Kalt und still - Viveca Sten - E-Book
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Kalt und still E-Book

Viveca Sten

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Beschreibung

Der Auftakt der neuen Serie aus der Feder der internationalen Bestsellerautorin Viveca Sten um eine Stockholmer Ermittlerin Tief in den Bergen weiß jeder, wie grausam die Natur sein kann. Grausamer ist nur der Mensch ... Als im Leben der Stockholmer Polizistin Hanna Ahlander das totale Chaos ausbricht, sucht sie Zuflucht im Ferienhaus ihrer Schwester, hoch im Norden Schwedens. Doch in Åre erwartet sie alles andere als eine ruhige Zeit. Das Bergdorf gerät in Aufruhr. Über Nacht verschwindet die 18-jährige Amanda - und bei Temperaturen von minus 20 Grad zählt jede Stunde. Was, wenn das Mädchen irgendwo da draußen ist? Hanna bietet der örtlichen Polizei Unterstützung an. Zusammen mit Kriminalkommissar Daniel Lindskog stürzt sie sich in die Ermittlungen. Ihre einzige Spur: ein roter Schal ...  »Viveca Sten ist eine Meisterin der sanften Erschütterung« Elmar Krekeler, DIE WELT - Der erste Fall für Hanna Ahlander – eine Heldin, die niemanden kalt lässt - In Åre, dem ältesten Alpingebiet Schwedens, gibt es keinen Sommer. Und während der Schnee alles zudeckt und verschwinden lässt, tun die Menschen einander Ungeheuerliches an …Alle Bände der ›Polarkreis-Reihe‹: Band 1: Kalt und still Band 2: Tief im Schatten 

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Seitenzahl: 540

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Über das Buch

Sie findet in einer Schublade eine rostige Gabel und ritzt ihren Namen in den Fensterrahmen, direkt neben der Scheibe. Sie will mehr schreiben. Dass sie einsam ist und Hilfe braucht, aber sie kann nicht. Stattdessen kriecht sie zurück ins Bett, rollt sich zusammen unter der dünnen Decke, die sie vom oberen Bett heruntergeholt hat, um es ein bisschen wärmer zu haben. Mehr gibt es nicht. Mama, denkt sie wieder, und fragt sich, ob sie wohl nach ihr suchen. Sie will nicht so sterben. Vollkommen allein.

Viveca Sten

Kalt und Still

Der erste Fall für Hanna Ahlander

Ein Polarkreis-Krimi

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

 

 

 

Für Nicole und Pierre –

ohne euren Besuch wären wir nie in Åre gelandet!

Prolog

Der Schnee bildet eine kompakte Decke, als Sebbe Granlund auf den Personalparkplatz am VM6 einbiegt, dem Sessellift mitten im Skigebiet, wo er als Saisonkraft arbeitet.

Es sind minus zwanzig Grad, aber gefühlt ist es kälter. Die Baumkronen sind in Raureif gehüllt, der Åreskutan ist durch den dichten Schneefall kaum zu erkennen. Die elektrische Beleuchtung sorgt für harte Kontraste in der Landschaft, mit langen Schatten auf weißem Schnee.

Die Wintersaison in Åre hat gerade begonnen.

Bis zum VM6 sind es nur wenige Schritte, aber die Wärme aus dem Auto verschwindet im Nu. Die Luft gefriert in den Nasenlöchern, als Sebbe das Lifthaus aufschließt. Es ist kurz nach neun, um halb zehn geht es los, dann muss alles bereit sein. Wie üblich wurden die Seilbahnen Anfang Dezember für die Saison in Betrieb genommen, aber noch sind nur wenige Skiläufer auf den Pisten.

Er drückt den grünen Knopf, um die Maschine anzuwerfen. Ein lautes Signal zerreißt die Stille, dann setzt sie sich in Bewegung. Der VM6 ist einer der älteren Sessellifte mit Sitzplätzen für jeweils sechs Personen. Eine Gondel nach der anderen zieht vor seinen Augen vorbei.

Sebbe zieht sein Handy aus der Tasche, um Snapchat zu checken, während der Lift läuft. Die Sessel sind über Nacht zugeschneit, er müsste hinausgehen und sie abfegen, aber die Kälte hält ihn zurück.

In der ersten halben Stunde spielt es keine große Rolle, die Sonne geht erst um Viertel vor zehn auf, bis dahin ist ohnehin nicht viel los.

Sebbe blickt vom Handy auf. Ein Schatten hat seine Aufmerksamkeit erregt, eine seltsame Gestalt in einer der Sitzgondeln, fast so, als wäre darin jemand vom Gipfel mit nach unten gekommen.

Er versucht, Genaueres zu erkennen, aber draußen ist es immer noch ziemlich dunkel.

