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VERFÜHRT VON EINEM PRINZEN von KATE HEWITT Der faszinierende Prinz Leo muss Phoebe bloß ansehen, und ihr Herz schlägt höher. Doch Vorsicht: Versucht er sie etwa nur zu verführen, weil ihr kleiner Sohn der rechtmäßige Thronfolger seines hoch im Norden gelegenen Fürstentums ist? IM SCHLOSS UNSERER LIEBE von MARION LENNOX Fünf Jahre war Kelly getrennt von ihrem kleinen Sohn, dem Thronerben von Alp de Ciel. Doch plötzlich taucht der Prinzregent Rafael de Boutaine bei ihr auf. Er will das Unrecht an ihr gutmachen und sie an den Hof zurückholen! Unter einer Bedingung: Kelly heiratet ihn … DER PRINZ VON ARAGOVIA von LILIAN DARCY Die zukünftige Regentin von Aragovia! Stephen geht das Herz auf, als er die Neugeborene sieht. Sofort will der Prinz von Aragovia die Kleine in sein Heimatland mitnehmen. Doch wird auch die betörende Suzanne ihn begleiten, die sich so rührend um das Baby kümmert?
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Seitenzahl: 532
Kate Hewitt, Marion Lennox, Lilian Darcy
JULIA ROYAL BAND 31
IMPRESSUM
JULIA ROYAL erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage 2024 in der Reihe JULIA ROYAL, Band 31
© 2009 by Kate Hewitt Originaltitel: „Royal Love-Child, Forbidden Marriage“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Marion Koppelmann Deutsche Erstausgabe 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 316
© 2008 by Marion Lennox Originaltitel: „Wanted: Royal Wife and Mother“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Iris Pompesius Deutsche Erstausgabe 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA, Band 1788
© 2002 by Melissa Benyon Originaltitel: „Finding Her Prince“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Alexa Christ Deutsche Erstausgabe 2003 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 216
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751525374
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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„Wie viel?“
Gebannt sah Phoebe Wells den Mann an, der ihr gegenüber lässig auf einem Stuhl saß. Lächelnd erwiderte er ihren Blick aus halb geschlossenen Lidern. Sein schwarzes Haar war leicht zerzaust, die obersten Hemdknöpfe standen offen und zeigten seine sonnengebräunte Haut.
„Wie viel wovon?“ Unwillkürlich verstärkte Phoebe den Griff um den Trageriemen ihrer Handtasche. Dabei musste sie sich zusammennehmen, um nicht zu schreien. Gegen ihren Willen war sie von zwei Regierungsbeamten in den Palast gebracht worden. Am liebsten hätte sie die Männer gefragt, ob sie nun verhaftet würde.
Doch die beiden schoben sie einfach in einen Empfangsraum, in dem sie dann zwanzig Minuten allein warten musste. Kurz bevor dieser Mann – Anders’ Cousin Leo Christensen – hereinkam, wäre sie beinah in Panik verfallen. Als er ihr jetzt diese Frage stellte, wusste Phoebe überhaupt nicht, worum es ging.
Sie wünschte, Anders wäre da. Sie wünschte, er hätte sie nicht dem Spott seines Cousins überlassen. Mit einem neuerlichen Anflug von Panik wurde ihr bewusst, dass sie sich trotz allem wünschte, den Mann näher kennenzulernen.
„Wie viel Geld, Sie kleine Abzockerin! Wie viel Geld muss ich in die Hand nehmen, damit Sie meinen Cousin in Ruhe lassen?“
Natürlich, darauf hätte sie gefasst sein müssen. Zwar kannte sie die Christensens nicht, wusste aber, dass die Mitglieder der Fürstenfamilie von Amarnes sich strikt dagegen verwehrten, dass irgendeine Unbekannte den Thronfolger heiratete. Sie hatte Anders in einer Bar in Oslo kennengelernt und nichts über seine Herkunft gewusst. Er fiel ihr nur gleich auf, mit seinem blonden Haar und der charmanten Art. Dabei besaß er eine lässige Eleganz und Selbstsicherheit, die sie wie magisch anzog. Selbst jetzt, unter dem forschenden Blick seines Cousins, erinnerte sie sich noch gern an diesen Moment und an ihre Liebe. Doch, wo war Anders überhaupt? Wusste er, dass sein Cousin versuchte, sie zu bestechen?
Phoebe drückte die Schultern durch und zwang sich, Leos höhnischen Blick offen zu erwidern. „Ich fürchte, so viel Geld haben Sie nicht.“
„Lassen wir es darauf ankommen“, erwiderte er mit einem kalten Lächeln.
Der Kerl machte sie wütend, so wütend, dass sie ihre Angst vergaß. „Sie haben nicht genug, weil man mich nicht kaufen kann, Mr. Christensen!“, schnaubte sie.
„Euer Gnaden. Mein offizieller Titel lautet ‚Prinz von Larsvik‘.“
Das erinnerte Phoebe wieder daran, mit welchen Leuten sie es hier zu tun hatte. Mit einer Königsfamilie, die sie nicht wollte … mit Ausnahme von Anders. Aber das reichte ihr. Mehr als genug.
Als er sie seiner Familie vorstellen wollte, wusste Phoebe nicht, dass sie den Fürsten und die Fürstin von Amarnes kennenlernen würde. Und Leo, einen Mann, den sie schon aus der Klatschpresse kannte. Dort tauchte er ständig auf, meistens als Hauptfigur in einem schmutzigen Drama um Frauen, Autos und Spielschulden. Anders hatte ihr von Leo erzählt und sie vorgewarnt. Und jetzt, wo sie vor ihm stand, glaubte sie Anders jedes Wort.
Er stand immer schon unter einem schlechten Einfluss. Meine Familie hat versucht, ihn auf den rechten Weg zu bringen und gedacht, ich könnte dabei behilflich sein. Aber Leo kann niemand helfen …
Und wer half ihr? Anders hatte seinen Eltern am Abend zuvor von ihr erzählt. Offenbar war das Gespräch nicht besonders gut verlaufen. Darum hatten sie Leo geschickt, damit er das Problem aus der Welt schaffte. Phoebe schluckte, um nicht hysterisch aufzulachen.
Dann schüttelte sie den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass sie ihn nicht mit seinem Titel ansprechen würde. Außerdem durfte er nicht erfahren, wie aufgewühlt sie war. Doch sein höhnisches Lächeln bewies, dass er es längst wusste.
Dann hatte sie ja nichts zu verlieren. Sie hob das Kinn. „Na schön, Euer Gnaden, kein Geld der Welt kann mich dazu bringen, Anders zu verlassen.“ Hehre Worte! Aber wo war Anders eigentlich?
Einen Augenblick sah Leo sie böse an, bevor er verächtlich die Mundwinkel herunterzog und sich abwandte. „Wie ungewöhnlich, wie bewundernswert! Dann ist es also wahre Liebe?“
Aus seinem Mund klang das, was sie mit Anders verband, so banal und billig. Phoebe fühlte sich gedemütigt und war verärgert zugleich. „Ja, das ist es.“
Leo schob die Hände in die Taschen und schlenderte zum Fenster, das einen herrlichen Blick auf den Vorplatz des fürstlichen Palastes bot. Es war ein herrlicher Sommermorgen, nur hier und da bedeckte eine Schäfchenwolke den ansonsten strahlend blauen Himmel.
„Wie lange kennen Sie meinen Cousin doch gleich?“, fragte er schließlich.
Nervös hängte Phoebe ihre Handtasche über die andere Schulter. „Zehn Tage.“
Er drehte sich um, und sein Blick sagte alles. Obwohl Phoebe spürte, wie sie errötete, wusste sie, dass Anders’ Gefühle für sie echt waren. Sie richtete sich auf. Es konnte ihr doch egal sein, was der Playboy-Prinz von ihr dachte. Doch wie sie ihm jetzt so gegenüberstand, spürte sie, dass noch etwas anderes von ihm ausging, etwas viel Erschreckenderes und Gefährlicheres als sein Playboy-Gehabe vermuten ließ.
„Und Sie glauben, dass zehn Tage ausreichen, um jemanden gut genug zu kennen?“, fragte er jetzt mit dieser aufgesetzt freundlichen Stimme. „Um jemanden lieben zu lernen?“
Entschlossen, standhaft zu bleiben, zuckte sie mit den Schultern. Sie hatte nicht vor, ihre Gefühle für Anders zu rechtfertigen. Es würde nur gezwungen und dümmlich klingen, und genau das wollte Leo erreichen.
„Ist Ihnen klar“, fuhr er nun in dem gleichen sanften Tonfall fort, „dass Sie Fürstin werden, falls er Sie heiratet? Was wir natürlich auf keinen Fall zulassen werden.“
„Das müssen Sie auch nicht. Anders hat mir gesagt, dass er auf den Thron verzichten wird.“
Leo erstarrte und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Er will abdanken? Hat er das gesagt?“
„Ja“, nickte Phoebe und hob das Kinn.
Problemlos hielt Leos Blick ihrem stand. „Dann wird er niemals Fürst werden.“
„Das will er sowieso nicht!“
„Etwas anderes hat er doch gar nicht gelernt!“, spottete Leo.
