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Ida Bindschedler war eine Schweizer Lehrerin und Kinder- und Jugendbuchautorin. Die in dieser Edition enthaltenen Romane um die Turnachkinder und der Nachfolger "Die Leuenhofer" gehören zu den Klassikern Schweizer Jugendliteratur und spielen im Zürcher Quartier Riesbach.
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Seitenzahl: 954
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Jugendgeschichten
Ida Bindschedler
Inhalt:
Jugendgeschichten
Die Leuenhofer
Das verlorene Büblein.
Das Hochwasser.
Die Kriegselefanten.
Der seltsame Lehrer.
Die Katzenmusik.
Der Schulausflug.
Das Treffen bei der Ferlikoner Brücke.
Die Theatervorstellung.
Das neue Kind.
Die Weihnachtsfreude.
Die Gespenster.
Das verschwundene Reisszeug.
Der Examentag.
Die Turnachkinder im Sommer
Aufs Land hinaus.
Pfahlbauergeschichten
Vom Rudern und Schwimmen.
Der böse Mann
Hans macht eine neue Bekanntschaft und sammelt alte Schuhe.
Lotti und die Rosenkäfer.
Es kommt Besuch in die Seeweid und führt sich schlecht auf.
Marianne als Pharaonentochter.
Der Seesturm
Ferien.
Wie es in den Ferien bei Regenwetter geht.
Indianerleben.
Kindergesellschaften.
Ein Molch bringt Hans in Ungelegenheit.
Nachtgeschichten.
Marianne sucht den verlorenen Werner und geht fast selbst verloren.
Es wird Herbst.
Der Fackelzug.
Der Abschied von der Seeweid naht, und Lotti versucht, traurig zu sein.
Die Turnachkinder im Winter
Die Reise Nach Larstetten
Wie Es Auf Dem Larstetter Jahrmarkt Zuging
Eine Theatervorstellung
Auf Der Fähre
Eine Kaffeegesellschaft
Im Winterhaus Am Kornplatz
Warum Der Kleine Dieb Nicht Bestraft Wird
Marianne Und Lotti Gehen Auf Die Universität
Eine Dachpartie
Noch Einmal Auf Dem Dach
Bald Kommt Das Christkind
Der Weihnachtstag
Das Alte Jahr Geht Zu Ende
Im Kalten Monat Januar
Hans Zeigt Sich Als Held
Hansens Heldentum Bekommt Einen Riss
Marianne Lernt Das Heimweh Kennen
Die Gestörte Rechenstunde
Die Strafaufgabe
Aufs Land Hinaus
Jugendgeschichten, I. Bindschedler
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849622954
www.jazzybee-verlag.de
Herr Schwarzbeck stand bei der Wandtafel und sah zu, wie Gustav Brenner den Fehrenbach zeichnete, der unterhalb des Städtchens in die Illig floss.
»Nicht so, Gustav«, wehrte Herr Schwarzbeck ab. »Nicht grad wie ein Peitschenstiel. Dem Fehrenbach pressiert es gar nicht so, aus seinem netten Tälchen herauszukommen. Ihr habt ja gestern selber gesehen, wie er Umwege macht. Sieh, da etwa ist die Breitwiese ...«
»Wo wir den Baldrian und die Vergissmeinnicht gefunden haben«, riefen die Kinder ... »Da macht er doch einen Bogen, wie wenn er sich besinnen würde, ob er nicht noch einmal zurück wolle zum Wald anstatt hinunter zur Sägemühle, wo er das Rad treiben muss.«
Die Knaben und Mädchen in den Bänken horchten auf. Wie Herr Schwarzbeck so sprach, war es, als ob man noch einmal den hübschen Spaziergang durch das Fehrenbachtälchen mache. Dann fuhren sie fort auf ihre Blätter zu zeichnen. Also recht geschlängelt: und die Sägemühle nicht vergessen; es waren vier Häuser da. Wenn man gut gezeichnet hatte, durfte man das Blatt mit der farbigen Kreide ausmalen, den Bach blau, die Wiese hellgrün, den Riedenwald dunkel und die Häuser von Ried und von der Sägemühle rotbraun. Dann sah es aus wie eine Landschaft, die man von einem hohen Kirchturm herab betrachtet.
Die Fenster des Schulzimmers standen alle offen, und die Sonne schien auf den alten Holunderbusch am Haus. Es war eigentlich kein Schulhaus. Man hatte nur vor Jahren eine Stube eingerichtet für die zwei Klassen von Herrn Schwarzbeck, weil im Schulhaus drinnen im Städtchen kein Platz mehr war. Man sprach immer davon, dass ein neues Schulhaus gebaut werden müsse. Aber Herr Schwarzbeck sagte oft, seinetwegen brauche man sich nicht zu beeilen. Da draussen im Leuenhof sei es schön und gemütlich. Und die Knaben und Mädchen waren der gleichen Meinung.
Der Leuenhof war früher ein Kloster gewesen. Jedesmal, wenn im Frühjahr eine neue fünfte Klasse eintrat, wurde ihr diese merkwürdige Tatsache mitgeteilt:
»Also seht«, erklärten die Sechstklässler; »dort, wo das Holzgitter ist, war auch ein langes Stück Haus und rechts eins und links. Das gab ein Viereck; ringsherum war ein Gang; der hiess Kreuzgang, und da spazierten die Mönche und dachten an ernste Sachen. – Ja – und manchmal haben sie aber auch Brot gebacken und Käse gemacht und Bäume gepflanzt und gemalt und geschreinert und gesungen. Und dann auf einmal in einer Nacht ist das Kloster verbrannt, und nur die Seite, wo wir unser Schulzimmer haben, ist stehen geblieben.« –
Die Fünftklässler sahen einander an. Das war fein, in einer Schule zu sein, wo es einmal gebrannt hatte und wo Mönche gemalt und gesungen und Brot und Käse gemacht hatten. Mitten auf dem grünen Platz, der früher der Klosterhof gewesen war, stand eine dicke niedrige Säule und auf ihr sass ein seltsames steinernes Tier. Nach ihm hiess das Haus der Leuenhof. Denn das Tier war ein Löwe. Man hatte einige Mühe, das zu erkennen. Der dicke Kopf war verwittert, und über der Nase waren ein paar Rinnen. Wenn das Rotschwänzchen vom Holzverschlag herüberflog und sich auf den dicken Kopf setzte, sah es aus, als ob der Leu nach oben blinzle und sich ärgere, dass er den Vogel nicht abschütteln könne.
»Er sollte eine Mähne haben«, sagte einer der Fünftklässler, als er mit den anderen in der ersten Pause des neuen Schuljahres vor dem Löwen stand.
»Ja eben«, erwiderten die Grossen
»Er sieht eigentlich bloss aus wie eine recht grosse Katze«, sagte die vorwitzige kleine Sara Wiebold und zog kichernd die Achseln in die Höhe.
»Ja, wir haben es auch schon gedacht; aber hört« – und ein paar von den Grossen stellten sich vor die Fünftklässler – »das sagt man nicht! Oder wollt ihr vielleicht, dass man euch ›Katzenhofer‹ heisst, statt ›Leuenhofer?‹«
»Nein – Katzenhofer! Nein!« rief die ganze Klasse, und alle versprachen sich, man wollte es nie ausbringen, dass der Leu eigentlich wie eine dicke Katze aussehe.
Seit Herr Schwarzbeck seine zwei Klassen da draussen hatte, hiessen diese jeweilen im Städtchen die Leuenhofer und waren stolz auf den Namen.
»Die Leuenhofer kommen«, sagten die alten Frauen vom Spital beim Wendeltor, wenn das Trüpplein Buben und Mädchen nach elf Uhr lachend und schwatzend daherzog. »Jetzt geht es fast noch eine Stunde bis zum Mittagessen.«
»Es wird doch nicht schon über vier Uhr sein! Da sind ja schon die Leuenhofer«, sagte der Schneider Gutknecht am Nachmittag und zog rascher die weissen Fäden aus dem halbfertigen Überrock. Er war sehr fleissig; drum ging ihm die Zeit immer zu rasch vorbei, während sie den alten Spitalleutchen, die nicht mehr arbeiten konnten, immer zu lang vorkam.
War es nun, weil die Leuenhofer den gemeinsamen Namen trugen, oder weil sie da draussen weit weg von den anderen Buben und Mädchen des Städtchens ihr Schulzimmer hatten – sie hielten besonders fest zusammen. Sie trafen sich am Abend und an freien Nachmittagen vor dem Wendeltor auf der Grabenwiese und spielten da. Streiten taten sie manchmal auch; wenn’s so arg wurde, dass Herr Schwarzbeck es am anderen Morgen noch in der Schule merkte, so nahm er den ärgsten Streithahn vor und gab ihm wieder einmal den Denkspruch zu schreiben. Er war aus der Bibel und hiess: »Siehe wie fein und lieblich ist es, wenn Schwestern und Brüder einträchtig beieinander wohnen.«
»So! Auf morgen! Und damit du ein wenig länger über den Spruch nachdenkst, schreibe ihn nah zusammen und mach ein artiges Kränzlein drum herum! Die anderen sehen das Blatt dann um so lieber an; es tut ihnen auch gut!«
Der Spruch wurde für ein paar Tage an die Wand der Schulstube gehängt und kam dass in Herrn Schwarzbecks Pult, wo sich im Lauf des Jahres eine schöne Zahl solch artiger Strafzettel ansammelte.
