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Julias Freundin Petra aus dem Reitstall ist anfangs begeistert, als sie das neue Dressurpferd "Golondrina" reiten darf. Doch dann bemerken die junge Protagonistin der Buchserie und ihre Freundinnen, dass sich das Mädchen immer mehr zurückzieht. Hat ihr Verhalten etwas mit dem Besitzer der Stute zu tun? Im zehnten Band der beliebten Kinder- und Jugendbuchreihe greift die Autorin Christiane Gohl einfühlsam die schwierigen Themen sexuelle Nötigung und Missbrauch auf. -
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Seitenzahl: 152
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Christiane Gohl
Saga
Julia und der Dressurstar
Copyright © >as per original material<
Published by Arrangement with Christiane Gohl.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1998, 2021 Christiane Gohl und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728013021
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
»Ruhig, Coffee! Nun sei endlich brav!« Ungeduldig zupfte Julia am Führstrick ihres kaffeebraunen Fohlens. Sie saß auf der Connemarastute Violetta und führte Coffee als Handpferd neben sich her. Der lebhafte Jährling dachte jedoch gar nicht daran, artig bei Fuß zu gehen. Stattdessen tänzelte er ungeduldig, kniff seine Mutter Violetta in den Hals und stürmte mitunter sogar plötzlich nach vorn. Julia hatte größte Mühe, ihn zu halten, und war schon völlig erschöpft. Dabei dauerte der Ausritt erst eine Viertelstunde.
Sie hatten gerade das »Naherholungsgebiet Rauhforst« erreicht und waren auf den ersten Waldweg abgebogen. Neidisch blickte Julia zu ihrer erwachsenen Freundin Stephanie hinüber. Stephanie ritt ihren dunkelbraunen Wallach Danny und hatte ebenfalls ein Jungpferd an der Hand. Svaboda, ihre kleine goldfarbene Stute, benahm sich jedoch viel manierlicher als Coffee. Ohne zu rennen oder sich ziehen zu lassen, setzte sie ihre zierlichen Hufe genau im Einklang mit Dannys Schritten.
»Nimm dir ein Beispiel an Svaboda!«, forderte Julia ihren kleinen Wallach auf. »Die geht an der Hand nebenher, als hätte sie nie etwas anderes getan.«
Stephanie lachte und strich ihr blondes Haar zurück. »Sie übt ja auch schon ein halbes Jahr, Julia. Hab ein bisschen Geduld mit Coffee. Nach dem Sommer auf der Aufzuchtweide muss er erst wieder lernen, Disziplin zu halten. In ein paar Wochen sieht das schon ganz anders aus.«
»Wenn er mir bis dahin nicht den Arm ausgerissen hat«, brummte Julia. »Die Freiheit ist ihm zu Kopf gestiegen. Vielleicht hätte ich ihn lieber hier lassen sollen, statt ihn mit nach Mahltrup zu nehmen.«
Julia und ihr Fohlen hatten die Sommerferien auf einem Islandpferdehof zugebracht. Julia hatte dort gearbeitet, während Coffee die Freiheit riesiger Aufzuchtweiden und die Gesellschaft einer ganzen Herde von Junghengsten genoss. Den Winter sollte er aber wieder in der Stadt verbringen, damit Julia ihn jeden Tag sehen und sich mit ihm beschäftigen konnte.
»Na, na, Julia, gönn ihm seine Jugend! Handpferdereiten kann er jederzeit lernen, aber die Zeit in der Jungpferdeherde ist nicht nachzuholen. Ich hätte Svaboda auch gern weggeschickt, aber bei ihr liegen die Dinge ja anders.« Stephanie strich sanft über den Mähnenkamm ihrer kleinen Stute. Svaboda war eine Kreuzung aus Araber und Achal-Tekkiner. Sie war in Russland geboren und als halbjähriges Absatzfohlen nach Deutschland importiert worden. Seit diesem Transport misstraute sie Menschen und lebte in Angst vor jeder Berührung. Erst seit Stephanie sie zu sich geholt hatte und sich intensiv mit ihr beschäftigte, begann sich diese Furcht zu legen. Jetzt, nach einem Jahr, hatte die kleine Stute volles Vertrauen zu ihrer Besitzerin gefasst und ließ auch Julia problemlos an sich heran. Nur vor Männern ängstigte sie sich nach wie vor. Auch jetzt drängte sie sich nervös an Danny heran, da sie auf dem Weg vor sich eine tiefe Stimme hörte. Der alte Reitponywallach ließ das geduldig geschehen.