„Mir hat er gesagt –“
„Anders weiß eigentlich nie, was er will.“
„Jetzt schon: Er will mich!“
Nachdenklich sah Leo sie an. „Und Sie, wollen Sie ihn?“
„Natürlich.“ Wieder wurde Phoebe nervös. Der Empfangsraum mit seinen schweren Vorhängen und Möbeln wirkte erdrückend, wie ein goldener Käfig. Ob man sie wohl gehen lassen würde? Ihr war klar, dass sie in diesem kleinen, auf seine Unabhängigkeit pochenden Land nicht mit der üblichen Rechtssicherheit rechnen konnte. Und Leo schreckte bestimmt nicht davor zurück, seinen Einfluss geltend zu machen, um seine Ziele zu erreichen.
Wo war nur Anders? Wusste er, dass sie hier war? Warum suchte er nicht nach ihr? Seitdem er seiner Familie ihre Beziehung bekannt gegeben hatte, war er verschwunden.
„Sie kennen ihn also? Gut genug, um ein Leben lang mit ihm ins Exil zu gehen?“
„Ja, weit weg von einer Familie, die ihn weder akzeptiert noch liebt. Anders hat das alles hier nie gewollt, Mr. … Euer Gnaden.“
„Ach, tatsächlich?“ Leos Lachen klang sehr unangenehm. Er kehrte zum Fenster zurück. Während Phoebe wartete, begannen Ungeduld und Angst ihre Hoffnung und Zuversicht zu erschüttern.
„Wären zwanzigtausend amerikanische Dollar ausreichend? Oder müssten es eher fünfzigtausend sein?“
Mit einem Mal war Phoebes Angst wie weggeblasen. Wütend drückte sie die Schultern durch. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Sie nicht genug –“
Leo drehte sich um. „Phoebe, Phoebe, Phoebe“, sagte er beinah zärtlich, „glauben Sie wirklich, dass ein Mann wie Anders Sie glücklich machen kann?“
„Woher will jemand wie Sie das denn beurteilen?“
„Jemand wie ich? Was soll das heißen?“
„Anders hat mir von Ihnen erzählt.“ Außerdem hatte sie gelesen, dass Leo auf nichts und niemanden Rücksicht nahm und sich nicht um Werte scherte. So wie er sich ihr gegenüber bisher verhalten hatte, traf das hundertprozentig zu. „Von Liebe und Treue haben Sie keine Ahnung. Das Einzige, was Sie interessiert, ist Ihr Vergnügen – und ich schätze mal, dabei stehe ich Ihnen gerade im Weg.“
„Das kann man so sagen.“
Einen Moment überlegte Phoebe, ob sie ihn verletzt hatte. Aber nein, das war unmöglich. Er lächelte schon wieder, und zwar höchst unangenehm. „Sie wissen ja gar nicht, Miss Wells, wie sehr.“ Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, sein Blick wurde nachdenklich, sein Lächeln verführerisch. Völlig überraschend machte er einen Schritt auf sie zu. „Was glauben Sie, wäre passiert, wenn Sie mich zuerst kennengelernt hätten?“
„Nichts“, stieß Phoebe hervor. Trotzdem beschleunigte sich ihr Pulsschlag, während Leo mit diesem wissenden Lächeln immer näher kam. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seine Körperwärme spürte und sein Aftershave roch. Doch sie wollte sich nicht einschüchtern lassen und hielt den Kopf gesenkt, damit Leo nicht sah, wie elektrisiert sie tatsächlich war. Gegen ihren Willen wanderte ihr Blick an seiner Knopfleiste hinauf, bis dahin, wo das Hemd offen stand und den Blick auf seine Brust freigab. Bei diesem Anblick zog etwas in ihrem Bauch, das nur eine Ursache haben konnte: Sehnsucht und Verlangen.
Phoebe errötete, und Leo lachte leise. Mit einer Hand strich er ihr eine vorwitzige Locke aus der Stirn, und sie schreckte zurück.
„Sind Sie sich da so sicher?“
„Ja …“, antwortete sie, obwohl es nicht stimmte. Sie wusste es, und er wusste es auch. Sie durfte ihn nicht so nah an sich heranlassen, nicht, wenn sie Anders liebte.
„Sind Sie sich da so sicher?“, wiederholte Leo flüsternd, während seine Hand von ihrer Stirn an ihre Kehle sank, wo ihr Puls so heftig schlug wie die Flügel eines aufgeschreckten Vogels. Mit einem Finger berührte er die empfindsame Vertiefung an ihrem Hals, wobei Phoebe laut aufseufzte. Vor Schreck? Vor Wut?
Aus Lust?
Immer noch brannte die Stelle, wo er sie berührt hatte, und sie spürte, wie seine Verführungskünste ihren Widerstand schwächten. Ihre Knie wurden weich.
„Phoebe!“
Wieder seufzte sie auf, diesmal vor Erleichterung. Dann wich sie unsicheren Schritts von Leo zurück, von seinem wissenden Lächeln und den kundigen Händen. Anders kam ihr lächelnd entgegen und vertrieb all ihre Ängste.
„Ich habe dich gesucht. Niemand wollte mir sagen, wo du bist.“
„Ich bin hier gewesen“, rief sie und eilte mit Tränen der Erleichterung auf ihn zu. „Bei deinem Cousin.“
Darauf warf Anders Leo einen Blick zu, in dem so etwas wie Missmut, Angst oder sogar Eifersucht mitschwangen. Als Phoebe zu Leo sah, stellte sie entsetzt fest, wie unbewegt er den Blick seines Cousins erwiderte.
„Was willst du von Phoebe?“, fragte Anders schlecht gelaunt.
„Nichts, offensichtlich liebt sie dich“, antwortete Leo mit aufgesetztem Lächeln.
„Allerdings.“ Anders legte einen Arm um Phoebe. Dankbar schmiegte sie sich an ihn. Trotzdem war sie sich nach wie vor Leos unbeirrtem Blick bewusst. „Ich weiß nicht, warum du mit ihr gesprochen hast, aber wir sind entschlossen, zusammenzubleiben und –“
„Und diese Entschlossenheit ist wirklich bewundernswert. Ich werde dem Fürst davon Mitteilung machen.“
Anders’ Gesichtsausdruck wurde unnachgiebiger. Er schob die Unterlippe vor und wirkte mit einem Mal wie ein schmollender Sechsjähriger. „Wie du willst. Falls er von dir verlangt haben sollte, mich umzustimmen …“
Bei Leos Lächeln überlief Phoebe eine Gänsehaut. Darin lag keinerlei Freundlichkeit oder Zuneigung.
„Offensichtlich wird mir das nicht gelingen. Was gibt’s da also noch zu sagen?“
„Nichts.“ Anders wandte sich an Phoebe. „Es wird Zeit. Hier haben wir nichts mehr verloren. Wenn wir die nächste Fähre nach Oslo nehmen, erreichen wir vielleicht noch den Nachmittagszug nach Paris.“
Phoebe nickte erleichtert, hätte aber mehr Begeisterung verspüren sollen. Als sie das Zimmer verließ, war sie sich Leos unnachgiebigem Blick bewusst und dem Gefühl, das von ihm ausging und sich eigenartigerweise wie Bedauern anfühlte.
Sechs Jahre später
Es war ein grauer Novembertag in Paris. Der Sprühregen legte sich wie eine Decke auf die adligen Trauergäste, sodass sie bei Phoebe zu Hause am Bildschirm verschwommen wirkten und kaum zu erkennen waren.
Nicht, dass sie jemanden hätte wiedererkennen können, dachte sie, während sie überlegte, welche Nudeln sie heute Abend kochen sollte. Von Anders’ Familie hatte sie nur seinen Cousin Leo kennengelernt und danach nie wieder einen Fuß in sein Heimatland gesetzt.
Das war jetzt sechs Jahre her … eine Ewigkeit, wenn man bedachte, wie sehr sich ihr Leben seitdem verändert hatte. Mit Anders war sie genau einen Monat verheiratet gewesen. Nun war er tot, bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluss ums Leben gekommen. Sie schüttelte den Kopf, unfähig, mehr als nur ein wenig Bedauern für den Mann zu empfinden, der genauso schnell wieder aus ihrem Leben verschwunden war, wie er darin aufgetaucht war. Zumindest verdankte sie diesem verrückten Lebensabschnitt ein wundervolles Geschenk: Christian.
„Ich mag am liebsten grüne Nudeln!“ Der Junge zog an ihrem Ärmel. „Mom, hörst du mir überhaupt zu?“
„Entschuldige, Schatz.“ Lächelnd sah Phoebe zu ihm hinunter. Dabei fiel ihr auf, dass das Wasser für die Nudeln längst kochte. Sie musste sich wieder auf die Gegenwart konzentrieren. Schließlich hatte sie seit Jahren nicht mehr an Anders gedacht. Manchmal hätte man meinen können, dass die kurze, bedauernswerte Romanze mit ihm gar nicht stattgefunden hatte. Trotzdem spülte sein Tod einige Erinnerungen in ihr hoch, besonders dieses schreckliche Verhör im Palast. Nach wie vor erinnerte sich Phoebe an den Blick von Leo Christensen, als er sie berührt hatte … und an ihre Reaktion darauf.
Betroffen stellte sie fest, dass sie sich besser an Leo erinnerte als an Anders. Rasch sah sie sich in der kleinen Küche um, als fürchtete sie, Leo könnte dort irgendwo aus dem Schatten treten. Dann musste sie über ihre eigene Dummheit lachen. Der Mann war Tausende von Meilen entfernt. Sie und Anders hatten sich in aller Stille getrennt, nur kurz nachdem Leo ihr fünfzigtausend Dollar für genau diese Trennung angeboten hatte. Weder von ihm noch von Anders hatte sie seitdem wieder etwas gehört. Sie war mit Christian nach New York gezogen, hatte mit der Unterstützung ihrer Freunde und ihrer Familie ein neues Leben begonnen und den Zwischenfall in Skandinavien in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verbannt. Doch jetzt kehrten all die unliebsamen Erinnerungen zurück.
