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ERPRESST VOM SIZILIANISCHEN VERFÜHRER von GRAHAM, LYNNE "Der Junge gehört zu mir!" Bei Luciano Vitales wütenden Worten erbebt Jemima. Der Sizilianer hat nach ihr gesucht, er hat sie gefunden - jetzt will er ihr ihren geliebten kleinen Neffen nehmen! Sie muss auf Lucianos unerhörte Bedingung eingehen: zu ihm nach Italien ziehen … NUR EINE ZÄRTLICHE NACHT IN ATHEN? von HEWITT, KATE Hell leuchtet die Akropolis über Athen, als Iolanthe sich eine zärtliche Nacht lang dem Tycoon Alekos Demetriou hingibt. Das ist die romantische Liebe, von der sie immer geträumt hat! Doch sie vergisst leider, ihm zu gestehen, dass sie die Tochter seines größten Feindes ist … NIMM MICH MIT AUF DEIN SCHLOSS! von GILMORE, JESSICA Ihr neuer Boss ist einfach zum Verlieben - was nicht sein darf! Denn Maddison wird nur ein halbes Jahr in London bleiben. Doch als sie mit Kit Buchanan zu seinem Schloss nach Schottland reist, geschieht etwas zwischen ihnen, das Maddisons Lebensplanung komplett in Frage stellt … DIE PRINZESSIN UND DER MILLIARDÄR von HAYWARD, JENNIFER Wer ist diese rassige Brünette? Aristos Nicolades lässt sie nicht aus den Augen. Unter falschem Namen hat sie sich auf den königlichen Empfang eingeschlichen, trinkt nervös einen Champagner nach dem anderen. Was hat sie vor - und vor allem: Warum fasziniert sie ihn so maßlos?
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Seitenzahl: 695
Lynne Graham, Kate Hewitt, Jessica Gilmore, Jennifer Hayward
JULIA EXTRA BAND 430
IMPRESSUM
JULIA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRABand 430 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2016 by Lynne Graham Originaltitel: „The Sicilian’s Stolen Son“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Bettina Röhricht
© 2016 by Kate Hewitt Originaltitel: „Demetriou Demands His Child“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Valeska Schorling
© 2016 by Jessica Gilmore Originaltitel: „In the Boss’s Castle“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dr. Susanne Hartmann
© 2016 by Jennifer Drogell Originaltitel: „Claiming the Royal Innocent“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Trixi de Vries
Abbildungen: Harlequin Books S.A., Arts Illustrated Studios / Shutterstock, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 03/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733709006
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY
Er hat Jemima gefunden! In England versteckt sich die Betrügerin, die ihm seinen leiblichen Sohn vorenthält. Doch als Luciano sie aufsucht, ist er verblüfft: War Jemima immer so sanft, so begehrenswert?
Oh, wie süß ist die Rache! Milliardär Alekos Demetriou weiß noch, wie er damals von Petrakis betrogen wurde. Jetzt, zehn Jahre später, liegt das Schicksal von Petrakis‘ Tochter Iolanthe in seinen Händen …
Wann immer Kit Buchanan auf dem elterlichen Schloss in Schottland ist, überfallen ihn dunkle Gedanken. Doch in den Armen der schönen Maddison fühlt er sich eine sinnliche Nacht lang nicht allein …
Aleksandra muss dem König von Akathinia unbedingt etwas mitteilen: Sie ist seine leibliche Tochter! Doch der attraktive Milliardär Aristos stellt sich der heimlichen Prinzessin in den Weg …
Luciano Vitale wurde von seinem Londoner Anwalt Charles Bennett begrüßt, als er aus seinem Privatjet stieg. Der sizilianische Milliardär und der Jurist betrieben ein wenig Small Talk, doch schnell wurde Luciano unruhig wie ein Löwe, der die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte.
Endlich hatte er Jemima Barber aufgespürt, diese verabscheuenswerte Frau, die ihm erst seinen Sohn gestohlen und dann versucht hatte, das Baby an ihn zurückzuverkaufen, als wäre es ein Gegenstand. Es machte ihn wütend, dass Jemima nicht in vollem Maße die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen würde. Denn Luciano wollte nicht noch einmal den internationalen Medien sein Privatleben offenlegen, und er war sich bewusst, dass ein solcher Racheakt langfristige Auswirkungen haben konnte. Er hatte schon genug unter der Presse gelitten, als seine Frau noch gelebt hatte.
Mittlerweile mied Luciano das grelle Tageslicht und die verleumderischen Schlagzeilen, die ihm während seiner Ehe so zu schaffen gemacht hatten. Trotzdem bewegte er sich noch immer mit stolz erhobenem Kopf, und sämtliche Frauen in seiner Nähe drehten sich nach ihm um. Er war einen Meter neunzig groß, hatte einen athletischen Körper und ein markant-attraktives Gesicht. Darüberhinaus besaß er einen goldbrauner Teint, eine absolut gerade Nase und hohe Wangenknochen. Er selbst war allerdings nicht stolz auf seine makellosen Züge, weil sie häufig für unerbetene Aufmerksamkeit sorgten.
Luciano fand es unerträglich, dass er fast ein zweites Kind verloren hätte, obwohl er jede nur denkbare Vorsichtsmaße ergriffen hatte.
Sofort rügte er sich innerlich für diesen Gedanken. Bis ein DNA-Test gemacht wurde, wusste er nicht, ob der Junge wirklich sein Sohn war. Es war durchaus möglich, dass die Leihmutter zum Zeitpunkt der künstlichen Befruchtung mit anderen Männern geschlafen hatte. Immerhin hatte sie auch gegen sämtliche anderen Punkte der Vereinbarung verstoßen.
Aber wenn das Baby von ihm stammte, wie er hoffte, würde es dann nach seiner verlogenen, hinterhältigen Mutter kommen? Eigentlich glaubte Luciano nicht daran, dass Niedertracht sich über die Gene weitervererbte. Immerhin war er selbst der Letzte in einer langen Reihe skrupelloser Männer, die wegen ihrer Grausamkeit und ihrer Missachtung des Rechts berüchtigt waren. Ein unschuldiges Kind konnte doch nicht durch seine Abstammung verdorben sein, sondern nur gewisse Neigungen haben, die man verstärken oder bekämpfen konnte.
Auf dem Papier hatte die Mutter seines Sohns absolut respektabel und seriös gewirkt. Sie war das einzige Kind eines älteren Paars und eine ausgebildete Vorschullehrerin, die mit Begeisterung Gemüse anbaute und kochte. Ihre wahren Interessen waren leider deutlich weniger seriös gewesen, doch das hatte er leider erst festgestellt, nachdem sie sich mit dem Kind aus dem Krankenhaus davongemacht hatte. Die Frau war eine soziopathische, gewissenlose Person, die das Geld zum Fenster hinauswarf und ohne jegliche Gewissensbisse stahl, wenn es ihr ausging.
Immer wieder hatte Luciano sich vorgeworfen, dass er die Mutter seines Kindes nicht persönlich kennengelernt hatte, mit der er diese wichtige geschäftliche Vereinbarung eingegangen war. Vielleicht hätte er dann ihr wahres Wesen erkannt? Als er das Kind nach der Geburt aus dem Krankenhaus hatte abholen wollen, war sie verschwunden und hatte ihm nur eine Nachricht mit ihren finanziellen Forderungen hinterlassen. Offenbar hatte sie mittlerweile erfahren, wie reich er war.
Als sie unter angespanntem Schweigen in der Limousine saßen, fragte Charles ihn leise: „Werden Sie der Polizei den Aufenthaltsort von Miss Barber mitteilen?“
Luciano erstarrte und presste den Mund zusammen. „Nein.“
„Darf ich fragen …“ Aus Höflichkeit und in der Hoffnung, sein wohlhabendster Klient würde ihm entgegenkommen, sprach der Anwalt die Frage nicht zu Ende aus.
Doch Luciano Vitale, der einzige Spross von Siziliens gefürchtetstem Mafiaboss, war seit jeher äußerst zurückhaltend und reserviert. Mit einunddreißig Jahren war er bereits Milliardär, ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann und – soweit Charles das beurteilen konnte – bei seinen Geschäften absolut gesetzestreu. Trotzdem ließ allein sein Name Menschen angstvoll erbleichen. Aufgrund seiner Abscheu gegenüber Paparazzi und wegen seiner berüchtigten kriminellen Vorfahren war er ständig von Bodyguards umgeben, die den Rest der Welt auf Abstand hielten.
In vieler Hinsicht war Luciano Vitale ihm nach wie vor ein absolutes Rätsel. Nur zu gern hätte Charles zum Beispiel gewusst, warum ein Mann wie er, dem so viele angenehmere Möglichkeiten offenstanden, sich für die Option einer Leihmutter entschieden hatte.