Die Gondel nähert sich der Einstiegsplattform. Es sieht tatsächlich so aus, als ob ein Mensch in der einen Ecke lehnt, aber etwas ist merkwürdig, die Haltung ist schief und zusammengesunken.

Die dunkle Silhouette rührt sich nicht, obwohl die Gondel fast angekommen ist.

Sebbe handelt instinktiv. Er drückt den Stoppknopf und läuft hinaus. Die Gondel hängt ein paar Meter entfernt. Durch das abrupte Anhalten ist die Gestalt noch tiefer gerutscht.

Sebbe steht da, während sein Gehirn den Anblick in sich aufnimmt.

Sie sieht aus wie eine Schaufensterpuppe. Und doch wieder nicht. Die menschlichen Züge sind vorhanden, aber jedes Anzeichen von Leben ist ausradiert. Augenbrauen und Wimpern sind von Schneekristallen bedeckt, das Gesicht ist zu einer gefrorenen Grimasse erstarrt.

Die Haut ist blau-weiß, die Lippen sind durch die Kälte schmal geworden.

Die Gondel schaukelt, und das genügt, dass der Körper herunterrutscht und in den Schnee fällt, Sebbe direkt vor die Füße.

Er starrt mit offenem Mund auf die steifgefrorene Leiche.

»Scheiße«, flüstert er. »Nicht du.«

Montag, 9. Dezember 2019

1

Hanna Ahlander schafft es nicht, dem Schneematsch auf dem Bürgersteig auszuweichen, während sie von der U-Bahn zu ihrer Wohnung in Solna geht. Er dringt in ihre Turnschuhe ein, und sie flucht, als ihre Socken nass werden.

Der Schulterriemen ihrer Tasche drückt, sie hängt sie auf die andere Seite.

Sie versucht, nicht an das Gespräch mit ihrem Chef Manfred Lidwall am Nachmittag zu denken, aber die Worte hallen ihr trotzdem im Kopf wider: Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit, Eigensinn, mangelnde Disziplin.

Manfred kann sie nicht leiden. Das hat er sehr deutlich gemacht.

Wenn sie sich nicht freiwillig versetzen lässt, wird er alles tun, um sie loszuwerden. Jetzt hat er sie nach Hause geschickt, damit sie über die Sache nachdenkt. Bis zum Januar, nach den Feiertagen, will er sie nicht mehr sehen.

Ihr schnürt sich der Hals zu bei der Vorstellung, ihren Dienst bei der Citypolizei aufgeben zu müssen, eine Arbeit, die sie liebt, trotz allem, was vorgefallen ist.

Der regennasse Asphalt saugt das Licht auf, die Welt ist in Nuancen von Grau und Schwarz getaucht. In fünfzehn Tagen ist Heiligabend. Es müsste eisig kalt sein und schneien, weiche Flocken, die langsam aus den Wolken herabschweben.

Stattdessen weint der Himmel.

Egal, Weihnachtsstimmung ist das Letzte, worum Hanna sich im Moment sorgt. An Lebkuchen und Adventskerzen hat sie in den vergangenen Wochen nicht einen Gedanken verschwendet.

Die dicken nassen Tropfen kleben ihr das Haar an die Stirn. Sie senkt den Kopf, um den Regen nicht ins Gesicht zu bekommen, aber er dringt ihr unter die Jacke und lässt sie frösteln. Sie geht schneller, um endlich nach Hause zu kommen, rutscht aus und stolpert. In den letzten Stunden hat sie in einer Bar gesessen und Wodka-Shots getrunken, während sich in ihrem Kopf immer dieselben Gedanken drehten.

Warum konnte sie nicht den Mund halten? Warum hat sie es nicht gemacht wie alle anderen und sich gefügt?

Sie hätte die Sache mit der fehlerhaften Ermittlung auf sich beruhen lassen sollen, den Fall der armen Josefin, die von ihrem Mann zu Tode geprügelt worden war.

Einem Polizeikollegen noch dazu.

Hätte sie einfach weggeschaut und sich um ihren eigenen Kram gekümmert, wäre sie gar nicht erst in diese Situation gekommen.

Die Truppe hat sich zusammengeschlossen, und sie ist kein Teil der Gemeinschaft mehr.

Ein paar hundert Meter voraus sieht sie ihren Hauseingang. In der vierten Etage liegt die Dreizimmerwohnung, die sie mit Christian teilt. Aus den Fenstern fällt Licht, also ist er zu Hause.

Sie sehnt sich nach seiner Umarmung, weiß aber nicht, ob sie ihm von dem heutigen Gespräch berichten kann, davon, dass ihr Chef und die Citypolizei sie um jeden Preis loswerden wollen.

Sie weiß gar nicht, wie sie es fertigbringen soll, darüber zu sprechen.

Die Scham überwältigt sie.

Manfred hat gesagt, dass er ihren Anblick nicht mehr erträgt.

