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Aachen schreit auf! Kaiser Karl darf nicht sterben – vor allen Dingen nicht durch die Hand eines Historikers, der behauptet 'Den Kaiser hat es nie gegeben – eine Erfindung der Geschichtsschreibung'.Als der Wissenschaftler zum Gast-Referat ins Kármán-Auditorium kommt, fallen tödliche Schüsse. Eine Journalistin und ein Kripo-Beamter suchen den Mörder – erste Spuren führen zu einem Aachener Traditionsverein, der Bundeswehr in Stolberg, einer Eifelburg und ins historische Rathaus der Kaiserstadt. Als schließlich ein Mord unweit der Burg Seffent geschieht, kommt es zu einer überraschenden Wendung.
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Seitenzahl: 247
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© 2000 eBook-Ausgabe 2011RHEIN-MOSEL-VERLAGBrandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151, Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-89801-791-6 Umschlag: Alfred Nolden/Sabine Weiss
Hubert vom Venn
Kaisermord
Der Aachen-Krimi zum Thronjubiläum im Jahr 2000
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Der »Kaisermord« ist kein Tatsachenroman und frei erfunden. Ähnlichkeiten oder Namensgleichheiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Vorfällen in Aachen sind unbeabsichtigt und reiner Zufall.
Aber wie schrieb schon Bernt Engelmann: »Wenn sich der eine oder andere prominente Mitbürger in der einen oder anderen Romanfigur wiederzuerkennen meint, so muß er (oder sie) sich nicht täuschen. Denn es kann ja sein, daß er (oder sie) sich, bewußt oder unbewußt, ähnlich verhalten hat wie die erdachte Person.«
Roetgen/La Grande Motte
im Sommer ‘99
Hubert vom Venn
Kaisermord
Der Kaiser hatte keine Hose an!
Bis zu den Knien stand er im Marktbrunnen vor der Pfalz und wetterte für Gott und gegen die Welt:
»Und ich frage Euch, gemeines Volk, warum gibt es noch immer ungetaufte Gottlose in Sachsen, Nordalbingien, Burgund, Pannonien, Aquitanien, der Lombardei und in der spanischen und bretonischen Mark? Wo ist mein weißer Elefant Abul Abbas? Warum ist im Kräutergarten an meiner Pfalz noch immer nicht die Dreifelderwirtschaft eingeführt worden? Wenn Ihr, Bürger aus Acquisgrana, nicht endlich Eurem Kaiser die nötige Ehrfurcht entgegenbringt, dann werde ich nach Paderborn oder ins Land der Sachsen übersiedeln. So wahr ich Karl der Große heiße. Habt Ihr das verstanden, einfaches Volk?«
Das einfache Volk antwortete mit Johlen und Beifall.
Der ›Pater Europae‹ schritt darauf mit tropfenden nackten Beinen, aber mit erhobenem Haupt die Stufen zur Pfalz hoch und schlug mit den Fäusten gegen das schwere Eisentor:
»Ich will sofort hier rein!«
Doch die großen Flügeltüren blieben verschlossen, wie immer in der Dunkelheit.
»Nur Kunzelmännern wird aufgetan!« bemerkte ein Bürger.
*
Wenn nicht gerade Markt in Aachen ist, gleicht der Katschhof zwischen Rathaus und Dom eher einem Supermarkt-Parkplatz am Sonntag als der ›Geburtsstätte Europas‹, wie bunte Werbeheftchen der Stadt vollmundig bekunden. Einige stadtbekannte Berber leeren dort bereits am frühen Morgen Rotweinflaschen mit Schraubverschluß, hin und wieder huscht ein Bürger über den leeren Platz, um sich im Foyer des modernen Verwaltungsgebäudes, das seitlich an das historische Rathaus angebaut wurde, gelbe Müllsäcke zu besorgen oder um sich in einem der zahlreichen Büros verwalten zu lassen.
Einer allerdings will von dem vielgescholtenen ›toten Platz‹ nichts wissen. Von seinem schweren Eichen-Schreibtisch genießt der Aachener Oberbürgermeister Josef Laufs nämlich den unverstellten Blick auf den Dom.
Der OB hatte nicht die beste Laune, als sich seine drei persönlichen Referenten Jürgen Potthof, Norbert Kampschulte und Werner Mommertz, alle parteibuchgetreue Genossen, zur täglichen Arbeitsbesprechung einfanden:
»Wer hat das verpennt? Nächstes Jahr jährt sich die Krönung Karls zum 1200sten Mal und bei uns ist noch nicht einmal der Vortrag ›Das Sozialverhalten der Stenotypistinnen im ausgehenden Zeitalter der Karolinger‹ durch einen klapprigen KKG-Oberstudienrat in der Volkshochschule geplant!«
Der Oberbürgermeister pochte ärgerlich auf den Brief seines Amtskollegen aus Paderborn, in dem dieser für eine große Ausstellung um einige Aachener Karls-Exponate nachfragte:
»Hat das tatsächlich in dieser Stadt keine Sau gewußt? Teile des Lorscher Evangeliars haben die schon! Von uns wollen die nun den Proserpina-Sarkophag mit den nackten Göttern, die Wölfin aus dem Dom, das Evangelienbuch und noch anderen Karls-Krempel haben. Da kann ich doch nicht ›Nein‹ sagen. Wie stehe ich denn dann politisch da?«
»Ich weiß auch nicht«, beeilte sich sein Referent Norbert Kampschulte zu beruhigen, »warum uns keiner gefragt hat. Barcelona, Brescia, Split, York und Paderborn …«
»Ich verbessere: Das verschnarchte Paderborn! Und auch noch in Westfalen! Die haben uns doch schon 799 das Gipfeltreffen zwischen Papst Leo dem Dritten und Karl vor der Nase weggeschnappt. Darüber könnte ich mich ärgern, als wenn es gestern gewesen wäre«, fuhr der OB dazwischen.
