Die Turnachkinder im Winter - Ida Bindschedler - E-Book

Die Turnachkinder im Winter E-Book

Ida Bindschedler

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Beschreibung

Der zweite Band des beliebten Schweizer Kinderbuch-Klassikers über das Aufwachsen der Turnachkinder Mitte des 19. Jahrhunderts: Anders als die Sommerzeit, die die Familie Turnach auf dem Land am Zürichsee verbringt, bleiben sie den Winter über in der Stadt. Der Alltag in der Schule sowie Erlebnisse im Zusammenhang mit Zivilcourage und Freundschaft stehen im Zentrum und sprechen bis heute junge Leser an!-

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Ida Bindschedler

Die Turnachkinder im Winter

Mit vielen Bildern

Saga

Die Turnachkinder im WinterCoverbild / Illustration: Pixabay: winter-wonderland-1082511 Copyright © 1909, 2020 Ida Bindschedler und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726583847

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

DIE REISE NACH LARSTETTEN

Der Mittwoch, an welchem die Familie Turnach in die Stadt ziehen wollte, rückte heran. Aber die Kinder hatten nicht Zeit, an den Umzug zu denken. Am Montag war ganz plötzlich ein Brief von Tante Doktor gekommen, in welchem sie Hans, Marianne und Lotti für die Herbstferien einlud.

„Papa, Papa, bitte, gelt, wir dürfen —!“ riefen die drei, als Papa ins Zimmer trat.

„Ja, das ist nun die Frage“, sagte Mama zu Papa gewendet. „Niemand hat am Mittwoch Zeit, die Kinder nach Larstetten zu begleiten —“

„O, Mama, wir können allein reisen!“ bat Hans. „Ich will gewiß acht geben und alles recht machen! In Konradzell müssen wir aussteigen und auf der andern Seite vom Stationshaus eine halbe Stunde warten. Der Zug für Larstetten steht dann schon da, und man kann zusehen, wie sie die Lokomotive heizen.“

„Ja, Mama!“ flehte Lotti. „Es ist so furchtbar lustig, allein zu reisen! Ich will aber mein Billet selber haben, Hans!“ Sie zog ein dickes altes Portemonnaie heraus. „Da, in das Extrafach kommt es.“

„So“, meinte Hans,.„und dann, wenn du es dem Kondukteur zeigen mußt, ist es natürlich nicht mehr da. Ich wollte wetten.“

„Vielleicht verlierst du deines noch vorher!“ erwiderte Lotti kampflustig.

„Kinder, das heißt man nun, um die Haut des Bären streiten, bevor man ihn hat!“ sagte Papa. Aber die Kinder merkten, daß er nichts Ernstliches gegen die Reise hatte.

„Sie sollen es einmal versuchen“, wendete er sich zu Mama. „Wenn sie in Konradzell aus Versehen den Zug nehmen, der zurückfährt, dann behalten wir sie eben wieder da.“

„Nein, nein, Papa, wir passen schon auf! Also dürfen wir —? ja —? Juhuh!“

„Mama“, rief der kleine Werner, der merkte, daß es sich um ihn gar nicht handle, „ich will auch mit!“

„Ach, Wernermännchen, du bist noch zu klein; du bleibst bei mir und bei Sophie und bei dem Schwesterlein.“

„Nein!“ rief Werner kläglich. „Ich will auch nach Larstetten! Ich will auch sehen, wie man die Loko — die Lokotomotive heizt!“

Es dauerte lange, bis Werner sich zufrieden gab mit dem Versprechen, er dürfe im nächsten Jahre ganz bestimmt nach Larstetten reisen.

Am Dienstag nachmittag wurde gepackt. Hans rannte mit den Schwestern hinauf in die Bodenkammer, um das Handköfferchen zu holen und die Rolle.

„Die Botanisierbüchsen hängen wir auch um; da geht viel hinein!“ beschlossen die Kinder.

„Und ich brauche eine Schachtel, Sophie“, erklärte Lotti. „Ich will Trudi alle meine Muscheln mitbringen.“

„Ich wüßte für Otto etwas“, sagte Hans, “— etwas ganz Feines. Eigentlich hat Fritz Völklein ihn für mich gemacht; aber weil am Samstag Ottos Geburtstag ist — ja, ich bringe Otto den Bogen mit den Pfeilen!“

Marianne aber ging, ihre Puppe, das Julchen zu holen, das nun auch einmal auf der Eisenbahn fahren sollte.

„Das gibt ein hübsches Handgepäck!“ sagte Mama lachend, als zu dem Köfferchen, der Rolle, den zusammengeschnallten Schirmen und den Botanisierbüchsen noch der Bogen, die blaue Schachtel und die Puppe kamen. „Ich will gern hören, wie viel von dem allem wirklich in Larstetten ankommt.“

„Wir lassen nichts liegen“, versicherte Marianne. „Onkel Alfred hat mir ein gutes Mittel gesagt: Wie er nach London und noch viel weiter gereist ist, habe er immer beim Aussteigen gedacht: Jetzt nur ruhig Blut; vier Stück müssen es sein.“

„Eins — zwei — drei“, zählte Hans “— neun; das ist eine Zahl, die man gut im Sinn behält.“

„Man wird den Kindern etwas zum Essen mitgeben müssen, Frau Turnach?“ meinte Sophie. „Sie fahren über Mittag.“

„Mama“, bat Hans, „in Sommerweil hält der Zug zehn Minuten; da hat uns Papa das letztemal warme Würstchen geholt und Semmel. Bitte, dürfen wir’s auch so machen, Mama! Weißt du, alles ganz wie rechte Reisende.“

„Also, Hans! wie rechte Reisende, vernünftig und besonnen!“

 

Der Zug fuhr um elf Uhr ab. Aber schon um halb elf standen die Turnachkinder in der Einsteigehalle.