Schlimm wurde aber der Streit der Leuenhofer Kinder nie. Sie waren eine im ganzen gutmütige muntere Schar, in den Schulstunden ziemlich fleissig, daneben immer zu Streichen aufgelegt, immer froh, wenn etwas begegnete, worüber man lachen und sich wundern konnte oder gar etwas, wobei man mitrennen und helfen musste.
Wie es so ist in jeder Schulklasse: ein paar waren bei allem die Anführer, hatten das erste Wort und machten von sich reden. Die anderen liefen so mit, ohne dass man von ihnen viel Aufhebens machte.
Also an dem Nachmittag hatten die Leuenhofer Kinder Heimatkunde und zeichneten das Fehrental, beide Klassen zusammen; nur erwartete Herr Schwarzbeck natürlich, dass die Sechstklässler die Sache besser machten als die Fünftklässler.
Da klopft es an die Türe. Alle Buben und Mädchen hoben die Köpfe. Herr Schwarzbeck hatte gar nicht Zeit, zur Türe zu gehen; sie wurde rasch aufgemacht und eine Frau trat herein. Ein paar Kinder kannten sie. Es war Frau Müggler von der Sonnengasse. Sie sah hastig nach allen Seiten:
»Nichts für ungut, Herr Schwarzbeck«, sagte sie, »aber ich laufe schon den ganzen Nachmittag herum in einer Angst – ist es nicht da? – Da auch nicht? – Herr Jesus, mein Büblein.« Sie fing an zu schluchzen. »Ich habe gedacht, ich finde es vielleicht hier. Es ist vorgestern und gestern hinter ein paar von Ihren Schulkindern dreingelaufen, bis vors Wendeltor hinaus.«
»Wisst ihr etwas von einem Büblein?« fragte Herr Schwarzbeck die Kinder. – »Wie sieht es denn aus? Wie alt ist es?« – »Im Januar ist es zwei Jahre alt gewesen; reden tut es noch nicht; aber laufen kann es schon fast wie unsereins. Man hat vom Morgen bis zum Abend seine Not.«
»Ist es blond?« fragte Herr Schwarzbeck.
»Nein, nein, braun. Mein Gott, wenn die Grossmutter es wüsste; – wo soll ich es doch noch suchen? Die Nachbarsleute meinen, es sei vielleicht in den Schättenwald hinausgelaufen, wo wir am Sonntag mit ihm waren oder zu meiner alten Base an der unteren Mauer; aber wie soll ich an alle Orte zugleich hinlaufen! O du lieber Gott«, weinte sie von neuem auf.
Die Buben und Mädchen in den Bänken hörten mit grösstem Interesse zu und fingen, da Herr Schwarzbeck nicht wehrte, laut an, über die Sache zu reden.
»Ein Büblein verloren gegangen«, ging es durch die Mädchenbänke. »Unser Klärli ist letzthin auch fortgelaufen!« »Ja und mich hat man einmal lang suchen müssen, als ich klein war. Man hat schon gemeint, ich sei zur Illig hinuntergelaufen und ertrunken.« – Die Mädchen hielten inne und sahen nach der Frau.
»Ein Büblein verloren gegangen«, ging es auch bei den Buben hin und her. Im Schättenwald sei es vielleicht – der ist furchtbar gross. »In Grumikon haben sie einmal anderthalb Tage lang ein Kind gesucht in der Gemeinde herum. Da ist die ganze Sekundarschule ausgezogen; mein Vetter war dabei. Sie hatten ein Horn und mussten sich immer wieder sammeln.« In alle Buben kam plötzlich ein Gedanke.
»Herr Schwarzbeck, Herr Schwarzbeck«, riefen sie und legten sich über die Bänke mit hochgestreckten Zeigefingern.
Herr Schwarzbeck hatte versucht, die Frau zu trösten und sich sagen lassen, wo sie überall gesucht habe.
»Herr Schwarzbeck – dürfen wir in den Schättenwald; wir finden es gewiss. Felix Kleinhans hätte eine Trompete.« –
Herr Schwarzbeck winkte ab. Nicht so ungestüm. Die Frau Müggler aber sah Herrn Schwarzbeck flehentlich an.
»Ja, wenn die Buben alle im Schättenwald suchen würden. Ich stehe solch eine Angst aus«, schluchzte sie in ihr Taschentuch. »Es hat eine grüneingefasste Wachstuchschürze und graue Höslein und also braune Härlein und Augen und rote Bächlein hat’s.«
Herr Schwarzbeck zog die Uhr heraus; es war in zehn Minuten vier Uhr; einen Augenblick überlegte er.
»Wollt ihr versprechen, vernünftig zu sein und genau zu tun, was ich euch sage?« –
»Ja, ja«, riefen die Buben.
»Wir auch, Herr Schwarzbeck«, riefen nun von der anderen Seite die Mädchen; »wir möchten auch mit in den Schättenwald.« –
Unter den Buben entstand ein Gebrumm.
»Wir können so gut suchen wie ihr«, riefen die Mädchen hinüber, »und mit einem kleinen Büblein können wir doch besser umgehen, nicht wahr, Herr Schwarzbeck. Vor so lauter Buben fürchtet er sich vielleicht.« –
»Ssst«, mahnte Herr Schwarzbeck.
»In keinem Falle stürmen mir alle 37 miteinander zum Schättenwald hinaus. Die sechste Klasse, Buben und Mädchen, übernehmen das.« –
»Seht ihr!« riefen triumphierend die Mädchen der drei hinteren Bänke.
»Die Buben der fünften Klasse suchen mit mir in der Riedau.« –
»Sie sind ein guter, Herr Schwarzbeck«, schluchzte die Frau. –
»Und die Mädchen der fünften Klasse gehen heim und sagen im Städtchen, warum die anderen noch nicht heimkommen. Verteilt die Botengänge selber unter euch.«
Die Fünftklässlerinnen waren nun zuerst etwas enttäuscht; aber überall, wo man es noch nicht wusste, von dem verlorenen Büblein erzählen, dass man es im Schättenwald und in her Riedau suche, war auch etwas. –
Herr Schwarzbeck sagte der sechsten Klasse, wie sie vorgehen solle im Schättenwald. »Ihr braucht einen Anführer – Ernst Hutter kennt den Schättenwald, glaub ich, am besten und übernimmt die Oberaufsicht.
Teilt euch in drei oder vier Gruppen, sucht immer wieder einen Platz ab und sammelt euch wieder, wenn Ernst euch das Zeichen gibt; weit kann das Büblein ja nicht gekommen sein. – Walter Kienast, du hast eine Uhr; nun ja, Felix, hol deine Trompete im Vorbeiweg. Nach längstens anderthalb Stunden kommt ihr zurück in die Mahlergasse, hört du, Ernst, auch wenn ihr das Kind nicht findet.
Ich hoffe immer noch, dass es irgendwo in der Nähe steckt. Wer weiss, es ist vielleicht schon jetzt wieder zu Hause. Geht durch die Sonnengasse zur Sicherheit.«
Die Frau Müggler war schon vorangeeilt in ihrer Unruhe und auch in der leisen Hoffnung, ihr Hermännli vielleicht vor ihrer Türe zu finden.
Aber als sie gegen ihre Wohnung in die Sonnengasse kam, standen da bloss ein paar Frauen.
»Ach herrjeh, sie bringt es nicht! Sie hat es nicht gefunden«, jammerten sie. »Wo kann es nur auch sein? Jetzt muss man denn bald an etwas Schlimmes denken.«
»Also vorwärts!« sagte Ernst Hutter, der mit seiner Schar hinter der Frau hergekommen war.
Vom Ende der Sonnengasse führte eine gerade lange Strasse zum Schättenwald.
»Eigentlich wäre es fast schade gewesen, wenn man das Büblein schon gefunden hätte. Dann könnten wir nicht in den Schättenwald«, sagte Netti Tobel, die eifrig neben den anderen Mädchen herschritt.
»Aber Netti, Netti, du bist doch grässlich«, riefen die Freundinnen empört. »Wo die Frau so eine Angst hat.« –
Netti schämte sich ein wenig. »Ich meine nur, es ist dann so nett, wenn wir das Büblein finden und in die Sonnengasse bringen können.«
»Ja«, rief Ernst Hutter von hinten hervor. »Dann muss man sich aber auch Mühe geben und suchen – nicht nur so gradaus laufen.« Er hielt suchend still an einem Seitenweg, an dem links und rechts ein paar Häuser standen.