„Ich werde die rechtmäßige Mutter meines Sohns nicht ins Gefängnis bringen“, antwortete Luciano mit ausdrucksloser Miene. „Auch wenn Jemima das ohne Zweifel verdient hätte.“
„Das ist absolut verständlich“, log Charles höflich, der dies eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. „Allerdings könnte man die Polizei natürlich auch sehr diskret informieren.“
„Dann würden die Großeltern meines Sohns möglicherweise das Sorgerecht erhalten, und die Behörden würden einschreiten und sich um das Kindeswohl kümmern“, entgegnete Luciano. „Sie haben mich doch bereits warnend darauf hingewiesen, dass Leihmutterschaftsverträge von britischen Gerichten sehr unterschiedlich beurteilt werden. Ich werde auf keinen Fall riskieren, alle Ansprüche auf meinen Sohn zu verlieren.“
„Aber Miss Barber hat doch schon deutlich gemacht, dass sie Ihnen den Jungen nur gegen eine beträchtliche Summe überlassen wird … und Sie dürfen Ihr auf keinen Fall Bargeld anbieten, denn damit stellen Sie sich gegen das britische Recht.“
„Ich werde eine vertretbare, legale Vorgehensweise finden, um die Angelegenheit zufriedenbringend abzuschließen“, erwiderte Luciano ein wenig ungeduldig. „Ohne schädliche Medienaufmerksamkeit, ohne eine Gerichtsverhandlung und ohne sie ins Gefängnis zu bringen.“
Als Charles in die kalten dunklen Augen seines Klienten sah, musste er ein Schaudern unterdrücken. Unwillkürlich dachte er daran, wie Lucianos Vorfahren sich menschliche Hindernisse aus dem Weg geschafft hatten: mit kaltblütigem Mord. Auch sein Klient war skrupellos in der Art und Weise, wie er seine Geschäfte betrieb. Zwar ließ er Konkurrenten nicht einfach umbringen, doch wer ihn verärgerte oder beleidigte, musste mit gnadenloser Vergeltung rechnen. Jemima Barber ahnte bestimmt nicht, welch gefährliche Folgen ihr Vertragsbruch haben würde.
Luciano dachte nach. Er würde sein Ziel erreichen, weil er immer bekam, was er wollte. Alles andere war für ihn undenkbar, besonders wenn es um das Wohlergehen seines Sohnes ging. Sollte er tatsächlich der Vater des Kleinen sein, würde er ihn um jeden Preis zu sich nehmen. Er konnte ein unschuldiges Kind doch nicht so einer Mutter überlassen!
Jemima ordnete die Blumen auf dem Grab ihrer Schwester. Ihre blauen Augen brannten, und ihr Herz zog sich vor Schmerz zusammen.
Sie hatte sehr an Julie gehangen, doch leider hatte sie ihr nicht helfen können. Ihren Vater hatten die Zwillingsschwestern nie kennengelernt, und die drogenabhängige Mutter hatte die Mädchen zur Adoption durch zwei unterschiedliche Familien freigegeben.
Julie war während der Geburt kurzzeitig nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt gewesen und hatte danach mehrfach operiert werden müssen, sodass sich ihre Adoption um zwei Jahre verzögert hatte. Ich dagegen hatte Glück, dachte Jemima ein wenig schuldbewusst. Ihre Adoptiveltern hatten ihr eine wunderschöne, glückliche Kindheit geschenkt. Julies neue Familie, die wesentlich reicher gewesen war, hatte die Verzögerung als Enttäuschung erlebt und die aufsässige Julie als Teenager weggegeben. Kein Wunder, dass danach in ihrem Leben alles schiefgelaufen ist, dachte Jemima.
Erst als Erwachsene waren die Zwillinge sich wieder begegnet, als Julie ihre Schwester ausfindig gemacht hatte. Jemima und ihre Eltern waren zunächst von der temperamentvollen Julie begeistert gewesen, aber es war nicht lange gutgegangen.
Am schlimmsten war es jedoch für den kleinen Nicky, der seine Mutter nun nie kennenlernen würde. Mit Tränen in den Augen blickte Jemima zu dem acht Monate alten Baby, das in seinem Buggy saß. Sofort ging es ihr besser, denn Nicky war der Sonnenschein ihres Lebens. Aufmerksam sah er sie aus großen dunklen Augen an. Mit seinen dichten schwarzen Locken war er ein absolut entzückendes Baby und hatte das Herz seiner Tante im Sturm erobert – damals, als er gerade mal eine Woche alt gewesen war.
„Ich habe dich von der Straße aus gesehen“, sagte plötzlich eine Frau besorgt zu ihr. „Warum bist du schon wieder hier und quälst dich? Wenn du mich fragst, ist es besser, dass sie weg ist!“
„Sag so etwas nicht“, bat Jemima ihre beste Freundin Ellie, die sie schon seit dem Kindergarten kannte. Entschlossen sah sie die rothaarige Ellie an, die größer und schlanker war als sie.
„Julie hätte deine Familie fast zerstört“, erklärte Ellie unverblümt. „Ich weiß, es tut dir weh, das zu hören, aber deine Zwillingsschwester war wirklich kein guter Mensch.“
Jemima presste die Lippen zusammen. Sie wollte sich nicht schon wieder mit ihr streiten. Ellie hatte sich als treue Freundin erwiesen, sie hatte ihr und ihren Eltern während des Debakels mit Julie immer geduldig zugehört und ihnen Ratschläge gegeben.
Doch trotz allem schmerzte Jemima der Verlust ihrer Zwillingsschwester, die vor wenigen Monaten achtlos auf die Straße gelaufen und überfahren worden war. Ihre Adoptiveltern hatten nicht zur Beerdigung kommen wollen, sodass Jemimas Eltern diese bezahlt hatten, obwohl sie es sich kaum leisten konnten.
„Hätten wir mehr Zeit zusammen gehabt, wäre vielleicht alles anders gekommen“, sagte Jemima.
„Sie hat deine Eltern ausgenommen, hat dir deine Identität und deinen Freund weggenommen und dir ein Baby angehängt“, stellte Ellie trocken fest.
„Lass uns nicht mehr darüber reden“, erwiderte Jemima.
„Gute Idee“, stimmte ihre Freundin zu. „Wie willst du das mit Nicky eigentlich hinbekommen? Du hast schließlich einen Vollzeitjob und unterstützt außerdem noch deine Eltern.“
„Es macht mir nichts aus, mich zusätzlich um den Kleinen zu kümmern. Ich habe Nicky sehr lieb, und er ist mein einziger lebender Verwandter. Irgendwie werden wir es schon schaffen.“
Die beiden Frauen verließen den Friedhof.
„Was ist mit seinem Vater? Der hat schließlich auch Rechte!“
Als Jemima blass wurde, seufzte Ellie. „Ich muss los, in einer Stunde fängt meine Schicht an. Bis morgen.“
Jemima verabschiedete sich von ihrer Freundin, die in derselben Straße wohnte wie sie. Sie ging weiter, ein wenig erschöpft, denn Nicky schlief immer nur wenige Stunden am Stück. Sie hatte viel über Nickys Vater nachgedacht. Abgesehen davon, dass er vermutlich sehr wohlhabend war, wusste sie nichts über ihn – und auch nicht, warum er sich für ein Kind von einer Leihmutter entschieden hatte. War er homosexuell oder konnte mit seiner Partnerin kein Kind bekommen?
Im Gegensatz zu Julie beschäftigte Jemima dieses Thema sehr. Sie konnte nicht einfach ignorieren, dass Nicky irgendwo auf der Welt einen Vater hatte, der seine Zeugung geplant und dafür bezahlt hatte. Aber Julie hatte die Identität des Mannes nicht preisgegeben, und Jemima war zugleich schuldbewusst und erleichtert darüber gewesen, dass sie nichts tun konnte, um ihn zu finden. Für sie war Nickys Wohlergehen das Allerwichtigste. Sie würde ihren kleinen Neffen niemandem überlassen, ohne sich zu vergewissern, dass man liebevoll für ihn sorgen würde.
Das ist meine Aufgabe, dachte Jemima traurig. Julie hatte ihren Sohn in eine unmögliche Situation gebracht, und nun musste sie dafür sorgen, dass er nicht unter den unüberlegten Entscheidungen seiner Mutter leiden würde.
Für Julie war die Leihmutterschaft lediglich eine Möglichkeit gewesen, um Geld zu verdienen. Dass sie gegen Bezahlung ein Kind in die Welt setzte, darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Nie hatte sie mit ihrer Entscheidung gehadert, den kleinen Nicky seinem Vater zu übergeben. Nein, Julie war nur der Ansicht gewesen, sie wäre für die Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt nicht angemessen entlohnt worden – besonders, als sie erfahren hatte, wie reich Nickys Vater war.
Weil der Mann die Mutter seines zukünftigen Sohns nicht einmal hatte kennenlernen wollen, zweifelte Jemima daran, dass er nach besten Kräften für den Kleinen sorgen würde. Immerhin war er Julies leiblicher Sohn – und somit Jemimas Neffe. Deshalb empfand sie es als ihre Pflicht, ihn zu lieben und zu beschützen.
Jemima betrat das kleine Häuschen, in dem ihre Eltern zurzeit lebten. Es hatte zwei Schlafzimmer und einen kleinen Garten, sodass auch sie und Nicky dort unterkommen konnten, wofür sie zutiefst dankbar war. Ihr Vater war Pfarrer im Ruhestand, ihre Mutter war nicht berufstätig gewesen. Leider war das gesamte mühevoll angesparte Geld der beiden in Julies Tasche gelandet: Sie hatte so getan, als wollte sie einen Laden im Ort anmieten und sich damit selbstständig machen.
Vielleicht hatte sie das anfangs auch tatsächlich vor, korrigierte Jemima sich. Aber Julie war unglaublich impulsiv gewesen, hatte große Pläne gemacht und diese schnell wieder verworfen. Und leider hatte sie auch oft gelogen.
Jedenfalls hatten die Barbers ihr bescheidenes finanzielles Polster verloren – und mit ihm die Hoffnung, sich den lang gehegten Traum eines eigenen Häuschens zu erfüllen. Es war sogar so, dass sie nur deshalb ein Dach über dem Haus hatten, weil Jemima zu ihnen gezogen war, um sich an der Miete und sonstigen Kosten zu beteiligen, die die kleine Rente ihres Vaters überstiegen. Die finanziellen Sorgen hatten die Gesundheit der beiden stark belastet.