„Das Ganze dauert dann länger“, erklärten sie.

Die Turnachkinder reisten selten. So eine Eisenbahnfahrt mit allem, was drum und dran hing, war ein ungeheures Vergnügen.

„Ah, das riecht schon so schön nach Reisen!“ rief Lotti, die mit der Schachtel unterm Arm und den Schirmen in der Hand neben Hans stand. Sie schnupperte den Rauch ein, der die Halle erfüllte.

Hans aber war in die Betrachtung einer Lokomotive versunken. Ein Mann wischte mit einem Lappen an den Rädern und Stangen; es sah aus, als ob er das schwarze Ungetüm streicheln wollte, weil es so brav gelaufen war.

„He — phäs — tos, was heißt das?“ fragte Hans den Fritz Völklein, der auf Frau Turnachs Bitte die Kinder begleitet hatte.

„Hephästos hieß bei den Griechen der Gott der Schmiedekunst“, erklärte Fritz. „In seiner Werkstätte war viel Feuer und Getöse; also paßt der Name nicht schlecht für eine Lokomotive.“

Marianne war vorn stehen geblieben und sah dem Strom von angekommenen Leuten nach. Männer rollten Handwagen vorbei mit hochaufgetürmten Koffern. „Rom“ stand auf dem einen. Das war ziemlich unten auf Papas Wandkarte. „Frankfurt, Dres-den“ buchstabierte Marianne weiter. Wie viel Städte es gab und eine Menge fremder Menschen darin! Draußen in der Seeweid dachte man gar nicht an das ...

„Hallo, Marianne! Einsteigen!“ rief Fritz Völklein. „Einsteigen oder dableiben!“

Er brachte die Kinder in den Wagen. Marianne und Lotti eroberten glücklich zwei Fensterplätze, und Hans stellte sich zwischen sie; so konnte man alles sehen und besprechen.

Die Gepäckstücke machten einige Schwierigkeiten. Der Bogen wollte nicht oben auf dem Köfferchen bleiben, und Lottis Botanisierbüchse fiel auch zweimal herunter, ihr fast auf die Nase.

„Na, ich muß sagen — so ein Kram!“ brummte ein älterer Herr mit grauem Backenbart und grauer Reisemütze. „Ihr wollt wohl nach Amerika auswandern —? Übrigens seid ihr dann nicht im rechten Zug!“

„Nein, wir reisen nur nach Larstetten in die Ferien!“ sagte Lotti und sah den Herrn vergnügt an. Der aber faltete eine große Zeitung auseinander und verschwand dahinter mit samt seinem Backenbart und seiner Mütze.

Fritz gab noch Ermahnungen:

„Nicht zum Fenster hinauslehnen, Lotti! Weißt, auf der Eisenbahn geht alles rasend geschwind. Im Hui saust man an eine Telegraphenstange und — weg der Kopf! Ja, lach nur!“

Dann schüttelte er den Kindern die Hand:

„Lebt wohl, lebt wohl! Grüßt mir den Otto und das Trudi!

 

Otto soll ordentlich umgehen mit dem Bogen. Au — Hans! laß los!“

Fritz sprang ab. Der Zug tat einen Ruck und fing an zu pusten und zu rasseln: Tem — tem — tem — langsam und dann immer rascher: Temteretem, temteretem — Die Kinder sahen einander strahlend an; jetzt ging’s los! Fast vergaßen sie draußen Fritz Völklein, der schon weit zurück war und den Hut schwenkte.

„Ade, ade!“ Die Kinder winkten mit den Taschentüchern, und Lotti ließ das ihre flattern, als schon lange kein Fritz mehr zu sehen war, bis plötzlich — hui! nicht zwar Lottis Kopf, aber das Taschentuch davon flog. Die Kinder schrien auf.

„Das fängt gut an!“ brummte der Herr mit der Mütze.

„Es war nur ein altes mit zwei Löchern; Mama hat mir’s mitgegeben, die Hände abzuwischen“, beruhigte Lotti.

Aber das Gesicht des Herrn war schon wieder hinter der Zeitung. Nicht ein einziges Mal sah er hinaus, und es gab doch so ungeheuer viel zu sehen: Die Geleise mit den Weichen und Signalen, die Schuppen und Werkstätten, ein halbrunder Raum, in dem die Lokomotiven standen wie Pferde im Stall. Dann sauste der Zug hinaus aus der Stadt an Gemüsegärten und Wiesen vorbei; von ein paar neuen Häusern lachten Kinder herunter; am Bahndamm arbeiteten Italiener.

„Guckt, guckt!“ rief Lotti. „Die Telegraphendrähte sind lebendig! Sie hüpfen hinunter, da — ganz tief! und wenn die Stange kommt, springen sie wieder hinauf! Nein, wie lustig!“

Aber als der Zug an einem großen Walde vorbeifuhr, wurde es noch lustiger. Die Bäume tanzten; alle wirbelten durcheinander, hohe Buchen und niedrige junge Tannen; diese drehten sich wie Mädchen in grünen Röcken. Zuletzt wurde einem selbst wirblig zu Mut. Marianne schloß die Augen und hörte auf das Temteretem des Zuges:

„Jetzt ist mir, als führe der Zug rückwärts — nein, das wäre gräßlich, wenn es wieder zurückginge —!“

Marianne riß die Augen auf, um sich zu versichern, daß man in der Richtung nach Larstetten fahre, und Lotti machte das Experiment nach. Dann fingen beide an zu singen nach dem Takte des rasselnden Wagens. Draußen flogen die Hügel vorbei und die Felder, wo die Bauern pflügten und einen Augenblick aufsahen nach dem Bahnzuge. Hin und wieder hielt man an einem mit Weinlaub umsponnenen Stationshaus. Hans schrieb sich die Ortsnamen in sein Notizbuch und allerlei dazu; später sollte das eine Reisebeschreibung geben.