»Natürlich«, sagte Eva Imbach, die von den Mädchen als ihr Oberhaupt angesehen wurde, weil sie klug und entschlossen war und meistens das beste Zeugnis hatte, »natürlich, wir müssen da nachsehen. Das Büblein könnte wohl in so ein Haus gelaufen sein.«
Die Buben gingen ins Haus rechts, die Mädchen in das links. Sie kamen in einen kleinen Hof. Schon schrien alle acht Mädchen auf, als sie in einer Ecke ein kleines Kind mit einer Wachstuchschürze entdeckten, das sie aus einem verschmierten Gesichtchen erstaunt ansah.
Aber da erhob sich eine alte Frau; sie hatte vor sich einen Wagen stehen, in dem zwei ganz kleine Kinder lagen.
»Wir suchen ein Büblein« sagten die Mädchen, »ein Büblein, das sich verlaufen hat.«
»So so, ein Büblein«, sagte die Frau. »Könnt ihr kein Maitelein brauchen? Wart, Mareili, wenn du nicht brav bist und die Grossmutter den ganzen Tag plagst, so nehmen dich die Kinder da mit und tun dich in den Wald hinauf, in den dunklen.«
Das Mareili machte grosse Augen und schien fast Lust zu haben, die Strafe anzutreten. Aber die Mädchen lachten; sie wollten im Walde ein Kind holen, keines hinaufbringen. Sie liefen hinaus zu den Buben, die auch zurückkamen.
Es ging weiter. Die meisten eilten in den Wald zu kommen. Aber Ernst Hutter und Eva Imbach bestanden darauf, dass man hinter allen Büschen nachsehe. Im Felde bewegte sich etwas; als die Buben drauf los wollten, war es eine weiss und schwarze Katze, die den Mäusen nachging.
Von einem Büblein war nichts zu entdecken. Auch im Walde nicht, wo Ernst Hutter nun anordnete, wie gesucht werden müsse und unter welchem Baume Felix Kleinhans mit seiner Trompete von Zeit zu Zeit das Signal zum Sammeln zu geben habe. Es war etwas schwierig, Ordnung zu halten.
Die Mannschaft wurde übermütig. Hans Kündig war auf einmal oben auf einer jungen Eiche und behauptete, als Ernst Hutter ihn herunterrief, er könne weit herum sehen; es sei sehr nützlich, wenn er da oben bleibe.
Den Mädchen musste Ernst Hutter verbieten, Blumen zu pflücken. Er schichte sie den Waldrand entlang, während er selbst mit seinen drei oder vier anderen Genossen einen Tannbestand absuchen wollte.
Plötzlich sah man die Mädchen, Eva Imbach voran, einen Rain hinunterrennen.
»Was tun sie denn?« sagte Ernst und runzelte die Stirne, wie ein Hauptmann, dessen Soldaten seine Befehle nicht richtig ausführen. Er rief und befahl dann, ein Zeichen mit der Trompete zu geben. Aber die Mädchen waren hinter den Büschen eines Hohlweges verschwunden.
»Man hat doch gesagt, man suche zuerst den Wald ab. Eva hat immer einen eigensinnigen Kopf, und die anderen laufen ihr nach.«
Ernst Hutter befahl dreien von seinen Leuten, dass sie die Mädchen heraufholen. Aber schon wurden diese wieder sichtbar, dicht zusammengedrängt; aber man konnte nicht erkennen, was sie hatten; man hörte sie laut durcheinander rufen. Als sie näher kamen, sah man, dass Netti, umringt von den anderen, ein kleines Kind trug. Das Kind schrie mörderlich.
»Wir haben es; wir haben es!« riefen die Mädchen den Buben zu, die ihnen entgegenliefen. »Wir haben gedacht, es könne etwa in das Haus da unten gelaufen sein und sind hinuntergerannt. Und da auf einmal sahen wir es am Wegrand unter einem Busch ganz allein, das arme Büblein.«
»So, du armes Trütscheli«, sagte Netti zärtlich. »Jetzt sei nur still. Jetzt bringen wir dich deiner Mutter. Gelt du, zur Mutter.« Die Knaben kamen alle herbei und betrachteten den Fund.
Es war ein dicker, kleiner Bub mit kurzgeschorenem Haar.
»Das ist jetzt erst noch die Frage, ob es der Frau Müggler ihr Hermännli ist«, sagte Walter Kienast. »Habt ihr ihn gefragt, wie er heisse?«
»Er gibt keine Antwort; er schreit nur. Frau Müggler hat ja gesagt, er rede noch nicht viel. Man sieht aber doch an den grauen Höslein, dass er es ist und an der schwarzen Wachstuchschürze da, grün eingefasst.«
»Wegen dem!« erwiderte Walter. »Es haben viele kleine Buben solche Wachstuchschürzen und graue Höslein.«
»Aber du siehst doch vielleicht, dass er rote Backen hat und braune Haare, und ganz allein ist er da unten gewesen und hat geweint.«
Die Buben waren jetzt überzeugt. Lieber wäre es ihnen gewesen, sie hätten statt der Mädchen den Kleinen gefunden; aber es war doch wenigstens die sechste Klasse; es waren doch die Leuenhofer, die das verlorene Kind ins Städtchen zurückbrachten.
Das Büblein hatte einen Augenblick zu weinen aufgehört und den grünen Buchenzweig in die Hand genommen, den eines der Mädchen ihm hingehalten hatte. Jetzt fing es aufs neue jämmerlich an zu schreien, warf den Zweig hin und strampelte so auf Nettis Arm, dass sie es kaum mehr halten konnte.
»Stell es nur hin«, sagte Walter Kienast. »Es könne ja so gut laufen, hat seine Mutter gesagt.« Netti wollte das Büblein auf den Boden stellen, und mehr als ein Dutzend Hände streckten sich, um es zu führen. Aber es setzte sich auf den Boden. »Nei, nei«, schrie es aus allen Kräften. »Dodi, Mem, Mem.«
»Dodi, das heisst gewiss Grossmutter«, erklärte Ottilie Eggenberg, »unser kleines Schwesterchen sagt auch immer so.«
»Also, dann müssen wir es halt doch tragen«, entschied Ernst Hutter und wollte es aufnehmen.
»Nein, halt, nicht!« riefen die Mädchen; »wir haben es gefunden; wir dürfen es tragen.«
»Das ist noch nicht ausgemacht«, entgegneten die Buben. »Uns ist es eingefallen, dass wir das Büblein suchen könnten. Uns hat es Herr Schwarzbeck erlaubt. Ihr habt nur so mitdürfen!«
Die Mädchen aber standen wie ein Wall um den Kleinen und wehrten die Buben ab.
»Komm, komm«, versuchte Ottilie Eggenberg den Kleinen zu trösten und aufzunehmen. »Komm! Gelt, du willst lieber mit und gehen als mit den Buben, gelt?«
zu gleicher Zeit war aber auch Hedwig Bühler hingekauert.
»Lass es doch mich tragen! Ottilie! Ich möchte es auch ein wenig haben.«
Ottilie liess nicht los und hielt das Büblein oben, während Hedwig an den dicken Beinchen zog.
»So –! Reisst es jetzt noch auseinander«, sagte Walter Kienast. »Jetzt nimmt mich doch wunder, ob es bei uns noch lauter brüllen würde als bei euch!«
Schliesslich wurde ausgemacht, dass Ottilie das Büblein bis zu dem Baum dort unten trage und von da an Hedwig Bühler und die anderen Mädchen der Reihe nach. Ernst Hutter aber von den ersten Häusern bis zur Sonnengasse, damit man sehe, dass die Buben auch beteiligt waren bei der Sache.
Ins Haus sollte dann Eva das Büblein tragen.
So ging es die Schättenwaldstrasse hinunter. Abwechselnd suchten die Buben und Mädchen das Büblein zu unterhalten. Felix Kleinhans nahm ein Blatt vor den Mund und brachte wunderbare Töne zustande. Das Büblein horchte ein paar Augenblicke mit offenem Mäulchen; dann schnaufte es auf, als ob es sich besänne, dass es ja eigentlich zu schreien habe und hob von neuem an. Auch das süsse rote Zeltchen, das Netti Tobel ihm zwischen die Zähnchen steckte, hielt nicht lang.
»Nei, nei, Dodi, Mem!« weinte der Kleine auf einmal wieder und spuckte das Zeltchen heraus.
So kam man ins Städtchen.
»Bsst, bsst«, suchte Eva Imbach, die nun an der Ecke der Sonnengasse den Kleinen übernahm, zu beschwichtigen. »Nun sind wir gleich bei der Mamma, gleich, gleich.«
Vor den Häusern standen da und dort Leute. Die Kinder hielten sich nicht auf; aber sie hörten, wie ein alter Mann sagte: »Aha, da bringen sie der Frau Müggler ihr Hermännli. Es sind die Leuenhofer.«
Ottilie Eggenberg zeigte das Haus der Frau Müggler. Die Buben und Mädchen schritten in geschlossenen Reihen dicht neben und hinter Eva Imbach her. Wie das fein war, nun der Frau Müggler ihr Büblein zurückzubringen. Und dann nachher den Leuten, besonders Herrn Schwarzbeck, zu erzählen, wie es gegangen war und wo man den Kleinen gefunden hatte, wenn Herr Schwarzbeck heraufkäme von der Riedau.