»Da vorn sind wieder mal Leute auf dem Reitweg«, seufzte Stephanie. »Gehst du bitte vor, Julia? Svaba wird sonst sicher scheuen.«
Julia versuchte, Coffees Führstrick zu ordnen und den aufmüpfigen Jährling möglichst ruhig an den Spaziergängern vorbeizuführen. Die Wanderer, ein älteres Paar, machten ihr das nicht gerade einfach. Sie gingen mitten auf dem Reitweg, und der Mann redete nicht nur sehr laut, sondern fuchtelte auch noch mit seinem Spazierstock in der Luft herum. Coffee tänzelte aufgeregt.
»Guten Tag!« Julia grüßte höflich, um die Wanderer auf sich aufmerksam zu machen. Ältere Spaziergänger bemerkten oft nicht, wenn sich Pferde von hinten näherten. Auch diese hier wandten sich überrascht um, machten dann aber keine Anstalten, zur Seite zu treten.
»Würden Sie uns bitte vorbeilassen?«, fragte Stephanie. »Dies sind junge Pferde, und sie könnten erschrecken, wenn sie so nah an Ihrem Stock vorbeimüssen.«
In aller Regel reagierten Spaziergänger freundlich, wenn man langsam an sie heranritt und sie höflich ansprach. Reitlehrer Holthoff und alle seine Kollegen in den umliegenden Reitställen trimmten ihre Schüler darauf, nett zu den Wanderern zu sein. In dem kleinen Waldgebiet Rauhforst drängten sich vor allem am Wochenende hunderte von Reitern, Joggern, Spaziergängern, Mountainbike- und Motocrossfahrern. Mitunter kam es dabei zu Reibereien und alle Beteiligten suchten die Schuld bevorzugt bei den Reitern. Auch diese Spaziergänger schienen Pferde nicht sonderlich zu mögen.
»Das könnte Ihnen so passen, dass wir für Ihre Gäule in die Büsche springen!«, zeterte die Frau. »Dies ist ein öffentlicher Weg und...«
»Komm, wir drehen um«, entschied Stephanie. Sie hatte die Diskussion mit schlecht gelaunten Wanderern im Rauhforst längst aufgegeben. Wenn sie den beiden jetzt einen Vortrag über Reitwegerecht hielt, gab es garantiert nur Geschrei und Ärger. Svaboda würde aufgeregt herumtanzen, und womöglich würden die Leute behaupten, sie wolle nach ihnen schlagen. Mit etwas Pech notierten sie sich dann Dannys Kopfnummer und Stephanie bekam eine Anzeige wegen Belästigung von Spaziergängern. Am besten ließ man sich also gar nicht erst provozieren, sondern bog gleich ab.
Diesmal hatten die Wanderer aber noch einen zusätzlichen Trumpf in der Hand. »Reiten ist hier sowieso verboten!«, erklärte der Mann und drohte mit seinem Spazierstock. »Passen Sie auf, dass ich Sie nicht melde.«
Stephanie reichte es jetzt. Nachdem sie gewendet hatte, ließ sie ihr Gespann antraben. Violetta und Coffee folgten ihr mit Elan, wobei Coffee auf Svabodas Hinterteil auflief. Die kleine Stute quietschte unwillig.