Nun ging’s an einer großen Fabrik vorbei; links und rechts standen Häuser und Warengebäude; die Schienen verzweigten sich; der Zug pfiff und bremste.

„Sommerweil!“ rief Hans und steckte sein Notizbuch ein. „Jetzt also die Würstchen! Ihr bleibt ruhig sitzen, Marianne! Die Restauration ist weit vorn.“

Er sprang ab und verschwand in der Menge der Reisenden.

„Wenn er nur recht warme bringt!“ sagte Lotti, indem sie sich auf den Magen klopfte.

Es stiegen Leute aus und ein; Marianne sah immer nach Hans aus.

„Hoffentlich kommt er bald. Es ist, glaub’ ich, höchste Zeit; alles rennt hin und her.“

Da, auf einmal — die Mädchen sahen sich starr an — begann der Zug zu fahren, wegzufahren ohne Hans —! Entsetzt schrien beide:

„Hans! Halten, halten —! unser Bruder ist noch nicht da —“

Unter lautem Weinen liefen sie an die Türe des Wagens.

„Hans, Hans —!“ schrie Lotti und wollte vom Tritt abspringen. Ohne Hans konnte man doch nicht fahren!

Aber da stand breit ein Kondukteur auf der untern Stufe und versperrte den Weg:

„Oha, mein Fräulein! im Fahren springt man nicht ab!“

Und Marianne wurde ebenfalls zurückgehalten, und zwar von dem Herrn mit der grauen Mütze, der sie fest am Rockzipfel gepackt hatte.

Von außen aber ertönte auch ein Geschrei. Es war Hans, der im größten Schrecken dahergerannt kam.

„Halt, halt!“ rief er atemlos. „Ich muß mit; ich muß zu meinen Schwestern —“

Vor Aufregung und Jammer bemerkte keins von den Kindern, daß der Zug seinen Lauf wieder verlangsamte.

„Da!“ sagte der Herr mit der Mütze. „Jetzt steht er! Sie hängen ja bloß einen Wagen an. Wie kann man gleich so den Kopf verlieren —!“

Er ließ Marianne los und setzte sich wieder mit seiner Zeitung. Die andern Reisenden lachten. Hans aber kam hereingestürzt; er konnte noch kaum reden vor Überraschung und Schrecken, und den Schwestern liefen die Tränen herunter. Doch als dann Hans das Papier aufmachte, wischte sich Lotti die Augen.

„Hast du doch keine Wurst verloren?“ fragte sie.

Nein, es waren alle drei da und auch die Semmel. Und nun schmeckte nach der überstandenen Angst das Mittagessen doppelt gut; dazu erzählte man sich immer wieder, wie furchtbar es gewesen sei, als der Zug plötzlich angefangen hatte zu fahren.

„Das brauchst du nicht aufzuschreiben, Hans! das behältst du gewiß im Sinn“, sagte Marianne, während sie die Botanisierbüchse aufmachte, in welche die gute Frau Völklein Butterbirnen und Fenchelbrötchen gepackt hatte.

In Konradzell nahm Hans sich vor, recht vernünftig und besonnen zu sein, wie Mama ihm anempfohlen hatte, und stellte sich mit den Schwestern nahe zum Larstetterzug. Es war nicht seine Schuld, daß gegen Ende der halben Stunde Wartezeit vorn beim Güterschuppen ein Kälbchen jämmerlich zu brüllen anhub.

„O, das Arme!“ sagte Marianne und lief hin. Hans und Lotti folgten und entdeckten, daß das Kälbchen über eine Stufe hinuntergerutscht war und nicht mehr aufstehen konnte, weil der Strick zu straff zog. Es lag auf den Knien und sah die Kinder mit seinen großen Augen an. Hans legte das Gepäck weg und versuchte, das Kälbchen hinaufzubringen. Es ging aber schwer. Das Kälbchen, das vielleicht auf seiner Reise schon allerlei Böses von groben Leuten und großen Hunden ausgestanden hatte, begriff nicht, daß die Turnachkinder ihm helfen wollten. Es benahm sich störrisch und brüllte fort und fort. Schließlich, als Lotti und Marianne mit aller Kraft von hinten schoben, kam es doch wieder auf die Beine. Hans band den Strick fester, damit das Kälbchen nicht noch einmal die Stufe hinunterfalle.

„Reiß halt nicht so, sondern steh still!“ mahnte er, indem er das Tier auf den rauhhaarigen Rücken patschte.

Da ertönte eine laute, ärgerliche Stimme; die Kinder wandten sich zurück; es war der Herr mit der Mütze, der zu einem Waggonfenster hinaussah:

„Was ist —? wollt ihr nach Larstetten oder nicht? Im Augenblick fahren wir ab!“

Die Kinder rafften ihre Sachen zusammen und rannten zum Zug; der Kondukteur schob sie scheltend hinein, pfiff, und fort ging’s!

„Grad noch recht!“ sagte Marianne aufatmend.

Hans aber fuhr sich übers Haar. Das Reisen war doch eigentlich schwieriger, als man meinte. Indessen begegnete nun weiter nichts mehr, und nach einer kleinen Stunde sah man schon den Weißberg und die rote Turmspitze von Larstetten. Die Kinder griffen nach ihrem Gepäck.

„Nur ruhig Blut!“ sagte Marianne. „Neun Stück müssen es sein.“

Wahrhaftig! alle neun Stück waren noch beisammen.