Es gibt vieles, worüber sie im letzten halben Jahr nicht mit Christian sprechen konnte, aber davon will sie jetzt erst recht nicht anfangen. Nicht heute Abend, vielleicht ein andermal.

Jetzt will sie einfach nur nach Hause kommen, sich noch einen Wodka eingießen und ein heißes Bad nehmen. Die Welt aussperren und nicht mehr daran denken, was alles schiefgelaufen ist.

Tränen steigen ihr in die Augen, aber sie blinzelt sie wütend weg.

Sie wird so tun, als sei alles wie immer, wenigstens eine Weile, bis sie die Situation verdaut hat. Über die Zukunft kann sie auch morgen noch nachdenken.

Seufzend drückt sie die Haustür auf und geht die Treppe hoch in ihre Etage. Vor der Wohnungstür zögert sie, wischt eine Träne weg, die sich doch noch hervordrängt.

Dann steckt sie den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn um.

2

Als Hanna die Wohnung betritt, sieht sie als Erstes einen schwarzen Rollkoffer in der Diele stehen.

Sie lässt ihre schwere Tasche auf den Fußboden fallen und hängt die nasse Jacke auf. Ist Besuch gekommen?, fährt ihr durch den Kopf, ehe sie sieht, dass es Christians ist, der Koffer, den er nimmt, wenn er für ein paar Tage verreisen muss.

»Hallo?«, ruft sie halblaut. »Ich bin zu Hause.«

Sie streift die Sneaker ab und geht ins Wohnzimmer mit der integrierten Küche.

Alles ist blitzsauber, wie üblich. Sie haben gerade renoviert, und Christian hat viel Zeit damit verbracht, Farben und Material auszusuchen. Es war seine Idee gewesen, Hanna hätte durchaus noch eine Weile mit der alten Einrichtung leben können. Aber es ist schön geworden, das muss sie zugeben. Die Arbeitsplatte aus grauem Stein passt Ton in Ton zu den Küchenschränken. Der sauteure Holzfußboden rundet das Ganze perfekt ab.

Nur dass es sich anfühlt, als hätte ihr Lebensgefährte, der Immobilienmakler, ihr gemeinsames Heim für eine seiner Wohnungsbesichtigungen gestylt.

Hanna öffnet den Vorratsschrank und sucht nach etwas zu trinken. Sie haben keinen Wodka, aber sie findet eine Flasche Rotwein und gießt sich ein großes Glas ein. Die Tränen brennen im Hals, sie schluckt und schluckt. Sie will nicht mehr wegen ihres Jobs heulen. Es ändert ja doch nichts.

Dann fällt ihr Blick auf ihr Spiegelbild in der gläsernen Backofentür. Sie sieht schrecklich aus. Das nasse Haar liegt angeklatscht am Kopf, die Wimperntusche ist unter den Augen verschmiert. Normalerweise benutzt sie kaum Make-up, aber heute hätte sie wenigstens gern etwas Lipgloss auf den spröden Lippen gehabt.

Mit dem Glas in der Hand geht sie ins Bad und wäscht sich das Gesicht. Dann dreht sie den Hahn über der Wanne auf, um sich ein heißes Bad einzulassen. Sie atmet tief durch, bevor sie ins Schlafzimmer geht, um Christian hallo zu sagen.

Alles, was sie möchte, ist eine Umarmung.

Er liegt vollständig angezogen auf der lila Tagesdecke und ist mit seinem Smartphone beschäftigt. Als sie ins Zimmer kommt, blickt er auf, und obwohl sie seit fünf Jahren zusammen sind, reagiert sie darauf, wie attraktiv er ist.

Sie spürt ein Ziehen in ihrer Magengrube, wie immer.

Christian erfüllt alle maskulinen Normen. Er hat eine markante Kinnlinie, dichtes hellbraunes Haar und einen jungenhaften Charme, den er einzusetzen weiß. Er ist ein Star-Makler, der seinen Job und jeden neuen Verkauf liebt. In absehbarer Zeit will er seine eigene Immobilienfirma gründen. Seine Lebensfreude ist ansteckend, mit ihm zusammen erscheint die Zukunft immer rosiger.

Obwohl sie ihm nicht von ihrem schrecklichen Tag erzählen will, sehnt sie sich nach seinem Trost. Ein Teil von ihr möchte sich an seine Brust werfen und losheulen. Möchte seine Umarmung spüren und ihn sagen hören, dass sich alles regelt.

Dass alles wieder gut wird.

Christian steht mit dem Telefon in der Hand vom Bett auf. Aber er berührt sie nicht, nimmt sie weder in den Arm, noch hebt er die Hand, um ihre Wange zu streicheln. Er verliert auch kein Wort über ihre rotgeschwollenen Augen oder darüber, dass sie aussieht wie eine nasse Katze.

