließen Cesare zu Boden gehen und verschwinden. Er verschwand Hals über Kopf in offene Luken, in Niedergänge, hinter herumstehende Fässer, je nach dem Platz, an dem er mit seines Onkels mächtigem Arm in Berührung kam.
Einmal – es war im alten Hafen, gerade vor TREVOLINOs letzter Reise – verschwand er zu meiner tiefsten Bestürzung über Bord. Dominic und ich hatten achtern unsere Angelegenheiten besprochen, und Cesar war hinter uns her geschlichen, um zu lauschen, denn zu seinen anderen Vorzügen war er auch noch ein vollendeter Horcher und Spion. Beim Geräusch des schweren Plumpses wurzelte der Schreck mich auf der Stelle fest, aber Dominic trat ruhig an die Verschanzung, sah hinüber und wartete darauf, dass der erbärmliche Kopf seines Neffen zum ersten Mal wieder auftauchen würde.
„Ohe, Cesar!“ rief er dem platschenden Wicht verächtlich zu. „Halte dich an der Trosse fest – charogne!“ (Aas)
Er kam zu mir her, um die unterbrochene Besprechung wiederaufzunehmen.
„Und Cesar?“ fragte ich besorgt.
„Canallia! Lass ihn da hängen bleiben“, war seine Antwort. Und er sprach ruhig über das bevorstehende Unternehmen weiter, während ich vergebens versuchte, aus meinem Gemüt das Bild Cesars zu verbannen, wie er bis ans Kinn im Wasser des alten Hafens lag, diesem Absud aus jahrhundertealten Schiffsabfällen. Nach einer Weile rief Dominic einen Jollenführer an, der nichts zu tun hatte, und beauftragte ihn, seinen Neffen herauszufischen; und bald darauf erschien Cesar über den Kai an Bord. Er zitterte und troff von schmutzigem Wasser, in seinen Haaren hatten sich verfaulte Strohhalme verfangen, und auf seiner Schulter war ein Stück dreckige Apfelsinenschale gelandet. Seine Zähne klapperten, seine gelben Augen schielten unheilvoll zu uns herüber, als er nach vorne ging. Ich hielt es für meine Pflicht, Einspruch zu erheben.
Ich fragte: „Warum prügeln Sie immer auf ihm herum, Dominic?“ Wirklich, ich war fest davon überzeugt, dass es keinen Zweck hatte – es war reine Kraftverschwendung.
„Ich muss versuchen, aus ihm einen Mann zu machen“, antwortete Dominic hoffnungslos.
Ich unterdrückte die einleuchtende Entgegnung, dass er auf diese Weise Gefahr liefe, aus ihm, nach den Worten des unsterblichen Mr. Mantalini, „einen verdammt nassen, unguten Leichnam“ zu machen.
„Er will Schlosser werden!“ platzte Cervoni heraus. „Um zu lernen, wie man Schlösser mit dem Dietrich knackt, vermute ich“, fügte er mit sardonischer Bitterkeit hinzu.
„Und warum soll er nicht Schlosser werden?“ wagte ich zu fragen.
„Wer wollte ihn in die Lehre nehmen?“ rief er. „Wo sollte ich ihn unterbringen?“ fragte er mit leiserer Stimme, und ich sah zum ersten Mal in meinem Leben echte Verzweiflung. „Sie wissen, er stiehlt, ach! Par la madoniae! (Mit Madonna) Ich glaube, er könnte Gift in Ihr und mein Essen tun – die Viper!“
Er hob sein Antlitz und beide ineinandergeklammerten Hände langsam gegen den Himmel. Cesar tat jedoch niemals Gift in unsere Tassen. Man kann es nicht genau wissen, aber ich glaube, er ging auf andere Weise zu Werke.
Auf der nächsten Reise, deren nähere Umstände nicht erzählt zu werden brauchen, mussten wir aus verschiedenen Gründen weit in See hinaus segeln. Als wir von Süden heraufkamen, um sie mit dem wichtigeren und wirklich gefährlichen Teil des vorgesehenen Planes abzuschließen, fanden wir es richtig, um einer bestimmten Information willen Barcelona anzulaufen. Das macht den Eindruck, als steckte jemand seinen Kopf so recht in den Rachen des Löwen, aber so war es in Wirklichkeit nicht. Wir hatten dort ein oder zwei hohe, einflussreiche und viele andere niedrige und dennoch wertvolle Freunde für gutes, hartes Geld gekauft. Wir liefen keine Gefahr, belästigt zu werden, und wirklich, die wichtige Information ließ nicht auf sich warten, sie erreichte uns durch einen Zollbeamten, der zu uns an Bord kam, um voll gespielten Eifers mit einem Eisenstab in der Apfelsinenschicht herumzustochern, die in der Luke den sichtbaren Teil unserer Ladung ausmachte.