»… planen die große gemeinsame Ausstellung ›Charlemagne – The Making of Europe‹, aber an uns hat kei…«, versuchte Kampschulte seine Ausführungen zu beenden. Doch der OB wütete weiter:
»Aachen, nur Aachen ist die Stadt Karls des Großen! Das Thema, meine Herren, ist hier verschlabbert worden! Bei Karl denkt im nächsten Jahr keine Socke an uns. Da müssen wir schon einen gemeinsamen Karlspreis an Clinton und Monica Lewinsky verleihen, damit wir wenigstens ein bißchen auf uns aufmerksam machen.«
»Was haben die denn für Europa geleistet? Bei denen denken die Leute doch nur an gewisse sexuellen Deviationen …«, fragte Werner Mommertz naiv dazwischen.
»Ach, hau doch de Mull! Ich schlage dir gleich deine Deviationen um die Ohren!« unterbrach ihn der OB, der gerne in seine Aachener Mundart verfällt, wenn er besonders fröhlich, aber auch besonders verärgert ist. Betreten schauten die drei Referenten auf den kleinen Besprechungstisch. Keiner wagte nach einer der schokoladenüberzogenen Printen zu greifen, die der Oberbürgermeister dort immer für Gäste bereit stellt.
»Da ist noch etwas …«, meldete sich nun auch Jürgen Potthof zu Wort und lockerte seine Krawatte mit dem Versace nachempfundenen Kaufhausmuster, »irgend so ein spinnerter Professor vom Germanistischen Institut der Hochschule veranstaltet in der nächsten Woche im Kármán-Auditorium einen Abend zum Thema ›Karl der Große, eine Geschichtsfälschung‹. Die haben diesen Typ aus München eingeladen, der immer behauptet, daß das ganze Mittelalter erfunden worden sei …«
»Ach, der Hans Ihle, der Tuppes, da lachen doch alle Historiker nur drüber«, winkte Josef Laufs zunächst ab, um nach einer kurzen Denkpause dann aber doch nicht mehr seiner eigenen Meinung zu sein:
»Trotzdem! Gib mir mal den Rektor. Der bayrische Stinkstiefel kann ja referieren wo er will, aber nicht hier in Aachen.«
Brav wählte Jürgen Potthof die Durchwahl des TH-Rektorats an. Das Gespräch mit Rektor Wolfgang Krey dauerte nur wenige Minuten, dann knallte der Oberbürgermeister, nachdem er sich noch höflich verabschiedet hatte, den Hörer auf:
»Fottloch!«
»Und …?!« kam es wie aus einem Chorknaben-Munde der drei Referenten.
»Ach, der Jeck mullt was von Unabhängigkeit der Institute, Freiheit der Wissenschaft, Auseinandersetzung mit Themen, die auch unbequem sind. Kurzum, bei der Hochschule denken die im Traume nicht daran, den Vortrag zu canceln. Was interessiert die sauberen Profs schon Aachen? Ein besseres Angebot – und wutsch verkaufen die ihre Villen im Südviertel und sind mit fliegenden Fahnen an der Uni Freiburg.«
Josef Laufs ging wie ein begossener Napoleon im Zimmer auf und ab. Nach einer längeren Pause wiederholte er einen Satz, den er zuletzt zu Drittliga-Zeiten auf dem ›Tivoli‹ geschmettert hatte, als die aus ganz Europa zusammengewürfelte Alemannia-Muschkote mit dem Atlas das Tor der Mannschaft aus Salmrohr suchte – und nicht fand:
»Wir sind Aachener – Ihr nicht! Das gilt auch für die sauberen Herren Professoren.«
Brav nickten die drei Referenten, ehe ihr Chef sich weiter ereiferte:
»Die TH wird langsam eine Stadt in der Stadt. Da müssen wir was dran tun, sonst nehmen die uns mit ihrem Elite-Getue das Heft aus der Hand und verleihen demnächst noch einen Charlemagne-Preis, oder was weiß ich. Bei deren Kontakt zur Wirtschaft können die den locker sechsstellig dotieren. Dann können wir uns den Karlspreis in die Haare schmieren und höchstens noch an den Bürgermeister von Monschau verleihen, weil der mit Belgien eine gemeinsame Kläranlage in Kalterherberg gebaut hat. So, das wär’s für heute. Und tschüß!«
Die drei Referenten trollten sich verunsichert in Richtung der prächtigen Flügeltür, als Josef Laufs noch einmal die Stimme des Herrn einsetzte:
»Los, Jürgen, komm’ noch ens!«
Jürgen Potthof, der dem Oberbürgermeister schon seit gemeinsamen Juso- und Kotelettenzeiten ein treu ergebener Vasall ist, wieselte schnell zurück, während seine beiden Kollegen das OB-Vorzimmer ansteuerten. Mit einer nickenden Kopfbewegung orderte der OB seinen Referenten ganz nah zu sich heran. Flüsternd redete er auf diesen ein – dabei faltete er die Hände und zeigte gleich einer Pistole mit aneinanderliegenden Zeigefinger immer wieder auf den menschenleeren Katschhof. Potthof schüttelte den Kopf:
»Also, ich weiß nicht!«
»Hier geht es um das Wohl der Stadt. Und denk dran, daß wir im September Wahlen haben. Oder hast du etwa Lust, ab Oktober Pressechef der öffentlichen Verkehrsmittel zu werden!?«
»Wo du bist, da ist Rom.«
»Mach, daß du rauskommst.«
*
Der Unbekannte konnte zuhören.