„Und Mama hat gemeint, wir verlieren die Hälfte“, sagte Marianne draußen, als ihr plötzlich aus dem Fenster ihre Jacke, die sie ausgezogen hatte, auf den Kopf flog.

„So“, sagte der Herr mit der Mütze, der die Jacke nachgeworfen hatte, „jetzt ist es mir dann aber recht, wenn ich nicht mehr Kindswärterin sein muß!“

„Er hat immer gebrummt; aber eigentlich war er doch nett!“ fand Lotti, als sie hinter Hans über die Schienen hüpfte.

Ein lautes Freudengeschrei empfing die Turnachkinder; denn am Stationsgebäude standen nicht nur Otto und Trudi, sondern noch etwa zwei Dutzend andere Larstetter Buben und Mädchen.

Larstetten war ein ganz kleiner Ort. Daß die Doktorskinder Besuch bekamen, war ein Ereignis; alle Freunde und Freundinnen wollten am Abholen teilnehmen. Zuerst zwar ließen sie Otto und Trudi mit ihren Gästen vorausgehen und folgten kichernd und sich stoßend. Aber als Otto sich umdrehte, um Lehrers Bernhard den schönen Bogen zu zeigen, kamen alle Buben herzu, und die Mädchen rückten auch näher, um zu hören, was da von einem Taschentuch, einem Kälbchen und von Würsten erzählt wurde.

„Du“, fragte Marianne Uhrenmachers Pauline. „Lebt doch der Peter noch?“

Der Peter war ein zahmer Rabe, den die Turnachkinder von früher kannten.

„Freilich“, sagte Pauline. „Und wir haben jetzt noch eine Merkwürdigkeit in Larstetten. Wir haben eine Amerikanerin —“

„Ja, und sie ist fast immer dabei, wenn wir etwas Lustiges machen“, fiel Otto ein.

„Sie hat einen kuriosen Namen“, erklärte Pauline weiter. „Auf deutsch heißt’s Edith; aber wenn man englisch reden will, muß man sagen Idiß —“

„Eigentlich Idifs“, erklärte Trudi.

„Nein, Idids“, verbesserte Otto. Er machte einen seltsamen Mund und steckte die Zunge zwischen die Zähne, um das schwierige englische th herauszubringen.

Nun versuchten alle Larstetter- und auch die Turnachkinder ihre Kunst:

„Idids, Idifs, Idiß —“ ging es durcheinander, als die Schar zum Städtchen hinein und über den kleinen Kirchenplatz kam.

„Was wollen Sie?“ antwortete eine frische Stimme aus dem Pfarrgarten. „Tun Sie nicht stören mich!“

Die Kinder traten ans Gitter. Vor dem Hause neben Frau Pfarrers Oleanderbäumen stand ein etwa dreizehnjähriges Mädchen mit einer hellblauen Schleife im braunen Haar und versuchte, ein graues Kätzchen auf den Rücken des großen weißen Pfarrspitz zu setzen. Der Spitz knurrte. Er war ein wackeres Tier und wußte manches Kunststück zu machen; aber was ihm nun da zugemutet wurde, ging doch über alles Maß. Und das Kätzchen wollte auch nicht, sondern miaute ärgerlich.

„Was machst du?“ rief Otto. „Das geht nicht!“

„Ich gebe Lektion an diese Tieren“, sagte Edith. „Ich auch muß lernen bei Onkel Pfarrer jedes Vormittag. Guten Abend, kleine Mädchen! guten Abend, kleine Knabe!“ wandte sie sich den Turnachkindern zu, während die kleine Katze die Pause benutzte, um auf das Fenstersims zu springen, von wo sie mit feindselig erhobenem Schwanze auf den Spitz herabsah, der sie anbellte.

Hans bot Edith höflich die Hand, obgleich die Anrede ihn etwas kränkte. Des Mädchens Augen aber fielen auf den Bogen.

„Feiner Gewehr!“ sagte sie anerkennend. „Zeig, Otto —“

Sie spannte den Bogen und schoß den Pfeil hoch zum Dach des Waschhauses hinauf.

„Schlecht getrefft!“ rief sie. „Ich habe wollen durch den Loch von die Kamin.“

Lotti lachte hell auf, weil Edith alles so verkehrt sagte.

„Warum lachen Sie?“ fragte Edith scheinbar ernsthaft. „Es ist sehr traurig, daß deutsche Sprache hat so viel unnütze Worten: der, die das, dem, den — horrible!“

Edith wollte eben den Bogen noch einmal spannen. Aber um die Ecke kam Tante Doktor.

„Ja — Kinder! wo bleibt ihr denn stecken mit Sack und Pack —? Aha, Edith —! Nun, trennt euch jetzt für einmal, in unserm Larstetten findet man sich ja immer wieder.“

„Wir wollen sein Freunde“, sagte Edith, indem sie den Turnachkindern die Hände schüttelte.

„Gud bei!“ rief Otto sich verabschiedend in den Pfarrgarten zurück. „Das bedeutet nämlich, leb wohl“, erklärte er Hans. „Man schreibt es aber g-o-o-d b-y-e. Im Englischen ist die Hauptsache, daß man alles ganz anders sagt, als es eigentlich heißt.“

Die Tante Doktor hatte Mühe, die Kinder vor sich herzutreiben. Immer drehten sie sich wieder um:

„Gud bei, Idifs, gud bei!“ Besonders die Turnachkinder fanden es prächtig, nun auf einmal englisch sprechen zu können.

WIE ES AUF DEM LARSTETTER JAHRMARKT ZUGING

Jedes Jahr im Herbst war Markt in Larstetten. Das war immer ein großes Vergnügen. Schon in aller Frühe wurden die Kinder am Freitag geweckt. Wagen mit quiekenden Schweinen rasselten über das holperige Pflaster. Laut schwatzende Frauen kamen daher mit Körben auf dem Kopfe. Einige Buben mußten bereits Einkäufe gemacht haben; schrille Pfeifen- und Trompetentöne drangen herauf.