Ich vergaß, vorhin zu erwähnen, dass die TREMOLINO offiziell als Frucht- und Korkholzfahrer galt. Der eifrige Beamte ließ beim Anlandgehen ein nützliches Stück Papier in Dominics Hand gleiten, und als er wenige Stunden später mit seinem Dienst fertig war, kam er durstig nach Getränken und Erkenntlichkeit an Bord zurück. Beides wurde ihm selbstverständlich zuteil. Während er in der kleinen Kabine saß und seinen Likör schlürfte, setzte ihm Dominic mit Fragen nach den derzeitigen Standorten der Guardacostas zu. Mit dem Küstendienst hatten wir sehr zu rechnen, und es war für unseren Erfolg wie für unsere Sicherheit wesentlich, die genaue Position des in unserer Nachbarschaft auf Streifendienst befindlichen Fahrzeuges zu kennen. Die Nachrichten hätten nicht günstiger sein können. Der Beamte nannte einen kleinen, zwölf Meilen entfernten Küstenort, wo es ahnungslos und unvorbereitet mit abgeschlagenen Segeln vor Anker lag, um seine Rahen zu malen und seine Spieren abzukratzen. Dann verließ er uns mit den üblichen Ehrenbezeugungen, wobei er uns zur Beruhigung über die Schulter anschmunzelte.
Ich war aus übermäßiger Vorsicht den ganzen Tag unten geblieben. Der Einsatz, um den es auf dieser Reise ging, war sehr groß.
„Wir könnten sofort abfahren, wenn nicht Cesar wäre. Seit dem Frühstück ist er verschwunden“, verkündigte mir Dominic auf seine langsame, grimmige Art.
Warum der Bursche fortgegangen war und wohin, konnten wir uns nicht vorstellen. Alle Vermutungen, die beim Ausbleiben eines Seemanns gewöhnlich angestellt werden, passten nicht auf Cesar. Er war viel zu widerwärtig für Liebe, Freundschaft, Spiel oder auch nur eine Zufallsbegegnung. Aber er war schon früher ein- oder zweimal auf dieselbe Weise fortgegangen.
Dominic ging an Land, um ihn zu suchen, kam aber nach zwei Stunden allein zurück. Ich erkannte an dem verschärften unsichtbaren Lächeln unter seinem Schnurrbart, dass er sehr zornig war. Wir überlegten, was aus dem Kerl nur geworden sein könnte, und suchten auch eilends unsere Habe durch. Gestohlen hatte er nichts.
„Er wird schon bald wieder da sein“, sagte ich zuversichtlich.
Zehn Minuten später rief einer der Leute an Deck laut: „Er kommt!“
Cesar hatte nur Hemd und Hose an. Er hatte seine Jacke verkauft, wahrscheinlich um Taschengeld zu haben.
„Du Schurke!“ sagte Dominic nur; seine Stimme war dabei fürchterlich mild. „Wo bist du Vagabund gewesen?“ fragte er drohend.
Nichts hätte Cesar zwingen können, diese Frage zu beantworten. Er verzichtete sogar darauf, zu lügen. Er stand uns gegenüber, zog die Lippe hoch, knirschte mit den Zähnen und wich um keinen Zoll vor Dominics Arm zurück. Natürlich ging er wie erschossen zu Boden. Aber diesmal bemerkte ich, dass er beim Aufstehen länger als sonst auf allen Vieren blieb, seine großen Zähne fletschte und mit einer neuen Art von Hass in den runden, gelben Augen zu seinem Enkel aufstierte. Dieses stetige Gefühl schien in diesem Augenblick durch besondere Bosheit und Neugier eine neue Schärfe bekommen zu haben. Ich war gespannt und dachte, wenn er uns einmal Gift ins Essen tun sollte, dann wird er uns, wenn wir bei Tisch sitzen, so ansehen. Aber selbstverständlich nahm ich nicht einen Augenblick lang an, dass er uns jemals Gift ins Essen tun würde. Er aß dasselbe wie wir. Überdies hatte er gar kein Gift. Und ich konnte mir kein menschliches Wesen vorstellen, das durch Habgier so verblendet wäre, einem so widerlichen Geschöpf Gift zu verkaufen.