Er hatte Lisa Koerfer erst vor wenigen Tagen im ›Hofgarten‹ kennengelernt. Ihm war – wie er sagte – zuerst ihr Modigliani-Gesicht aufgefallen. Sie hatte alleine gesessen und er war einfach an den Tisch getreten:
»Ist hier noch frei?«
Der Unbekannte wußte, daß diese Frage um 11 Uhr morgens in einer fast völlig leeren Kneipe nach dümmlichster Anmache klingen mußte. Doch sie hatte ganz freundlich aufgeschaut – vielleicht sogar eine Spur zu freundlich:
»Ja, gerne. Setzen Sie sich nur!«
Nachdem er also offensichtlich mit so einfachen Mitteln bei der Zweitenblick-Schönheit landen konnte, legte er banal nach:
»Schönes Wetter heute!«
Sie lächelte den Unbekannten an und schwieg eine lange Zeit. Als er mit leichtem französischen Akzent »Café‚ fin moka« bestellte, war sie es, die die Initiative ergriff:
»Ja, ich bin so eine!« sagte sie plötzlich.
Der Unbekannte bemühte sich erstaunt aufzuschauen.
»Ich bin eine Nutte!«
Der Unbekannte schaute sie an und schwieg.
»Jeder, der mich in meinem Studio besucht, kann mit mir für 150 Mark ins Bett gehen.«
Und dann fügte sie leise hinzu:
»Ich hoffe, daß Sie mich nie besuchen.«
»Ich glaube, Sie wollen einfach ein bißchen reden.«
»Ich heiße Lisa, nenne mich aber ›Mandy‹. Unter dem Namen kann man täglich meine Telefonnummer im ›Kurier‹ lesen. Ich rede sonst nie mit Fremden«, sagte sie bestimmt und fügte dann sehr leise hinzu, »ich vögele meistens gleich mit ihnen.«
Der Unbekannte schien darüber hinwegzuhören:
»Ich habe heute sehr viel Zeit, um zuzuhören. Zuhören ist quasi mein Beruf.«
»Muß ich bezahlen, wenn ich mit Ihnen rede?« fragte Mandy ein wenig erschrocken.
»Muß ich bezahlen, wenn ich heute abend mit Ihnen in die Kiste gehe?« antwortete der Unbekannte.
Mandy lachte ein unschuldiges Lachen und wechselte vom Sie zum du:
»Natürlich mußt du zahlen, jeder muß zahlen, alle müssen zahlen.«
Der Unbekannte zog seine teure Schott-N.Y.C.-Jacke aus, die im Stil amerikanischer College-Jacken gefertigt war. Mandy ließ an diesem Morgen jede Eleganz vermissen, so als wollte sie keinem Mann auffallen:
»Ich möchte dir gerne mein Leben erzählen!«
»Dann tu’ es doch einfach!«
Mandy, die an diesem Morgen Lisa hieß, bestellte sich noch einen Kaffee, den sie nur mit Milch trank. Den Zucker steckte sie in ihre Handtasche:
»Wir waren arm zu Hause. Ich lasse nichts verkommen.«
Dann setzte sie sich aufrecht hin und legte ihren Kopf in die Hand, was sie augenblicklich schöner erscheinen ließ:
»Weißt du, ich bin von hier und habe noch vor einem Jahr in einer Schokoladenfabrik gearbeitet. Die Fabrik hat einen Chef, der sich aber gar nicht mehr besonders um den Laden kümmert. Er hat seine Manager, die für ihn alles schmeißen. Er selbst sammelt Bilder – ich habe ihn in der Firma immer nur im Mantel gesehen. Entweder er kommt oder er geht. Auf jeden Fall ist er nie da.«
»Aber Ludwig ist doch tot!«
»Nein, nein, den großen Schokoladen-Ludwig meine ich nicht. Unsere Firma ist viel kleiner. Aber du hast recht, die Schokoladen-Barone scheinen alle Kunst zu sammeln. In meinem Studio hängt übrigens eine nackte Zigeunerin. Ich habe mir gedacht, daß das die Kerle anmacht. Aber die scheinen Härteres zu brauchen.«
»Ich hatte dich unterbrochen!«
»Neulich war in der Zeitung ein Bild vom Chef – da hat er wieder einmal einer Stadt Bilder von sich gegeben, damit die Stadt aufpaßt, daß die Bilder nicht gestohlen werden. Und genau in der Firma von diesem Mann habe ich gearbeitet. Ich stand an einem Band mit vielen anderen Frauen aus vielen Ländern. Wir mußten Pralinen in Kartons legen. Acht Stunden am Tag, mit nur wenigen kurzen Pausen. Aber trotzdem: am Band haben wir oft sehr gelacht, da wir uns alle gut verstanden. Nur manchmal hat es Streit gegeben, wenn eine nicht aufgepaßt hat. Dann ist ein Manager gekommen, der vor einigen Jahren noch selbst Arbeiter war, und hat fürchterlich geflucht. Dann haben wir unter uns geschimpft, weil wir keinen Streit haben wollten. Verstehst du überhaupt, was ich dir erzähle? Ich weiß auch, daß ich mich nicht besonders ausdrücken kann.«