Irgendwas stimmt nicht.

Sie spürt, wie sich ihr Magen verkrampft.

Christian ist nervös, das merkt sie. Seine Kiefermuskeln sind angespannt, er scheint sich innerlich zu wappnen, als er den Mund öffnet.

»Wir müssen reden«, sagt er forsch. »Es geht so nicht.«

Es dauert einen Moment, bis die Worte bei ihr ankommen. Trotzdem versteht sie nicht.

Hanna versucht, in seinem Gesicht zu lesen, aber seine Miene ist verschlossen und fremd.

»Was meinst du?«, fragt sie.

»Wir beide. Das funktioniert nicht.«

Ihr will keine vernünftige Antwort einfallen. Die Zunge ist dick und unförmig, sie verweigert die Zusammenarbeit.

Stattdessen starrt Hanna auf das Glas in ihrer Hand. Panik steigt auf und füllt ihren Brustkorb wie klebriger Teig.

»Was meinst du?«, presst sie schließlich hervor.

»Du und ich, wir können nicht zusammenbleiben.«

»Wieso denn nicht?«

Was für eine idiotische Frage.

»Mit dir kann man unmöglich zusammenleben«, sagt er.

Hanna hat immer noch Mühe, zu verarbeiten, was er sagt. Zwischen ihnen läuft es schon lange nicht mehr gut, das muss sie zugeben, aber alle Paare streiten hin und wieder, das gehört dazu. Das müsste ihm doch auch klar sein?

Sicher, der Polizeidienst war in der letzten Zeit verdammt anstrengend, und sie weiß, dass sie sich davon hat beeinflussen lassen. Sie hat den Ärger über die ungerechte Behandlung mit nach Hause genommen. War abends sauer und gereizt oder ist wie ein Stein ins Bett gefallen, aber so schlimm war das doch wohl nicht?

Oder?

»Mit mir kann man unmöglich zusammenleben?«, wiederholt sie.

»Wir machen uns nur gegenseitig unglücklich«, sagt er und geht an ihr vorbei in die Diele.

Hanna stolpert hinterher.

»Es ist besser so«, fügt er hinzu.

Seine Stimme ist voller Müdigkeit, aber das ist immer noch besser als die Kälte und Schärfe von vorhin.

Christian greift nach dem Trolley in der Ecke.

Urplötzlich hasst sie dieses Ding.

»Besser, wie denn besser?«, macht sie ihn wieder nach, als sei sie unfähig, auch nur einen einzigen selbstständigen Satz zu formulieren.

Ist das wirklich sie, die hier steht und zusammenhangloses Zeug brabbelt?

Christian seufzt.

»Inzwischen streiten wir nur noch. Wir hatten seit Monaten keinen Sex. Es hat keinen Sinn mehr mit uns. Du bist unzufrieden, und ich auch. Die Trennung wird uns beiden guttun. Traurig, aber wahr.«

Hanna starrt ihn an. Ein starkes Gefühl von Unwirklichkeit überkommt sie. Die Wohnung sieht aus wie immer. Jacken und Mäntel hängen auf ihren Bügeln, die Schuhe stehen ordentlich darunter. Genauso wie heute Morgen, als sie aus dem Haus gegangen ist. Bevor auf der Dienststelle alles in sich zusammenstürzte.

Soll jetzt auch noch ihr Privatleben zertrümmert werden? An ein und demselben Tag?

Sie sieht, wie er sich mit der Hand durch die hellbraunen Haare fährt, dieselben Haare, über die sie so oft gestrichen hat, nachdem sie sich geliebt haben. Sie gehören zusammen, begreift er das denn nicht?

Wenn er geht, hat sie niemanden mehr. Dann ist sie ganz allein.

Bleib!, schreit es in ihr. Ich kann mich ändern.

»Ich liebe dich«, flüstert sie.

Christian steht still da. Ein Schatten fliegt über sein Gesicht, eine fast mikroskopische Regung, aber Hanna entgeht der sekundenschnelle Wechsel nicht. Sie versteht, obwohl er kein Wort gesagt hat.

»Du hast eine andere?«

Er zögert, dann nickt er, ohne sie anzusehen.

Genauso gut hätte er ihr eine Ohrfeige verpassen können. Christian hat es selbst immer wieder angesprochen in den fünf Jahren ihrer Beziehung, dass man alles verzeihen kann, nur Untreue nicht.

Sie würden nie so werden wie die Paare, die einander heimlich betrügen. Ihre Liebe war stark und ehrlich.

»Ich wohne die nächste Woche bei einem Freund, dann kannst du in Ruhe deine Sachen packen und ausziehen«, sagt er und zieht den Handgriff des Trolleys hoch.