Abrupt stellte Phoebe den Herd aus. „Wie wär’s mit Pizza, Christian?“
Der Junge war begeistert, und Phoebe holte die Jacken. „Komm, Schatz, lass uns zum Italiener um die Ecke gehen.“
Als es klopfte, waren Mutter und Sohn schon fast an der Tür und sahen einander erschrocken an. Merkwürdig, dachte Phoebe, wie sie gleich gewusst hatten, dass es jemand Fremdes war. Dreimal hatte es laut geklopft, ganz anders als ihre Nachbarin, die alte Mrs. Simpson, anklopfte, die ihr sanftes Pochen immer mit einem freundlichen Hallo begleitete.
„Wer kann das sein?“, murmelte Phoebe.
„Ich mache auf!“ Christian spurtete zur Tür.
„Nein.“ Phoebe stellte sich ihm in den Weg. „Du öffnest bitte niemals einem Fremden die Tür, Sportsfreund!“
Sie atmete tief durch und öffnete selbst. Als sie die beiden Männer im dunklen Anzug draußen stehen sah, bekam sie Angst.
„Mrs. Christensen?“
Den Namen hatte Phoebe schon eine Ewigkeit nicht mehr gehört. Nach der Trennung von Anders hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Doch in Gegenwart dieser Männer und beim Klang des nordischen Namens fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt, zurück nach Amarnes zum Verhör mit Leo …
„Was glauben Sie, wäre passiert, wenn Sie mich zuerst kennengelernt hätten?“, hatte er mit sanfter Verführerstimme gefragt.
„Nichts“, hatte ihre Antwort gelautet.
„Sind Sie sich da so sicher?“, hörte sie ihn jetzt wieder fragen. Gleichzeitig erinnerte sie sich, wie Leo ihre Stirn und dann ihren Hals berührt hatte … Nach all den Jahren wusste sie noch genau, wie schnell sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte.
Entschlossen hob Phoebe das Kinn und sah einem der Männer ins unbewegte Gesicht. „Mein Name ist Wells.“
Der Mann hielt ihr eine Hand hin, die Phoebe nach kurzem Zögern ergriff, aber schnell wieder losließ.
„Ich heiße Erik Jensen. Wir sind Gesandte Ihrer Majestät des Fürsten Nicholas von Amarnes. Würden Sie uns bitte begleiten?“
„Mommy …“ Christian war blass vor Schreck.
„Ich gehe nicht weg.“
Im Gesicht des Beamten zuckte es, und Phoebe dachte einen Augenblick, er hätte Mitleid mit ihr.
„Mrs. Christensen –“
„Wieso nennt dich der Mann so, Mom?“
„Es tut mir leid.“ Jensen lächelte den Jungen an. „Ms. Wells.“ Dann wandte er sich wieder an Phoebe. „Es wäre besser, wenn Sie mit uns kämen. In unserem Konsulat wartet ein Gesandter, um mit Ihnen zu reden.“
„Ich glaube nicht, dass wir etwas miteinander zu besprechen hätten. Alles, was gesagt werden musste, ist vor sechs Jahren gesagt worden.“
„Die Umstände haben sich geändert“, antwortete Jensen geduldig, aber so unbeirrbar, dass Phoebe eine Gänsehaut bekam.
„Mommy …“, Christian zog an ihrem Hosenbein, „… wer sind diese Männer? Warum jagen sie uns Angst ein?“
„Das ist nicht ihre Absicht“, antwortete Phoebe, dabei wollte sie die beiden nicht entschuldigen. „Und ich habe keine Angst vor ihnen.“ Sie versuchte zu lächeln, obwohl sie genauso wie ihr Sohn die Bedrohung spürte.
Warum waren die beiden da? Was wollten sie?
Phoebe atmete tief durch. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Bestimmt sollte sie nur irgendein Schriftstück unterzeichnen, um auf Anders’ Geld zu verzichten. Denn sein Vater hatte zwar darauf bestanden, dass er auf den Thron verzichtete, aber auch nach dem Verzicht hatte Anders sich noch alles leisten können – vor allem Frauen und Champagner.
Es gab keinen Grund, in Panik zu verfallen. Trotzdem spürte Phoebe, wie die Furcht mehr und mehr Besitz von ihr ergriff.
„Mommy …?“
„Ich kann dir das jetzt nicht erklären“, sagte sie lächelnd. „Aber du brauchst keine Angst zu haben. Diese Männer müssen etwas mit mir klären. Du kannst bei Mrs. Simpson bleiben.“
„Nein, ich will mitkommen.“
„Na gut.“ Als sie Christians Hand nahm, protestierte er nicht. Das bewies, wie aufgeregt er war. Entschlossen wandte sie sich wieder den Regierungsbeamten zu, die wie Racheengel in der Tür standen.
„Ich packe nur einige Dinge zusammen, dann können wir los.“ Noch einmal atmete sie tief durch, um ihrer Stimme mehr Festigkeit zu verleihen. „Ich möchte diese Unterredung so schnell wie möglich hinter mich bringen und zum Abendessen wieder hier sein.“
Dazu schwiegen die beiden.
Auf dem Bordstein parkte eine Limousine mit dunkel getönten Scheiben und dem Staatswappen von Amarnes. Ein weiterer dunkel gekleideter Regierungsbeamter stieg aus und bedeutete Phoebe und Christian, auf der Rückbank Platz zu nehmen, als sie sich dem Wagen näherten.
Während sie sich setzte, hörte Phoebe, wie die Türen verriegelt wurden, und fragte sich unwillkürlich, ob sie gerade den größten Fehler ihres Lebens beging. Aber nein, sie würde etwas unterschreiben, auf alle Ansprüche verzichten und wäre im Handumdrehen wieder zu Hause. Danach würde sie diesen Tag aus ihrem Gedächtnis streichen.
Christian saß ganz dicht bei ihr. Er wirkte gefasst, aber sehr aufmerksam. Wie gut er sich unter Kontrolle hatte, rührte sie und machte sie stolz. Sie selbst hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen. Die Zeit war vorbei.
Durchs Fenster beobachtete sie, wie die malerischen Straßen von Greenwich Village in den Broadway übergingen. Irgendwann hielten sie sich rechts Richtung First Avenue und erreichten bald das UN-Hauptquartier. Der Fahrer bog in eine Seitenstraße, in der sich ein Konsulat an das andere reihte, und hielt vor einem eleganten Stadthaus mit steilem Treppenaufgang und gewundenem schmiedeeisernem Geländer.
Phoebe verließ mit Christian an der Hand den Wagen und folgte den Beamten ins Amarnesische Konsulat.
„Mrs. Christensen, Sie werden bereits erwartet“, begrüßte sie drinnen eine blonde Frau in einem dunklen Kostüm, die sich als Nora vorstellte. Dann sah die Beamtin zu Christian, der die Hand seiner Mutter noch fester drückte. „Ich kann das Kind nehmen.“
Augenblicklich erstarrte Phoebe. „Niemand nimmt meinen Sohn“, erklärte sie.
Hilfe suchend blickte die Frau zu Erik Jensen, der hinter Phoebe stand.
„Oben haben wir einen Raum mit allem Komfort“, informierte er sie ruhig. „Dort liegen auch Spielsachen. Vielleicht wäre es besser …“
Phoebe war hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie Christian nicht aus den Augen lassen, er sollte aber auch nicht Zeuge eines Streitgesprächs werden, falls ein übereifriger Bediensteter ganz sichergehen wollte, dass sie verstand, dass sie keinen Cent von Anders erben würde.
„Na gut, aber ich erwarte, dass man ihn sofort zu mir bringt, wenn er den Wunsch äußerst, mich zu sehen.“
Jensen nickte, und Phoebe wandte sich an Christian. „Bist du …“
Ihr Sohn drückte die Schultern durch und erklärte tapfer: „Ich komme schon klar, Mom.“
Die Frau nahm Christian mit, und Phoebe folgte Jensen in einen der Empfangsräume. Dort ließ er sie allein. Schon wieder so ein goldener Käfig, dachte sie, als sie sich in dem Zimmer umsah. Genau wie vor sechs Jahren, als die Fürstenfamilie sie zu sich zitiert hatte. Damals hatte sie sich einschüchtern lassen. Das würde ihr jetzt nicht mehr passieren.
In ihrem Rücken hörte sie das Klicken der Klinke. Noch bevor sie sich umdrehte, wusste Phoebe, wen man geschickt hatte, um sich um sie zu kümmern. Und plötzlich hatte sie doch Angst.
Nur ganz langsam drehte sie sich um, dabei schlug ihr Puls stetig schneller. In einem Winkel ihres Herzens hegte sie die Hoffnung, dass sie sich irrte und er es nach all den Jahren nicht schon wieder sein konnte.
Aber er war es. Natürlich. Leo Christensen stand auf der Türschwelle, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und ein Glitzern in den Augen.
„Was tun Sie denn hier?“, fragte Phoebe.