»Nein, nein, rede nur weiter!«
»Wenn die Schicht zu Ende war, bin ich immer zu meinen Eltern gegangen, die nur ein paar hundert Meter weiter wohnen. Einmal in der Woche ging ich abends zu den Grün-Weißen Funken, wo ich Tanzmariechen war. Das hat mir viel Spaß gemacht. Besonders in der Karnevalszeit, wenn wir aufgetreten sind. Ich habe sogar einige Orden gekriegt. Wirklich.«
»Ich bin Hanseat«, murmelte der Unbekannte.
»Du sprichst aber ein bißchen wie ein Franzose.«
»Ach, vergiß es. Es war eine unqualifizierte Bemerkung.«
»Wenn ich dir lästig bin, kann ich aufhören.«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich höre dir gerne zu!«
»Die Orden sind noch bei meiner Mutter. Einen Freund hatte ich übrigens nicht, hin und wieder bin ich mal mit einem Jungen ausgegangen, aber das war auch schon alles. Ich war, glaube mir, ein völlig naives Mädchen, hätte nie gedacht, daß aus mir mal so eine wird.«
»Ich finde den Beruf des Soldaten schlimmer als deinen Job. Wer von dir kommt, hat seine Freude gehabt – wer vom Soldaten kommt, hat oft ein Loch im Kopf.«
»Das war jetzt bestimmt politisch. Aber mit Politik habe ich nichts am Hut. Trotzdem bin ich durch die Politik Nutte geworden. Voriges Jahr passierte die Sache mit den Flugblättern.«
Der Unbekannte schaute fragend, während ›Mambo No. 5‹ schon zum zweiten Mal durch das Café schallte.
»Du mußt wissen, daß bei uns in der Firma viele Ausländerinnen arbeiteten. Und diese Frauen, so wird immer behauptet, werden schlechter bezahlt als wir Deutsche. Eines Tages nun standen die Leute von einer politischen Gruppe, ich glaube, es waren alles nur Studenten, vor unserem Firmentor und verteilten Flugblätter gegen den Firmenchef und so. Da bin ich nach der Schicht zu denen hingegangen und habe gesagt, daß einiges, was sie in ihren Flugblättern geschrieben hatten, nicht stimmt. Zum Beispiel hatte ich den gleichen Lohn wie die ausländischen Frauen, wir haben die Lohnzettel nämlich immer verglichen. Es stimmte also nicht, daß wir Deutschen besser bezahlt würden. Das habe ich denen nur gesagt.«
»Wenn ich ehrlich bin, kann ich dir nur schwer folgen.«
»Warte, warte. Als ich nach der Frühschicht zu Hause war, hatte ich die Flugblätter aber schon vergessen. Daher war ich furchtbar erschrocken, als nachmittags der Personalchef bei meiner Mutter anrief und sagte, ich sollte sofort zu ihm kommen. Mit höllischer Angst, das kannst du mir glauben, ich war nämlich noch nie in meinem Leben bei einem Chef gewesen, bin ich zur Firma gerannt. Der Chef sagte, ich sollte mich setzen. Er selbst trat an das Fenster: ›Von hier kann ich das Firmentor gut einsehen‹, hat er gesagt. Und dann hat er gesagt, daß er mich mit den Kommunisten gesehen hätte …«
»Hat er wirklich Kommunisten gesagt? Das politische Weltbild dieses Mannes muß schon vor Jahren eingefroren sein.«
»Das habe ich jetzt nicht verstanden. Dann hat er gesagt, daß er nun wüßte, wer die undichte Stelle in der Firma sei. Ich wäre bestimmt eine Hure der Roten und würde denen was aus dem Firma erzählen. Dafür könnte er mich rausschmeißen. Er meinte aber, daß der Betriebsrat bestimmt wieder ein Haar in der Suppe finden würde, und den Ärger würde er sich gerne sparen. Ich habe geweint, habe immer wieder gesagt, daß ich die Leute mit den Flugblättern überhaupt nicht kennen würde und daß ich denen nur gesagt hätte, daß sie Quatsch geschrieben hätten. Ich war irre aufgeregt. Aber der Personalchef hat immer nur wiederholt, daß ich eine Lügnerin sei, er wisse ganz genau, wie der Hase läuft und daß die Kommunisten überall ihre Huren einschleusen. ›Aber mit mir nicht‹, hat er dann gesagt. ›Als nächstes solltest du wohl mit mir ins Bett gehen, um Firmengeheimnisse rauszukriegen, du kleine dreckige Hure.‹«