„Geld habe ich ziemlich viel“, sagte Trudi beim Frühstück. „Ich hab noch zuletzt vier Zehner verdient!“

„Potz! mit was denn?“ fragte Hans.

„Ja, es war gar nicht so lustig. Allemal am Samstag haben wir zwei Stunden lang gejätet. Man bekommt einen ganz steifen Rücken. Aber ich hab immerfort an das Karussell gedacht. Im ganzen hab ich 70 Rappen Marktgeld.“ Trudi klapperte freudig mit der gelben Hornbüchse, die ihr als Börse diente.

Die andern überzählten auch ihren Besitz. Mama hatte den Turnachkindern zum Glück etwas Taschengeld mitgegeben. Eilig ging’s nun auf die Straße hinunter. Es war kalt und neblig. Undeutlich tauchten die Merkwürdigkeiten des Larstetter Marktes aus der weißen Luft auf. Vor dem Doktorhaus befand sich ein Stand mit Mützen und Hüten, daneben einer mit Schuhen und einer mit geblümten Stoffen; das war nicht besonders interessant. Dann aber kam eine Geschirrbude, von der man die Mädchen nicht wegbrachte; denn sie hatten einen Korb mit Puppengeschirr entdeckt, mit kleinen Tassen, Milchkrügen und braunen Tiegelchen, die man aufs Feuer stellen konnte. Marianne und Lotti kauften zusammen ein weiß und gelbes Töpfchen, und Trudi nahm sechs kleine blaue Teller, die ihr die Händlerin zu 40 Rappen erließ. Dann ging’s weiter. Aber auf einmal, als Marianne zurücksah, war Trudi stehen geblieben.

„Was hast du?“ fragte Marianne.

„Mir ist —“ Trudi schluckte halb weinend. „Mir ist eingefallen, daß ich jetzt schon viel weniger Geld habe. Und ich wollte noch Abziehbilder kaufen und eine Waffel — und dann das K — K —“

Das Karussell blieb im Halse des schluchzenden Trudi stecken.

Da beschlossen Marianne und Lotti, dem von Reue gequälten Cousinchen zwei Teller abzukaufen, worauf Trudi wieder lachte und mit den beiden die Buben einholte, die vor einem Mann in grünem Rock standen. Er hatte keine Bude, nur einen Tisch; aber er redete sehr viel und sagte, er könne alles, was zerschlagen sei, wieder ganz machen.

„O weh, o weh, o weh!“ rief er und hielt zwei Scherben in den Händen mit einem schrecklichen Gesicht des Jammers, der sich plötzlich in die größte Heiterkeit verwandelte, sowie die Stücke wieder aneinander waren.

„Wenn ich nur solche Grimassen machen könnte!“ sagte Otto bewundernd und stellte einige Versuche an.

Marianne aber wurde gegenüber festgehalten. Da saß eine Frau vor einem Kissen, in dem sehr viele Nadeln steckten mit Fäden, und an jedem Faden hing ein Hölzchen. Wenn die Frau die Hölzchen recht rasch übereinander warf, so entstand eine schöne Spitze. Es war wie eine Zauberei. Hans mußte Marianne schließlich am Arm fortziehen.

Die Dreißigrappenbude war weiter oben. Viele Leute standen schon davor. Es war aber auch zum Stillstehen. Hier konnte man alles, geradezu alles haben: Puppen, Dominospiele, Malhefte, Federnschachteln, Perlschnüre, Handwerkszeug, nette Taschenmesser, kleine Käfige mit gelbwollenen Vögeln, Uhren, kurz, was sich nur denken ließ.

„Hört“, flüsterte Lotti. „Balbine hat einmal gesagt, man solle nie so schnell sein auf dem Markt; sie halte immer die Hand in der Tasche und spaziere zuerst bloß so vorbei.“

Doch kaum hatte Lotti den weisen Rat gegeben, so schrie sie laut auf:

„O, o, ein Kaleidoskop!“

„Ein — was?“ fragte Trudi.

„Ein Kaleidoskop!“ Und Lotti fuhr mit der Hand, die sie hatte in der Tasche behalten wollen, nach einer kleinen mit lila Papier überzogenen Röhre. „Man guckt hinein und dreht es. Dann sieht man lauter gelb und rot und blaue Figuren, die sich immer bewegen, Trudi! Wie lebendige Sterne. Es ist furchtbar nett!“

„Jetzt geht es dir dann wie vorhin dem Trudi!“ warnte Otto; aber im selben Moment fiel sein Auge auf einen Kompaß.

„Hans, sieh —!“

„Ach, das kann doch kein rechter Kompaß sein für 30 Rappen —“ sagte Hans leise.

„Doch, doch“, erwiderte Otto eifrig. „Sieh, das ist Norden, und dann kommt Nordwest! Wenn ich im Sommer wieder bei euch bin und wir im dicken Nebel auf den See hinausfahren, so haben wir mit dem Kompaß immer die Richtung!“

„In den Sommerferien gibt es ja gar keinen dicken Nebel.“

Otto ließ sich jedoch nicht abbringen. Entschlossen zählte er sein Geld heraus.

„Ich häng ihn gleich um. Hans, gib mir ein wenig Bindfaden!“

Hans hörte nicht. Er hatte einen kleinen Hammer ergriffen und wiegte ihn in der Hand:

„Genau so einen hätte ich eigentlich schon lang gebraucht —“

„Hans!“ flüsterte Marianne. „Wir haben ja zwei daheim. Besinn dich doch noch —“

Plötzlich aber entdeckte sie eine kleine Schachtel, hinter deren Glasdeckel vier Strähnchen bunter Perlen lagen. Da vergaß sie selbst das Besinnen, und im gleichen Augenblick, da Hans seinen Hammer von der Händlerin in Empfang nahm, bot ihr der Mann die eingewickelte Perlenschachtel herüber.