Leo schlenderte ins Zimmer und zog dabei eine Augenbraue hoch. „Ist das nicht das Konsulat meines Landes?“
„Doch, natürlich. Vielleicht sollte ich es anders formulieren: Was mache ich hier?“
„Das ist tatsächlich eine interessante Frage“, murmelte Leo und klang dabei genauso sanft und gefährlich wie vor sechs Jahren. Er hat sich überhaupt nicht verändert, dachte Phoebe. Die gleichen Schlafzimmeraugen, die gleiche sinnliche Ausstrahlung, auch wenn er heute einen schwarzen Anzug trug. Wobei sie seinen Zügen keine Trauer anmerkte.
„Wie sind Sie so schnell hierhergekommen? Waren Sie nicht auch in Paris auf der Beerdigung?“
„Ja, aber dank der Zeitverschiebung kann man sozusagen zur gleichen Uhrzeit in New York ankommen.“
Ihr Versuch zu lächeln misslang. „Bin ich so wichtig?“
„Nein.“ Leo wandte sich einem kleinen Tischchen mit zahlreichen alkoholischen Getränken zu. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Sherry oder einen Brandy vielleicht?“
„Ich will nichts trinken, ich will wissen, warum ich hier bin, und dann nach Hause fahren.“
„Nach Hause“, wiederholte Leo nachdenklich und schenkte sich einen Brandy ein. „Wo genau ist das?“
„In meinem Apartment –“
„Diese heruntergekommene Wohnung mit nur einem Schlafzim...“
„Ich finde sie ganz und gar nicht heruntergekommen“, fiel ihm Phoebe ins Wort. „Und ich verstehe auch nicht, warum wir das besprechen müssen. Ich dachte, ich wäre herbestellt worden, um einige Papier zu unterzeichnen.“
„Was denn für Papiere?“
„Solche, in denen ich auf Anders’ Geld verzichte.“
„Welches Geld denn?“, fragte Leo amüsiert. „Ich wüsste nicht, dass Anders Geld gehabt hätte.“
„Auf jeden Fall hat er es fleißig ausgegeben.“
„Allerdings. Aber es gehörte nicht ihm, sondern seinem Vater Fürst Nicholas.“ Leo nippte an dem Brandy. „Um ehrlich zu sein, war Anders ziemlich pleite.“
„Ich verstehe“, erwiderte sie, obwohl das nicht stimmte. Wenn Anders kein Geld gehabt hatte, warum war sie dann hier? „Ist es vielleicht wegen der Presse?“, erkundigte sie sich hoffnungsvoll. „Soll ich eine Geheimhaltungsklausel unterzeichnen, damit ich meine kompromittierenden Memoiren nicht etwa an den Meistbietenden verkaufe?“
Leo lächelte breit. „Würden Sie Ihre Erinnerungen denn als peinlich bezeichnen?“
Phoebe errötete und zuckte mit den Schultern, nicht mehr nur ängstlich, sondern auch ärgerlich – keine gute Kombination. „Dann sagen Sie mir doch einfach, warum ich hier bin … Euer Gnaden.“
„‚Eure Hoheit‘, wenn ich bitten darf. Seit Anders abgedankt hat, bin ich der Thronerbe unseres Landes.“
Diese Neuigkeit erstaunte Phoebe, dabei hätte sie es eigentlich wissen müssen. Anders und Leo waren Einzelkinder und wie Brüder aufgezogen worden.
„Dann eben ‚Eure Hoheit‘! Was wollen Sie von mir? Ich würde gern auf den Punkt kommen und dann nach Hause fahren.“ Starke Worte, auch wenn sie sich längst nicht mehr so fühlte. Je mehr Zeit verging, ohne dass über den eigentlichen Anlass dieser Zusammenkunft gesprochen wurde, desto schwächer kam sie sich vor.
Es gefiel ihr gar nicht, wie Leo mit ihr spielte. Dabei nippte er an seinem Brandy und beobachtete sie über den Rand des Glases hinweg, als wäre sie besonders amüsant oder – was noch schlimmer wäre – bemitleidenswert.
„Ich persönlich will von Ihnen gar nichts. Aber meinem Onkel Fürst Nicholas geht es nicht besonders gut, und er bedauert, was damals geschehen ist, nachdem Anders Sie an den Hof gebracht hat.“
„Sie meinen, dass er ihn zum Abdanken gezwungen hat?“
„Hm.“
Inzwischen dämmerte es, und die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Taxis tauchten den Raum kurzzeitig in grelles Licht. Plötzlich verspürte Phoebe das dringende Bedürfnis, ihren Sohn in den Arm zu nehmen. „Ich will meinen Sohn sehen“, erklärte sie unvermittelt.
Eine nicht näher zu bestimmende Regung huschte über Leos Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern. „Christian ist oben und bestimmt ganz zufrieden. Aber wenn Sie wollen, lasse ich ihn herunterbringen, sobald wir mit unserer Unterhaltung fertig sind.“
„Was gibt es denn noch zu bereden? Es tut mir leid, dass Fürst Nicholas erst jetzt zur Einsicht gekommen ist. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern. Und, um ehrlich zu sein, hat das alles auch nichts mehr mit mir zu tun.“
„So, meinen Sie?“, fragte Leo sanft.
Phoebe bekam eine Gänsehaut, und sie wünschte, sie wäre niemals ins Konsulat gekommen. „Ja“, zwang sie sich zu sagen, „für mich ist das alles Vergangenheit. Bestimmt wissen Sie, dass ich Anders seit Jahren nicht gesehen habe. Wir haben uns bereits einen Monat nach unserer Eheschließung wieder getrennt, Eure Hoheit, und waren seitdem praktisch geschiedene Leute.“
„Praktisch? Sind Sie denn auch bei einem Anwalt gewesen? Hat ein Gericht die Ehe für geschieden erklärt? Können Sie die Scheidung belegen?“
„Nein, das kann ich nicht, aber …“, stammelte Phoebe.
„Aber?“, beharrte Leo, während es in seinen Augen merkwürdig glitzerte. „Sie konnten es wohl nicht ertragen, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen? Sie haben wohl gehofft, er würde zu Ihnen zurückkehren?“
Diese Mutmaßungen waren so weit von der Realität entfernt, dass sie ihnen gern widersprochen hätte. Aber die Wahrheit ging ihn nichts an. „Nein, darauf habe ich ganz bestimmt nicht gehofft. Es hat niemanden interessiert, ob wir tatsächlich verheiratet waren. Darum verstehe ich nicht, wieso es jetzt plötzlich wichtig ist, ob wir geschieden wurden. Und nun habe ich wirklich genug von diesem Katz- und Mausspiel, Eure Hoheit. Sie mögen es amüsant finden, aber mein Sohn ist bestimmt schon unruhig. Außerdem habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen. Also –“
„O Phoebe!“ Leo schüttelte den Kopf. Für einen Moment dachte Phoebe, sie täte ihm leid – was sie noch mehr beunruhigte.
„Nennen Sie mich nicht –“
„Beim Vornamen? Aber wir sind doch sozusagen verwandt.“
„Das mag sein, aber wir wollen nichts miteinander zu tun haben.“
„Das wird sich ändern“, erwiderte Leo und stellte sein Glas hin.
Bestimmt wollte er ihr nur Angst machen. Hier ging es um Macht. Leo würde gern über sie bestimmen, aber das würde sie nicht zulassen. Er mochte ein Prinz sein und Macht und Geld besitzen. Aber sie hatte ihren Mut und ihr Kind. Die letzten sechs Jahre hatten Phoebe stark gemacht. Sie würde nicht nachgeben, und ganz bestimmt nicht Leo. Er hatte sie schon einmal eingeschüchtert; das sollte ihm kein zweites Mal gelingen.
„Warum spucken Sie es nicht einfach aus, Leo? Was wollen Sie von mir? Warum haben mich Ihre verdammten Regierungsbeamten hergebracht?“
„Weil es der Wunsch des Fürsten war.“
„Was soll das heißen?“
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Fürst Nicholas das Zerwürfnis mit Anders bedauert.“ Leo schien zu lächeln, und Phoebe überlegte, wie er im Hinblick auf diese menschliche Tragödie lächeln konnte.
„Es tut mir leid für Ihren Onkel. Aber das alles hat doch nichts mit mir zu tun.“
„Doch, meine Liebe, das hat es. Oder vielleicht nicht so sehr mit Ihnen persönlich als vielmehr mit Ihrem Sohn, dem Enkelkind des Fürsten.“
Vollkommen entsetzt sah Phoebe zum Fenster, als fände sie dort Antworten auf ihre Fragen. Sie blinzelte und versuchte, sich auf die vorbeifahrenden Autos zu konzentrieren, aber ihr Blick war verschleiert. Zuerst dachte sie, es läge am Regen, doch dann erkannte sie, dass sie weinte.
Sie zwang sich, die Tränen zurückzudrängen. Denn auf keinen Fall sollte Leo ihre Schwäche sehen. Er würde sie nur ausnutzen. Noch während Phoebe am Fenster stand, wurde ihr klar, dass sie nicht wirklich überrascht war. Die Fürstenfamilie konnte sie gar nicht in Ruhe lassen – wegen Christian. Auch wenn sie zu Anders’ Lebzeiten kein Interesse an dem Jungen gezeigt hatte, änderte Anders Tod alles.
Christian war das Einzige, was ihnen von Anders geblieben war. Dabei war er doch ihr Kind! Phoebe schluckte und wollte sich gerade zu Leo umdrehen, als sie auf ihrer Schulter seine Hand spürte, deren Wärme ihr durch und durch ging.