Jemima wickelte Nicky und legte ihn zum Schlafen hin. Gähnend beschloss sie, sich auch ein Nickerchen zu gönnen, denn das gelang nur, wenn er gerade schlief. Als sie sich die Tunika abstreifte und ihren wohlgeformten Po im Spiegel sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen.
„Dein Hintern ist viel zu dick für Leggings! Du solltest immer ein langes Oberteil tragen“, hatte Julie ihr geraten.
Jemima rief sich in Erinnerung, dass ihre Schwester Bulimie gehabt hatte und spindeldürr gewesen war. Mit diesem traurigen Gedanken legte sie sich in Leggings und ärmellosem Top hin und schlief sofort ein.
Als es schrill an der Tür klingelte, fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Wer mochte das sein? Die meisten Freunde ihrer Eltern wussten, dass sie gerade ein paar Tage bei einem früheren Gemeindemitglied in Devon verbrachten. So ein Besuch war der einzige Urlaub, den sie sich derzeit leisten konnten.
Jemima blickte zu ihrem kleinen Neffen hinüber, der friedlich schlummerte. Dann ging sie zur Tür. Durch das Glas konnte sie zwei Männer erkennen. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit: „Ja?“, fragte sie vorsichtig.
Ein älterer Mann mit graumeliertem Haar sah sie ernst und durchdringend an. „Dürfen wir hereinkommen und mit Ihnen sprechen, Miss Barber?“
Er reichte ihr eine Visitenkarte durch den Türspalt. „Charles Bennett, Anwalt, Kanzlei Bennett & Bennett“, stand darauf.
Jemima wurde blass vor Schreck und öffnete die Tür. Bestimmt hatte der unerwartete Besuch mit Julie zu tun. Ihre Schwester hatte ihre Identität gestohlen, in ihrem Namen Schulden angehäuft und als Jemima Barber auf Sizilien ein Kind zur Welt gebracht. Das hatte Jemima der Polizei nicht mitgeteilt, denn es bedeutete, dass ihr Sorgerecht für Nicky keinerlei rechtliche Grundlage hatte. Und auf keinen Fall durfte man ihr den Kleinen wegnehmen und in eine fremde Pflegefamilie geben!
„Luciano Vitale“, stellte der andere Mann sich vor, als die beiden Männer eintraten.
Er war größer und jünger als der Anwalt, und bei seinem Anblick war Jemima wie erstarrt. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet: Er bewegte sich schnell und geschmeidig, strahlte eine natürliche Autorität aus und war so attraktiv, dass ihr der Atem stockte. Wie gebannt betrachtete sie sein Gesicht mit dem bronzefarbenen Teint und den markanten Zügen. Plötzlich kam sie sich wie ein schüchternes Schulmädchen vor. Dann wandte sie mit aller Macht den Blick ab und bat die beiden Männer ins Wohnzimmer.
Wie gebannt starrte Luciano Jemima Barber an, die so ganz anders war, als er sie sich vorgestellt hatte. Das Passfoto in ihrer Bewerbung hatte eine blonde blauäugige, ein bisschen mollige Frau gezeigt – so durchschnittlich, dass er sie sich kaum als Mutter seines Kindes vorstellen konnte.
Die Aufnahmen einer Überwachungskamera in einem Londoner Hotel, die er vor zwei Monaten gesehen hatte, waren aufschlussreicher gewesen: Blondes Haar, kurz und stufig geschnitten, ein tief ausgeschnittenes Oberteil, dazu ein extrem kurzer silberfarbener Rock und unfassbar hohe High Heels. Das nuttige Outfit hatte ihre schlanke Figur und ihre Brustimplantate betont, und ihr Verhalten hatte dazu gepasst: Kichernd hatte sie mit den beiden Männern herumgemacht, die sie mit aufs Zimmer genommen hatte.
Dass Jemima Barber sich offenbar ein neues Image verpasst hatte, war bestimmt ein weiterer Trick dieser gerissenen Betrügerin. Statt der Kurzhaarfrisur hatte sie jetzt eine goldblonde Mähne, die ihr bis zur Taille reichte – vermutlich Extensions. Das herzförmige Gesicht war kaum geschminkt. Misstrauisch betrachtete er die sinnlichen Lippen, die rosigen Wangen und die Augen, die nicht nur auf dem Foto, sondern auch in Wirklichkeit eisblau waren. Jemima trug eine schwarze Leggings und ein enges Trägertop, das ihre üppigen Brüste betonte. Nur mit Mühe konnte er den Blick von ihr abwenden.
Sie sah so viel natürlicher aus, als er erwartet hatte. Hatte sie einfach nur zugenommen? Auch das unscheinbare Outfit überraschte ihn. Andererseits wohnte sie bei ihren Eltern und hatte nicht mit Besuch gerechnet. Wie war Jemima Barber wohl wirklich, wenn man hinter die Fassade blickte? Und warum fragte er sich das überhaupt? Er wusste doch schon alles, was er wissen musste: Sie log, betrog und verkaufte ihren Körper ebenso bereitwillig, wie sie seinen Sohn verkaufen wollte.
Lucianos durchdringender Blick verunsicherte Jemima so sehr, dass ihr Gesicht ganz heiß wurde. Deshalb sah sie bewusst den älteren Mann an und fragte: „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir möchten mit Ihnen über die Zukunft des Kindes reden“, erwiderte Charles Bennett.
Ihr wurde kalt ums Herz. Als ihr Blick unwillkürlich zu Luciano glitt, stellte sie die schreckliche Verbindung her, die ein riesiges Fragezeichen hinter ihre Hoffnungen und Träume für Nicky setzte. Denn der Junge war Luciano wie aus dem Gesicht geschnitten. Luciano trug sein Haar ein wenig länger als üblich: Die glänzenden tiefschwarzen Locken reichten bis zum Kragen. Er hatte eine perfekt gerade Nase, hohe Wangenknochen und geschwungene Brauen über tief liegenden goldbraunen Augen. Ihr Ausdruck war kalt und hart wie Kristall.
Jemima dachte daran, was Julie über Nickys Vater gesagt hatte. „Wenn er mich kennengelernt hätte, würde er mich wollen. Das tun alle Männer. Er ist genau der Typ Mann, den ich heiraten würde: reich, gut aussehend und unglaublich erfolgreich. Ich wäre die perfekte Frau für ihn.“
Ganz bestimmt war Luciano Vitale nicht begeistert darüber, dass er statt der schlanken, schicken Julie die molligere, unscheinbare Zwillingsschwester bekam, flüsterte eine Stimme in Jemimas Kopf. Starrte er sie deshalb so an? Andererseits war er Julie nie begegnet und wusste nicht, dass Jemima ihre Schwester war. Ebenso wenig wusste er wahrscheinlich, dass Julie ihre Identität angenommen hatte – und dass sie tot war.
Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Als Nickys Mutter hatte Julie Ansprüche in Bezug auf ihren Sohn gehabt, auch wenn diese vielleicht vor Gericht angefochten worden wären. Doch als seine Tante hatte Jemima praktisch gar keine Rechte. Julie hatte sich im Krankenhaus als Jemima ausgegeben, sodass ihr Name auch auf der Geburtsurkunde stand, doch das würde irgendwann herauskommen …
Aber heute noch nicht, beschloss Jemima energisch, als ihr Blick dem von Luciano begegnete. Kalt und ohne jegliches Gefühl sah er sie an. Nickys Vater schien ein wütender, misstrauischer Mann zu sein, der zu voreiligen Urteilen und Entscheidungen neigte. Er war ihr nicht wohlgesonnen, und warum auch? Schließlich hatte Julie sich mit seinem Kind davongemacht und dann unverschämte Geldforderungen gestellt.
Jemima hob das Kinn, als würde Lucianos bohrender Blick sie nicht im Geringsten beeindrucken. Doch in Wirklichkeit zog sich ihr wegen der angespannten Stimmung angstvoll der Magen zusammen. Sie musste sich beruhigen, um überlegt reagieren zu können – Nicky zuliebe. Erschrocken stellte sie fest, dass sie bereits eine schwerwiegende Entscheidung getroffen hatte: So lange es möglich war, würde sie so tun, als wäre sie Julie – um herauszufinden, ob dieser Mann als Vater geeignet war. Denn wenn sie die Wahrheit sagte, würde er ihr ihren kleinen Neffen sofort wegnehmen. Allein bei dieser Vorstellung blieb ihr fast das Herz stehen. Also würde sie lügen – und damit gegen all ihre Grundsätze verstoßen.
Das Verhalten der jungen Frau verwirrte Luciano. Wenn Frauen das Glück hatten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, lächelten sie, flirteten mit ihm und warfen ihm vielsagende Blicke zu. Jemima Barber jedoch ignorierte ihn.
„Ich will, dass per DNA-Test festgestellt wird, ob der Junge mein Sohn ist oder nicht.“ Als Luciano Vitale sich zum ersten Mal zu Wort meldete, bekam Jemima beim Klang seiner tiefen Stimme mit dem markanten Akzent eine Gänsehaut.
Dann drangen seine Worte zu ihr durch. Dass er ihre Schwester beleidigte, machte sie wütend. „Wie können Sie es wagen?“, entgegnete sie aufgebracht und war selbst überrascht, wie heftig sie reagierte.