»Ausziehen?«

Hanna sieht sich langsam um, bleibt mit dem Blick an der schicken Sitzgruppe aus Leder hängen, die Christian aus einer Musterwohnung organisiert hat. Am breiten Fenster mit Aussicht auf den Råsunda-See steht der Velourssessel, in dem sie so gern mit hochgezogenen Beinen sitzt und liest. Die Wolldecke, die über der Armlehne hängt, hat sie beim Weihnachtswichteln bekommen.

Sie schließt die Augen und vergegenwärtigt sich, dass es Christians Wohnung ist. Als sie sich kennenlernten, hatte er die schöne Dreizimmerwohnung gerade gekauft. Sie selbst lebte in einer schäbigen Einzimmerwohung zur Untermiete, seit sie die Polizeischule abgeschlossen hatte.

Damals war die Entscheidung einfach gewesen.

Aber es war ihre gemeinsame Wohung. Und jetzt will er sie vor die Tür setzen, einfach so.

Hanna strafft die Schultern. »Das kannst du mir nicht antun.« Ihre Stimme zittert, und sie hasst sich dafür, dass sie sich nicht im Griff hat. »Wo soll ich denn hin?«

Christian hat immerhin so viel Anstand, beschämt auszusehen.

»Jetzt mach kein Drama«, murmelt er. »Das ist meine Wohnung. Ich habe sie finanziert.«

Weil du viel mehr verdient hast als ich, will sie einwenden, aber sie weiß, dass es zwecklos ist, obwohl sie sich wegen der Kosten einig gewesen sind.

Mit einem Polizistengehalt kommt man nicht weit.

Christians Handy klingelt. Er drückt den Anruf weg, aber Hanna hat gerade noch den Namen auf dem Display lesen können.

Valérie. Sie kennt keine Valérie. Was ist das überhaupt für ein Name?

Dann geht ihr ein Licht auf.

»Du fährst zu ihr? Da willst du wohnen, bis ich ausgezogen bin?«

Christian zögert eine Sekunde zu lange.

»Ja«, sagt er kurz und wendet sich zur Wohnungstür.

Dass er ihr den Rücken zukehrt, bringt das Fass zum Überlaufen.

Christian will abhauen, noch bevor sie überhaupt zu Ende geredet haben. Er hat gerade eine Bombe hochgehen lassen und kann nicht mal fünf verfickte Minuten opfern, um sie anzuhören.

»Sieh mich an!«, schreit Hanna. »Du kannst mich wenigstens ansehen!«

Als Christian sich wieder zu ihr umdreht, bewegt sich ihr rechter Arm von ganz allein.

Hanna hebt das Glas und schüttet ihm den Wein direkt ins Gesicht. Eine Kaskade von blutroten Tropfen läuft ihm über Stirn und Wangen. Große, dunkle Flecken bilden sich auf der Kleidung.

Sie starrt ihn an, ohne richtig zu begreifen, was sie gerade getan hat.

»Bist du jetzt völlig durchgeknallt«, faucht Christian.

Er wischt sich mit der Hand über die Schläfen, ohne dass es viel hilft.

»Sieh zu, dass du spätestens bis Sonntag draußen bist. Ich will die Schlüssel zurück, verstanden?«

Er knallt die Tür hinter sich zu, während Hanna auf die Knie sinkt.

Sie ist so geschockt, dass sie nicht einmal weinen kann. Das Atmen fällt ihr schwer.

Dann hört sie es plätschern, als die Wanne im Bad überläuft.

Dienstag, 10. Dezember

3

Als Polizeikommissar Daniel Lindskog sich für den Tag fertig macht, schlafen Ida und das Baby noch unter der mintgrünen Decke im Doppelbett. Ida liegt auf der einen Seite, ihr langes, dunkles Haar ist wirr und auf dem Kissen ausgebreitet. Alice liegt auf dem Rücken und schnauft mit halboffenem Mund.

Daniel steht an der Bettkante und betrachtet seine Tochter. Die Liebe zu Alice hat einen Raum in seinem Herzen geöffnet, von dem er nichts gewusst hatte. Wenn er ihre winzigen Finger berührt, passiert etwas. Er wird ein anderer Mensch, ein Mann, der für sein Kind durchs Feuer gehen würde.

Sechsunddreißig Jahre lang hatte er keine Ahnung, was bedingungslose Liebe bedeutet. Es gibt nichts, was er nicht für sie tun würde.

Gleichzeitig ist die Stille eine Erleichterung. Alice war in dieser Nacht sehr oft wach. Selbst in einer großen Dreizimmerwohnung wie ihrer gibt es vor dem untröstlichen Geschrei eines von Koliken geplagten Säuglings kaum ein Entkommen. Nach den ersten Monaten sind sie alle erschöpft.

Daniel hat Schlaf in den Augen und Blei im Körper, als er die Dusche aufdreht. Das siedend heiße Wasser genügt nicht, um in Gang zu kommen, erst als er auf eiskalt umstellt, erweckt ihn der Schock zum Leben.