Ottilie trat voraus in den Hausgang und klopfte an die Türe.
»So«, sagte Eva zu dem Büblein, das um sich guckte, und stellte es auf den Boden. »Gelt, wie gut, dass du jetzt bei der Mutter bist.« –
Ottilie Eggenberg machte die Türe auf und schob den Kleinen vor sich her, und alle Buben und Mädchen drängten in die Stube hinein.
Aber welche Überraschung und Bestürzung! In der Stube, umringt von drei oder vier Frauen stand Frau Müggler und hatte – die Leuenhofer Buben und Mädchen trauten ihren Augen nicht – schon ein anderes Büblein auf dem Arm, auch mit einer grün eingefassten Wachstuchschürze und grauen Höslein, mit braunem Haar und roten Bäcklein. – Die Leuenhofer Buben und Mädchen standen starr.
Die Frauen aber drehten sich zur Türe. »Ja, Kinder, was wollt ihr denn? – Wir haben das Hermännli schon lange. Es ist zu seiner Grossmutter gelaufen, und die ist nicht zu Hause gewesen, und da ist das Hermännli eingeschlafen im Gartenhäuschen unter der Bank. Aber was ist jetzt das für ein Kind – du mein Trost, wo habt ihr denn das her?« –
Die Leuenhofer Buben und Mädchen wussten gar nicht wohin schauen vor Beschämung und Verlegenheit.
Nur mit Mühe brachten die Frauen aus ihnen heraus, wo die das Büblein gefunden. »Der Ernst Hutter, der muss es sagen«, flüsterten die hinteren; »der ist ja der Anführer, ja und die Eva, die Eva ist vorausgerannt, dort hinunter.« –
Frau Müggler stellte ihr Büblein hin und nahm das andere, weinende auf den Arm. »Du armes Tröpflein«, sagte sie, »haben die dich nur so fortgetragen –. Aber auch! Aber auch!« Sie zog ihrem Hermännli das weisse Wollschäfchen aus der Hand und reichte es dem kleinen Fremden. Der hörte auf zu weinen; er fühlte sich besser da auf dem Arm von der Frau. Die Kinder, die hatten ihn so merkwürdig fest gepackt, gar nicht, wie er es gewohnt war.
Statt des fremden Bübleins erhob nun natürlich das Hermännli ein Zetergeschrei.
Frau Müggler gab ihm einen kleinen Klapps. »Sei du nur still, du kleiner Nichtsnutz, hast mir so eine Angst gemacht!«
Aber dann wandte sie sich zu den Leuenhofer Kindern, die verlegen sich an der Türe herumdrückten. »Jetzt nehmt halt den Weg noch einmal unter die Füsse so rasch ihr könnt und tragt das Büblein wieder hinauf zur Schättenhalde. Wenn ich denke, dass jetzt seine Mutter es überall sucht, wie ich meines! Herrjeh, Kinder, was habt ihr doch angestellt!« –
Sie wollte das Büblein dem vor ihr stehenden Felix Kleinhans auf den Arm geben: »Da, du bist der grösste.« Felix aber drehte sich um, zu den Hintenstehenden. »Es muss wieder der Reihe nach gehen wie vorher. Und da ist es noch nicht an mir; ich bin erst der 7. oder 8. gewesen.« »Die Mädchen können es jetzt wieder nehmen«, neckte Walter Kienast; »sie haben es ja durchaus nicht hergeben wollen am Anfang, und sie haben es überhaupt ja gefunden.« Aber die Mädchenarme streckten sich diesmal nicht so eifrig aus, und die kleinen dicken Beinchen kamen nicht in Gefahr. Es war doch wirklich zu arg, das Büblein jetzt wieder durch das ganze Städtchen zu tragen und sich von den Leuten auslachen zu lassen.
Da trat Ernst Hutter tapfer herzu und nahm das Büblein vom Arm der Frau.
»So«, dachten die anderen erleichtert; »wir brauchen überhaupt gar nicht alle mitzugehen«, und vier oder fünf von der Schar machten Miene sich zurückzuziehen.
Aber Eva Imbach und ein paar andere stellten sich vor sie hin:
»Halt, so geht das nicht! Wir müssen alle mit, die ganze Klasse. Natürlich! Und jedes kommt der Reihe nach dran. An der Ecke, beim Hecht nehme ich das Büblein wieder – das sind mir Schöne, die jetzt weglaufen wollen.« –
Beschämt gaben die paar ihre Ausreissergedanken auf und schlossen sich Ernst Hutter an. Die Frauen traten auch unter die Türe, um dem kleinen Zug nachzusehen.
Aber er kam nicht weit. Von der Eiergasse herauf nahte ein Trupp Knaben. Es waren die Fünftklässler. Als sie Ernst Hutter mit einem Büblein auf dem Arm erblickten, erhoben sie ein Jubelgeschrei und rannten dann zurück zu Herrn Schwarzbeck, der hinter ihnen auftauchte. »Sie haben es!« schrien sie. »Ernst Hutter trägt es auf dem Arm.«
Umsonst suchten die Sechstklässler sie abzuhalten: »Seid doch still; es ist ja ein falsches.«
Die Fünftklässler hörten nicht: »Sie haben es! Sie haben es, Herr Schwarzbeck! Hurra!«
Die Leute von der Eiergasse und von der Sonnengasse kamen heraus, und einer fragte den anderen, was das Geschrei bedeute.
Die Sechstklässler hätten grad mögen in den Boden sinken; aber das holperige Pflaster der Eiergasse tat sich nicht auf, und Herr Schwarzbeck kam in raschem Schritt und mit freudigem Gesicht auf die Schar zu. Doch als ob die Lage der Sechstklässler noch nicht fatal genug wäre, eilte vom Ende der Mahlergasse eine Frau herzu mit weissem Kopftuch. Zwei junge Mädchen wiesen ihr den Weg: »Da hinunter sind sie mit ihm. Aber dort stehen sie ja!«
Die Frau lief herbei und riss Ernst Hutter das Büblein aus dem Arm. »Theodorli, mein Büblein! Gottlob, Gottlob!« Sie drückte ihr Kind ein paarmal an sich und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann aber wandte sie sich zornig zu den Buben und Mädchen.
»Jetzt möchte ich aber doch wissen, was das für eine Art ist, aus lauter Übermut oder Bosheit oder was weiss ich, das Kind fortzutragen; ihr sollt aber noch etwas erfahren; ich will schon dafür sorgen, dass ihr gehörig gestraft werdet.«
»He, aus Bosheit haben sie es nicht getan«, beschwichtigte eine der Frauen die Mutter und erklärte ihr den Irrtum der Kinder.
So leicht liess aber diese sich nicht beruhigen. »Man trägt doch so ein armes Kind nicht nur mir nichts dir nichts fort. Das Haus wäre nicht weit gewesen, wo ihr hättet fragen können. So dumme Kinder gibt es doch gewiss weit und breit nicht mehr.«
Die Sechstklässler senkten ihre Köpfe noch tiefer. Es war schrecklich, vor allen Leuten und vor den Fünftklässlern das anhören zu müssen.
»Ich wollte mit dem Theodorli auf unseren Kartoffelacker hinaus«, wandte sich die Mutter des Bübleins zu den Frauen. »Da sehe ich unterwegs, dass die Hacke gar nicht mehr ordentlich im Stiel hält und muss wieder zurück. Und weil das Büblein so langsam ist, setze ich es an den Wegrand. Es ist so ein braves und läuft nie fort. Gelt Dodi!«
Sie fasste das dicke Händchen, das auf ihrer Schulter lag.
»Und wie ich mit der besseren Hacke am Garten vorbeigehe, sehe ich, dass die tausends Hühner wieder drin sind. Das hat mich ein wenig versäumt. Und grad in der Zeit muss es geschehen sein! Der Schrecken, den ich gehabt! Ich habe gar nicht gewusst, was denken und was tun. Ringsum hab ich gesucht und gerufen. Da ist ein Mann gegen den Schättenwald herauf gekommen und der hat mir gesagt, er meine, er habe eine Schar Buben und Mädchen mit einem schreienden kleinen Kind gegen das Städtchen hinunter gehen sehen. Da bin ich dahergelaufen; aber auf dem Weg hab ich immer gedacht, es sei gewiss doch nicht meines. Das würde man doch nicht wegtragen. Kinder stehlen tun heutzutage doch nur noch Zigeuner. Nein, was hab ich für eine Angst ausgestanden! Und mein Theodorli auch. Nur so davonrennen mit so einem armen unschuldigen Kindli.«
Die Buben und Mädchen sahen schuldbewusst vor sich nieder. Es kam ihnen jetzt selber recht unsinnig vor, was sie getan. Und die Mädchen sahen nach dem Büblein, dessen Gesichtern noch ganz verweint aussah – dem warmherzigen Netti und ihrer Freundin Ottilie liefen vor Reue und Mitleib ein paar Tränen über die Backen.