Luciano verzog seinen perfekten Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Ich wage es eben“, sagte er kühl. „Es darf nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass er mein …“
„Ein DNA-Test ist im Vertrag ohnehin verbindlich vorgesehen“, mischte der Anwalt sich ein. „Leider haben Sie jedoch das Krankenhaus verlassen, bevor dieser durchgeführt werden konnte.“
Die Erinnerung daran, dass Julie den Vertrag in ihrem Namen unterschrieben hatte, ließ Jemina ihre Empörung vergessen. Beschämt dachte sie daran, dass sie jetzt lügen und sich als ihre Schwester ausgeben würde. Das widerstrebte ihr zutiefst, denn eigentlich war sie ein grundehrlicher Mensch, der Lügen und Betrug hasste. Durch ihren übermächtigen Wunsch, für Nicky zu sorgen, geriet sie nun auf sehr dünnes Eis und in einen Gewissenskonflikt. Ich sollte die Wahrheit sagen, auch wenn es noch so unangenehm und riskant ist, dachte sie unglücklich. Immerhin war Luciano Vitale Nickys Vater. Doch sie konnte nicht zulassen, dass er ihr ihren kleinen Neffen wegnahm. Nicky war schutzlos, und es war ihre Aufgabe, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Dabei darfst du aber nicht an dich denken, rief sie sich in Erinnerung. Auch wenn das bedeutete, dass sie das Kind loslassen musste, das sie so liebgewonnen hatte …
Als Jemima blass wurde, fragte Luciano sich, ob seine Befürchtung zutraf und das Kind wirklich nicht von ihm stammte. Je eher er das erfuhr, desto besser. „Der Test kann hier durchgeführt werden, mit einem einfachen Abstrich der Mundschleimhaut. Innerhalb von achtundvierzig Stunden wird dann das Ergebnis vorliegen.“
„Ja.“ Jemimas Mund war ausgetrocknet, und plötzlich kam ihr ein neuer beängstigender Gedanke: Was sollte sie tun, wenn auch von ihr ein DNA-Text verlangt wurde? War die DNA von Zwillingen identisch? Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
„Sind Sie damit einverstanden, Miss Barber?“, fragte Luciano überraschend sanft.
Als sie unwillkürlich zu ihm hinübersah, blickte sie in seine dunklen, von schwarzen Wimpern umgebenen Augen, die denen seines Sohns so ähnlich waren. Ihr Herz schlug wie verrückt, und ihr wurde schwindelig – als würde sie in einen tiefen Abgrund blicken. Dann zog sich plötzlich in ihrem Becken etwas zusammen, und sie stellte erschrocken fest, dass ihre Haut prickelte. „Ja.“
„Sie werden auch meinen anderen Forderungen zustimmen“, fuhr Luciano fort, während er insgeheim fasziniert ihren perfekten zarten Teint und ihre hellblauen Augen betrachtete. „Denn alles andere wäre sehr dumm von Ihnen.“
Verblüfft sah Charles Bennett seinen Klienten an und dann die junge blonde Frau, die Luciano wie gebannt anstarrte.
„Wie kommen Sie denn darauf?“, erwiderte Jemima und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können.
„Ganz einfach“, erwiderte Luciano so selbstsicher, dass ihr kalt wurde. „Mir liegen Aufnahmen einer Überwachungskamera vor, die zeigen, wie Sie Kreditkarten stehlen und sie benutzen. Ein klarer Fall von Betrug. Wenn ich die Aufnahmen der Polizei vorlege …“
„Sie drohen mir!“, stellte Jemima fassungslos fest. Diebstahl von Kreditkarten? War ihre Schwester wirklich so tief gesunken? Als sie Julie danach gefragt hatte, wie sie sich das teure Hotel hatte leisten können, hatte sie ihr keine Antwort gegeben.
„Selbstverständlich droht mein Klient Ihnen nicht“, sagte Charles Bennett. „Er teilt Ihnen lediglich mit, dass ihm Aufnahmen von besagtem Diebstahl vorliegen.“
Aber Jemima war blass geworden und traute sich nicht, in Lucianos Richtung zu blicken. Du meine Güte, er könnte sie auf der Stelle verhaften lassen – und damit von Nicky trennen! Fieberhaft dachte sie nach.
„Sie stimmen dem DNA-Test also zu?“, fragte Luciano noch einmal.
„Ja“, antwortete sie mit bebender Stimme.
„Wir werden diese Angelegenheit so zivilisiert wie möglich regeln.“
Jemimas Handfläche prickelte. Am liebsten hätte sie Luciano eine schallende Ohrfeige gegeben, denn seine ebenso herablassende wie unaufrichtige Bemerkung machte sie unglaublich wütend. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihn an. Ein schwerer Fehler: Unter seinem dunklen Blick spannte sich sofort ihr ganzer Körper vor Angst an, denn sie spürte etwas in ihm, das sein gelassenes Auftreten Lügen strafte. Er war ein Mann der Extreme, mit gefährlichen Empfindungen und starken Impulsen. All das spiegelte sich für den Bruchteil einer Sekunde in seinen außergewöhnlichen, faszinierenden Augen. Es war, als hätte Jemima zur Warnung einen Stromschlag bekommen. Luciano Vitale versteckte sein wahres Wesen hinter einer kühlen Fassade der Höflichkeit.
„Ja, wir sollten uns bemühen, zivilisiert zu bleiben“, hörte sie sich selbst sagen.
„Ich bin gern vernünftig“, erklärte Luciano, „und ich werde nichts tun, das mich in Konflikt mit dem britischen Recht bringt.“
„Natürlich nicht“, erwiderte sie, aber seine Bemerkung beruhigte sie nicht im Geringsten. Julie hatte in ihrem Namen Straftaten begangen, und Jemima konnte ihren Namen nur reinwaschen, indem sie den Identitätsdiebstahl offenlegte. Doch leider konnte sie dadurch auch das Recht verlieren, für Nicky zu sorgen. Allein die Vorstellung tat ihr unendlich weh. Ich habe gar keine andere Wahl, als mich weiter als Julie auszugeben, dachte sie voller Panik. Erst wenn die Polizei sie irgendwann zur Rede stellte, würde sie die Wahrheit sagen.
Luciano ließ den Blick auf ihrem sinnlichen Mund und dem Ansatz ihrer üppigen Brüste ruhen. Dass er als Mann ihren Körper betrachtete, war ganz normal, aber das lustvolle Pulsieren, das er verspürte, machte ihn wütend. Ungeduldig wandte er sich ab, und seine breiten Schultern unter dem maßgeschneiderten anthrazitfarbenen Jackett waren angespannt.
„Heute Nachmittag wird jemand vorbeikommen, um den Test durchzuführen“, verkündete er.
„Sie verschwenden offenbar keine Zeit“, stellte Jemima vorsichtig fest und räusperte sich.
Luciano wandte sich zu ihr um und sah sie scharf an. „Sie haben schon viel zu viel meiner Zeit verschwendet“, sagte er brutal ehrlich.
Jemima biss die Zähne zusammen und sah seinen Begleiter an, der sich sichtlich unwohl fühlte. Dass Luciano verächtlich auf sie herabblickte, war nicht zu übersehen. Ich muss mich gegen ihn schützen, ermahnte sie sich innerlich. Sie durfte gegenüber einem Mann, der sie ablehnte und ihr misstraute, keine Schwäche zeigen, denn das würde er gegen sie verwenden.
So sehr der unerwartete Besuch Jemima auch erschüttert hatte – als die beiden Männer gegangen waren, kümmerte sie sich wie immer um Nicky. Sie hatte sich darauf gefreut, die langen Sommerferien mit ihm zu verbringen, bevor sie eine Betreuung für ihn finden und zum Beginn des neuen Schuljahrs wieder arbeiten würde. Doch nun fragte sie sich, ob sie dann überhaupt noch das Sorgerecht für ihn haben würde.
Sie saß mit Nicky auf dem Boden und spielte, als es erneut klingelte. Diesmal war es die Mitarbeiterin eines Instituts, das DNA-Tests durchführte. Sie überreichte Jemima eine Einverständniserklärung zur Unterschrift. Der Abstrich der Mundschleimhaut war innerhalb weniger Sekunden gemacht, und zu Jemimas unendlicher Erleichterung wurde er nur bei Nicky durchgeführt. Nachdem die Frau gegangen war und es noch einmal klingelte, seufzte sie ungeduldig, denn sie war wirklich nicht in der Stimmung für weiteren Besuch.
Als sie öffnete und ihren Exfreund vor der Tür stehen sah, wurde ihre Miene angespannt. Sie war zwar noch mit Steven befreundet, aber nur weil ihre Eltern ihn mochten und sie ihm häufig begegnete. Er war in ihrer Kirche sehr aktiv und leitete eine Gruppe junger Gläubiger.
„Darf ich reinkommen?“, fragte Steven, nachdem sie den Small Talk über den Urlaub ihrer Eltern beendet hatten.
„Nicky ist noch wach“, erwiderte Jemima widerstrebend.
„Wie geht’s dem Kleinen?“, heuchelte er Interesse.
„Es könnte sein, dass sein Vater aufgetaucht ist.“ Sofort bereute sie, ihm das verraten zu haben. Normalerweise sprach sie mit Steven nicht über Nicky, denn es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass sie Verantwortung für Julies Sohn übernahm.
Mit der Selbstverständlichkeit eines häufigen Besuchers nahm Steven im Wohnzimmer Platz. Der große blonde Mann war Zahnarzt, hatte eine Reihe gut zahlender Privatpatienten und war allgemein beliebt. Doch Jemima hegte ihm gegenüber Vorbehalte. Jahrelang hatte sie geglaubt, sie würde ihn lieben, und war davon ausgegangen, dass sie eines Tages heiraten würden. Aber dann war Julie aufgetaucht.