So, jetzt waren alle fünf Kinder ungefähr gleich weit in ihren Finanzen. Balbine hatte gut reden! Vor diesem Dreißigrappenstand wäre sie gewiß auch nicht vorbeispaziert mit der Hand in der Tasche!

Nun war es aber höchste Zeit, weiter zu gehen. Trudi stand in Gefahr, sich schon wieder in einen Handel einzulassen.

„Trudi, du bist wirklich zu dumm!“ sagte Otto. „Eine Uhr, die nicht geht —!“

„Aber man kann ja den Zeiger drehen. Und von meinem Platz in der Schule sehe ich grad auf den Kirchturm; da könnte ich die Uhr immer richten —“

„Bis Herr Fink sie dir wegnimmt! Nein, Trudi —!“ Otto zog die Schwester aus dem Bereich der verführerischen Uhr weg. „Komm, jetzt gehen wir zu den Waffeln!“

Die Waffelbude stand an der Ecke des Seilergäßchens. Ohne sie ließ sich der Larstetter Jahrmarkt nicht denken. Es war ein Hauptvergnügen, da eine frische braungebackene Waffel zu kaufen, nachdem man eine Weile zugesehen hatte, wie die dicke Frau in der Haube die langstielige Form in den Teig tauchte, dann in die Pfanne hielt und hierauf den fertigen Kuchen von der Form klopfte und mit Zucker bestreute.

Von ihren Waffeln herunterbeißend lenkten die Kinder ihre Schritte zur Halde. Die Sonne schien jetzt hell, und von der Sägenwiese herauf tönte lustig und einladend die Musik des Karussells.

„So, und den Lebkuchen für die Josephine!“ rief Otto plötzlich anhaltend. Josephine war die Köchin.

„Dort hat’s Lebkuchen!“ deutete Lotti in eine Seitengasse, wo auch noch ein paar Buden standen. Ein altes Männlein saß da und hielt Lebkuchen feil.

„Beim Rathaus ist ein viel größerer Stand“, meinte Otto. „Dort kaufen alle Leute.“

„Vielleicht hat der Mann aber auch gern, wenn man zu ihm kommt“, erwiderte Marianne und ging zu dem Alten, der freundlich nickte.

„Brav einkaufen! Lauter gute Ware!“ rief er und legte seine Lebkuchen her.

„Wir möchten einen für zehn Rappen“, sagte Otto.

„Fünf Kinder und bloß einen kleinen Lebkuchen —?“ Der Alte machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Wir haben eben schon Waffeln gekauft, und jetzt möchten wir zum Karussell“, erklärte Lotti.

„O jeh, o jeh! heut geht das Geschäft doch gar nicht!“ jammerte das Männchen. „Es kommt kein Mensch da vorbei, und wenn einer kommt, so hat er schon eingekauft. O jeh!“

Betrübt schob er die Pakete wieder zusammen.

Die Kinder sahen einander an und berieten leise, bis sie zu dem Entschluß kamen, zusammen einen runden Lebkuchen für 25 Rappen zu kaufen.

„So ist’s recht!“ sagte das Männlein und suchte den bestgeformten Kuchen aus. „Und wenn man etwa bei euch zu Haus noch mehr brauchen sollte, so denkt an mich.“

Die Kinder versprachen es. Es war jedoch schwer, das Lebkuchenmännlein im Sinn zu behalten. Auf der Sägenwiese gab es neben dem Karussell noch ein Kasperletheater; das war über alle Beschreibung lustig. Am Nachmittag war große Vorstellung. Es trat ein Sultan Schuri-muri auf mit seinem Diener Karabatschi, und dann der freche Kasperle, der eine Reihe von Missetaten ausführte und sich immer hinausredete, ja den stolzen Sultan sogar in eine Kiste sperrte. Auf diese Kiste setzte er sich und sang: „Tirallala, tirallala!“ bis der Herrscher der Hölle erschien, schwarz und grauenvoll, und den verbrecherischen Kasperle davon schleppte.

„Wie schade!“ riefen Lotti und Trudi, als nach dieser Höllenfahrt das Stück zu Ende war.

Sie trösteten sich dann aber mit der Aussicht auf eine zweite Vorstellung um drei Uhr. Inzwischen konnte man wieder zum Karussell oder ins Städtchen hinauf zu den Verkaufsbuden gehen. So wären die Kinder beständig von einer Herrlichkeit zur andern hin und her gelaufen, wenn nicht schließlich etwas Besonderes sie festgehalten hätte ...

Der Lärm des Jahrmarktes drang nur von Ferne in den Pfarrgarten. Frau Pfarrer pflückte vom Spalier die letzten Birnen; Spitz sah ihr zu, und die schwarze Katze lag in der Sonne. Beide hatten heute frei; denn Edith war nach dem Essen gegangen, sich den Markt anzusehen. Frau Pfarrer wandte sich ein paarmal nach der Straße; jetzt sollte das Kind eigentlich zurück sein.

Da kamen Doktors Otto und Hans Turnach herangerannt:

„Guten Abend, Frau Pfarrer —“

„Guten Abend, Otto! Wißt ihr vielleicht, wo Edith ist?“

„Ja, sie steht in einer Bude an der Trümpengasse und verkauft Lebkuchen —“

„Was sagt ihr? Wo steht sie —?“

„In einer Bude und verkauft Lebkuchen. Es ist ein ganzes Gedränge um sie herum, und wir sollen Einwickelpapier holen —“

„In einem Lebkuchenstand — auf dem Jahrmarkt — nein, das ist nun doch zu arg! David —!“

Der Herr Pfarrer sah oben zu dem grün umrankten Fenster heraus und lachte. Er hatte die Geschichte mitangehört.