Mandy weinte, und dem Unbekannten wurde es peinlich, da die ersten Gäste im ›Hofgarten‹ schon zu ihnen rüberschauten. Vorsichtig, ohne jeden Verdacht der Anmache aufkommen zu lassen, sagte der Unbekannte:
»Ich höre mir gerne deine Geschichte an. Doch du solltest mir nicht alles auf einmal erzählen. Was hältst du denn davon, wenn wir uns morgen um die gleiche Zeit wieder treffen. Aber nicht hier. Kennst du das ›Café Kittel‹? Da ist es schon früh sehr voll. Da können wir ungestörter reden.«
»Kommst du wirklich?« fragte Mandy fast ängstlich, »und wie heißt du überhaupt?«
Der Unbekannte ging auf die zweite Frage nicht ein:
»Du kannst ganz sicher sein, daß ich pünktlich da sein werde.«
*
Nicht nur im ZDF heulen im Hintergrund von Polizeistuben Martinshörner.
»Das ist doch völliger Unsinn!« schimpfte Polizeipräsident Neumann, der zum Lesen der Akte seine Brille ausgezogen hatte und das Schriftstück sehr nah vor Augen führen mußte, »wo kommen wir denn hin, wenn wir jedem Referenten, der in Aachen seinen Mund aufmacht, Polizeischutz gewähren müßten?«
Vor dem Polizeipräsidenten lag ein Schreiben der TH-Pressestelle, in dem diese von Ausschreitungen bei dem geplanten Kaiser-Karls-Abend im Kármán-Auditorium orakelte.
»Höfliche Ablehnung«, schrieb Neumann mit Bleistift an den Rand, überlegte kurz, strich das eben Geschriebene wieder durch und wählte dann die Durchwahl seiner Pressestelle. Wenige Minuten später erschien Peter Schellberg, Sprecher der Polizei, im Zimmer des Präsidenten, der sich in Veröffentlichungen gerne ›Erster Schutzmann der Stadt‹ nennen ließ. Nur wenige im Präsidium an der Aachener Peripherie wußten allerdings von den Entscheidungsängsten, die den gen Pension steuernden Juristen ständig plagten.
Der erste Schutzmann brauchte wieder einmal Rat:
»Mir liegt hier eine Anfrage der TH vor. Nächste Woche findet doch die Veranstaltung mit diesem Historiker statt, der behauptet, daß es Kaiser Karl nie gegeben hat. Die Uni befürchtet Ausschreitungen und will Polizeischutz für den Mann. Also, ich finde, das ist übertrieben. Aber ich wollte Ihre Meinung noch hören.«
Peter Schellberg, der früher einmal mit Polizei-Handpuppen als Verkehrskasperl durch die Kindergärten und Grundschulen gezogen war, stimmte seinem Chef zu.
»Finde ich auch, Kaiser Karl wird bestimmt nicht seine Schlächter schicken, um die Besucher der Veranstaltung wie Sachsen zu köpfen …«
»Das dürfen Sie in Aachen aber nicht laut sagen«, lachte der Polizeipräsident, froh über die Zustimmung.
»Ich werde mich hüten! Die Karlstümeler würden mir den Kopf abreißen. Aber ich bin auch Ihrer Meinung, da passiert nichts.«
Schnell schob Neumann die Verantwortung über den Tisch.
»Dann schicken Sie doch der TH eine höfliche Absage. Können Sie auch unterschreiben. Lassen Sie vorher aber unsere Leute von der ›Abteilung Staatsschutz‹ mal nachforschen, ob es bei Auftritten dieses ungläubigen Karls-Jüngers überhaupt schon irgendwo in Deutschland Probleme gegeben hat. Wenn ja, müssen wir die Sache noch mal überdenken. Denn wenn was passiert, schiebt uns die TH gnadenlos den schwarzen Peter zu.«
Schellberg nickte und verließ das Büro. Der Polizeipräsident ordnete die amerikanischen Polizeiabzeichen, die auf seinem Schreibtisch lagen: Deputy Sheriff aus Santa Cruz, Metropolitan Police aus Nevada, Police Officer aus St. Paul Island Alaska, Trooper aus Louisiana und sein Schmuckstück, das Abzeichen mit der Nummer 7056 eines Police Officers aus Los Angeles. Bei Verlust dieses Abzeichens, erzählte Neumann gerne, würde den Polizisten in L. A. das Gehalt gekürzt.
Neumann würde keinem seiner Beamten das Gehalt kürzen.