„Er sieht gut aus, und man kann bestimmt Spaß mit ihm haben. Aber ich mache mich doch nicht an deinen Freund heran“, hatte sie zuerst gesagt.
Doch als Jemima gemerkt hatte, dass Steven völlig verrückt nach ihrer Zwillingsschwester gewesen war, hatte sie ihn losgelassen. Da er und Julie als Paar nicht besonders gut harmonierten – wie sie von Anfang an vermutet hatte –, hatten die beiden nur eine kurze Affäre. Jemima konnte Steven keine Vorwürfe machen, weil er ihre bildhübsche, temperamentvolle Schwester attraktiver gefunden hatte. Aber dass er offenbar glaubte, er könne sie mit ein paar einschmeichelnden Worten zurückgewinnen, machte sie wütend.
„Sein Vater?“ Steven horchte auf. „Erzähl mal!“
Also berichtete Jemima von ihren Besuchern, behielt aber die Details mit den gestohlenen Kreditkarten und Lucianos indirekter Drohung für sich. Steven sollte keine Gelegenheit haben, das Andenken ihrer Schwester zu beschmutzen.
„Das sind ja großartige Neuigkeiten!“ Stevens blaue Augen funkelten in seinem geröteten Gesicht. „Es ist wirklich bewundernswert, wie du dich um Nicky kümmerst, aber ihn aufzuziehen wäre in deiner Situation äußerst unpraktisch.“
„Manche Gefühle sind eben unpraktisch“, entgegnete Jemima leise.
Eindringlich sah Steven sie an. „Du weißt, was ich für dich empfinde, Jem. Wann wirst du mir endlich verzeihen? Ich weiß, ich habe einen dummen Fehler begangen, aber ich habe daraus gelernt.“
„Wenn du mich wirklich geliebt hättest, hättest du Julie nicht gewollt …“
„So einfach ist das bei uns Männern nicht“, belehrte Steven sie.
Jemima konnte nicht fassen, wie sexistisch er sein konnte. „Ich habe mit uns abgeschlossen. Du bist mir als Freund wichtig, aber das ist alles.“
„Erzähl mir von Nickys Vater“, drängte Steven sie.
„Ich kenne nur seinen Namen …“
Sofort recherchierte Steven ‚Luciano Vitale‘ auf seinem Tablet und überschüttete sie mit einer Unmenge von Informationen. Luciano war das einzige Kind eines berüchtigten Mafiabosses und unfassbar reich. Mit Anfang zwanzig hatte er eine berühmte italienische Filmschauspielerin geheiratet und mit ihr eine Tochter bekommen. Drei Jahre später hatte er Frau und Kind durch einen Hubschrauberabsturz verloren. Das erschütterte Jemima zutiefst.
„Er will also ein Kind, weil seine eigene Tochter ums Leben gekommen ist“, stellte Steven befriedigt fest. „Warum zweifelst du daran, dass er ein guter Vater sein wird?“
„Er ist Single, und ich bin mir nicht sicher, inwieweit er sich wirklich um seinen Sohn kümmern wird“, entgegnete Jemima eigensinnig. „Außerdem sollte Nicky kein Ersatz für ein verstorbenes Kind sein.“
Während Steven einen Vortrag darüber hielt, dass ein Leihmutterschaftsvertrag etwas Unmoralisches war, betrachtete Jemima die Fotos von Gigi Nocella, Lucianos verstorbener Frau und Mutter seiner Tochter. Er und die bildhübsche Blondine waren ein atemberaubend attraktives Paar gewesen. Doch dann hatte Luciano sein Kind verloren, und dass sie ihm Nicky nur widerstrebend überlassen wollte, weckte nun Schuldgefühle in Jemima. Hatte sie wirklich das Recht, sich einzumischen?
„Vitale muss erfahren, was Julie dir und deiner Familie angetan hat“, sagte Steven schroff. „Wenn er sie genauer im Blick gehabt hätte, wäre Julie nicht hier aufgetaucht und hätte nicht so viel Unheil anrichten können.“
„Das ist Ansichtssache, Steven“, erwiderte Jemima kühl und fand, dass sie jetzt lange genug gastfreundlich gewesen war. Sie stand auf.
„Jem, du hast das alles nicht richtig durchdacht! Nicky ist nun einmal nicht dein Kind. Wenn du ihn seinem Vater übergibst …“
„Wie ein Paket, meinst du?“
„Das Kind gehört zu seinem Vater“, entgegnete Steven. „Und es verhindert, dass wir beide wieder zusammenkommen!“
„In deiner Fantasie vielleicht.“
„Du weißt, wie ich über dein Vorhaben denke, Nicky zu behalten. Warum willst du mehr für ihn tun, als seine eigene Mutter es getan hätte? Seien wir doch mal ehrlich. Julie war eine schlechte Mutter und nicht gerade die netteste …“
„Das reicht!“ Mit geröteten Wangen marschierte Jemima zur Tür und riss sie auf. „Ich sage Mum und Dad Bescheid, dass du vorbeigekommen bist, wenn ich sie nachher anrufe.“
Energisch schlug sie die Tür hinter Steven zu und stöhnte frustriert. Seine Worte hatten sie zum Nachdenken gebracht. Als sie Nicky badete und seinen kleinen Lockenkopf betrachtete, hatte sie Tränen in den Augen. So sehr sie es sich auch wünschte, er war nicht ihr Kind, und sie konnte auch Julie nicht wieder lebendig machen.
Luciano Vitale hatte seine Tochter verloren. Bestimmt hatte er sie sehr geliebt, denn sonst hätte er nicht solche Mühen auf sich genommen, um noch ein Kind zu bekommen. Nachdenklich wickelte Jemima Nicky in ein Badetuch und zog ihn an sich.
Luciano hatte acht Monate lang nach seinem Kind gesucht, er wollte Nicky wirklich haben. Sie durfte einfach nicht mehr so egoistisch sein, sondern musste das Ganze einmal mit etwas Abstand betrachten. Jemima gestand sich ein, dass sie auch deshalb Vorbehalte gegen Luciano hatte, weil sie ein bisschen konservativ war und seine Lösung mit der Leihmutterschaft kritisch sah. Sie schämte sich deswegen zwar, aber so war es. Doch es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass er gar nicht Nickys Vater war …
Aber zwei Tage später hielt Jemima die Testergebnisse in den Händen: Ihr Neffe war eindeutig Lucianos Fleisch und Blut. Kaum hatte sie das Schreiben hingelegt, klingelte auch schon das Telefon.
„Hier Luciano Vitale“, sagte der Anrufer ein wenig schroff. „Ich möchte heute Abend meinen Sohn kennenlernen.“
Jemima rief sich in Erinnerung, dass ihre Gefühle in dieser Angelegenheit keine Rolle spielten. Sie atmete tief ein und antwortete: „Ist gut, Mr. Vitale. Wann würde es Ihnen passen?“
Sie einigten sich auf eine Uhrzeit, zu der Nicky noch nicht allzu müde sein würde. Das erste Treffen zwischen Vater und Sohn sollte positiv verlaufen. Als Jemima mit dem Putzen fertig war, blitzte das kleine Wohnzimmer nur so vor Sauberkeit. Doch Nicky, der gerade zahnte, weinte kläglich, als sie ihn nachmittags zum Schlafen hinlegte.
Sie hatte eine Flut von SMS von Ellie bekommen, die alles über Luciano und den anstehenden Besuch wissen wollte, als wäre er ein berühmter Rockstar.
„Kann ich nicht doch ganz zufällig vorbeikommen?“, fragte sie am Telefon. „Ich möchte den Mann unbedingt mal live erleben. Auf Fotos sieht er einfach fantastisch aus.“
„Nein“, sagte Jemima energisch. „Dafür ist es nicht der richtige Zeitpunkt. Er hat ein Recht auf Privatsphäre.“
„Unsinn! Das hat kein Mann, der wie der wahr gewordene Traum aller Frauen aussieht“, protestierte ihre Freundin.
„Ich gebe zu, auf Fotos sieht er gut aus, aber er ist kein besonders herzlicher, zugänglicher Mensch.“
„Warum sollte er das auch sein? Er hält dich für Julie, und Julie wollte ihn über den Tisch ziehen. Wann willst du ihm eigentlich die Wahrheit sagen?“
„Wenn der richtige Moment dafür gekommen ist. Heute Abend noch nicht, sonst schnappt er sich womöglich Nicky und verschwindet auf der Stelle“, sagte Jemima.
„Luciano Vitale schuldet dir etwas, auch wenn er das nicht weiß“, meinte Ellie. „Julie ist mit Nicky nicht zurechtgekommen, und du kümmerst dich um ihn, seit er eine Woche alt ist. Deine Eltern werden ihn auch schrecklich vermissen, wenn er weg ist.“
Wenn er weg ist. Jemima verspürte einen Stich im Herzen. Aber sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen: Man würde ihr Nicky wegnehmen, und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun. Denn Luciano war sein engster Verwandter, nicht sie.
Angespannt wartete sie auf ihren Besucher. Nicky sah in seinem blauen Strampelanzug einfach entzückend aus, doch weil er zahnte, war er ein wenig gereizt und brach manchmal unerwartet in Tränen aus.
Als sie Autos heranfahren hörte, ging sie zum Fenster und sah eine ganze Fahrzeugkolonne vorfahren: Eine schwarze Limousine und mehrere Wagen, alle mit getönten Scheiben. Jemima sah zu, wie Männer ausstiegen und sich verteilten. Alle trugen Anzug und Sonnenbrille. Schließlich stieg Luciano aus der Limousine, und alles um ihn herum verblasste. Trotz seines unauffälligen Outfits aus verwaschener Jeans und schwarzem Pullover verschlug sein Anblick ihr den Atem.