Er zieht sich richtig warm an, Jeans und einen dicken dunkelblauen Wollpullover über dem Shirt. Als Kommissar braucht er keine Uniform zu tragen, aber warme Kleidung ist in dieser Jahreszeit ein Muss. Man weiß nie, wann man hinaus in die Kälte muss. Deshalb trägt er seit einigen Jahren einen Vollbart, der schützt tatsächlich das Kinn ein wenig. Außerdem findet er, dass der Bart richtig gut aussieht, auch wenn er das nie sagen würde.

Um Alice nicht zu wecken, verzichtet er aufs Frühstück. Er kann auf der Wache einen Kaffee trinken, besonders hungrig ist er morgens sowieso nicht. Es ist besser, Alice schlafen zu lassen, denn dann schläft Ida auch. Sie hat immer noch mit der Umstellung zu kämpfen, ist überwältigt davon, jetzt Mutter zu sein, und in ihrer Rolle noch unsicher. Dass Daniel tagsüber weg ist, macht die Sache nicht besser.

Sie hatten schon ein paarmal ordentlich Krach, im Grunde über Kleinigkeiten, obwohl sie sonst nie gestritten haben.

Daniel hat oft Schuldgefühle. Sie hatten kein Kind geplant, jedenfalls nicht so schnell, nach nur einem halben Jahr Beziehung. Als Alice sich ankündigte, hatten sie kaum Zeit gehabt, sich richtig kennenzulernen.

Ida hatte von Abtreibung gesprochen, aber Daniel erfüllte die Vorstellung, Vater zu werden, mit Freude. Er hatte sich seit Jahren danach gesehnt.

Ida ist zehn Jahre jünger. Sie war eine coole Skilehrerin, auf einem ganz anderen Platz im Leben, als sie sich an einem Samstag im Bygget kennenlernten, dem angesagtesten Club in Åre.

Bei der Erinnerung daran wird ihm immer noch ganz warm ums Herz. An dem Abend war sie temperamentvoll, so süß, dass er die Augen nicht von ihr lassen konnte. Sie tanzten die ganze Nacht durch, und dann durfte er sie nach Hause bringen. Er hatte sich sofort in sie verliebt, und das Gefühl war stärker als alles, was er je empfunden hatte.

Ida hat ihn zum Leben erweckt, sie hat mit ihm verrückte Scooterausflüge und Picknicks im Gebirge gemacht. Sie ist in der Gegend aufgewachsen und kennt fast jeden hier. Erst mit Ida hat er angefangen, sich in Åre heimisch zu fühlen, obwohl er schon seit zwei Jahren hier wohnt.

Ein Kind mit Ida zu haben, wäre fantastisch. Das war seine erste Reaktion, als sie ihm den Stick mit den beiden blauen Strichen zeigte. Er wollte es so sehr und malte sich ihre gemeinsame Zukunft in leuchtenden Farben aus.

Jetzt, wo sie so müde und erschöpft ist, schleichen sich Schuldgefühle ein.

Daniel verlässt die Wohnung auf Zehenspitzen und geht die Treppe hinunter aus dem Haus. Sorgfältig kratzt er die Scheiben des Autos frei. Die Windschutzscheibe ist von einer dicken Schicht Eiskristalle bedeckt, auf dem Dach liegen gut zehn Zentimeter Schnee. Es dauert fast zehn Minuten, und mittlerweile ist ihm warm, er schwitzt beinahe.

Die Dienststelle ist eigentlich zu Fuß zu erreichen, im Sommer geht man nicht länger als eine Viertelstunde, aber heute sind neunzehn Grad minus, und es ist stockdunkel. In fünfzehn Minuten trifft er sich mit Anton Lundgren, sie sollen zur Schule in Duved und dort einen Vortrag halten. Das ist auch Teil der Polizeiarbeit in dieser dünn besiedelten Gegend: zu informieren und zusammenzuarbeiten. Anton ist der, mit dem er am meisten zu tun hat, ein fröhlicher, unkomplizierter Kerl hier aus der Gegend. Wenn Daniel abends heim zu Ida und Alice fährt, macht Anton eine seiner zahllosen Krafttraining-Übungen.

Åre ist eine kleine Polizeiwache, mit nur drei Ermittlern und sieben Polizisten im Außendienst, wenn sie voll besetzt sind. Er selbst gehört formal zu Östersund, obwohl er ein paar Tage in Åre sitzt.

Daniel startet den Wagen und fragt sich, ob während der Nacht wohl viel los war im Ort.