*
Inmitten von Prospekten, in denen die kleine Welt immer in Ordnung ist, residiert Karl Göttmann, Direktor des Aachener Fremdenverkehrsamts. Und der war wieder einmal außer sich. An diesem Tage allerdings erst nach dem zweiten Kaffee, wie seine Sekretärinnen fast schon erleichtert notierten. Göttmann, der den Charme eines Wagenhebers hat, schlug mit der Faust auf den Tisch:
»Ja, spinnen die denn! Da loben wir die TH in unseren Infos immer in den Himmel und da kommen die und demontieren Karl den Großen. Das muß der OB doch verhindern können.«
Wütend wählte der Stadtwerber den Oberbürgermeister an und ließ erst einmal polternd Dampf ab. Mehrmals versuchte Josef Laufs den Redefluß zu stoppen – vergeblich. Erst als Göttmann forderte »Da mußt du was unternehmen!«, konnte der OB auch etwas sagen:
»Haben wir schon alles versucht, aber der Rektor stellt sich absolut stur. Ich würde die ganze Sache auch nicht so schlimm finden, wenn der Ihle hier wäre und nur die Aachener Zeitungen darüber berichten würden. Aber ›Stern‹, ›Spiegel‹ und ›Süddeutsche‹ haben schon in unserer Pressestelle nachgefragt und damit wird das eine nationale Angelegenheit.«
»Das muß verhindert werden. Von dir!«
»Das kann nicht verhindert werden. Ich bin doch kein Alleinherrscher, der bestimmt, was hier in Aachen stattfindet …«
»… bei ›Modern Talking‹ war das aber der Fall!«
Der Oberbürgermeister ging auf diesen Einwurf, der auf den jährlichen Kultursommer anspielte, nicht ein:
»Mir stinkt das auch! Aber vom Rathaus ist da nichts zu machen.«
Karl Göttmann zündete die zweite Brennstufe seiner hochgehenden Rakete:
»Es gab Vorgänger auf dem OB-Sessel, die hätten das nicht hingenommen. Naja, vielleicht sitzt ja demnächst ein mutiger Mann auf deinem Stühlchen.«
»Hür doch op!« beendete das Stadtoberhaupt das Gespräch, nahm sich aber fest vor, diese Aussage in seinem Giftschrank zu speichern. Dann rief er Jürgen Potthof an:
»Prüf’ doch mal, wie lange der Vertrag von dem Göttmann noch läuft.«
*
Das Kölner Boulevard-Blatt ›Kurier‹ hatte vor einigen Tagen direkt gegenüber dem Rathaus über einem Lebensmittelmarkt ein Büro eröffnet, um, wie der Verleger bei der Eröffnung gefestredet hatte, »unsere verlegerische Pflicht als Rheinländer auch auf dem Aachener Zeitungsmarkt zu erfüllen«. In der Kölner Befehlszentrale wollte man damit Zeitungs-Neuland gewinnen, nachdem sich die Boulevard-Konkurrenz aus dem Gebiet zurückgezogen hatte.
Bisher hatte die Kölner ›Kurier‹-Ausgabe mit einer Auflage um die 3000 im Westen gedümpelt – das sollte sich mit einem Mehr an Aachener Themen nun ändern. Mit einem kräftigen Gehaltsaufschlag hatte der Verleger, der trotz seiner Pensionsberechtigung in Porträts immer noch ›Der Schöne‹ genannt wird, dazu Susanne Lüdke von der ›Aachener Stimme‹ abgeworben. Der war allerdings der Abschied auch nicht sonderlich schwer gefallen.
Susanne Lüdke, gerade mal 31 Jahre, hatte sich nämlich in den letzten Jahren den Ruf einer Polizeireporter-Rampensau erworben. Doch die Anerkennung durch den Chefredakteur, eher der hehren Kultur zugetan, blieb meistens aus. Der Feingeist hielt ›die Aufsätze‹, wie er die Reportagen nannte, der Langbeinigen für kurzsichtig.
Doch auch er wußte, daß es kaum eine Crime-Geschichte gab, die nicht zuerst in der ›Aachener Stimme‹ stand, kaum ein Vorfall in der Blaulichtszene, bei dem die Reporterin nicht nach wenigen Minuten mit ihrer schweren Kamera-Ausrüstung und der russischen ›Lomo‹ für versteckte Hüft-Schnellschüsse am Tat-, Brand- oder Unfallort erschien. Verflossene Liebhaber kolportierten im ›Bistro‹ am Dahmengraben, daß neben Handy und Faxgerät auch ein Scanner auf ihrer Nachttischkommode liege, der permanent Polizei-, Feuerwehr- und Rettungshubschrauber-Funk abtasten würde. Ein stadtbekannter Aufreißer schwor, daß ›kein Sex der Welt die Lüdke aufhält, wenn irgendwo ein Martinshorn aufheult‹.