Die Hose betonte seine langen muskulösen Beine und die schmalen Hüften, der dunkle Pullover sein schwarzes Haar und den olivfarbenen Teint. Mit trockenem Mund stand Jemima da und wünschte sich, dieselbe mühelose Eleganz wie er zu besitzen.
Dann stieg plötzlich eine schlanke Blondine aus dem Wagen. Nachdem Luciano kurz mit ihr gesprochen hatte, stieg sie wieder ein. Wer war das? Seine Freundin?
Das geht dich nichts an, ermahnte Jemima sich. Sie trat vom Fenster zurück und atmete tief durch. Dann öffnete sie die Tür.
„Guten Tag, Mr. Vitale …“
„Hallo, Miss Barber“, sagte er, ohne zu lächeln, und trat ein. Sein perfektes Gesicht drückte kühle Distanz aus.
„Nicky ist hier …“ Sie schob die Tür zum Wohnzimmer auf, wo Nicky umgeben von seinem Lieblingsspielzeug auf dem Fußboden saß.
„Er heißt Niccolò“, korrigierte Luciano sie sofort. „Ich mag keine Verniedlichungen. Außerdem wäre ich gern mit meinem Sohn allein, wenn ich ihn kennenlerne.“
Überrascht und bestürzt sah sie ihn an, doch er würdigte sie keines Blickes, sondern hatte seine gesamte Aufmerksamkeit auf Nicky, nein, auf Niccolò gerichtet. Lucianos Tigeraugen glänzten, als er seinen Sohn das erste Mal sah. Fasziniert beobachtete Jemima, wie seine strengen Gesichtszüge sanft wurden und sich sein wunderschöner Mund entspannte.
„Vielen Dank, Miss Barber“, sagte Luciano Vitale, ging ins Wohnzimmer und machte die Tür vor ihrer Nase zu.
Seufzend setzte Jemima sich auf die kleine Bank, die beim Telefon neben der Haustür stand. Es ist doch klar, dass er keine Zuschauer dabeihaben will, versuchte sie sich zu beschwichtigen.
Aber wer war die Frau, die draußen im Wagen auf ihn wartete? War sie Lucianos Freundin, und wenn ja, wohnten sie dann zusammen? Hatten sie sich für eine Leihmutterschaft entschieden, weil sie keine Kinder bekommen konnte? Und warum war ihr das alles überhaupt wichtig?
Es war wichtig, weil ihr Nicky und seine Zukunft am Herzen lagen. Aber ein Mitspracherecht würde sie nicht haben.
Als aus dem Wohnzimmer ein Wimmern zu hören war, zuckte sie zusammen. Nicky war in einer Phase, in der er noch fremdelte. Luciano redete leise und beruhigend auf den Jungen ein – und wurde mit lautem Weinen belohnt. Am liebsten wäre Jemima aufgesprungen, doch sie sollte sich nicht einmischen und umklammerte daher den Rand der Bank so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Nicky weinte immer kläglicher, aber sie wusste, dass sie lernen musste, sich zurückzunehmen. Luciano Vitale war Nickys Vater und somit sein engster Verwandter – das musste sie nun einmal akzeptieren.
Als Nickys Weinen dann jedoch in ohrenbetäubendes Schreien überging, öffnete sich abrupt die Wohnzimmertür. „Sie sollten besser herkommen … er hat Angst“, sagte Luciano schroff.
Das musste er Jemima nicht zweimal sagen: Sie sprang auf und eilte an ihm vorbei. Sobald Nicky sie sah, streckte er die Ärmchen nach ihr aus und wollte hochgehoben werden. Jemima zog ihn an sich, und er klammerte sich schluchzend an ihr fest, das Köpfchen an ihrem Hals geborgen.
Aufgebracht und fassungslos betrachtete Luciano die Szene. Niccolò hielt sich mit den Händchen am T-Shirt seiner Mutter fest und versteckte sich vor dem Fremden, der ihm offensichtlich Angst machte – und sich doch nur mit ihm hatte anfreunden wollen. Während Jemima den weinenden Jungen beruhigte, machte er widerstrebend zwei Feststellungen: Sein Sohn hing mehr an seiner Mutter, als er erwartet hatte. Und offenbar konnte nur Jemima ihm die Geborgenheit vermitteln, die er brauchte, um sich sicher zu fühlen. Das machte Lucianos Vorhaben kompliziert.
Sein Blick glitt zu ihrem wohlgeformten Po, der von ihrer Jeans betont wurde. Als er eine Erektion bekam, schaute er stattdessen schnell wieder auf den dunklen Lockenkopf seines Sohns. Es war ja nachvollziehbar, dass er kurvige Frauen mochte, die auch wie Frauen aussahen statt wie schlanke junge Männer. Doch es machte ihn wütend, dass er auf Jemima Barber so reagierte.
„Er zahnt gerade, deshalb ist er ein bisschen weinerlich“, versuchte sie Nickys Verhalten zu erklären. „Um diese Uhrzeit wird er ohnehin schnell quengelig, weil er müde ist …“
„Auf mich wirkt er völlig verstört. Ist er es nicht gewohnt, neue Menschen kennenzulernen?“, fragte Luciano ironisch.
„Er ist eher an Frauen gewöhnt.“
„Aber als Sie in London waren, haben sich doch bestimmt Ihre Eltern um ihn gekümmert.“
Damit rief er Jemima wieder die Lügengeschichte in Erinnerung, an die sie sich halten musste. Während sie unterrichtet und das Geld für Nickys Betreuung verdient hatte, war Julie in London gewesen.
„Dad ist zwar Rentner, aber ziemlich aktiv und viel unterwegs, sodass Nicky ihn kaum zu Gesicht bekommen hat“, sagte sie widerstrebend, denn in Wahrheit liebte der kleine Junge seinen Großvater über alles.
Nicky schob sich den Daumen in den Mund und schmiegte sich mit einem letzten leisen Wimmern an sie. „Tut mir leid“, sagte sie unbehaglich. „Er wird sich schon noch an Sie gewöhnen.“
Luciano presste den Mund zusammen. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
„Ist das Ihre Freundin, die draußen im Wagen auf Sie wartet?“, fragte Jemima unvermittelt. Es interessierte sie brennend. Außerdem wollte sie das Thema wechseln und nicht mehr darüber sprechen, was in den letzten Monaten passiert war.
Luciano runzelte die Stirn und zog die elegant geschwungenen Augenbrauen hoch. Seine dunklen Augen, die von dichten dunklen Wimpern umgeben waren, wirkten hart. „Nein, das ist das Kindermädchen, das ich für Nicky engagiert habe.“
„Ein Kindermädchen?“, wiederholte Jemima entgeistert.
„Ich werde jemanden brauchen, der mich bei der Betreuung meines Sohns unterstützt“, entgegnete er. Die Mutter seines Sohns war zu einem Problem geworden, für das er noch keine Lösung gefunden hatte. Jedenfalls würde er ganz bestimmt nicht den absurden Vorschlag seines Anwalts annehmen. Als das Ergebnis des DNA-Tests vorlag, hatte Charles Bennett ihm nahegelegt, Jemima zu heiraten.
„Die Ehe würde nur auf dem Papier bestehen“, hatte er erläutert. „So könnten Sie auf einen Schlag die Geburt Ihres Sohnes legitimieren, schwierige Erbschaftsfragen klären, die in der Zukunft auftreten könnten, und auf legalem Weg das Sorgerecht für Ihren Sohn erlangen. Ihrer Exfrau könnten Sie dann eine Abfindung zahlen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine geradezu perfekte Lösung!“
Ein perfekter Albtraum, dachte Luciano. Auf keinen Fall würde er seinen Namen einer Frau geben, die stahl und sich wie eine Prostituierte verhielt.
Er hat schon ein Kindermädchen engagiert, dachte Jemima verzweifelt und voller Panik. Offenbar wollte Luciano ihr Nicky so bald wie möglich wegnehmen.
Luciano betrachtete seinen kleinen Sohn, der friedlich an der Schulter seiner Mutter einschlummerte. Er könnte ihn Jemima einfach entreißen, so wie er selbst seiner liebevollen Mutter entrissen worden war. Damals war er fast drei Jahre alt gewesen, doch er hatte dieses schreckliche Erlebnis nie vergessen. Das Ganze war mit Gewalt und Blutvergießen einhergegangen, und er war traumatisiert gewesen. So etwas würde er natürlich niemals tun. Er verachtete Jemima Barber zwar, doch er wünschte ihr nicht den Tod, nur weil sie seine Pläne durchkreuzt hatte. Gleichzeitig nahm er ihr zutiefst übel, wie sie seinen Sohn in den Armen hielt.
„Nicky ist ein sehr emotionales Kind“, sagte sie vorsichtig. „Er ist leicht aus der Ruhe zu bringen.“
„Es überrascht mich, dass er so an Ihnen hängt, obwohl Sie die meiste Zeit in London waren und ihn anderen Menschen überlassen haben“, sagte Luciano.
„Ich habe mehr Zeit mit Nicky verbracht, als Sie offenbar glauben“, protestierte Jemima. „Natürlich hängt er an mir!“
„Aber Sie hatten von Anfang an vor, ihn wegzugeben“, stellte er kühl fest. „Hätten Sie ihn da nicht besser auf die Trennung vorbereiten sollen?“
Eine feine Röte breitete sich auf ihrem Porzellanteint aus. „Ich wusste ja nicht, ob es dazu kommen würde“, wehrte sie sich heftig.