»Was für ekelhafte Leute!«, schimpfte Julia, als sie die nächste Weggabelung erreichten und Stephanie zum Schritt durchparierte. »So was von mieser Laune!«
»Und das an einem so schönen Freitagnachmittag.« Stephanie zuckte die Schultern. »Statt sich an den letzten warmen Herbsttagen zu freuen, gehen die nur in den Wald, um sich zu ärgern. Am liebsten hätten sie sich noch richtig mit uns gestritten.«
Julia lachte. »Der arme Hundehalter, der denen an der nächsten Ecke über den Weg läuft und seinen Bello nicht an der Leine führt!«
Stephanie nickte. »Sie werden sich wie die Geier auf ihn stürzen! Aber was mir wirklich Sorgen macht, ist die Bemerkung mit dem Reitweg. Bisher war dieser Weg für uns ganz sicher nicht verboten. Komm, wir reiten mal zur Straße und gucken, ob da ein neues Schild steht.«
Svaboda folgte Danny brav, während Julia weiterhin mit Coffee kämpfte. Wenn sie wenigstens schon auf dem Heimweg gewesen wären!
Der Weg, einer der Hauptwege durch den Rauhforst, endete auf einem Parkplatz nahe einer stark befahrenen Straße. Und tatsächlich: An einem Baum war ein gut sichtbares Reitverbotsschild angebracht.
» Oh nein, die können uns doch nicht ernstlich diesen Weg sperren!«, regte Stephanie sich auf. »Das ist unser Hauptzugang zu dem Wald.«
»Vielleicht sperren sie ihn nur von dieser Seite«, überlegte Julia. »Als wir reinritten, haben wir doch kein Schild gesehen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht!«, erwiderte Stephanie. »Wenn da wirklich noch kein Schild war, bringen die garantiert morgen eins an. Wahrscheinlich haben wir es aber nur übersehen. Ich habe jedenfalls mehr auf Coffee geachtet als auf den Weg, und du doch wohl auch.«
Auf dem Rückweg passten die beiden besser auf und diesmal entdeckte Julia das Schild: »Reiten verboten!«
»Was machen wir denn jetzt?« Julia schaute Stephanie mutlos an. »Wenn wir uns daran halten, kommen wir doch gar nicht mehr in den Rauhforst.«
»Dann müssen wir eben etwas dagegen tun!«, sagte Stephanie fest. »Los, wir bringen jetzt die Pferde nach Hause und dann fahren wir zu Herrn Holthoff. Mal sehen, was die Leute im Reitstall dazu sagen! «
Julia und Stephanie brachten die beiden Jungpferde auf die Weide in der Ringstraße, die der Vater ihrer Freundin Kathi gepachtet hatte. Julia und ihre Eltern hatten vor einem Jahr geholfen, den Offenstall darauf winterfest zu machen, damit Kathis Stute Pretty Girl und Julias künftiges Reitpferd hier leben konnten. Dann hatte Julia aber kein erwachsenes Pferd gekauft, sondern das Fohlen Coffee, und Stephanie hatte die gleichaltrige Svaboda aufgenommen. Die Jungpferde sollten natürlich zusammenstehen, um beliebig spielen und toben zu können. Sie bewohnten nun vorerst den neuen Stall, während die Reitpferde bei Stephanie überwinterten. Kathi war das sehr recht, denn so stand Pretty näher an der Reithalle, in der sie regelmäßig Unterricht nahm. Kathi war eine erfolgreiche Dressurreiterin. Sie war gerade dabei, ihre elegante Fuchsstute Pretty aufzusatteln, als Julia und Stephanie mit Violetta und Danny auf den Hof kamen.
»Na, wie ging dein Kleiner?«, fragte Kathi. Sie hatte heute Nachmittag einen Computerkurs in der Schule besucht und deshalb nicht mitreiten können.
Julia machte eine abwehrende Handbewegung. »Schaurig. Diesen Ausritt sollte man ganz schnell vergessen.« Sie stieg ab und löste Violettas Sattelgurt.
»Dann sei froh, dass du Coffee nicht hast Hengst bleiben lassen. Dann könntest du ihn jetzt nicht mehr bändigen.«
Coffee war vor einem Monat kastriert worden, und die Entscheidung, ihr Fohlen zum Wallach zu machen, war Julia nicht leicht gefallen.