Wir glitten in der Dämmerung leise in See, und die Nacht hindurch ging alles gut. Es wehte böig, ein steifer Südwind kam auf. Das war für unseren Kurs günstiger Wind. Dann und wann schlug Dominic langsam und rhythmisch ein paar Mal die Hände zusammen, als wollte er der TREMOLINO Beifall klatschen. Die Balancelle summte und bebte im Dahinfliegen und tanzte leicht unter unseren Füßen.
Bei Tagesanbruch wies ich Dominic auf ein besonderes Fahrzeug unter den verschiedenen hin, die innerhalb unserer Sicht vor dem wachsenden Sturme dahinsegelten. Es hatte Vollzeug stehen und sah dadurch von vorne sehr hoch aus; wie eine graue Säule stand es genau in unserem Kielwasser.
„Sehen Sie einmal den“, sagte ich. „Der scheint es eilig zu haben.“
Der Padrone äußerte sich nicht dazu, raffte aber seinen schwarzen Mantel dichter um sich und stand auf. Sein wettergegerbtes, von der Kapuze umrahmtes Gesicht sah herrisch und herausfordernd aus. Seine tief liegenden Augen spähten fest und ohne jedes Zwinkern wie die aufmerksamen, gnadenlosen, starren Augen eines Seevogels in die Ferne.
„Chi va piano va sano“ (Wer geht langsam), bemerkte er schließlich mit einem spöttischen Blick über die Reling mit einer ironischen Anspielung auf unsere eigene rasende Fahrt.
Die TREMOLINO tat ihr Äußerstes und schien die mächtigen Gischtkämme im Überfliegen kaum zu berühren. Ich kauerte mich wieder in den Schutz der niedrigen Verschanzung. Nachdem er länger als eine halbe Stunde in schwankender Reglosigkeit dagestanden hatte, einer gesammelten, atemlos beobachtenden Reglosigkeit, ließ er sich neben mir an Deck nieder. Unter der mönchischen Kapuze glühten seine Augen so wild, dass ich erschrak. Alles, was er sagte, war: „Er ist hergekommen, um sich die neue Farbe von den Rahen zu waschen, nehme ich an.“
„Was?“ rief ich und kam auf die Knie. „Ist es der Guardacosta?“
Die stete Andeutung eines Lächelns unter Dominics piratenhaftem Schnurrbart schien sich noch zu verstärken – es kam jetzt ganz deutlich, grausam und wirklich beinahe sichtbar durch das feuchte, glatte Haar heraus. Danach beurteilt, musste er in rasender Wut sein. Aber ich sah auch, dass er verwirrt war, und diese Entdeckung berührte mich sehr unangenehm. Dominic verwirrt! Lange Zeit starrte ich, an die Verschanzung gelehnt, über das Heck nach der grauen Säule, die leise schwankend immer im gleichen Abstand über unserem Kielwasser stand.
Indessen saß Dominic in seiner schwarzen Umhüllung mit untergeschlagenen Beinen rückwärts gegen den Wind gelehnt an Deck; er erinnerte unbestimmt an einen arabischen Häuptling, der in seinem Burnus im Sande sitzt. Über seiner reglosen Gestalt warf der Sturm die kleine Schnur und Troddel an der steifen Kapuzenspitze sinnlos hin und her. Ich gab es schließlich auf, mich mit der Vorderseite dem Wind und Regen auszusetzen, und duckte mich neben ihm hin. Ich war überzeugt, dass der Segler ein Streifenfahrzeug war. Über seine Nähe verlautete am besten nichts, aber bald fiel zwischen zwei hagelschweren Wolken ein Streifen Sonnenlichts auf seine Segel, und unsere Leute entdeckten es von selbst. Ich sah, dass sie von diesem Augenblick an weder einander noch irgendetwas sonst beachteten. Sie wandten ihre Augen und Gedanken ausschließlich auf die schlanke Säulenform hinter uns. Ihr Schwanken war jetzt deutlich wahrnehmbar. Einen Augenblick lang blieb sie strahlend weiß, dann schwand sie in einer Bö zu nichts dahin und kam beinahe schwarz wieder heraus; nun ähnelte sie einem Pfahl, der aufrecht gegen den schieferfarbenen Hintergrund aus festem Gewölk stand. Seit wir den Guardacosta zuerst wahrgenommen hatten, war er uns um nichts näher gekommen.
„Die TREMOLINO kriegen sie nie zu fassen“, sagte ich frohlockend.