»Eine gehörige Strafe verdient ihr, dass ihr’s nur wisst!« redete die Frau sich von neuem in den Zorn. »Es wird am besten sein, ich gehe zu eurem Schullehrer, dass er erfährt, was ihr für Leute seid. Wie heisst er? Wo wohnt er? So redet!«
»Der ist leicht zu finden. Da steht er schon«, sagte Herr Schwarzbeck und trat vor die Frau. Er hatte zugehört, ohne etwas zu sagen. Er fand, seine Sechstklässler verdienten schon eine Strafpredigt. Und zur Abwechslung könne sie ja einmal statt seiner von jemand anderem gehalten werden.
»Es tut mir leid, dass meine Leutchen Ihnen einen solchen Schrecken und solch eine Angst gemacht haben. Euch tut es auch leid, nicht wahr?«
Er drehte sich nach den Kindern um.
»Ja, ja«, riefen diese schon etwas erleichtert, obgleich Herr Schwarzbeck ein ernstes Gesicht machte.
»Was fängt man nur mit euch an, ihr Wettersbuben und Mädchen«, sagte der alte Buchbinder Häberlein, der dabei stand. Er machte die Hefte für die Leuenhofer und lieferte die Federn und Bleistifte. Da durfte er schon ein wenig mitreden. »Man sollte euch, weil die Frau so Zeit versäumt hat, morgen auf den Kartoffelacker schicken, jedes mit einer Hacke, zum Unkraut austun, von vier bis sieben Uhr.«
Alle Umstehenden lachten. Die Fünftklässler, die mit grossem Interesse der Verhandlung folgten, riefen vergnügt: »Dann dürfen wir aber auch mit, nicht wahr, Herr Schwarzbeck!«
Die Frau von der Schättenhalde – sie hiess Herber – aber wehrte: »Ja, noch gar, die ganze Schar! Das wäre mir etwas! Wenn sie das Jäten so gut verstehen wie das Kindersuchen, so hätten wir um sieben Uhr wahrscheinlich wohl noch Unkraut, aber keine Kartoffeln mehr.«
Wider Willen musste sie selber doch ein wenig lachen.
Diese bessere Stimmung benützte Frau Müggler und trat mit ihrem Hermännli näher zu ihr hin.
»Sehen Sie, jetzt verraucht der Zorn schon. Kinder sind halt Kinder. Man weiss ja, was für dummes Zeug man selber gemacht hat in der Jugend. Es ist ihnen arg genug. Man sieht es. Ein anderes Mal fahren sie gewiss nicht mehr so drein.
Und die Hauptsache ist doch, dass wir unsere Büblein wieder haben, Sie das Ihrige und ich das meine.«
»Und das ist wahr«, sagte eine von den Frauen, »gleichen tun sich erst noch die beiden merkwürdig, dieselben Härlein und rote Bäcklein! Man weiss nicht, welcher der nettere ist, das Hermännli oder – wie heisst es – das Theodorli.«
Der kleine Held von der Schättenhalde, der sich jetzt geborgen auf dem Arm seiner Mutter fühlte, sah mit seinen runden braunen Augen auf die Kinder herab. Netti tätschelte verstohlen sein Händlein. Da lachte das Büblein sie ganz freundlich an.
»Sehen Sie, Frau Horber, sehen Sie«, riefen die Frauen. »So müssen Sie es auch machen. Jetzt hat das Büblein schon vergessen, was die Kinder ihm angetan haben. Wie herzig es lacht.«
»He, also dann«, sagte Frau Horber zögernd, »so will ich machen, dass ich wieder heimkomme; mein Mann wird sowieso nicht wissen, warum ich nicht in die Kartoffeln gekommen bin.« »Da sag deinem Freund ade«, sagte Frau Müggler und hielt ihren Kleinen, der sein Schäfchen wieder erobert hatte, zu dem Schättenwalder Büblein empor, »und wenn du nicht so ein eigensinniger Schreihals wärst, so müsstest du ihm dein Schäfchen mitgeben, als Andenken an die Geschichte.«
»Ich hab ein Schäfchen zu Haus – ich bring es ihm herauf morgen nachmittag«, rief Netti. »Es hat auch so ein Glöcklein,«
»Und ich komme mit dir«, erklärte Eva. »Meine Mutter hat heut Anisstengel gemacht; da gibt sie mir ein paar für das Büblein.«
»Wir gehen auch mit, wir auch!« riefen drei oder vier andere. »Ich schenk ihm meinen Gummiball und ich hab ein Pfeifchen für ihn.« Die Leute lachten.
»Das gibt ja eine ganze Bescherung. Jetzt sehen Sie, Frau Horber, dass das keine Räuber sind. Statt Lösegeld für das geraubte Kind zu verlangen, bringen sie ihm Geschenke dar.«
Dann aber löste sich der Knäuel von grossen unk kleinen Leuten, und Frau Horber nahm mit ihrem Büblein den Weg zum Tor hinaus. Die Mädchen, als sie sahen, dass das kecke Netti neben der Frau herging und plauderte, gaben auch noch ein Stück weit das Geleite und erzählten dem Büblein, was es morgen alles bekomme.
Die Buben aber gingen dem Marktplatz zu. Etwas kleinmütig hörten die Sechstklässler den Fünftklässlern zu, dass sie in der Riedau einen Fuchs gesehen hätten und zwei Männer in einem Schiff und ein Feuer, an dem ein paar Kesselflicker sassen und was alles an Merkwürdigkeiten.
In der Sonnengasse sprach man noch einige Zeit von der Geschichte, und die Buben und Mädchen wurden oft geneckt. Wenn ein kleines Kind recht unartig war, so sagte etwa seine Mutter im Spass zu ihm:
»Wart, wenn du nicht brav bist, so kommen die Leuenhofer und holen dich!« –
Seit ein paar Tagen regnete es unaufhörlich. Die ganze Nacht hindurch goss und rauschte es fort, und die alten Leute, die nicht mehr so fest schliefen, horchten auf. »Immer noch! Immer noch,« dachten sie; »es wird doch nicht etwa ein Hochwasser geben, wie damals, wo es die Brücke von Ferlikon weggerissen und das ganze Dorf überschwemmt hat. Mein Gott! und die Leute, die drunten in der Riedau wohnen: Kann es denn gar nicht mehr aufhören!«
Die Kinder, wenn sie schnell einmal erwachten, hörten das Rauschen und Plätschern auch.
»Du«, rief Gustav Brenner von seinem Bett dem gegenüber schlafenden, älteren Bruder zu – »vor der Schule rennen wir noch zur Ecke beim Doktorsgarten. Dort sieht man die Mauer, wo man angestrichen hat, wie hoch allemal das Wasser gestiegen ist.«
»Glaubst du, dass es so hoch wird, wie vor 15 Jahren? Ich wollte, ich wäre damals dabei gewesen!«
Und in einer anderen Ecke des Städtchens war in ihrer Schlafstube Sara Wiebold auch einen Augenblick erwacht.
»Wie das tut! Die Josephine bei Mettgers hat gesagt, beim letzten Hochwasser habe man keine Schule gehabt zwei Tage lang!« Sara wollte sich ausdenken, was man alles unternehmen könnte an einem schulfreien Vormittag; aber ehe sie sich’s versah, war sie wieder eingeschlafen.
Am anderen Morgen, als die Brennerbuben und noch andere zum Doktorsgarten kamen und über die Mauer hinübersahen, bemerkten sie, dass die Illig seit gestern abend stark gestiegen war. Gelbbraun wälzte sich das Wasser daher.
Die Männer, die auch dastanden, machten ernste Gesichter und sahen zum Himmel hinauf, der mit einförmigem Grau verhängt war, und von dem es heruntergoss wie gestern und vorgestern. Die Leuenhofer aber rannten durch das Städtchen zur Schule.
Von den Dächern plätscherte es herunter, und es war sehr lustig, wenn man den Schirm unter solch einen Wasserfall hielt; das trommelte prachtvoll.
In der Schule erzählten die Kinder, die vom unteren Städtchen kamen, in der Riedau fingen die Leute an auszuziehen; im Keller vom Schuhmacher Burnlich stehe schon das Wasser.
Weil Herr Schwarzbeck merkte, dass die Gedanken seiner Buben und Mädchen alle nur bei dem steigenden Wasser waren, so fasste er sie an diesem Zipfel. Er sprach mit ihnen von den starken Sommerregen und von der Illig und wo sie herkam und wo sie hinging und was sie früher schon für Schaden angerichtet. Und die Kinder durften auch sagen, was sie wussten, und dann gab es einen Aufsatz über das Gesprochene. –
Am Nachmittag kamen die Kinder noch aufgeregter in die Schule: Am Fabrikweiher oben seien die Leute schon den ganzen Tag bei der Arbeit, weil man Angst habe, der Damm breche durch.
Ja, und am Seckelweg haben sie eine Menge abgehauene Tannen; die hängen sie an Ketten und Stricken ins Wasser – damit das Wasser nicht den Weg fortreisst.
Ja, und von Ferlikon ist eine Frau gekommen, die hat gesagt, man habe schwere Wagen mit Sand und Steinen auf die Ferlikoner Brücke gestellt – weil das Wasser immer noch steige.