»Wieso das denn?«, fragte Julia. »Es gibt doch genug Hengste, mit denen man sehr gut umgehen kann. Im Frühjahr war Coffee im Übrigen viel ruhiger, obwohl er noch Hengst war. Vielleicht liegen die Temperamentsprobleme ja an der Hormonumstellung.«
Kathi kicherte und tippte sich an die Stirn. Auch Stephanie musste lachen. »Die Temperamentsprobleme liegen allein an der Verwilderung«, sagte sie dann. »Von Hormonumstellungen merkt man bei so früh kastrierten Hengsten nichts. Das fällt erst auf, wenn man sie mit drei Jahren oder älter legen lässt. Und vergiss nicht: Wenn Coffee Hengst geblieben wäre, hättest du jetzt gar nichts von seiner Aufmüpfigkeit merken können, denn dann wäre er nicht hier. Wir haben hier schließlich nicht die Möglichkeit, ihn von den Stuten getrennt zu halten. Außerdem könntest du ihn als Hengst nicht zusammen mit Violetta ausführen, weil er dann ständig versuchen würde, mit ihr zu flirten. Und was wolltest du später mit einem Reithengst?«
»Vielleicht wäre er ja Zuchthengst geworden.« Julia haderte immer noch mit ihrem Entschluss.
»Ja, und dein Vater wäre für all die damit verbundenen Kosten aufgekommen. Dir hätte es auch gar nichts ausgemacht, Coffee als Dreijährigen wegzugeben, damit ihn fremde Leute auf die Hengstleistungsprüfung vorbereiten. Und dann hättet ihr ihm noch ein nettes Gestüt gekauft, mit drei oder vier eigenen Stuten... Träum weiter, Julia!«
Kathi stieß Julia freundschaftlich an, bevor sie auf ihr Pferd stieg. »So ist es bestimmt besser. Und du sagst doch selbst, die Operation hat ihm nichts ausgemacht. Ist es wohl noch hell genug für eine Runde im Rauhforst oder reite ich besser zur Halle?«
»Geh in die Halle, im Rauhforst ist der Teufel los. Sie haben neue Reitverbote erlassen, und schon ist der halbe Wanderverein unterwegs, um die Einhaltung zu kontrollieren. Wir kommen auch gleich nach, ich muss mit Holthoff sprechen.« Stephanie kratzte Dannys letzten Huf aus und ließ ihr Pferd im Auslauf frei. Julia war schon fertig und füllte die Krippen mit Heu.
»Eindecken brauchen wir sie nicht, sie haben nicht geschwitzt«, entschied Stephanie. »Gib jedem noch einen Happen Kraftfutter und dann fahren wir los.«
Stephanie kontrollierte den Sitz ihres blonden Haars im Rückspiegel ihres Autos. Reitlehrer Holthoff gehörte zu ihren Bewunderern, und neuerdings gab es Gerüchte, seine Zuneigung bliebe nicht unerwidert. Echte Beweise dafür hatten Julia und Kathi aber noch nicht gefunden. Julia reichte Stephanie grinsend einen Kamm und löste dann auch ihren eigenen braunen Pferdeschwanz. Sorgfältig kämmte sie ihr Haar durch, während Stephanie losfuhr. Unterwegs überholten sie Kathi, deren hübsche Stute im flotten Schritt zur Halle strebte. Dann bogen sie hinter einem Auto mit Pferdeanhänger auf den Hof des Reitstalls ab.
»Oh, da bringt jemand ein neues Pferd«, meinte Stephanie. »Oder hast du das Gespann hier schon einmal gesehen?«
Das Auto hatte ein Gelsenkirchener Kennzeichen und im Hänger erkannte man die glänzende Kruppe eines großen dunkelbraunen Pferdes. Der Fahrer lenkte sein Gespann auf den Hängerparkplatz hinter der Scheune, während Stephanie vor dem Offenstall parkte. Der Ponywallach Ricardo und sein großer Freund Robin kamen in den Auslauf und sahen dem Hänger nach, und auch im Hauptstall erschienen etliche Pferdeköpfe in den Fenstern der Außenboxen.