Was nur Eingeweihte nicht wissen wollten: In den letzten beiden Jahren war das Liebesleben der Reporterin recht eingleisig verlaufen, auch wenn darunter ihr Ruf als männerfressendes Ungeheuer nicht sonderlich gelitten hatte. Der Grund hieß Rolf Quadflieg, 35jähriger Kriminalkommissar aus dem Morddezernat. Privat sah man die beiden in Aachen niemals zusammen. Dazu mußte man am Wochenende zum ›Zaunkönig‹ nach Höfen fahren, wo Ali immer einen Platz am offenen Kamin für die beiden einrichten konnte. Böse Zungen, und dabei handelte es sich fast ausschließlich um informierte Kollegen der konkurrierenden »Aachener Presse«, redeten von »Bettkanten-Plaudereien«, wenn die Kollegin ihnen wieder einmal eine Geschichte vor die Nase gesetzt hatte. Auf entsprechende Beschwerden hatte der Polizeipräsident aber nie reagiert – intern wie öffentlich.
Susanne Lüdke war nach ihren ersten Wochen beim ›Kurier‹ gefrustet. Ihre täglichen Angebote und Artikel an die Kölner Zentrale mutierten meist zu Kleinmeldungen oder landeten im Papierkorb. Aachen war für die Kölner Kollegen eben nur eine Stadt weit im Westen hinter dem Frechener Tellerrand. So hatte der Chef vom Dienst in Köln einen Raubüberfall auf eine Bank an der Aachener Jakobstraße mit den Worten »Kein Platz. Eben ist auf dem Friesenplatz ein Radfahrer von einer Straßenbahn gevierteilt worden« abgeschmettert.
Eine Stunde später, die ersten Krankenkassen-Angestellten eilten über den Markt schon nach Hause, hatte die Lüdke immer noch nicht den Ärger weggesteckt und fluchte – mangels Mitarbeitern – alleine in ihrer Redaktion:
»Warum haben die eigentlich eine Redaktion hier eingerichtet, wenn die überhaupt nichts aus Aachen wollen?«
Ihr Reporterherz erwachte erst wieder, als sie zum Rathaus rüberschaute. Josef Laufs hatte seinen Dienstwagen an der Rathaustreppe vorfahren lassen, was ganz aus seiner selbstauferlegten volkstümlichen Art schlug. Mit Jürgen Potthof eilte der OB zu dem schwarzen BMW.
»Wahrscheinlich hat der Regierungspräsident seinen Besuch angekündigt, und in ganz Aachen gibt es keine kubanischen Zigarren. Da müssen eben die Hofschranzen ran«, murmelte sie und wählte Norbert Kampschulte an:
»Ist was besonderes passiert? Der OB stürzt gerade aus dem Rathaus.«
Norbert Kampschulte, ein Ex der Journalistin aus deren Volontariatszeit, war auch nach dem Ende der Beziehung ein enger Freund und Informant geblieben:
»Ne, ne, was Privates! Im Kreispokal spielt sein Sohn gleich gegen Borussia Brand. Da will der noch hin.«
»Und warum nimmt er dann den Potthof mit?« bohrte die Reporterin weiter.
»Was weiß ich, vielleicht muß der die Eintrittskarten tragen.«
Der Referent zeigte offen seine Abneigung gegen den Kollegen.
»Wir sollten noch mal zusammen Kaffee trinken«, säuselte die Zeitungsfrau, legte auf und wählte die Nummer der Pressestelle der Hochschule. Pressesprecher Rudi Derichs, sonst immer offen für seine Kollegen, wirkte bei dem Stichwort ›Kaiser Karl‹ mehr als leicht genervt:
»Nicht schon wieder! WDR, alle Zeitungen, sogar der Belgische Rundfunk haben sich gemeldet. Das ist doch nur ein Referat, wie es jährlich fast dreihundert bei uns gibt. Ihr tut ja so, als hätte ein Arzt im Klinikum die Blattern übertragen.«
Susanne Lüdke lenkte schnell ein:
»Ich verstehe die ganze Aufregung ja auch nicht. Aber vorhin bei Gericht redeten alle Kollegen nur über das Thema ›Kaiser Karl hat es nie gegeben‹. Da muß ich auch nachfassen.«
»Der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung ist auch nach zwölfhundert Jahren in Aachen nicht abgeschafft«, lachte Derichs, »aber ich kann Sie beruhigen. Die Stadt hat noch keinen Antrag auf Auspeitschung auf dem Katschhof gestellt. Unter uns: Auch unsere Historiker halten nicht viel von den Ihle-Thesen. Aber anhören kann man sich das doch. Hat doch immerhin Lokalbezug. Bei Auftritten in Berlin und Frankfurt war der Ihle keinem eine Meldung wert und sein Buch hat auch nur Verrisse bekommen.«
Susanne Lüdke gab sich damit zufrieden. Ohne ihr traditionelles Angebot zum Kaffeetrinken verabschiedete sie sich, da bekannt war, daß der TH-Pressesprecher auf Anmache überhaupt nicht reagierte.
Dann nahm sie ihren Terminkalender vom nächsten Tag und rief in der Kölner Zentralredaktion an.