Dominic sah mich nicht an. Er bemerkte zerstreut, aber zutreffend, das schwere Wetter käme unseren Verfolgern zugute. Ihr Schiff wäre dreimal so groß wie unseres. Wir müssten den Abstand bis zur Dunkelheit halten, was uns leicht möglich wäre, und dann den Kurs nach See hinaus ändern und die Lage betrachten. Aber seine Gedanken schienen in der Dunkelheit eines ungelösten Rätsels zu tappen, und bald schwieg er wieder. Wir liefen mit unseren entgegengesetzt ausgebaumten schrägen Rahen gleichmäßig vor dem Winde her. Kap San Sebastian lag rechts voraus, es schien vor uns in den Regenböen zurückzuweichen und zwischen den Schauern jedes Mal deutlicher wieder herauszukommen, um unserem Ansturm zu begegnen.
Ich für mein Teil war keineswegs gewiss, dass dieser „gabelou“ (wie unsere Leute den Guardacosta schimpflich nannten) unbedingt hinter uns her wäre. Verschiedene nautische Schwierigkeiten sprachen so sehr dagegen, dass ich die zuversichtliche Meinung ausdrückte, er wechsele in aller Harmlosigkeit nur einfach seinen Standort. Daraufhin ließ Dominic sich herbei, den Kopf zu wenden.
„Ich sage Ihnen, er ist auf Verfolgung“, versicherte er mürrisch nach einem kurzen Blick achteraus.
Ich zweifelte seine Meinung niemals an. Aber zu dieser Zeit war ich mit allem Eifer eines Neulings und dem Stolz eines gelehrigen Schülers ein großer nautischer Kasuist.
„Ich kann nur nicht verstehen“, beharrte ich spitzfindig, „wie in aller Welt er es bei diesem Wind fertiggebracht hat, gerade da zu sein, wo er war, als wir ihn zuerst ausmachten. Es ist klar, dass er in der Nacht keine zwölf Meilen gegen uns aufgeholt hat – das kann er nicht. Und da sind noch andere Unmöglichkeiten...“
Dominic hatte reglos wie ein unbelebter schwarzer Kegel dagesessen, den man auf das Achterdeck neben den Ruderkopf gestellt hatte und auf dessen Spitze eine kleine Troddel flatterte. Eine Zeitlang verharrte er in der Unbeweglichkeit seines Nachdenkens. Dann beugte er sich mit einem kurzen Auflachen vor und teilte mir die bittere Frucht seines Nachdenkens mit. Ihm war nun alles klar. Der Guardacosta war da, wo wir ihn zuerst sahen, nicht etwa, weil er uns eingeholt hatte, sondern weil wir in der Nacht an ihm vorbeigelaufen waren, als er, höchstwahrscheinlich beigedreht, schon genau auf unserem Kurs wartete.
„Schon – verstehen Sie?“ murmelte Dominic grimmig. „Schon! Wir sind gute acht Stunden eher als erwartet ausgelaufen, sonst würde er zur rechten Zeit hinter dem Kap auf Lauer gelegen und – „er schnappte dicht vor meinem Gesicht mit den Zähnen wie ein Wolf zu, „und uns so – geschnappt haben.“
Jetzt stellte sich mir das Ganze deutlich genug dar. Die Zollleute auf diesem Fahrzeug da hatten Augen im Kopf und alle Sinne beisammen. Wir waren in der Dunkelheit an ihnen vorbeigelaufen, während sie langsam auf ihren Hinterhalt zutrieben und uns noch weit achteraus dachten. Als sie jedoch bei Tageslicht voraus eine Balancelle unter vollen Segeln sichteten, setzten sie Vollzeug zur Jagd. Aber wenn das so war, dann – Dominic ergriff meinen Arm.
„Ja, ja! Sie sind mit einer genauen Nachricht ausgelaufen – verstehen Sie das? – mit genauer Nachricht ... Wir sind verkauft worden – betrogen. Warum? Wie? Wofür? Wir haben die Leute an Land immer so gut bezahlt ... Nein! Aber mir zerspringt bald der Schädel.“
Er schien zu ersticken, zerrte am Halsverschluss seines Umhangs, sprang mit aufgerissenem Munde auf, als wollte er Flüche und Verdächtigungen herausheulen, beherrschte sich aber sofort, raffte den Mantel enger und setzte sich so ruhig wie nur je wieder auf das Deck.
„Ja, es muss das Werk eines Lumpen an Land sein“, sagte ich.
Er zog den Kapuzenrand tief über die Augen, ehe er murmelte: „Ein Lump ... Ja ... Das ist klar.“
„Na schön“, sagte ich, „sie kriegen uns nicht, das ist auch klar.“