Vermutlich nicht, schlimmer wird es wohl am Donnerstag, der Nacht zum Luciafest, wenn die Schüler ausgelassen feiern. Aber solange nur die Teenager aus dem Ort Party machen, artet die Situation für gewöhnlich nicht aus. Es sind die Touristen, die Daniel und seine Kollegen in Atem halten. Noch hat die Saison nicht begonnen, aber bald werden sie es mit Schlägereien vor Lokalen und Gewalt in Taxischlangen zu tun haben, oder mit Leuten, die im Schnellrestaurant Streit anzetteln. Gestohlene Skier hier und dort und betrunkene Autofahrer gehören auch zum Alltag.

Es hat angefangen, stärker zu schneien, als Daniel wenige Minuten vor sieben den Parkplatz verlässt, um zur Polizeiwache von Åre zu fahren.

4

Ein hartnäckiges, durchdringendes Geräusch holt Hanna aus dem Schlaf. Es dauert ein paar Sekunden, bis sie realisiert, dass der fürchterliche Lärm vom Handy kommt. Sie tastet auf dem Nachttisch danach, und die Anstrengung jagt ihr weiße Blitze durch den Kopf.

Vage Bilder von großen Mengen Alkohol tauchen in der Erinnerung auf, wie sie mit einer Flasche ins Bett gekrochen ist und getrunken hat, bis sie leer war.

Endlich hört der Lärm auf und Hanna sinkt zurück aufs Kissen. Da geht es wieder los. Hanna streckt den Arm aus und erwischt das Handy schließlich.

»Hallo«, krächzt sie.

»Hab ich dich geweckt?«, fragt ihre Schwester Lydia schnell.

Lydia ist zehn Jahre älter als sie. Erfolgreiche Anwältin mit zwei unverschämt wohlgeratenen Kindern und glücklich verheiratet mit einem ebenso erfolgreichen Finanzinvestor, der ekelhaft viel Geld verdient.

Hanna mag ihre große Schwester, aber manchmal geht sie ihr auf die Nerven. Lydia ist das ewige Vorbild, sie verkörpert all das, was die Eltern von ihren Töchtern erwarten. Das, was Hanna nie wird erfüllen können.

»Weißt du, wie spät es ist?«, fährt Lydia fort, die jeden Morgen in ihrer großen Villa auf Lidingö früh auf den Beinen ist.

Hanna schaut schlaftrunken aufs Display. Elf Uhr vormittags. Und wenn schon. Sie hat ja keine Arbeit, zu der sie gehen muss.

Christian hat sie verlassen.

Der Schock kommt im selben Moment zurück, in dem sie das denkt. Ihr Magen zieht sich krampfhaft zusammen.

Alles tut weh.

»Ich glaube, ich werde krank«, presst Hanna hervor.

Sie ist krank, gewissermaßen. Wo das Herz sein sollte, ist ein großes schmerzendes Loch.

Unwillkürlich schluchzt sie auf.

Lydia mag putzmunter und erfolgreich sein, aber sie ist weder taub noch gefühllos. Sie hört sofort, dass etwas nicht stimmt.

»Was ist passiert?«

»Nichts«, flüstert Hanna.

Sie hat nicht vor, zu erzählen, was los ist. Sie ist es gewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen. Ihre Situation ist nichts im Vergleich zu den misshandelten und wehrlosen Frauen, mit denen sie es in ihrem Beruf zu tun hat.

Aber sie ist so traurig. Sie fühlt sich unglücklich und als Versagerin. Wenn sie ihrer Schwester die Wahrheit sagt, wird es real. Der Gedanke lässt Hanna wimmern.

»Was ist passiert?«, wiederholt Lydia.

Hanna heult ins Telefon.

»Hanna?«

»Christian ist abgehauen«, schnieft sie schließlich. »Und außerdem habe ich keinen Job mehr. Mein Chef hat mich gestern zur Schnecke gemacht und gesagt, ich soll mir eine neue Stelle suchen.«

Das Letzte kommt von ganz allein. Der Schnodder tropft auf den hellblauen Bettbezug. Sie kneift die Augen zusammen, aber die Tränen laufen trotzdem.

»Ich muss bis spätestens Sonntag ausgezogen sein.«

Sie versucht, sich mit einem Zipfel der Bettdecke die Tränen abzuwischen, doch es nützt nichts.

Lydia gibt ein kaum hörbares Schnaufen von sich.

»Wo ist Christian?«, fragt sie.

»Bei seiner Neuen. Valérie.«

Da fehlen ausnahmsweise sogar Lydia die Worte.

»Wow«, sagt sie schließlich. »Was für ein Arsch.«

Hanna weint noch heftiger.

»Das wird wieder«, sagt Lydia nach einer Weile.

Sie klingt jetzt weicher, mehr wie die große Schwester, die Klein-Hanna Geschichten vorgelesen hat, als wie die Powerfrau, die von Wirtschaftszeitungen interviewt wird.

»Du kriegst das hin, Süße, das weiß ich«, fügt sie hinzu.