Das Urteil in einem Eschweiler Mordprozeß – so beschied ›Chef vom Dienst‹ Dieter Neubert ihr – sollte dem ›Kurier‹ am übernächsten Tag eine Sechszeilen-Meldung wert sein. Vorsichtig brachte die Reporterin dann das Thema auf den Karlsvortrag:
»Das erregt hier in Aachen absolut die Gemüter.«
Den Chef vom Dienst beeindruckte das wenig. Vom hohen Kölner Roß wieherte er:
»Liebe Kollegin – bei Ihrem Tageszeitungsblättchen wäre das vielleicht ein Thema für die hintere Lokalseite gewesen. Wir sind aber ein Boulevardblatt. Das scheinen Sie immer noch nicht begriffen zu haben. Und noch etwas: Mir wäre es gar nicht so unrecht, wenn bewiesen würde, daß es Aachen überhaupt nicht gibt. In dem Falle könnten wir über eine Kleinmeldung reden.«
»Arrogantes Kölner Arschloch!« schimpfte Susanne Lüdke nach dem Gespräch und zog zum wiederholten Male die Rückkehr zur ›Aachener Stimme‹ ins Kalkül. Dann zündete sie sich die letzte Zigarette ihres Lebens an:
»Aus die Maus! Dann mach’ ich eben Feierabend.«
*
Abends ist Aachen gutbürgerlich, dann geben die Rauschebärte den Ton an. In der gediegenen Atmosphäre der Gaststätte ›Am Knipp‹ war ein Tisch für fünf Personen reserviert. Der geschäftsführende Vorstand des Traditionsvereins ›Freunde von Kaiser Karl 1871‹ hatte eilig zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. Oberstudienrat a.D. Heinrich Wollgarten begrüßte besonders den Fremdenverkehrsexperten Göttmann in der Altvorderen-Runde:
»Es geht nicht an, daß das Bild unseres Kaisers so in den Schmutz gezogen wird. Dieser Vortrag ist eine Beleidigung für die ganze Stadt. Das dürfen wir uns einfach von einem Auswärtigen nicht bieten lassen …«
»Und dann auch noch von einem Bayern!« warf einer aus der Altherren-Riege dazwischen.
Wollgarten, ein großer Verehrer der Weißwurst-Politik, überhörte diesen Einwurf, zumal er vor -zig Jahren selbst einmal in der alternativen Stadtzeitung ›Eäzekomp‹ ganz nahe an die CSU gerückt worden war. Der Grund: Der Oberstudienrat hatte Schülern mit ›Stoppt Strauss‹-Ansteckern die Klassentür gewiesen. Karl Göttmann pflichtete ihm in Sachen Karl bei:
»Bei der Stadt und der TH stoßen wir auf taube Ohren. Ich habe vorhin sogar bei den beiden Zeitungen angerufen, damit die den Vortrag nicht ankündigen. Aber umsonst. Die haben sogar die Stirn und wollen über den Abend berichten. Früher hätten wir wenigstens bei der ›Stimme‹ was über den Verleger drehen können, aber die spielen jetzt auch die großen Progressiven.«
»Wir könnten doch«, warf der Schatzmeister ein, »wenigstens ein paar Leute von uns hinschicken, die den Referenten auseinandernehmen. Argumentativ, meine ich!«
Dieser Idee wollte sich Heinrich Wollgarten nicht anschliessen. Er knöpfte seinen Trachtenanzug mit den Plastik-Hirschhornknöpfen zu, stand auf und seine Stimme nahm einen feierlichen Grundton an:
»Damit werten wir die ganze Veranstaltung doch nur auf. Nein, Kameraden, das Referat darf erst gar nicht stattfinden. Wie stehen wir denn vor der Öffentlichkeit, ja der ganzen deutschen Nation da, wenn man Kaiser Karl, die Keimzelle unserer Stadt, den Leuchtturm Europas, so beleidigt?«
Aachen zeigte inzwischen sein wahres Gesicht – im Dauerregen.
Susanne Lüdke kam mit Flitsch nach ihrem Spießrutenlauf durch die Pressestellen frustriert in die Redaktion zurück. Dort hatten die beiden fast nur Dinge erfahren, die sie sowieso schon wußten. Im Block der Journalistin war gerade mal eine Seite gefüllt. Die Lüdke hoffte, daß die wenigen Stichworte die Recherche etwas weiterbringen würde. Bernd Radermacher dagegen wertete das Treffen in Stolberg, von dem er durch seine Schnüffelei bei Heinrich Wollgarten erfahren hatte, als kleine Spur. Dieser Meinung schloß sich auch die Redaktionsleiterin an und leierte ihre eigenen Informationen runter:
»Also, im Rathaus haben wir erfahren, daß in Sachen Karl ein Treffen in Kronenburg in der Eifel stattgefunden hat. Dabei soll auch das Thema auf den Ihle-Vortrag gekommen sein – vielleicht war das sogar das einzige Thema bei dem Treffen. An der Sitzung haben der OB, die Fraktionsvorsitzenden, der Rektor der TH, der Fremdenverkehrsharry und einige Referenten teilgenommen. Ich würde sagen, daß wir da auch mal in den nächsten Tagen nachforschen, hat aber keine Priorität. Ich finde deine Sache in Stolberg auch interessanter!«