„Rege dich nicht auf, Berta! Ediths Taten sind manchmal etwas ungewöhnlich; aber sie meint’s gut.“

„Nein, David, was zu viel ist, ist zu viel —“

„Marianne und Lotti und Trudi sind auch in dem Lebkuchenstand“, fuhren Hans und Otto in ihrem Bericht fort.

Frau Pfarrer seufzte erleichtert auf.

„Und der Mann ist sehr froh, und wenn Sie uns, bitte, Papier geben wollten — Edith hat gesagt, wir sollten schnell wieder kommen —“

„Siehst du, Berta“, sagte der Herr Pfarrer. „Gib den Buben, was sie brauchen. Zu deiner Beruhigung und zu meinem Vergnügen gehe ich nachher gleich hinüber in die Trümpengasse und sehe, wie sie es treiben.“

Das mit der Lebkuchenbude war so gekommen: Edith hatte in der Hauptgasse vor einem Stande, wo man nach Scheiben schießen konnte, die Turnach- und Doktorskinder getroffen.

„Ich kann nicht verständen“, sagte sie, „daß Tante Pfarrer mich verbietet zu schießen hier. Ist doch eine sehr hübschen Sache.“

Aber sie widerstand der Versuchung und schlenderte mit den Kindern weiter.

Auf einmal lief Hans um die Ecke. Der Lebkuchenmann war ihm eingefallen. Der kleine Alte stand wie am Morgen da und sah nach Käufern aus.

„Einkaufen, einkaufen!“ rief er mit seiner dünnen Stimme, als er die Kinder wieder sah.

Die Kinder waren etwas verlegen; denn sie hatten gar kein Geld mehr. Und der Edith, die sonst immer viel Taschengeld besaß, war es heute auch ausgegangen.

„Das ist ein Unglück“, sagte sie. „In zwei oder drei Tage ich bekomme wieder von mein Papa; aber jetzt ich habe nur noch diesen Zwanzig.“

Dafür nahm sie einen Kuchen. Sie sah umher. Warum kamen denn keine Leute?

„Sie haben eine schlechte Platz hier!“ sagte sie.

„Ja freilich“, nickte das Männlein. „Sonst geht immer meine Frau auf die Märkte. Sie versteht das besser.“

„Warum Sie haben nicht ein weißes Mütze und Schürze wie die Frau in der Waffelladen?“

Der kleine Mann sah sie an.

„Warum Sie machen nicht Lärm? In Amerika man hat eine Trommel oder ein Glocke und die Leute kommen und kaufen —. Geben Sie acht —“, man sah, daß Edith ein lustiger Gedanke kam. „Geben Sie acht! ich will Sie zeigen, wie man macht bei uns!“

Sie nahm einen Bogen weißes Papier, heftete es mit einer Stecknadel zu einer Mütze zusammen und setzte sie auf ihr Haar. Dann schlüpfte sie zu dem kleinen Alten in die Bude hinein. Die Mütze stand ihr sehr gut.

„Edith, wir wollen auch Mützen! wir wollen auch helfen!“ rief Lotti, angefeuert durch das Beispiel.

„Ja, ist sehr gut!“ erwiderte Edith. „Jeden muß haben ein weißes Mütze. Sechs Bäcker von Kuchen in einem Reihe, und man denkt, es ist ein sehr große, gute Geschäft. Otto, wir brauchen ein Glocke. Besinne dir, wer hat ein Glocke!“

Otto rannte davon und kam zurück mit einer laut bimmelnden Kuhglocke.

Es gab ein starkes Gedränge in dem kleinen Lebkuchenstand, als nun alle sechs Kinder drin waren. Der kleine Mann wußte nicht recht, was er sagen sollte, und rieb sich hinter dem Ohr.

Drei Bauern, die in der Hauptgasse vorbeigehen wollten, drehten sich um bei dem lauten Schall der Glocke; ein paar Frauen aus den Nachbarhäusern traten auch näher.

„Meine Herrn und Damen, kommen Sie schnell kaufen, vor es ist zu spät!“ rief Edith mit heller Stimme. „Hier, nehmen Sie von dieses außerordentlich schöne Lebkuchen für —“ sie wandte sich zu dem Männlein — „für 30 Rappen!“

Die Leute bildeten schon einen Kreis um die Bude, in der sechs Kuchenbäcker standen mit weißen Mützen und lustigen Gesichtern. Das Männlein dahinter sah man kaum.

„Für dreißig Rappen! Ein ganz unglaubig kleine Preis!“

Das wunderliche Deutsch machte die Leute lachen.

„Ja, Jungfer, wir haben eben schon eingekauft, beim Rathaus drüben“, sagte ein Bauer.

„Ist gut. Jene Mann am Rathaus will verkaufen Lebkuchen, und wir wollen verkaufen, und kleine Kinder zu Hause wollen haben Lebkuchen. Also, bitte, nicht stehen hier und verlieren Zeit!“

Wieder ertönte ein lautes Gelächter, das andere Neugierige herbeilockte.

„Die versteht das Geschäft“, sagte der Bauer und ließ sich drei runde Lebkuchen geben. Zwei Frauen kauften kleine Pakete. Und nun rückte eins nach dem andern heran, um der munteren Verkäuferin mit dem Kauderwelsch etwas abzunehmen.