„Ich hätte mich durch nichts davon abhalten lassen, meinen Sohn einzufordern. Seit Sie damals von der Bildfläche verschwunden sind, ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an ihn gedacht hätte.“ Lucianos Augen funkelten herausfordernd. „Er gehört zu mir …“
„Ja“, stimmte Jemima atemlos zu, denn sein durchdringender Blick brachte sie völlig durcheinander. „Aber Nicky wegzugeben ist nicht so einfach, wie … wie ich es mir vorgestellt hatte.“
Gleichgültig zuckte Luciano mit den breiten Schultern. „Immerhin haben Sie einem Psychiater überzeugend versichert, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.“
Tiefe Verzweiflung erfasste sie. „Manche Dinge ändern sich eben …“, flüsterte sie.
„Ich will meinen Sohn“, sagte er unverblümt.
Als ihr plötzlich ein Gedanke kam, sprach sie ihn aus, ohne darüber nachzudenken: „Könnte ich nicht sein Kindermädchen sein? Auch wenn es nur für kurze Zeit ist?“
Entgeistert sah Luciano sie an. „Sie? Sind Sie verrückt geworden?“
„Nur bis Nicky sich an sein neues Leben gewöhnt hat. Immerhin habe ich als ausgebildete Vorschullehrerin viel Erfahrung im Umgang mit Kindern.“
„Offenbar war Ihnen diese Arbeit nicht lukrativ genug. Sonst hätten Sie ja nicht als Escort-Dame angefangen, weil Sie sich davon leicht verdientes Geld versprochen haben.“
Jemima war wie erstarrt. „Als … als Escort-Dame?“
Luciano seufzte. „Sie können mir nichts vormachen, ich weiß alles über Sie. Sie haben in London als Escort-Dame gearbeitet und waren bei älteren Männern sehr beliebt, bis Sie angefangen haben, Ihnen die Brieftaschen zu klauen. Ich habe mit der Agentur gesprochen, über die Sie bis zu Ihrem Rauswurf gebucht wurden.“
Jemima, die aschfahl geworden war, öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Sie hörte ihr Herz fast ohrenbetäubend laut schlagen. Am liebsten hätte sie Luciano nicht geglaubt, doch sie wusste, dass Julies Geldgier stärker gewesen war als ihre Selbstachtung. Eine Escort-Dame, die besondere Dienste anbot? Die Vorstellung erfüllte sie mit tiefer Scham. Dass ihre Schwester Brieftaschen und Kreditkarten gestohlen hatte, war offenbar nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Julie hatte sich selbst ebenso bedenkenlos für Geld verkauft wie ihren kleinen Sohn.
„Es war eine sehr exklusive Escort-Agentur“, sagte Luciano. Ihre tiefe Verlegenheit befriedigte ihn weit weniger, als sie sollte.
„Mit anderen Worten, jemand wie ich kommt für Sie als Nanny nicht infrage“, stellte Jemima niedergeschlagen fest.
„Nein. Mein Sicherheitsteam und das Kindermädchen werden Niccolò morgen abholen und ihn nach London bringen, damit er tagsüber bei mir ist.“ Als er ihren fassungslosen Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Ich möchte natürlich Zeit mit meinem Sohn verbringen.“
„Und was passiert dann?“, fragte sie hilflos.
„Dann nehme ich ihn mit nach Hause, nach Sizilien. Ihnen war doch von Anfang an klar, wie die Sache abläuft. Es bringt nichts, die Angelegenheit für alle komplizierter zu machen.“
Jemima sank in sich zusammen. Julie hatte die Bezahlung angenommen und den Vertrag unterschrieben. Sie konnte nicht verhindern, dass Luciano seinen Sohn mitnahm – es sei denn, sie wandte sich an die Presse. Doch was würde ihr das bringen, und was für Folgen hätte es für Nicky? Wenn die Behörden die wahren Umstände von Nickys Geburt kannten, würden sie über seine Zukunft entscheiden. Wahrscheinlich würde er dann zur Adoption freigegeben werden, und weder sie noch Luciano würden ihn je wiedersehen.
Nein, es hatte keinen Sinn, sich Hilfe zu holen. Dass Jemima an Julies Lüge festgehalten hatte, würde von den Behörden gegen sie verwendet werden – und auch von Luciano, falls er es je herausfinden sollte.
„Könnten Sie mich vielleicht nach London mitnehmen?“, wandte Jemima sich betont fröhlich an das Kindermädchen, das vor ihrer Tür stand. „Ich könnte Ihnen dann während der Fahrt erzählen, was Sie in Bezug auf Nicky wissen müssen.“
„Also, ich …“ Lisa war etwas perplex und blickte zu dem großen breitschultrigen Bodyguard hinüber. Dieser zog ein Handy heraus. Ganz offensichtlich war es nicht erlaubt, auch nur im Geringsten vom Plan abzuweichen, ohne vorher die Erlaubnis von Luciano Vitale einzuholen.
Jemima hatte wirklich nicht vor, sich in Lucianos Tag mit Nicky einzumischen, sondern wollte einfach eingreifen und helfen können, falls etwas schieflaufen sollte.
„Ich würde gern die Gelegenheit nutzen, um shoppen zu gehen“, schwindelte sie nervös, während der Bodyguard auf Italienisch mit Luciano konferierte.
„So etwas entscheidet Mr. Vitale.“ Lisa lächelte entschuldigend. „Und ich möchte nicht gleich an meinem ersten Arbeitstag etwas falsch machen. Aber natürlich wäre es gut, mehr über Ihren Sohn zu erfahren.“
„Miss Maurice?“ Der Mann reichte Lisa das Handy, die blass wurde und sehr angespannt wirkte. Offenbar erhielt sie Anweisungen. Nachdem sie mehrfach Ja und Nein gesagt hatte, gab sie das Handy an Jemima weiter. Diese fand die Situation so absurd, dass sie lachen musste.
„Wie schön, dass Sie Grund zum Lachen haben“, sagte Lu-ciano scharf.
„Verstehen Sie das bitte nicht falsch“, sagte Jemima schnell. „Ich verspreche Ihnen, dass Sie mich heute weder zu Gesicht bekommen noch von mir hören werden. Ich möchte einfach nach London, um … ähm … um zu shoppen.“
„Sie lügen“, stellte er fest. „Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, werde ich ihre Bitte nicht einmal in Erwägung ziehen.“
„Also gut. Ich möchte gern da sein, für den Fall, dass Sie mich brauchen. Das ist alles.“
Luciano biss die Zähne zusammen. Wie konnte sie nur so unverfroren sein? „Und warum sollte ich Sie brauchen?“, fragte er ungeduldig.
„Na ja, eigentlich nicht Sie, sondern Nicky“, korrigierte Jemima sich. „Und etwas weniger Anspannung wäre gut. Nicky kann sehr launisch sein. Am besten kommt man mit ihm zurecht, wenn man ruhig, entspannt und …“
„Wollen Sie mir etwa vorschreiben, wie ich mich zu verhalten habe?“, fragte Luciano ungläubig.
„Ich möchte doch nur helfen!“
„Sie gehen mir auf die Nerven.“
„Sie mir auch“, erwiderte Jemima und seufzte frustriert.
Luciano war fassungslos. Wie konnte sie es wagen – diese Frau, die stahl und sich verhielt wie eine Hure … aber auch die Mutter seines Sohnes war.
„Sie können mit meinen Mitarbeitern nach London fahren und Niccolò um fünf wieder zurückbegleiten. Und jetzt geben Sie das Handy Rico zurück“, sagte er.
Jemima tat, wie ihr geheißen. Dann reichte sie dem zweiten Bodyguard Nickys Tasche und schloss mit ihrem Neffen auf dem Arm die Haustür ab.
„Was für ein Theater wegen rein gar nichts“, hätte sie am liebsten zu Lisa gesagt, als sie mit ihr in den Wagen stieg und Nicky in den sehr teuren Babysitz setzte. Vorsichtshalber hielt sie aber lieber den Mund. Luciano schien ein eigensinniger Tyrann zu sein, dessen Launen von seinen eingeschüchterten Angestellten geduldig ertragen wurden. Wahrscheinlich würde er jeden, der sich gegen ihn behauptete, sofort entlassen. Ich könnte keine fünf Minuten für ihn arbeiten, dachte Jemima, die ihren eigenen Kopf und einen sehr starken Willen hatte. Deshalb war es bestimmt gut, dass er ihren Vorschlag, sie als Kindermädchen zu engagieren, nicht angenommen hatte.
Doch sie war sehr erleichtert, dass sie nach dem Tag in London mit Nicky zusammen zurückfahren würde. Sie hatte nämlich befürchtet, Luciano würde ihn nicht wieder zu ihr lassen. So konnte sie bis zum gefürchteten endgültigen Abschied noch ein wenig mehr Zeit mit ihm verbringen.
In London angekommen, gab Jemima Lisa ihre Handynummer und bat darum, an einer U-Bahn-Station abgesetzt zu werden. Aber auf einen Schaufensterbummel hatte sie keine Lust, denn sie konnte sich ohnehin nichts kaufen. Seit ein paar Monaten war sie ständig pleite und überlegte sich jede Ausgabe sorgfältig. Und so gerne sie sich auch ein neues Outfit gegönnt oder die Kosmetik nachgekauft hätte, die schon lange alle war – eigentlich brachte sie diese Opfer gern. Denn so war Nicky gut versorgt, und ihre Eltern konnten beruhigt ihren Ruhestand genießen.