„Es tut mir leid“, sagte er und in seiner Stimme lag echtes Mitgefühl.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Aber sie traute ihm nicht – genauso wenig wie sich selbst. In diesem Augenblick wollte sie so gern glauben, dass Leo wirklich mit ihr fühlte und dass er – was? – ein Freund werden konnte?
Die Vorstellung war lächerlich. Phoebe schüttelte Leos Hand ab und drehte sich um. Er wich zurück, und sein Gesichtsausdruck war wieder ausdruckslos.
„Was genau tut Ihnen leid, Leo?“
„Dass Sie Anders offenbar geliebt haben und er nun tot ist.“
„Danke, aber was Anders und mich verband, gehört schon lange der Vergangenheit an. Trotzdem tut es mir leid, dass er auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist. Ich habe mir inzwischen hier ein Leben aufgebaut. Und auch Christian ist hier zu Hause, egal, was der Fürst von Amarnes denken oder fühlen mag. Er hat in den vergangenen sechs Jahren nicht den geringsten Versuch unternommen, Kontakt zu uns aufzunehmen. Was soll mein Sohn denken, wenn er plötzlich erfährt, dass er einen Großvater in Europa hat?“
„Sie haben Christian nie von Anders erzählt, stimmt’s? Er weiß vermutlich nicht einmal, dass sein Vater ein Prinz war.“
„Warum sollte er? Anders hat auf die Thronfolge verzichtet und wollte dem Jungen kein Vater sein. Uns geht es hier in New York mit meinen Freunden und meiner Familie viel besser als in Europa. Meine Mutter ist Christian eine fürsorgliche Großmutter, und es fehlt ihm an nichts.“
„Er hat blaues Blut in den Adern“, entgegnete Leo ruhig. „Denken Sie nicht, dass er das wissen sollte?“
„Nein, bisher haben Sie sich auch nicht für ihn interessiert, und –“
„Aber nur, weil wir nichts von seiner Existenz wussten“, unterbrach Leo sie sanft. „Als Christian auf die Welt kam, hatten Sie sich bereits von Anders getrennt. Oder sollte ich sagen, er hat sich von Ihnen getrennt? Wie auch immer, Sie sind aus seinem Leben verschwunden. Und die Fürstenfamilie hatte kein Interesse an Ihnen … bis sie von dem Jungen erfahren hat. Wie alt ist der Junge, Phoebe? Fünf oder sechs?“
„Fünf.“ Beinah sechs, aber das würde sie Leo nicht erzählen. Die wahren Umstände um Christians Geburt wollte sie ihm in jedem Fall verschweigen. Sollte er doch glauben, sie hätte sich kurzfristig wieder mit Anders versöhnt. Die Vorstellung fand Phoebe zwar grotesk, aber dass Leo die Wahrheit erfuhr, war ebenso abwegig.
„Wie auch immer, Christian geht mich durchaus etwas an, oder zumindest meinen Onkel, den Fürsten.“
„Nein!“
„Doch“, widersprach er sanft. „Und ich fürchte, dagegen lässt sich nichts machen.“
Seine Worte trafen Phoebe wie ein Messer. Sie hatte nicht die Kraft für eine zweite Runde mit Leo. „Ich würde jetzt gern nach Christian sehen“, sagte sie, froh, dass sich wenigstens ihre Stimme fest anhörte. „Allein, und dann können wir unsere Unterhaltung fortsetzen.“
So etwas wie Bewunderung oder Respekt blitzte in Leos Augen, und er neigte den Kopf. „Wie Sie meinen.“ Er ging zur Tür, und innerhalb von Sekunden kam ein Beamter im dunklen Anzug beinah geräuschlos ins Zimmer. Leo sprach mit ihm auf Dänisch. Phoebe verstand nur wenige Worte.
„Sven bringt Sie nach oben. Wenn Sie sich davon überzeugt haben, dass es Christian gut geht, setzen wir unsere Unterhaltung fort.“
Nach einem Nicken in Leos Richtung folgte Phoebe dem Beamten. Leo kehrte den beiden den Rücken zu und schenkte sich noch einen Brandy ein. Dann sah auch er aus dem Fenster, als suchte er im Dunkeln nach Antworten.
Dann trank er einen großen Schluck Brandy, der ihm wie Feuer in der Kehle brannte. Er brauchte dieses Gefühl, das ihn von seinen Empfindungen und seiner Erinnerung ablenkte.
Anders war tot, und er hatte es nicht verhindern können. Allein dadurch hatte er Schuld auf sich geladen. Ein sinnlos vergeudetes Leben auf der Überholspur, und kein einziges Mal hatte er versucht, seinen Cousin zu bändigen oder ihn zu überreden, sich zu mäßigen. Das war schließlich auch nicht sein Job gewesen. Sein Job war es, beiseite zu treten, für den Fall der Fälle.
Bis heute erinnerte Leo sich daran, wie es immer an ihm genagt hatte, dass man ihn weggeschoben und abgelehnt hatte. Geh aus dem Weg, Leo. Sei still und tu, was man dir sagt. Wecke nicht das Missfallen des Fürsten … So hatten die flehentlichen Bitten seiner Mutter geklungen. Verzweifelt hatte die von der Fürstenfamilie abgeschobene Witwe versucht, ihrem Sohn dasselbe Schicksal zu ersparen.
Sein Schicksal – seine Pflicht – war es, in Anders’ Schatten zu existieren. Er hatte Anders bei seinen Eskapaden begleitet und sich dabei gut amüsiert, und jetzt …
Jetzt waren diese Zeiten vorbei, und seine Pflichten hatten sich verlagert.
Leo wandte sich vom Fenster ab, weil er genug von den sentimentalen Erinnerungen hatte. Er dachte an Phoebe und spürte eine gewisse Bewunderung für ihre Stärke und ihren Mut. Dabei verkörperten sie und ihr Sohn nur ein weiteres Problem, das er lösen musste.
Mit geschlossenen Augen trank Leo noch einen Schluck Brandy. Er wusste, was von ihm erwartet wurde. Der Fürst war sehr deutlich gewesen: „Bring mir das Kind, und finde die Frau ab.“ So einfach, so kaltherzig.
Schon jetzt bezweifelte Leo, dass er damit durchkommen würde. Phoebe war eine fürsorgliche Mutter. Ein finanzielles Angebot würde sie nur erzürnen – wie schon vor sechs Jahren – und ihren Abscheu vor Amarnes und der Fürstenfamilie noch verstärken. Also war eine subtilere Taktik gefragt, ein viel raffinierteres Täuschungsmanöver.
Er musste dafür sorgen, dass sie ihm gewogen blieb, bis er entschieden hatte, was er mit ihr tun wollte. Was er mit ihr tun wollte … Während er daran dachte, wie Phoebe damals auf seine Berührung reagiert hatte, spürte Leo ein Ziehen in den Lenden. Selbst heute noch erinnerte er sich an jedes Wort ihrer Unterhaltung, wusste noch, wie zart sich ihre Haut angefühlt hatte. Ihr Verlangen war so offensichtlich gewesen. Und er hatte es ebenfalls gespürt, dieses Bedürfnis, das tief in ihm saß.
Energisch schob er den Gedanken zur Seite. Er konnte es sich nicht erlauben, Phoebe zu begehren. Sie war ein Problem, das gelöst werden musste, eine Unannehmlichkeit, die es aus der Welt zu schaffen galt – wie vor sechs Jahren.
Er leerte sein Glas. Während sich draußen die ersten Sterne am Himmel zeigten, überlegte er, wie er die Sache angehen wollte.
Phoebe folgte Sven eine Treppe hinauf. Die langen Samtvorhänge an den Fenstern waren bereits zugezogen. Überall herrschte Ruhe und vollkommene Stille, sodass Phoebe das aufgeregte Schlagen ihres Herzens hören konnte. Am Ende des Flurs im ersten Stock öffnete Sven eine Tür. Christian spielte mit Legosteinen. Als er seine Mutter sah, sprang er auf und lief auf sie zu.
„Mommy!“
„Amüsierst du dich?“, fragte Phoebe, als wäre alles in bester Ordnung. Dabei hätte sie ihren Sohn am liebsten in die Arme genommen und nie wieder losgelassen. Noch lieber wäre sie sofort mit ihm aus dem Konsulat geflohen, um ihn den Klauen der Fürstenfamilie zu entreißen, die mit ihrer Macht und rücksichtslosen Arroganz zweifellos Einfluss auf ihrer beider Leben nehmen würde.
„Geht so“, antwortete Christian und sah sich im Zimmer um. Überall lag Spielzeug verstreut, und vor dem großen Plasmabildschirm stapelte sich eine Auswahl von DVDs.
„Können wir jetzt gehen?“, fragte er. „Ich bin hungrig.“
„Du kannst doch auch hier etwas essen. Bestimmt darfst du dir eine Pizza bestellen.“
„Natürlich“, murmelte Nora.