Das Lebkuchenmännlein fuhr geschäftig umher. Es kam fast nicht nach mit Geldeinziehen und -herausgeben; Marianne wickelte ein; Hans und Otto handhabten die Glocke, während Lotti und Trudi an den Gestellen hinaufkletterten, um neue Pakete herunterzuholen. Und nun erschien der Herr Pfarrer und lachte herzlich und kaufte natürlich. Und dann langte Tante Doktor an, erstaunt und belustigt, und kaufte auch. Und Frau Pfarrer kam ebenfalls, und Edith sah, daß sie wie die andern lachte, und rief:

„Hier, ich habe dich der letzte Pack Mandelkuchen behalten! Wir mußten diese Mann ein wenig helfen. Er immer stand da und nichts verkaufte!“

Also kaufte Frau Pfarrer die Mandelkuchen und noch drei große Pakete dazu. Der kleine Alte hatte sich ganz überwältigt auf seine Kiste im Hintergrund gesetzt. Er wollte immer zählen, was er schon eingenommen; aber beständig kam neues Geld hinzu.

„Es ist unerhört, unerhört!“ sagte er vor sich hin. „Was wird doch meine Alte sagen daheim! Die wird mir gesund vor lauter Freude.“

Schon dunkelte es stark. Hans und Otto zündeten ein paar Kerzenstümpfchen an. Als aber der Polizeidiener Drehbaum sich durch die Leute schob und mit strenger Miene erklärte, die Marktzeit sei um, es müsse geschlossen werden, da war der Vorrat des Lebkuchenmännleins zu Ende, rein zu Ende.

„Ausverkauft!“ schrien die zwei Buben und warfen ihre Mützen in die Höhe.

„Ihr habt Glück gehabt!“ sagte Drehbaum zu dem Männlein.

„Ja, über Verdienen!“ sagte das Männlein. „Aber der liebe Herrgott wird es wegen meiner Alten daheim so gerichtet haben. So will ich ihm halt recht danken und dem gescheiten Jüngferlein da auch und den andern, tausendmal!“

Er schüttelte den Kindern ringsum die Hand. Unter Hallo und Glockengeschell krochen die sechs aus der Bude heraus.

„Und nächstes Jahr“, erklärte Lotti dem Lebkuchenmännlein zum Abschied, „wenn wir in den Herbstferien nach Larstetten kommen, helfen wir Ihnen wieder!“

EINE THEATERVORSTELLUNG

Nach dem Jahrmarkt wurde das Wetter schlecht. Der Wind trieb einen Regenguß um den andern daher. In der Hauptgasse von Larstetten, wo am Freitag solch ein Getümmel geherrscht hatte, war es jetzt still und leer. Drinnen im Doktorhaus ging es um so lebhafter zu.

Die Kinder standen alle in dem weiten, weiß getünchten Hausgang an dem alten Guckkasten, den schon Tante Doktor und Mama Turnach besessen hatten, als sie klein waren. Wenn man vorn durch das runde Glas sah, so erschienen die Bilder, die man hineinstellte, stark vergrößert. Es waren prächtige Sachen da: Eine Eisbärenjagd mit glutroter Mitternachtssonne; der Turmbau von Babel; eine Überschwemmung, bei der das Meer über einen Damm hereinstürzte; ein Negertanz; ein feuerspeiender Berg; Attila, der furchtbare Hunnenkönig mit seinen Reiterscharen dahersausend, und viel andere gewaltige Dinge.

„Halt, Hans! Noch einmal den Wald mit den Elefanten —! Nein, die Jungfrau von Orleans —!“ Jedes der Kinder wollte Selbst ein Bild hineinstecken.

„Bitte, meine Herrschaften“, rief Hans mit schnarrender Stimme, „immer der Reihe nach —“

„Ja“, lachte Lotti, „grade so hat gestern der Herr mit den goldenen Borten geredet vor der Bude, wo wir nicht haben hinein dürfen. Wenn ich groß bin, gehe ich der Reihe nach in alle Schaubuden. Hans, gib doch den Negertanz her!“

Aber Hans legte das Blatt weg. Er überlegte etwas.

„Hört“, sagte er. „Wir könnten eigentlich selber eine Bude einrichten da mit dem Guckkasten! Natürlich kostet es Eintrittsgeld —“

„Ja“, rief Otto. „Wir machen eine Kasse! Ein Tischchen mit einem roten Tuch und einem Teller —“

„Aber, Hans, Eintrittsgeld und dann bloß den Guckkasten!“ wandte Marianne ein.

„Wir hätten ja noch das Lebensrad!“ schlug Otto vor. „Trudi, hol das Lebensrad!“

Trudi brachte das Lebensrad. Es sah aus wie eine runde Pappschachtel ohne Deckel, die sich auf einem Gestell drehte; sie besaß viele Einschnitte zum Hineinsehen. Die Bilder da drinnen vergrößerten sich nicht; aber was noch merkwürdiger war, sie fingen an, sich zu bewegen, wenn man rasch drehte, und trieben allerlei komisches Zeug: Ein Mann warf grüne Kugeln auf und fing sie wieder; ein kleines Mädchen sprang Seil; ein Schuster wollte seinem Lehrbuben eine Ohrfeige geben; aber jedesmal, wenn er ausholte, bog der Bub den Kopf weg; es war sehr spaßhaft. Ebenso ein Pudel, dem eine Brummfliege um die Nase summte. Er tat einen Schnapp — und die Fliege flog davon.

Also hatte man schon die zweite Nummer für die Aufführung. Aber in Hansens Sinn wurde die Sache immer großartiger.

„Otto, du hast doch einmal so Taschenspielerkünste gehabt!“

„Das Zauber-Ei meinst du und die Schnur, die man zerschneidet und mit dem Spruch wieder ganz macht? Und die geheimnisvollen Münzen, die bald in der kleinen und bald in der großen Büchse sind —“