Als letzter aber kam der pausbackige Fünftklässler Hermann Steininger hereingerannt.
»Im Keller von meiner Grossmutter steht das Wasser schon so hoch!« meldete er triumphierend und streckte den Arm aus.
»O, das ist schlimm«, bedauerte Herr Schwarzbeck.
»Ja, die Grossmutter hat geweint, und wir haben ihr geholfen, den Keller auszuräumen; die grosse Waschgelte ist geschwommen.«
Hermanns rundes Gesicht strahlte vor Vergnügen. »Ich bin hineingestiegen und habe mit einem Stecken gerudert und gestachelt. Im ganzen Keller bin ich herumgefahren.«
»Oh, oh«, riefen die Kinder, aber nicht wie Herr Schwarzbeck im Ton des Bedauerns. So in einer Waschgelte zu fahren wie in einem Schiff, das musste fein sein!
Dann aber brachte Herr Schwarzbeck die Kinder doch dazu, den Ernst und den Schrecken einer wirklichen Überschwemmung zu begreifen.
Er erzählte ihnen von der tapferen Johanna Sebus, die ihre Mutter aus dem Wasser errettete und dann noch einmal durch das brausende, furchtbare Wasser watete, um auch die Nachbarin mit ihren drei kleinen Kindern zu holen.
Und dann schlug Herr Schwarzbeck sein Buch auf und las das Gedicht, in dem Goethe diese Heldentat geschildert hat. Das war schön.
»Du«, sagte Ottilie Eggenberg leise zu Eva, »das ist besonders schön, dass einmal ein Mädchen so tapfer war.« Eva nickte; gespannt horchten sie weiter.
Wie das schaurig klang:
»Der Damm zerreisst, das Feld erbraust, Die Fluten wühlen, die Fläche saust.«
und dann, wie Johannas Mutter voll Angst frägt:
»Verwegen ins Tiefe willst Du hinein?«
Und Johanna entschlossen antwortet:
»Sie sollen und müssen gerettet sein!«
Wie furchtbar aber ging das Gedicht weiter: Johanna Sebus konnte die Familie nicht mehr retten. Die Wellen waren zu gewaltig. Ein Kind hielt sich noch am Horn der Ziege; dann versanken sie alle in der wirbelnden, schäumenden Tiefe. Und Johanna Sebus selbst, die tapfere hochherzige Johanna Sebus, war auch verloren; auch sie wurde von den wilden Wassern weggerissen und wurde nicht mehr gesehen.
Wie traurig war das und zugleich wie prachtvoll; so mutig, so heldenhaft möchte man auch einmal sein!
Von drei bis vier war Zeichnenstunde.
»Herr Schwarzbeck, könnten wir nicht Johanna Sebus mitten in dem Wasser und das Haus der armen Frau zeichnen?« fragten die Sechstklässler.
»Wär’s nicht doch schade für das schöne Gedicht und die grosse Sache, wenn ihr mit eurer kleinen Kunst daran ginget?« erwiderte Herr Schwarzbeck.
»Versucht die Brücke von Ferlikon zu zeichnen .... Die Brücke von Ferlikon kennt ihr doch alle? – Nun stellt ihr ein paar Wagen darauf.«
»Ja, und unten das Wasser«, riefen die Buben und Mädchen. »Oder wie das Wasser schon über die Brücke läuft! Mit dem blauen Farbstift das Wasser. Nein, natürlich mit einem graubraunen!«
Mit Eifer ging es an die Darstellung der beschwerten Ferlikonerbrücke. Nur Hermann Steininger durfte, weil er gar so gern mochte, den Keller seiner Grossmutter zeichnen und sich selbst als kühnen Schiffer in der grossen Wassergelte.
»Wenn es schön wird, so schenke ich es der Grossmutter zum Andenken an die Überschwemmung«, sagte er vor sich hin, während er versuchte, die Kellertreppe anzubringen und die Grossmutter darauf mit ängstlich erhobenen Händen.
Herr Schwarzbeck ging durch die Bänke und half hier und dort. Aber die meisten Blätter fand er gut.
Fast hätte es den Kindern leid getan, als es vier Uhr schlug. Aber es war nun doch sehr fein, dass man hinaus konnte, um das Hochwasser in Wirklichkeit zu sehen.
Wo wollte man zuerst hin?
Die Sechstklässler liefen nun, was sie konnten, zum Städtchen hinein und die Fischergasse, die zur Riedau führte, hinunter. Wie es da aussah! Die ganze Riedau ein See! Fast fremd kam den Kindern die sonst so gut bekannte Gegend vor. Keinen Weg sah man mehr. Nur Buschwerk ragte hier und dort aus dem gurgelnden Wasser und die alten Weiden noch. Die Illig aber, die sonst so ruhig und klar dahin floss, rauschte und toste wie im Zorn und warf Wellen, von denen der Schaum aufspritzte.
Am Ende der Riedau wurde das Ufer höher und blieb über Wasser; dort konnte man die wild sich daher wälzenden Fluten ganz in der Nähe ansehen. Es waren Leute da, Frauen, Burschen und junge Mädchen aus der Spinnerei; sie versuchten allerlei Holzstücke, Pfähle und Baumäste, die das Wasser mitführte, herauszufischen.
»Holla!« schrien die Burschen, »da kommt ein fester Brocken! Haltet gut!«
Sie hielten sich zu dritt oder viert an der Hand. Der Äusserste stand bis zu den Knien im Wasser und beugte sich weit hinaus und packte mit kühnem Griff den Ast. Aber viel Holz schwamm vorbei.
»Wie schade!« sagten ein paar alte Frauen. »Das schöne Holz! Im Winter wäre man so froh darum. Man kann ja fast keines mehr kaufen, so teuer, wie es jetzt ist. Dort kommt wieder eines. Das täte es grad für einen Kaffee!«
Einige der Leuenhofer Buben hatten schon eine Kette gebildet, wie sie es bei den Burschen sahen und glücklich fasste Felix Kleinhans die Beute. Beinahe hätte statt seiner Ottilie Eggenberg das Holzstück erwischt. An einem überhängenden Busch hatte sie sich gehalten und sich keck über das Wasser hingebeugt.
»Geh da weg«, sagte Felix; »das ist nichts für Mädchen!« »Jawohl! Das können wir auch«, erwiderte Ottilie; dann aber lief sie auf der schmalen Böschung flussabwärts.
Ottilie war ein kräftiges Mädchen mit docken, braunen Zöpfen. In der Schule und im ganzen Städtchen hatte man Ottilie Eggenberg besonders gern. Sie war immer lustig, immer freundlich, und wenn eines ein mürrisches oder betrübtes Gesicht machte, gab sie nicht nach, bis sie es zum Lachen gebracht hatte. Etwas wild und übermütig war sie manchmal auch. –
Jetzt stand sie an dem brausenden Wasser und sah sich um. Ein altes Schiff war da angebunden. Mit jedem Anschlag der trüben Wellen wurde das Schiff so heftig an die Pfähle geworfen, dass man dachte, es gehe in Stücke. Aber das schreckte Ottilie nicht. Sie sprang hinein. Vom hinteren Ende des Schiffes aus konnte man, was daherschwamm, erwischen. Das Wasser trieb das Holz gerade gegen diese kleine Bucht. Netti Tobel und die anderen Mädchen waren Ottilie nachgelaufen, und zwei alte Frauen kamen auch hintendrein.
»Nein, wie die kühn ist!« sagten sie, als Ottilie eben einen festen Ast herausschwang; sie reichte ihn Netti Tobel, die ihn einer der Frauen übergab. »Und geschickt wie ein Flösserknecht! Das Schiff wird doch gut angebunden sein! Gib acht! Es ist nicht gesagt, dass wir jedes Stück halten müssen.«
Aber Ottilie wurde immer eifriger und kecker. Es war, als ob alles dran hinge, dass sie sich nur keinen Ast entwischen liesse.
»So, das gibt wieder einen Kaffee«, sagte sie lustig und warf Netti einen neuen Ast zu. Sie troff von Nässe und stand im Wasser bis über die Knöchel. Aber lachend streifte sie ihre Haare zurück und sah nach weiterer Beute aus.
»Achtung! Dort kommt ein feines Brett. Das gibt eine Pfanne voll Erdäpfel, Frau Hunziker.« Mit Anstrengung zog Ottilie das Brett herein.
»Hei, und dort kommt eine braune Mehlsuppe«, schrie sie im Übermut.
Alle lachten, und die Frauen rühmten, wie das doch ein witziges Kind sei und ein gutherziges, dass es sich so mühe um das Holz. »Es ist ja wahr, für jedes Stücklein ist man dankbar.«
Aber die braune Mehlsuppe steuerte weit draussen vorbei.
»Wenn das Schiff nur nicht so nah an den Pfahl gebunden wäre! Ich sollte weiter hinauslangen können.« –
Netti zog an dem Strick; aber schon war Ottilie dran und lockerte ihn. Das Schiff schwankte heftiger. Ottilie konnte sich kaum auf den Füssen halten.