„Ich will aber lieber gehen!“
Ich auch, dachte Phoebe, strich ihrem Sohn nur beschwichtigend über den Kopf und unterdrückte den Drang, mit ihm davonzulaufen. „Wir gehen bald, versprochen. Warum siehst du dir nicht eine DVD an? In dem Stapel liegen einige, die du schon immer sehen wolltest.“
„Ich will aber keine DVD gucken! Ich will mit dir nach Hause.“
Seufzend ging Phoebe vor ihm in die Hocke. „Christian, es tut mir leid, aber wir müssen noch etwas länger bleiben. Ich habe dir doch gesagt, dass ich hier etwas zu erledigen habe. Ich muss nur noch ein bisschen mit … Prinz Leopold sprechen.“
„Mit einem Prinzen? So wie der im Fernsehen, der gestorben ist?“
„Ja-ha …“ Es gab Momente, in denen Phoebe die schnelle Auffassungsgabe ihres Jungen ein wenig ungelegen kam. „Sozusagen.“
„Du kennst einen Prinzen! Ich dann ja auch!“
„Ja, und er hat einen Großbildfernseher“, versuchte Phoebe ihn abzulenken. „Ich brauche nicht mehr lange, okay?“
Christian nickte. Pizza essen und DVDs zu sehen, fand er dann doch zu verlockend.
Mit einem erleichterten Lächeln richtete Phoebe sich wieder auf. Auch wenn sie sich jetzt auf eine zweite Runde mit Leo gefasst machen musste. Im Augenblick erinnerte sie sich nur an seinen mitfühlenden Gesichtsausdruck und seine Hand auf ihrer Schulter, deren Wärme sie durch und durch gespürt hatte.
Sven brachte sie wieder nach unten, aber nicht in den großen Empfangsraum, sondern in ein kleineres, privates Zimmer am Ende des Gebäudes. Der Raum war spärlich beleuchtet, und vor dem Kamin stand ein Tisch, eingedeckt mit feinem Porzellan für zwei Personen. Bleikristallgläser glitzerten im Schein des Feuers.
„Was soll das werden?“
Leo, der bereits am Tisch saß, wandte sich ihr zu. „Abendessen natürlich.“
Aber es war mehr als das. Ein wenig panisch dachte Phoebe, dass es aussah, als wollte er sie verführen. Er saß im Halbschatten, sodass sie sein Lächeln nur erahnen konnte.
Irgendwie sah er viel zu selbstgefällig und sinnlich aus. Er hatte seine Krawatte abgelegt und die beiden obersten Hemdknöpfe geöffnet, sodass Phoebes Blick genau wie vor sechs Jahren auf den schön gebräunten Oberkörper gelenkt wurde. Als sie bemerkte, dass Leo sie beobachtete, sah sie ruckartig auf und machte errötend einen Schritt auf die Tür zu.
„Ich habe keinen Hunger“, verkündete sie.
„So, so“, murmelte Leo, und Phoebes Verlegenheit wuchs. Doch was er in ihr weckte, brannte stärker als ihre geröteten Wangen: Verlangen. Es schien beiderseitig und war verführerisch und mächtig. Aber nein, korrigierte sie sich. Das war kein Verlangen, sondern nur eine gewisse Faszination, ähnlich der, die ein kleines Kind beim Anblick von Feuer empfindet. Es würde am liebsten hineinfassen, auch wenn das streng verboten ist.
Diese Regung bedeutete also nichts. Wieso auch? Sie mochte Leo nicht einmal. Solange sie sich das vor Augen hielt und der Versuchung nicht nachgab, konnte ihr nichts passieren.
„Sie sind also nicht hungrig. Dabei kann ich Ihren Magen bis hierhin knurren hören. Falls Sie sich Gedanken um Christian machen sollten: Ich habe Nora gebeten, Pizza für ihn zu bestellen. Er hat ja keine Lebensmittelallergien.“ Das sagte er so selbstverständlich, als hätte er es überprüfen lassen. Es rührte sie, dass er an Christians Wohlergehen dachte.
„Vielen Dank. Christian liebt Pizza.“
„Kommen Sie!“ Er hob eine dampfende Schüssel empor, aus der es köstlich duftete. „Ich weiß, dass Sie Appetit haben.“
Am liebsten hätte sie ihm widersprochen. Sie wollte sich von Leo nicht verführen lassen, nicht einmal zum Essen. Er spielte mit ihr, neckte sie, weil er wusste, dass er gut bei ihr ankam und es da etwas Ursprüngliches gab, auf das sie reagierte.
Sie hatte ihn schon vor sechs Jahren gespürt, diesen kleinen Funken tief in ihr, der sich jetzt wieder entzündete und zu einem bedrohlichen Feuer der Lust werden konnte.
„Na schön.“ Phoebe setzte sich an den Tisch und ließ sich von Leo einen Teller Rinderschmorbraten in herrlicher Rotweinsauce servieren. Es sah köstlich aus. „Und jetzt sagen Sie mir bitte, was das Ganze soll.“
„Natürlich.“ Leo trank einen Schluck Wein und betrachtete sie über den Glasrand hinweg. „Wann haben Sie Anders das letzte Mal gesehen?“
„Das ist doch völlig unwichtig!“ Phoebe ahnte, worauf Leo hinauswollte. Sie aß einen Bissen und schmeckte kaum die köstliche Soße und das zarte Fleisch. Ihr Herz schlug schnell und hektisch, und ihre Handflächen waren feucht. Und das alles nur wegen Leo. Warum ließ sie ihn so nah an sich heran?
„Ich bin einfach neugierig, Phoebe. Hat Anders seinen Sohn jemals gesehen?“
„Sagen wir einfach, er war nicht interessiert.“
„Ich verstehe.“
Schon wieder sah Leo sie so mitleidig an. Aber sie wollte nicht bemitleidet werden. Er sollte sie auch nicht verstehen, sondern einfach nur in Ruhe lassen.
„Na gut, Phoebe, es ist eigentlich ganz einfach: Fürst Nicholas bedauert, dass er mit Anders im Bösen auseinandergegangen ist. Damals war er wütend, weil er, wie Sie vielleicht wissen, bereits eine Heirat mit einer Frau aus dem niederen europäischen Adel arrangiert hatte. Sie wäre eine gute Partie gewesen.“
Ganz fest umklammerte Phoebe die schwere Silbergabel. „Kann schon sein, aber Anders war da wohl anderer Meinung.“
„Vielleicht.“
„Ich weiß bereits, dass der Fürst seine Reaktion von damals bedauert“, erinnerte Phoebe ihn ungeduldig, „ich verstehe nur nicht, was das mit mir zu tun hat.“
„Nichts, aber mit Christian umso mehr. Der Fürst wünscht, sein Enkelkind zu sehen. In Amarnes.“
Wieder war Phoebe nicht überrascht, sondern nur entsetzt. War das nicht genau das, was sie all die Jahre befürchtet hatte? Dass man Anspruch auf ihr Kind erhob, egal, in welchem Alter es sein mochte. Und dass dieser Anspruch gegen ihre persönlichen Interessen durchgesetzt würde? Sie wollte etwas sagen, Leo eine zynische Antwort geben, doch ihr fehlten die Worte, weil sie sich das Gehirn zermarterte, um einen Ausweg aus dieser Misere zu finden.
„Sie dürfen Christian gern begleiten“, fuhr Leo fort.
„Natürlich werde ich ihn begleiten!“, rief sie empört. „Das heißt, wenn er nach Amarnes reist, was ich nicht zulassen werde.“
Leo sah sie an und drehte dabei den Stil seines Weinglases zwischen den Fingern. „Phoebe“, sagte er schließlich erstaunlich sanft, „glauben Sie wirklich, dass Sie mit dieser Haltung durchkommen? Dass Ihre Sturheit weiterhilft?“
„Natürlich, Christian ist mein Kind.“
„Mein Onkel ist das Oberhaupt eines kleinen, aber wohlhabenden und einflussreichen Fürstentums. Er bekommt, was er will. Ich glaube nicht, dass es ein Gericht auf der Welt gibt, das Ihnen das alleinige Sorgerecht zusprechen würde. Dafür wird mein Onkel schon sorgen.“
„Ein Gericht?“ Vor Schreck war Phoebe wie gelähmt. Gerichtsverfahren und juristischer Beistand bei Sorgerechtsstreitigkeiten waren Dinge, die sie sich nicht leisten konnte, weder emotional noch finanziell. „Meinen Sie wirklich, dass mich Ihr Onkel vor Gericht zerren würde?“
„Wenn Sie ihm diese kleine Bitte abschlagen …“
„Sechs Jahre lang hat mich Ihre Familie völlig ignoriert. Und jetzt plötzlich will man etwas von mir und bildet sich auch noch ein, ein Recht darauf zu haben!“
„Im Wesentlichen trifft das den Punkt.“ Leo zuckte mit keiner Wimper, trotzdem glaubte Phoebe wieder, so etwas wie Mitgefühl in seinem Blick zu erkennen. Sie klammerte sich verzweifelt an diesen Strohhalm.
„Bitte, Leo, es ist doch überhaupt nicht sinnvoll, Christian aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen. Und wofür? Um die Gewissensbisse eines alten Mannes zu lindern? Das ist weder mir noch Christian gegenüber fair.“
Als Leo zögerte, dachte sie einen Moment lang, sie hätte eine Chance. Doch dann verschloss sich sein Gesichtsausdruck wieder.