In Herrn Holthoffs Reitstall hatte sich in den letzten Monaten einiges verändert. Seit der Reitlehrer Stephanie kannte, interessierte er sich zunehmend für alternative Reitweisen und artgerechte Pferdehaltung. Im letzten Winter hatte er obendrein einige Zeit in Argentinien verbracht und war seitdem noch aufgeschlossener gegenüber Alternativen zum üblichen Turniersport. Neben dem normalen Unterricht in Dressur und Springen bei Herrn Holthoff gab es inzwischen eine Gruppe Westernreiter, die Stephanie unterrichtete. Außerdem erteilte ein klassischer Dressurreiter einmal wöchentlich Stunden im Klassisch-Iberischen Reitstil. Auch für die Pferde hatte sich vieles gewandelt. Die meisten Boxen hatten jetzt Fenster zum Hof, damit die Pferde hinausschauen konnten. Ricardo, das Pony, und Robin, das jüngste Pferd, teilten sich einen größeren Offenstall mit neuerdings drainiertem Auslauf, und der Springplatz war erheblich verkleinert und zur Weide umfunktioniert worden. »Wenn es hochkommt, wird hier im Sommer einmal in der Woche gesprungen«, hatten die Freizeitreiter erklärt, deren Pferde die neuen Außenboxen bewohnten. »Und auch das nur bei trockenem Wetter. Von der Weide haben die Pferde jeden Tag etwas. Wenn Turnier ist, können wir den Elektrozaun ja abbauen und die Wiese einmal mähen. Dann haben Sie wahrscheinlich sogar einen besseren Untergrund zum Springen als jetzt.«
Natürlich gab es darüber etwas Ärger mit dem Vereinsvorstand, aber die neuen Angebote brachten so viele zusätzliche Reitschüler und letztlich auch Vereinsmitglieder, dass der Vorstand schließlich nachgab.
Herrn Holthoff jedenfalls gefiel der frische Wind im Stall. Er winkte Stephanie und Julia vergnügt zu, während er über den Hof ging, um das neue Pferd in Empfang zu nehmen. »Ein Pferd kommt an und schon ist Julia da!«, rief er. »Du hast wirklich einen Riecher für Sensationen. Wollen wir wetten, dass Kathi auch gleich auftaucht?«
Julia nickte. »Schon unterwegs«, stimmte sie zu. »Sie kommt mit Pretty.«
»Dann kann sie in Michaels Stunde mitreiten. Die hat gerade angefangen. Wollt ihr bei ihm zusehen?«
Michael gab Unterricht im Klassisch-Iberischen Reitstil. Er versammelte allwöchentlich eine bunte Gruppe von Reitern und Pferden und weihte sie in die Geheimnisse von Seitengängen, Piaffe und Passage an leichter Hand ein.
Stephanie schüttelte den Kopf. »Wir sind leider nicht zum Vergnügen hier. Es gibt Schwierigkeiten. Die Stadt sperrt uns den Rauhforst!«
»Was? Ich hatte von neuen Reitverboten gehört, aber ich dächte, das beträfe eher die Gelsenkirchener Ecke. Aber lassen Sie uns das gleich besprechen. Zuerst muss ich diesem Herrn Faltus seinen Stall zeigen.« Herr Holthoff steuerte jetzt endgültig auf den Hängerparkplatz zu. Der Fahrer des Gespanns war inzwischen ausgestiegen – ein schlanker, braun gebrannter Mann in mittleren Jahren ging zielstrebig auf Herrn Holthoff zu und begrüßte den Reitlehrer. Er trug eine teure Ganzlederreithose und sein blondes Haar wirkte frisch gefönt.
»Ist der aber schön!«, feixte Monika, ein Mädchen aus Kathis Abteilung. »Wetten, der sitzt öfter im Fitnessstudio als auf dem Pferd?« Monika und ihre Mutter hatten ihre Pferde nicht im Reitstall stehen, sondern im eigenen Garten. Aber heute hatte Monika von der Ankunft des neuen Pferdes gehört und war hergekommen, um es anzusehen.