»Komm lieber jetzt heraus«, rief Frau Hunziker. »Du wirst zu waghalsig. Es ist genug. Hörst du.« –
Da – entsetzt schrien die Kinder auf – das Schiff riss sich los, drehte sich und wurde von den trüben Wellen erfasst.
Ottilie war im Schiff umgefallen und hielt sich am Rande. »Netti«, schrie sie, »Netti – Frau Hunziker!«
Aber die wilden, tosenden Wellen führten den Kahn weg.
Herzzerreissend ertönte das Angstgeschrei des Mädchens: »O, o – Vater – Mutter.« –
Und herzzerreissend war das Jammergeschrei der Kinder und der Frauen.
»Ottilie, Ottilie – zu Hilfe, zu Hilfe!« schrien und schluchzten die Kinder. Das Schiff wurde von den Wellen Hin- und hergeschleudert; aber unaufhaltsam ging es abwärts; man konnte nur noch undeutlich erkennen, dass Ottilie am Boden kauerte.
»Vater – Mutter«, ertönte es noch von weitem her, dann schoss das Schiff um ein Buschwerk und verschwand.
»Um Gottes willen, um Gottes Barmherzigkeit willen! Lauft, lauft Kinder, ruft Leute her!« –
Schon waren die Burschen und die Leuenhofer Kinder herbeigeeilt. Aber wohin sollte man laufen? Flussabwärts? Die Böschung hörte hier auf, und weithin war das Land wieder unter Wasser; nur auf einem grossen Umweg war der Flusslauf zu erreichen.
Aber ohne sich lange zu besinnen, rannten die Leuenhofer Buben und Mädchen in dieser Richtung. Voran Netti laut schluchzend:
»Ottilie, Ottilie, ich – ich hätte sollen fester halten – den Strick halten.« –
Die Burschen überlegten einen Augenblick:
»Man muss hinüber und hinunter zum Kniebühl. Dort hat es das Schiff vielleicht ans Land geworfen. Alles treibt’s ja dort hinein. Wisst ihr noch vor drei Jahren – den Mann von Rumikon – dort hat man ihn gefunden.« Die Burschen, die dem Städtchen zurannten, sahen einander an – »eben halt tot, ertrunken.« –
Jammernd und immer von neuem die Hände zusammenschlagend, folgten die zwei alten Frauen. Das Holz liessen sie liegen. »Das Kind, Gott im Himmel, das Kind!« jammerte Frau Hunziker. »Es war gar zu waghalsig! Ich bin nur froh, dass ich es gewarnt habe. Sie haben es gehört, Frau Kradolfer? Ach Gott, ach Gott.« –
Keuchend kamen sie im Städtchen oben an; da hatte sich schon die Schreckensnachricht verbreitet.
Die Leute standen zusammen und redeten aufgeregt durcheinander: »Am Kniebühl, das ist noch zu hoffen. Aber weiter unten« – die Männer schüttelten die Köpfe. Das Schifflein war alt und morsch. Es brauchte bloss ein paar Mal an einer Mauer oder Baumwurzel anzuprallen ....
»Und überhaupt, das Wasser wird gleich hereingeschlagen haben – die armen Eltern. Es ist das älteste, ein so nettes, strammes Mädchen war’s ....«
Ein alter Mann kam durch die Mahlergasse herzu und verkündete, dass das Wasser droben in Dübenberg nicht mehr steige und dass die Ferlikoner Brücke aushalte.
»Gottlob; für diesmal ist die Gefahr vorbei.«
Aber dann verstummte er, als er die ernsten Gesichter sah und von dem Unglück hörte. Niemand konnte sich nun freuen über seinen Bericht.
Da kehrten zwei von den Burschen zurück. Weder Schiff, noch Kind waren am Kniebühl zu finden gewesen.
»Jetzt ist kaum mehr eine Hoffnung«, sagte der Spenglermeister Notz.
»Wir wollen aber doch noch auf dem anderen Ufer heruntermachen bis nach Mergendorf; vielleicht weiss man dort etwas.«
»Man hat hinunter telephoniert und nach Woltersheim auch«, erwiderte der Spenglermeister; aber die Burschen waren schon davon und der Schlossermeister Gehring, der Küfer Kübler und der Jakob Wisli gingen nach. »Man muss etwas tun. Nur so dastehen kann man nicht.«
Auf der halb überschwemmten Mergendorfer Strasse kam ihnen das Trüpplein Leuenhofer Kinder entgegen. Die Kinder waren im Morast und Gestrüpp gewatet, bis sie nicht mehr aus und ein wussten. Keinen Menschen hatten sie getroffen, der etwas gewusst hätte; nur immer das schreckliche Wasser hatten sie gehört. Da waren sie still gestanden, und Sara Wiebold, die auch mitgelaufen war, sagte plötzlich:
»Am Ende haben sie das Schiff längst drüben gefunden, und Ottilie ist schon daheim!«
Ganz erleichtert kehrten die Leuenhofer Kinder um.
Aber als sie im Städtchen anlangten, sahen sie in lauter erschrockene, traurige Gesichter. Jedes der Kinder lief heim, um zu erzählen. Dann aber trieb die Unruhe sie wieder hinaus. Auf dem Marktplatz beim Brunnen fand sich die ganze Leuenhofer Klasse zusammen. Die Buben berieten, wie man es hätte machen sollen mit dem Schiff.
»Wenn wir dabei gewesen wären, so wäre es nicht so gekommen«, sagten ein paar Sechstklässler, worauf Netti aufs neue zu schluchzen begann.
Sara aber und die anderen Mädchen verteidigten sie: »Ottilie hat selber das Seil locker gemacht!«
»Netti ist nicht schuld! Sie hat gehalten, was sie konnte, fast wäre sie noch mitgerissen worden!«
Jedesmal, wenn wieder Leute den Seckelweg heraufkamen, liefen die Kinder und die Erwachsenen, die unter der Türe standen, hinzu; aber keiner wusste etwas. Nur das erfuhr man, dass Herr Schwarzbeck und der Vater von Ottilie auch gegen Woltersheim hinunter seien. Herr Eggenberg habe gezittert und kein Wort geredet. Er hatte eine grosse Bäckerei und war sonst ein aufrechter, fröhlicher Mann.
Endlich gegen acht Uhr verbreitete sich eine Schreckenskunde: Es sei ein Bub gekommen aus der Nähe vom Sperberwinkel. Man habe Ottilie gefunden, aber wahrscheinlich tot. Die Mädchen weinten laut auf. Die Buben sahen einander starr an. Man konnte es nicht fassen. Vor vier Stunden noch war sie vor der Klasse gestanden und hatte da mit ihrer frischen, hellen Stimme die Johanna Sebus noch einmal lesen dürfen:
»Der Damm zerreisst, das Feld erbraust, Die Fluten wühlen, die Fläche saust.«
Und jetzt wusste man nicht gewiss, ob sie noch lebe. Es trieb die Leuenhofer in die Mahlergasse, wo der Eggenbergerische Bäckerladen war. Keines redete, nicht einmal Sara. Sie spähten durch die halboffene Türe. Es waren viele Leute im Laden. Sie sprachen halblaut mit Luise, der Magd. Ottiliens Mutter war nicht da. Die Kinder hörten einzelne Sätze heraus:
»....hinten in der Stube ... Und wenn sie nur weinen wurde ... Aber ganz starr sieht sie vor sich hin und sagt nur von Zeit zu Zeit: Ottilie ... Ottilie ...«
Da entstand eine Bewegung auf der Strasse. Herr Eggenberg und Herr Schwarzbeck kamen daher mit ein paar Männern, die eine leere Bahre trugen. Scheu wichen die Leute, die sich angesammelt hatten, aus.
Die Leuenhofer Kinder aber drängten sich zu Herrn Schwarzbeck. Er gab allen schweigend die Hand. Dann schien es, als ob er etwas überlege. Er trat zu den Männern und sprach ein paar Worte mit ihnen; hierauf winkte er seine Schüler herbei.
»Wir wollen« – man sah, dass er Mühe hatte zu sprechen – »wir wollen zusammen unsere Ottilie holen.«
Er übersah seine Leute und erwählte acht von den Sechstklässlern. Netti aber sah ihn mit verweinten Augen flehentlich an.
»Herr Schwarzbeck darf – darf ich auch mit?«
Herr Schwarzbeck strich Netti über den Kopf. »Also dann Netti, Eva Imbach und Hedwig Bühler. Ihr seid ja Ottiliens Freundinnen.«
Die Mädchen nickten still. Vier von den Buben aber fassten die Bahre, und der kleine Zug ging die Riedauer Stalden hinunter. Hintendrein Herr Schwarzbeck und Ottiliens Vater.
Kein Wort sprachen die beiden Männer. Nur wenn die Leuenhofer Kinder sich umwandten, sahen sie, dass Herr Schwarzbeck die Hand manchmal auf Herrn Eggenbergs Schulter legte.