„Es tut mir leid, aber es ist ja nur für vierzehn Tage.“
„Und, wird es danach vorbei sein? Können wir dann nach Hause, ohne jemals wieder belästigt zu werden?“ Sie lachte ungläubig. „Wohl kaum. Wird er danach nicht noch mehr verlangen?“
„Vielleicht ist er dann zufrieden. Möglicherweise ist das nur eine Phase.“
„Wahrscheinlich soll ich mich jetzt besser fühlen. Christian wird bestimmt auch begeistert sein, wenn er seine Pflicht erfüllt hat und man ihn dann abserviert, so wie man sich von Müll trennt!“
„Jetzt übertreiben Sie mal nicht!“ Leo sprang auf. „Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb eine zweiwöchige Reise in ein schönes Land nicht ein netter Urlaub für Sie und Ihren Sohn werden könnte. Sie sehen erschöpft aus und könnten sicher etwas Erholung gebrauchen.“
„In Amarnes werde ich mich wohl kaum erholen!“
„Sie könnten es zumindest versuchen. Auf jeden Fall würde es die Reise angenehmer für Sie machen.“
Er klang sehr ungeduldig, und Phoebe begriff, dass er keine Lust mehr auf ihre Einwände hatte. Ihr Schicksal und das ihres Kindes waren entschieden. Und sie konnte überhaupt nichts dagegen tun.
„Warum essen Sie denn nichts?“ Leo setzte sich wieder.
„Mir ist der Appetit vergangen.“
„Wie Sie wollen. Aber nur weil Ihnen die allgemeine Situation nicht gefällt, sollten Sie nicht darauf verzichten, den Moment zu genießen.“
Im ersten Moment wollte sie ihm vehement widersprechen. Doch dann sah sie auf den wunderbar gedeckten Tisch mit dem herrlichen Essen, und ihr Kampfgeist verflog zusammen mit der Wut. Leo hatte recht, und sie mochte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie dem Fürsten seinen Wunsch verweigerte.
Zwei Wochen in Amarnes, dann könnten sie nach Hause zurückkehren, zurück zu ihrem Leben in New York. In Amarnes würde Christian seine Verwandten väterlicherseits kennenlernen. Vielleicht schaffte sie es sogar, positive Seiten daran zu entdecken und aus der Sache ein Abenteuer zu machen …
Zuallererst würde sie diese Mahlzeit genießen. Entschlossen hob sie ihr Weinglas. „Prost dann also!“
„Prost“, murmelte Leo lächelnd. Beide führten das Glas an die Lippen. Phoebe hätte ihres am liebsten in einem Zug geleert. Stattdessen trank sie nur einen kleinen Schluck und nahm ihr Besteck. „Erzählen Sie mir doch, was in den letzten sechs Jahren in Amarnes so passiert ist.“
„Nichts Besonderes. Es ist alles mehr oder weniger beim Alten geblieben, obwohl wir uns immer einbilden, es würde sich etwas ändern.“
„Dann war Anders’ Thronverzicht wohl die Sensationsmeldung des Jahrhunderts?“
„Kann man so sagen.“
„Und das hat Sie zum Fürsten gemacht.“
„Zum Thronfolger … Fürst Nicholas ist noch am Leben, soweit ich weiß.“
Sie trank noch etwas Wein. „Der Playboy-Prinz wird also eines Tages Playboy-Fürst sein.“
Diese Bemerkung schien Leo nicht besonders zu gefallen. Hatte sie ihn beleidigt?
„Ich meine, Sie haben doch einen gewissen Ruf. Zumindest war das damals so, als ich –“
„Ja, ich weiß. Wenigstens in dieser Hinsicht hat sich in Amarnes etwas geändert.“
„Sind Sie etwa kein Playboy mehr?“
Statt zu antworten, lächelte er sein sinnliches Lächeln. Sofort spürte Phoebe ein Ziehen im Bauch, während ihr das Blut in den Ohren rauschte. Eins hatte sich zumindest nicht geändert: ihre Reaktion auf ihn.
„Genug von den langweiligen, anrüchigen Einzelheiten meines Lebens. Ich will mehr über Sie erfahren.“
Erstaunt hob sie eine Augenbraue. „Kann denn etwas gleichzeitig langweilig und anrüchig sein?“
„Ganz bestimmt sogar. Also, ich weiß ein bisschen darüber, wie Sie sich so über Wasser halten.“
„Woher?“
Noch ein Lächeln. „Ich mache immer meine Hausaufgaben.“
„Sie haben mich überwachen lassen“, rief sie empört.
„Natürlich. So haben wir überhaupt von Christians Existenz erfahren.“
„Warum … warum haben Sie das getan?“
„Nach Anders’ Tod war uns klar, dass er noch einige ‚Leichen im Keller‘ hatte, um die wir uns kümmern mussten. Sie waren sozusagen eine davon.“
„Ich bin also wieder nur eine Unannehmlichkeit, die es aus der Welt zu schaffen gilt.“
„Ja, aber eine interessante“, erwiderte Leo lächelnd. „Ich habe zum Beispiel erfahren, dass Sie ein Goldschmiedeatelier besitzen.“
Phoebe nickte stolz. „Ja, ich habe einen kleinen Laden am St. Mark’s Place und einen Katalog- und Internetversand.“
„Und Sie können gut davon leben“, fuhr Leo fort.
„Wenn man von meinem ziemlich schäbigen Apartment absieht“, entgegnete sie mit einem spöttischen Blinzeln in den Augen.
„Ich nehme an, man kann Ihr Apartment als ‚angemessen‘ betrachten.“ Er seufzte übertrieben, und Phoebe musste lächeln. Kaum zu glauben, dass sie hier mit Leo Christensen saß und mit ihm redete, als wären sie Freunde.
Wiegte er sie nur in Sicherheit, oder war seine Freundlichkeit echt?
Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie sich Letzteres wünschte. Trotz ihres ausgefüllten Alltags, ihrer Freunde und Familie hatte sie keinen Lebensgefährten. Als alleinerziehende Mutter und Selbstständige fehlte ihr für eine Partnerschaft die Zeit und Muße. Außerdem war sie vorsichtig geworden, nachdem ihre Ehe ganze vier Wochen gehalten hatte. Und doch hatte sie in den vergangenen Jahren die eine oder andere Verabredung gehabt.
Jetzt beugte Leo sich vor und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Halskette. „Ist das einer Ihrer Entwürfe?“ Er strich über den roh belassenen rötlichen Achatsplitter, der mehrfach mit Golddraht umwickelt war. Als er sie dabei am Hals berührte, schluckte Phoebe.
„Ja …“, hauchte sie, und als Leo aufsah, konnte sie sich gar nicht von seinem Blick losreißen.
„Die Kette ist wunderschön. Außergewöhnlich. Es wundert mich nicht, dass Sie so erfolgreich sind.“
„Danke.“ Noch immer lagen seine Finger an ihrem Hals. Phoebe hätte sich eigentlich zurücklehnen sollen. Aber sie konnte es nicht. Sie genoss seine Berührung und das Verlangen, das sich langsam in ihr ausbreitete, viel zu sehr.
Warum war sie so willenlos, sobald es um diesen Mann ging?
Immer noch sahen sie sich an. Auch Leo konnte den Blick nicht abwenden. Nach einer weiteren herrlich kribbelnden Sekunde nahm er zögerlich die Hand weg und lehnte sich im Stuhl zurück. Phoebe kam sich auf lächerlicherweise beraubt vor und wandte den Blick ab, aus Angst, Leo könnte die Enttäuschung in ihren Augen sehen.
„Wie kam es, dass Sie sich für Schmuckdesign interessieren?“
„Meine Mutter ist Töpferin, und dadurch war Kunst für mich schon als Kind immer gegenwärtig. Jedes Jahr sind wir im Sommer nach Long Island gefahren. Dort habe ich am Strand Steine gesammelt, besonders schöne oder außergewöhnliche. Dann habe ich Draht darumgewickelt, um Halsketten, Armreife und andere Dinge aus ihnen zu machen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Daher stammen meine Ideen, eigentlich sind es erwachsen gewordene Kinderbasteleien.“
„Sehr erwachsen“, murmelte Leo. „Es ist bestimmt kostspielig, in Manhattan einen Verkaufsraum zu mieten.“
„Ja, das kann man wohl sagen, und mit Wohnungen ist es genauso.“
Leo lachte, und seine Augen schimmerten bernsteinfarben. „Diese Bemerkung über Ihr Apartment werden Sie mir wohl nie verzeihen, hm?“ Freundlich lächelnd hob er sein Glas, um mit ihr anzustoßen.
„Auf jeden Fall nicht so schnell“, versuchte Phoebe seinen lässigen Ton aufzunehmen, obwohl sie sich gar nicht so fühlte. Leos Lächeln hatte ihr den Atem geraubt. Er hatte sie noch nie so angesehen, ohne Ironie, Verachtung oder Mitleid. Sie wandte den Blick ab, trank noch einen Schluck Wein und bemühte sich, ihren Herzschlag zu beruhigen. Sie durfte nicht auf jede seiner Gesten und Regungen reagieren und sich nach mehr sehnen. Leo zu begehren, war keine gute Idee. Es würde ihr Urteilsvermögen beeinträchtigen und ihre Position schwächen.