»Und diese Frisur!«, lästerte jetzt auch Julia. »Nennt man den Schnitt nicht ›Vokuhila‹?«
»Hm?«, fragte Stephanie.
»›Vokuhila‹ – vorne kurz, hinten lang. Sehr geeignet zum Kaschieren von Halbglatzen.« Die Mädchen kicherten. »Und macht ältere Herren wieder jung!«
»Herr Holthoff hat damit ja zum Glück keine Probleme. Findest du nicht, er hat schöne Haare, Stephanie?« Monika sah Stephanie spitzbübisch an.
Die junge Frau sagte dazu lieber gar nichts. Aber gegen Herrn Holthoffs Haarwuchs gab es wirklich nichts einzuwenden. Seit seinem Aufenthalt in Argentinien trug der Reitlehrer das braune Haar etwas länger und sah dadurch jünger aus.
Der Neuankömmling hatte inzwischen die Hängerklappe geöffnet und führte das dunkelbraune Pferd heraus. Es war ganz in Transportgamaschen und Decken verpackt, aber man konnte trotzdem erkennen, dass es ein sehr schönes Tier war. Es hatte einen edlen Kopf und keine Abzeichen außer einer winzig kleinen Flocke auf der Stirn. Transporte schien es gewöhnt zu sein, denn es trat gelassen und ohne Tänzelei aus dem Hänger. Als Kathi und Pretty auf den Hof kamen, schaute es auf und wieherte ihnen zu.
»Schickes Pferd!«, bemerkte Kathi. »Eine Stute, nicht? Ich kenn die von irgendwoher...«
»Ja, das ist eine ganz Edle«, meinte auch Herr Holthoff und gesellte sich zu Stephanie und den Mädchen, solange Herr Faltus sein Pferd von den Gamaschen und Decken befreite. »Eine Westfalenstute bester Abstammung – und sehr gut ausgebildet. Sie geht M-Dressur, sagt Herr Faltus. Ich habe sie auch schon mal auf einem Turnier gesehen. Sie fiel mir auf, weil sie so gut ging, und wegen ihres komischen Namens – Gol..., Gola...«
»Golondrina.« Herr Faltus kam mit der Stute zu ihnen. »Das ist Spanisch und heißt ›Schwalbe‹. Sie ist aus der Grazioso-Linie und anscheinend wollte ihr Züchter sie zur Abwechslung mal anders nennen als ›Goldika‹.«
»Sie ist toll!«, meinte Kathi. »Reiten Sie sie selbst?« »Nun...« Herr Faltus druckste ein bisschen herum.
Aber dafür hatte Herr Holthoff noch einen Geistesblitz: »Also damals auf dem Turnier hat sie ein Mädchen geritten, so eine Kleine, Dunkle – die hatte auch einen ungewöhnlichen Namen...« Er sah Herrn Faltus Hilfe suchend an, aber von dem kam keine Reaktion.
»Soledad? Griseldis? Arielle?«, neckte Kathi, und die Mädchen kicherten.
»Amei!«, rief Herr Holthoff triumphierend. »Ich weiß noch genau, wie der Sprecher bei Pferd und Mädchen dreimal gestockt hat. Wer nennt sein Kind bloß nach einer Ameise?«
Stephanie lachte. »Amei ist eine Abkürzung für Annemarie. Früher recht gebräuchlich, aber heute hört man es kaum noch. Wird Amei Ihr Pferd weiterhin reiten, Herr Faltus?«
Der schüttelte den Kopf. »Nein, nein, da müsste sie zu weit fahren. Aber ich möchte wieder ein Mädchen haben, das Golondrina mitreitet. Ich komme selbst einfach nicht oft genug aufs Pferd, und es ist schade, wenn so ein gutes Pferd nicht turniermäßig vorgestellt wird. Herr Holthoff kann mir da sicher jemanden empfehlen...«
Herr Holthoff nickte. »Denken Sie an eine Reitbeteiligung oder an ein Pflegemädchen? Ich glaube, bei einem so hervorragenden Pferd könnten Sie leicht jemanden finden, der sich auch an den Kosten beteiligt.«