Gustav Brenner aber erzählte mit leiser Stimme den anderen. Seine Schwester hätte es von dem Buben aus dem Sperberwinkel gehört: Die Botenfrau habe Ottilie gefunden; sie wohne in einem einsamen Häuslein im Rappenfeld. Sie habe auch Holz aus dem Wasser gefangen, und wie sie so weiter gekommen sei, habe sie auf einmal in dem halbüberschwemmten Weidengestrüpp ein umgestürztes Schiff gesehen. Sie sei darauf zugegangen und habe das Kind gefunden. Es sei zwischen dem Schiff und einem alten Weidenstamm eingeklemmt gewesen und habe eine grosse Wunde am Kopf gehabt. Und wie die Botenfrau es hervorgezogen habe, da habe sie gemerkt, dass es kaum mehr atme. Er sei gerade das Rappenfeldersträsschen heraufgekommen und sie habe ihm gerufen, er solle nach Heimstetten laufen und sagen, was da für ein Unglück begegnet sei. Das Kind gehöre wahrscheinlich nach Heimstetten.
Schweigend hörten die Leuenhofer Buben und Mädchen zu. Es war nun fast völlig dunkel geworden. Am Himmel zogen schwarze, seltsame Wolkenfetzen dahin, und rechts unten hörte man die Illig brausen. Der Weg war schlecht; jeden Augenblick trat eines der Kinder in eine Lache, dass das Wasser hoch aufspritzte. Wie hätte man sonst darüber gelacht und geschrien; aber jetzt war alles so traurig, so unheimlich.
Endlich kam man zu dem kleinen Haus der Botenfrau, das ganz einsam im Rappenfeld lag. Ein schwaches Licht schimmerte vom Fenster. Herr Schwarzbeck drückte auf die Klinke. Das Haus war nicht geschlossen. Still traten die beiden Männer in den dunklen Raum ein bis zu einer Türe, aus der ein kleiner Lichtschein drang.
Herr Schwarzbeck sagte leise ein paar Worte zu Ottiliens Vater; dann klopfte er an.
»Herein!« rief drinnen eine tiefe Stimme. Herr Schwarzbeck öffnete. Die Kinder, die die Bahre vor das Haus gestellt hatten, traten scheu hinter den zwei Männern in die Stube.
Eine grosse, starke Frau mit grauem Haar drehte sich um; sie war eben daran, ein Ruch auszuwinden über einer Waschschüssel, die neben der Lampe auf dem Tisch stand. Und auf dem Bette lag Ottilie; ihr Gesicht war von der Lampe beleuchtet; ihre nassen Zöpfe lagen über dem blau und weissen Kopfkissen.
Beklommen sahen die Kinder hin – aber jetzt! Nein! War es möglich – Sah man recht? – Jetzt schlug Ottilie die Augen auf und sah nach den Eintretenden.
Fast erschrocken schrien die Kinder auf: »Ottilie!« Und »Ottilie!« rief auch der Vater und stürzte gegen das Bett und kniete, um ganz nahe zu sein, nieder und streichelte sein Kind über das nasse Haar, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, dem starken Mann, der gewiss seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte.
Herr Schwarzbeck trat auch herzu: »Gott sei Lob und Dank! Kind, Kind«, sagte er, »welchen Schrecken haben wir um dich gehabt!«
Ottilie sah Herrn Schwarzbeck und versuchte zu lächeln. Dann aber ging ein schmerzliches Zucken über ihr Gesicht und sie schloss die Augen wieder.
»Ja«, sagte jetzt die Botenfrau »und wie bin ich erschrocken, als ich das Kind fand und es aufrichten wollte und es kein Lebenszeichen gab. Die Augen zu und ganz kalt! Da ist wohl keine Hilfe mehr, habe ich gedacht und als ich den Buben sah, hab ich ihn mit der Botschaft geschickt.«
Sie wechselte, während sie mit halblauter Stimme erzählte, das nasse Tuch auf Ottiliens Kopf. Da sah man die tiefe Wunde, die quer von der Schläfe nach vorn lief und aus der noch das Blut sickerte.
»O, o«, sagte Ottiliens Vater erschrocken. »Armes Kind! Aber ich hab dich wieder. Gott, o Gott! Ich hab dich wieder!«
Ottilie schien nicht zu hören, was gesprochen wurde; sie lag bewegungslos, wie im Schlaf.
»Ja«, fuhr die Botenfrau fort, »es ist mir leid. Sie haben etwas ausgestanden.« Sie streckte Ottiliens Vater die Hand hin. »Es wäre besser gewesen, ich hätte den Buben nicht gleich geschickt; aber was tut man nicht im Schrecken. Erst, wie ich es in der Stube gehabt habe – Herrjeh, wie hing es mir doch so leblos über der Achsel beim Tragen – triefend und ganz kalt. Dann in der Stube merkte ich, dass das Herzlein doch noch schlug. Aber der Bub war schon weit und ich hatte niemand zum Schicken. Die längste Zeit kommt manchmal kein Mensch vorbei, und ich selber habe nicht wegkönnen. Es ist mir leid. Es wird auch eine Mutter haben, das Kind?«
»Ja, wahrhaftig« sagte Herr Schwarzbeck, »die Mutter, und fast hätten wir sie vergessen ob der Freude und dem Staunen.« Er winkte den Kindern. Sie folgten ihm alle hinaus. Und in dem dunklen Vorraum konnten sie nun endlich ihrer Freude und allem, was sie bewegte, Ausdruck geben.
»Herr Schwarzbeck! Wie das gewesen ist, wie wir in die Stube gekommen sind und gemeint haben, Ottilie sei vielleicht tot und sie dann auf einmal uns angeschaut hat. Ganz erschrocken ist man! Wie in einer schönen Geschichte war es! wie im Schneewittchen! – Kann jetzt Ottilie lange nicht in die Schule? – Haben Sie gesehen, Herr Schwarzbeck, die Haare waren ganz blutig! – Wenn die Botenfrau sie nicht gefunden hätte, Herr Schwarzbeck, wäre sie dann gestorben?« –
Aber Herr Schwarzbeck antwortete nicht. »Hans Kündig und Felix Kleinhans – ihr habt die längsten Beine. Lauft und sagt bei Eggenbergs, dass Ottilie lebt. Stürmt nicht die Treppe hinauf, sondern sagt es unten im Laden.«
»Ja, der Magd, der Luise«, rief Hans Kündig, indem er den Hut auf seinem Kopf festdrückte. Mit ein paar grossen Sätzen sprang er durch die Pfützen, Felix Kleinhans nach. Beinahe hätten die beiden einen Mann umgerannt, der in der Dunkelheit daherkam.
»Geht’s da zur Botenfrau?« fragte er.
»Ja, ja«, riefen die Buben weiterrennend zurück. »Gleich hinter den Bäumen ist das Haus« –
Der Herr ging ein paar Dutzend Schritte weiter. Dann zündete er seine Taschenlampe an. –
»Herr Schwarzbeck« –
»Herr Doktor« –
Der Herr Doktor war auf die Kunde von dem Unglück dahergeeilt.
Die Leuenhofer Kinder umringten ihn. Alle kannten ihn. Ausserdem war er Evas Onkel.
»Herr Doktor, denken Sie«, »Onkel denk«, bestürmten sie ihn und alle riefen und redeten durcheinander. Aber das verstand der Herr Doktor doch, dass gottlob Ottilie nicht tot war, und das war die Hauptsache.
Rasch ging er mit Herrn Schwarzbeck in die Stube der Botenfrau. Die Leuenhofer Kinder blieben im Vorraum, der nur spärlich erhellt war durch eine kleine, alte Stallaterne. Die Buben und Mädchen fanden allerlei Sitzgelegenheiten: eine Bank, einen Schubkarren, einen Sack Kartoffeln und schwatzten da weiter von der so ganz wunderbaren Begebenheit und was sie gedacht und nicht gedacht hätten.
Netti Tobel aber, die sich wieder ganz erholt hatte von Schrecken und Tränen, hielt das Stillsitzen nicht aus, sondern zündete mit der Laterne überall herum und machte eine Türe, die zu einem kleinen Stall führte, auf, wo sie zu ihrer Freude in einer Kiste Kaninchen entdeckte. Sie waren eng aneinander gekauert und blinzelten mit ihren roten Augen in das Licht, ängstlich und erstaunt; denn sie hatten schon geschlafen.
Dann kamen der Herr Doktor und der Herr Schwarzbeck heraus.
»Kinder! Wir dürfen Ottilie heimnehmen!« rief Herr Schwarzbeck fröhlich. »Bringt die Bahre hier vor die Türe.«
Die Bahre! Ottilie auf der Bahre heimtragen, die wiedergefundene Ottilie! – Jeder wollte an der Bahre anpacken. Aber es fanden denn doch alle, dass man jetzt nicht hin und herstreite.
Der Herr Doktor trug Ottilie, die leise wimmerte; denn die Untersuchung der Wunde hatte weh getan. Hinter den Herrn Doktor kam die Botenfrau mit Kissen und Decken.
»So, so«, sagte er, indem er behutsam Ottilie auf die Bahre bettete. »Noch ein Kissen und noch eins – Ganz weich und warm gebettet ist man jetzt, und wie eine Prinzessin mit grossem Gefolge kehrt man heim.«