Irgendwo im Konsulat schlug eine Uhr achtmal. Es waren leise, sonore Töne, die Phoebe durch und durch gingen und sie schließlich dazu brachten, sich aus ihrer Benommenheit zu lösen. „Ich sollte gehen.“ Trotzdem rührte sie sich nicht von der Stelle. „Es ist spät, und wir können diese Unterhaltung an einem anderen Tag fortführen, um –“
„Ich fürchte nicht. Wissen Sie, dem Fürst geht es nicht besonders gut. Er will Christian so bald wie möglich sehen. Wir müssen morgen schon nach Amarnes fliegen.“
„Morgen?“
„Es ist alles vorbereitet“, fuhr Leo fort. „Ich hole Sie und Christian um drei ab.“
„Mitten in der Nacht?“
„Wenn wir später abfliegen, kommen wir erst abends in Amarnes an. Das dauert zu lange.“
„Trotzdem ist es unmöglich, morgen schon zu fliegen!“, schnaubte Phoebe. „Ich kann eine Reise nicht so schnell vorbereiten. Und Christian muss in die Vorschule.“
„Schicken Sie der Schule eine E-Mail, dass sein Vater gestorben ist.“
„Ich muss noch Bestellungen ausführen …“
Leo hob die Augenbrauen. „Sie haben doch bestimmt eine Angestellte, die das Notwendigste veranlassen kann.“
„Ja, ich habe eine Assistentin, aber sie arbeitet nur Teilzeit. Ich kann sie wohl kaum fragen –“
„Doch, natürlich!“
Zu gern hätte Phoebe ihm darauf eine passende Antwort gegeben. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihm zu streiten.
Leo würde jeden ihrer Einwände abtun und bei Bedarf auf den Einfluss und die Macht der Fürstenfamilie hinweisen. Sie gab sich geschlagen … zumindest für den Moment.
„Schön“, willigte sie deshalb ein, „aber nach zwei Wochen kehre ich mit Christian nach Hause zurück, und danach will ich niemanden aus Amarnes je wiedersehen.“
Mit geneigtem Kopf sah Leo sie an. Der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen war wieder auf beunruhigende Art milde und auch irgendwie mitleidig. „Ja, natürlich, so soll es sein.“
Als Leo sich noch ein Glas Brandy einschenkte, war das Feuer längst bis auf einen Rest Glut heruntergebrannt. Am Himmel stand nur der Mond als einsame, silberfarbene Sichel. Schon vor Stunden war Phoebe mit Christian gegangen, und Leo stellte sich vor, wie sie jetzt allein auf dem Sofa saß, die Knie an die Brust gezogen, und über ihre veränderte und ungewisse Zukunft nachdachte.
Dabei wusste sie nicht einmal, wie verändert und ungewiss ihre Zukunft tatsächlich sein würde. Fürst Nicholas wollte Phoebe nicht in Amarnes haben.
Er wollte nur den Jungen. Doch Leo wusste, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, Christian ohne seine Mutter nach Amarnes zu bringen. Nachdem er gesehen hatte, wie sehr die beiden aneinander hingen, konnte und wollte er den Jungen nicht von ihr trennen. Er wusste, wie sich das anfühlte und erinnerte sich an den gequälten Gesichtsausdruck seiner Mutter, als sie mit dem fürstlichen Jet in ihr Heimatland Italien zurückgekehrt war. Damals hatte er mit seinen sechs Jahren still am Kinderzimmerfenster gestanden und versucht, nicht zu weinen.
Von diesem Augenblick an war sein Leben der Krone geweiht, ohne dass er sie selbst je hätte tragen sollen. Doch seit sechs Jahren war alles anders, und er war der unbestrittene Thronfolger. Das missfiel Nicholas sehr, aber ihm blieb keine andere Wahl. Und während der vergangenen sechs Jahre hatte Leo alles getan, um seinem Onkel, den Bürgern von Amarnes und der ganzen Welt zu beweisen, dass er die Krone verdiente.
Ob er sich verändert habe, hatte Phoebe gefragt. Sie sah in ihm immer noch den rücksichtslosen Playboy, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Anders. Und vielleicht war er das auch. Du verdienst es nicht, Fürst zu werden, schien sein Gewissen zu sagen.
Trotzdem war er jetzt der einzige Erbe seines Onkels. Daran konnte niemand etwas ändern. Anders’ Thronverzicht galt auch für seine Nachkommen. Also würde Leo weiterhin seinem Land und seinem Souverän dienen und tun, was man von ihm verlangte … egal, was das für Phoebe bedeuten mochte.
Er trank sein Glas aus und stand auf, um ins Bett zu gehen. Er durfte nicht an Phoebe und ihre Gefühle denken … oder daran, wie sie sich angefühlt hatte. Trotzdem genoss er einen Moment lang die Erinnerung an ihre samtweiche Haut, an ihren lustvollen Blick aus den grauen Augen und ihren herrlichen Körper, der vor Verlangen beinahe gebebt hätte.
Aber Phoebe zu verführen, gehörte nicht zu seinem Plan.
Wie sah der eigentlich aus? Er würde Mutter und Sohn nach Amarnes bringen, auch wenn Nicholas toben würde. Vielleicht wäre der Alte tatsächlich bald gelangweilt und würde sie wieder gehen lassen.
Doch Leo bezweifelte das. Und was wäre dann mit Phoebe? Müde fuhr er sich durchs Gesicht. Darauf wusste er noch immer keine Antwort. Aber wenigstens hätte er seine Pflicht erfüllt. Das tat er immer. Er brachte den Jungen zurück, und Phoebe war ihm wohlgesinnt – zumindest im Augenblick. Alles andere musste warten.
Als der Wecker mitten in der Nacht klingelte, war der Triumphbogen auf dem Washington Square noch in zartes Mondlicht getaucht. Phoebe wappnete sich für den Tag. Am Abend zuvor hatte sie ihre Mutter und ihre Assistentin informiert und hastig das Nötigste zusammengepackt. Der Schule hatte sie eine E-Mail geschickt. Während sie sich jetzt anzog, ganz schlicht mit grauer Wollhose und blassrosa Pullover, bemühte sie sich, das Flattern ihrer Nerven zu ignorieren. Insgeheim fragte sie sich, ob vielleicht sogar so etwas wie Vorfreude dabei war.
Sie weckte Christian, machte schnell Frühstück und packte dann noch ein paar Dinge. Kurz darauf stellte sie entsetzt fest, dass die Limousine mit den getönten Scheiben bereits vorfuhr. Als es klingelte, schlug ihr das Herz bis zum Hals.
Während Leo darauf wartete, dass Phoebe ihm öffnete, ließ er den Blick über das Mehrfamilienhaus gleiten. Irgendwie war es auf seine leicht heruntergekommene Art ansprechend. Lächelnd dachte er daran, wie er Phoebe damit aufgezogen hatte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er es sich nicht erlauben konnte, an sie zu denken. Am Ende würde es ihnen nur beiden wehtun.
Er drückte noch einmal auf den Klingelknopf – und dachte doch wieder an sie.
Wie sehr sie sich seit damals verändert hatte. Damals kaum älter als ein Teenager mit langen dunklen Locken und kindlichem Gesicht, war sie heute eine erwachsene Frau mit einer wunderbar weiblichen Figur. Und wie es gestern Abend in ihren großen grauen Augen vor Kampfgeist – und einem nicht zu leugnenden Verlangen – gesprüht hatte …
Aber natürlich durfte er sie nicht verführen, sosehr er sich auch danach sehnte. Sex würde alles nur verkomplizieren, und das konnte er sich nicht leisten. Der vergangene Abend hatte lediglich dazu gedient, ihr Vertrauen und vielleicht sogar ihre Freundschaft zu gewinnen. Phoebe sollte ihm gewogen sein, damit sie ihm keine Schwierigkeiten machte und die Wünsche der Fürstenfamilie erfüllte … wie auch immer die aussehen mochten.
Phoebe nahm ihre Koffer und rief Christian. Sie wollte nicht, dass Leo hereinkam und mit seiner beeindruckenden Erscheinung den ohnehin schon knappen Raum füllte. Doch als sie Schritte auf der Treppe hörte, erkannte sie, dass es wohl unvermeidlich war. Mrs. Simpson musste ihn hereingelassen haben. Die alte Dame schlief nachts kaum und konnte einem gut aussehenden Gesicht mit ansprechendem Lächeln nicht widerstehen.
Sekunden später klopfte er an die Tür, die Christian aufriss, bevor Phoebe ihn davon abhalten konnte. Nicht, dass es etwas gebracht hätte, das Unvermeidliche hinauszuschieben.
„Hallo.“ Leo stand auf der Schwelle und sah in dem dunklen Anzug ungewöhnlich feierlich aus. Er betrachtete Christian, der ihn seinerseits neugierig musterte.
„Ich bin Leo, und ich glaube, ich bin dein Großcousin“, stellte er sich vor.
Christian machte große Augen. „Ich habe einen Cousin?“, wandte er sich verwundert an seine Mutter.
Leo sah fragend zu Phoebe.
„Wir sind noch nicht dazu gekommen, darüber zu sprechen“, erklärte sie betreten.
„Nun, dann ist es vermutlich eine Überraschung für dich, was Christian? Ich mag Überraschungen, und du?“
„Hm … ja, ich auch“, erwiderte der Junge.
Aus Christians Rucksack lugte ein Dinosaurier hervor. „Du meine Güte, dem möchte ich aber nicht im Dunkeln begegnen“, erklärte Leo und betrachtete das Spielzeug interessiert. „Er hat ganz schön viele Zähne, was?“
„Und er macht Geräusche.“ Christian drückte einen Knopf, woraufhin ein mechanisches Brüllen ertönte und sich die Plastikklauen des Spielzeugs einen Moment bewegten. Leo stieß einen Schrei aus und tat so, als würde er entsetzt zurückweichen, während Christian vor Lachen prustete. „Der ist doch nicht echt!“, rief er dann.