Seit jeher versuchte sie, das Beste aus dem zu machen, was das Leben ihr bescherte, und das tat sie auch heute: Sie beschloss, ins British Museum zu gehen, wo man keinen Eintritt bezahlen musste, dann in den Kensington Gardens ein kleines Picknick zu machen und sich schließlich die Galerie Tate Modern anzusehen. Gerade schlenderte sie am Ufer der Themse entlang, als ihr Handy klingelte.
„Niccolò ist krank. Wo sind Sie?“, fragte Luciano. „Ich lasse Sie abholen.“
Auf ihre angstvollen Fragen erhielt Jemima keine befriedigenden Antworten, außer dass es nichts Gefährliches war. Luciano wollte, dass sie so schnell wie möglich bei dem Kleinen war, um ihn zu trösten.
Als die Limousine am vereinbarten Treffpunkt vorfuhr, war ihr fast übel vor Sorge. Jemima stieg ein und wurde quer durch London zu einem sehr exklusiven Apartmenthaus gefahren. Dort fuhr sie, begleitet von zwei Bodyguards, in einem verglasten Aufzug nach oben ins Penthouse.
„Sie wollten doch in der Nähe bleiben!“, fuhr Luciano sie an, als sie eintrat.
Jemima hatte beruflich häufig mit beunruhigten oder verärgerten Eltern zu tun und erkannte, dass auch er in diese Kategorie fiel. Luciano besaß sehr viel Macht und hatte alles und jeden in seinem Umfeld unter Kontrolle. Doch Nickys Unwohlsein machte ihn hilflos, deshalb reagierte er verärgert. Außerdem hörte sie Nickys verzweifeltes, erstickt klingendes Weinen und wollte keine Zeit damit verschwenden, sich mit seinem Vater zu streiten. „Wo ist er?“
Luciano legte ihr eine Hand auf den Rücken und schob sie in Richtung des Weinens. „Der Arzt ist bei ihm.“
Sie hatte noch nie einen so dominanten Mann wie ihn erlebt. Es schien ihm in den Genen zu liegen, selbstherrlich über alle Menschen hinwegzugehen, die weniger wichtig waren als er. „Viel geholfen hat das bisher allerdings nicht.“
Eine erschöpft wirkende Lisa ging mit dem schreienden Nicky auf dem Arm hin und her. Heute Morgen hatte sie perfekt ausgesehen, jetzt war ihr langes Haar zerzaust, und ihre Bluse hatte Flecken von Essensresten. Der Arzt, ein älterer Mann mit Brille, betrachtete unbehaglich die Szene.
„Was fehlt ihm denn?“, fragte Jemima besorgt.
„Er hat eine ganz leichte Mandelentzündung, sonst nichts …“
„Wegen einer solchen Lappalie würde mein Sohn nicht so ein Theater machen“, schnitt Luciano ihm wütend das Wort ab.
„Doch, das würde er.“ Jemima sah Luciano entschuldigend an. „Nicky macht ein riesiges Theater, wenn er krank ist. Er hatte schon mehrmals Mandelentzündung und hat mich jedes Mal die ganze Nacht wach gehalten.“
Als Nicky ihre Stimme hörte, begann er zu zappeln. Schnell überreichte Lisa ihn Jemima. „Er will wohl zu seiner Mum.“
„Vielleicht können Sie Nickys Vater ja erklären, dass sein Sohn nicht ernsthaft krank ist“, sagte der Arzt vorsichtig. „Das Baby hat leichtes Fieber, einen rauen Hals und möglicherweise auch Ohrenschmerzen.“
Nicky wimmerte leise und schmiegte sich erschöpft an Jemimas Schulter.
„Achten Sie darauf, dass er genug trinkt“, riet der Arzt mit vorsichtigem Blick in Lucianos Richtung. „Wenn Sie ihm die Medizin geben, geht es ihm in ein paar Tagen wieder gut.“
„Vielen Dank.“ Jemima sank auf einen bequemen Ledersessel und nahm von Lisa eine Nuckelflasche mit Wasser entgegen. Dann blickte sie zu Luciano hinüber, der auf der anderen Seite des Zimmers stand. Nun weiß ich, von wem er sein Temperament hat, dachte sie trocken.
Als Nicky energisch den Kopf zur Seite drehte und sich weigerte, aus der Flasche zu trinken, fragte sie: „Möchtest du lieber deinen Becher?“
Sie suchte den Baby-Trinkbecher aus der Tasche und goss etwas Wasser hinein.
„Der Kleine weiß offenbar genau, was er will“, stellte Lisa fest.
„Allerdings.“ Jemima hielt Nicky den Becher an den Mund. Er begann zu trinken – und schluchzte leise, als er schlucken musste. Jemima lobte ihn liebevoll dafür, dass er so tapfer war.
Lucianos goldbraune Augen funkelten frustriert, während er die Szene beobachtete. Es war nicht zu leugnen: Jemima wusste einfach, wie sie mit Nicky umgehen musste, sie kannte ihn sehr genau und ging routiniert und liebevoll auf seine Bedürfnisse ein.
Dagegen hatten weder er noch das hochqualifizierte Kindermädchen seinen Sohn beruhigen können. Ob kleine Jungen ihre Mutter besonders brauchten? Und wie sollte sein Sohn ohne sie zurechtkommen – besonders nach dem abrupten Abschied? Luciano, der solche Fragen und Sorgen normalerweise verdrängte, war irritiert und überfordert. Angespannt wies er einen seiner Sicherheitsmänner an, den Arzt hinauszubegleiten.
„Nicky hat nichts Ernstes“, erinnerte Jemima ihn leise. „Sie können sich entspannen.“
„Wie, verdammt noch mal, soll ich das machen, wenn mein Sohn leidet?“, entgegnete er scharf.
„Manche Dinge kann man eben nicht schnell in Ordnung bringen, und dazu gehören auch alle normalen Kinderkrankheiten“, erklärte sie sanft. Dass Nicky seinem Vater wichtig war, hatte dieser – ohne es zu wollen – nun eindeutig bewiesen, wenn auch auf aggressive Art und Weise. Aber er war nun einmal ein aggressiver Mensch. Eine innere Stimme sagte ihr, dass Luciano Vitale ihr nichts Privates oder Persönliches freiwillig anvertrauen würde, und dazu gehörten auch seine Gefühle für seinen kleinen Sohn. Also zügele deine Neugier, ermahnte sie sich, als Nicky auf ihrem Schoß einschlief.
Unruhig ging Luciano hin und her und strich sich dabei durch das glänzende schwarze Haar. Um Wangen und Kinn war ein Schatten dunkler Bartstoppeln zu sehen. Offenbar gehörte er zu den Männern, die sich zweimal am Tag rasieren mussten. Er hatte sich die rote Krawatte gelockert und den obersten Knopf seines weißen Hemds geöffnet, sodass er nun menschlicher und weniger perfekt wirkte. Jemima verspürte eine gewisse Befriedigung darüber, dass sein Sohn für ihn eine größere Herausforderung darstellte als erwartet, doch sie ermahnte sich sofort innerlich. Eigentlich sollte sie froh darüber sein, dass es ihm so wichtig war, seinen Sohn kennenzulernen.
Als Lisa wieder auftauchte, verkündete Luciano: „Das Kindermädchen wird meinen Sohn jetzt ins Bett bringen. Und wir beide müssen uns unterhalten.“
Stirnrunzelnd überreichte Jemima ihren Neffen der jungen Frau, die mit Nicky hinausging. „Worüber wollen Sie denn mit mir reden?“, fragte sie erstaunt.
Luciano betrachtete sie kühl. „Tun Sie doch nicht so ahnungslos! Mir ist unverblümte Ehrlichkeit lieber. Sie haben mir ja deutlich gezeigt, dass Sie so viel Profit wie nur möglich daraus schlagen wollen, dass Sie meinen Sohn zur Welt gebracht haben“, sagte er verächtlich. „Ich möchte einfach, dass er glücklich ist. Und ganz offensichtlich wird er das – zumindest kurzfristig – nicht sein, wenn Sie aus seinem Leben verschwinden.“
Jemima war überrascht, dass er dies eingestand.
„Es gibt zwar nichts an Ihnen, das ich respektiere oder bewundere, doch mein Sohn hängt an Ihnen“, fuhr er düster fort. „Und ich will ihm keinen Schaden zufügen, indem ich Sie unvermittelt aus seinem Leben ausschließe. Ich muss Rücksicht auf seine Empfindungen nehmen. Er hat sich die ungewöhnlichen Umstände seiner Geburt schließlich nicht ausgesucht.“
Dass Luciano seine Abneigung gegen sie so deutlich zeigte, tat Jemima erstaunlich weh. Doch es war kein Wunder, dass er so eine schlechte Meinung von ihr hatte: Schließlich hielt er sie für Julie.
Als sich vor Schuldbewusstsein eine feine Röte über Jeminas zarten Porzellanteint legte, betonte das ihre eisblauen Augen noch stärker. Sie erinnerten Luciano an die hellen Aquamarine, die er einmal im Schmuckkasten seiner Mutter gesehen hatte. Jeder Mann würde auf diese Augen und diesen sinnlichen Mund reagieren, redete er sich ein und ließ den Blick zu ihren üppigen Brüsten unter dem schlichten T-Shirt gleiten. Unwillkürlich fragte er sich, welche Farbe wohl ihr BH haben mochte. Hör auf, ermahnte er sich. Du bist schließlich kein Schuljunge. Außerdem lagen ihm unzählige Frauen zu Füßen, die mehr Sex-Appeal und Klasse hatten und schöner waren als Jemima Barber.