»Was soll ich tun?«, flüstert Hanna. »Wo soll ich hin? Wie soll ich allein zurechtkommen?«

Am anderen Ende der Leitung klopft es an der Tür, und eine tiefe Männerstimme murmelt ein paar unverständliche Worte.

»Ich habe jetzt leider ein Meeting«, sagt Lydia zu Hanna.

Die übliche resolute und leicht gestresste Stimme ist zurück.

»Ich rufe dich danach an. Lass mich ein bisschen nachdenken.«

»Sag Mama nichts davon«, flüstert Hanna. »Versprich es mir.«

In ihrer Familie sind die Rollen seit langem festgeschrieben. Lydia ist die Tüchtige und Erfolgreiche, mit der die Eltern vor ihren Freunden in Spanien prahlen. Hanna ist das Nesthäkchen, über das sie lieber schweigen. Sie hat sie immer enttäuscht. Ihren unkonventionellen Lebensstil und später ihre Berufswahl haben ihre Oberschicht-Eltern nur mit viel Rotwein ertragen.

Es gab nur eins, worüber ihre Mutter wirklich erfreut war, und das war die Beziehung mit Christian.

Die ist jetzt vorbei.

Hanna legt das Handy weg und zieht sich die Decke über den Kopf. Unfassbar, dass Christian sie so hintergangen hat. Wie kann er ihr das antun? Nach fünf gemeinsamen Jahren?

Die Vorstellung, dass er jetzt bei seiner neuen Freundin ist, macht es noch schlimmer. Gestern sind sie und Christian im selben Bett aufgewacht. Und jetzt ist er für immer weg.

Außerdem hat sie keine Bleibe. Der Stockholmer Wohnungsmarkt ist ein Dschungel. Es gibt keine freien Mietwohnungen, nur sauteure Eigentumswohnungen, die mehrere Millionen Kronen kosten. Geld, das sie nicht hat und nie haben wird.

Von ihren Eltern kann sie sich nichts leihen. Schon der Gedanke, sie anzurufen und ihnen alles zu erzählen, verbietet sich.

Hanna, die sie ihren »kleinen Fehlschlag« nennen, hat nie etwas richtig machen können.

Sie konnte Christian nicht halten, und sie kann sich mit vierunddreißig Jahren keine eigene Wohnung leisten.

Was soll sie machen? Wo soll sie hin?

5

Eine Stunde später ruft Lydia an, genau wie versprochen.

Hanna liegt immer noch im Bett. Die Tränen sind schließlich versiegt, sie starrt apathisch an die Zimmerdecke. Sie müsste eigentlich duschen, eine Ibu gegen die Kopfschmerzen einwerfen und versuchen, eine Kleinigkeit zu frühstücken.

Sie schafft es nicht, auch nur einen Muskel zu rühren.

»Pass auf, wir machen es so«, sagt Lydia sanft, als spräche sie zu einem Kind. »Du fährst in unser Haus in Åre und ruhst dich ein paar Wochen aus.«

»Åre?«, murmelt Hanna.

Da haben sie und ihre Schwester früher immer die Winterferien mit den Eltern verbracht. Aber seit dem Abitur ist Hanna nicht mehr dort gewesen, obwohl sie Skilaufen immer geliebt hat.

Manche Erinnerungen tun immer noch weh.

Lydia fährt in schnellem Takt fort.

»In der Zwischenzeit informiere ich mich über die Rechtslage, was deine und Christians Eigentumswohnung angeht. Er kann dich nicht einfach rauswerfen, das lasse ich nicht zu. Es gibt so etwas wie ein Lebenspartnergesetz. Außerdem habe ich vor, ein Wörtchen mit deinem Vorgesetzten zu reden.«

Bei Lydia klingt alles immer so einfach.

»Wir waren letztes Wochenende oben in Åre«, fährt sie fort, »aber am zweiten Weihnachtstag treten wir die Kreuzfahrt an, von der ich dir erzählt habe. Das Haus steht also bis mindestens Ende Januar leer.«

Lydia und ihr Mann Richard haben vor ein paar Jahren ein großes Haus außerhalb von Åre gebaut, in einem Gebiet, das Sadeln heißt. Hanna ist nie dort gewesen, aber Lydia hat ihr stolz Fotos von der eleganten Einrichtung gezeigt.

Allein das Sofa hat vermutlich mehr gekostet, als Hanna in drei Monaten verdient.

»Das passt perfekt«, sagt Lydia.

Hanna hat ihre Zweifel. Aber ihr bleibt keine andere Wahl. Sie hat keine Unterkunft und keinen Job mehr. Und auch nicht gerade viel Geld.

»Ich habe dir ein Flugticket gebucht.«

Lydia wartet Hannas Reaktion nicht ab.

»Der Flieger geht um halb vier heute Nachmittag. Und am Flugplatz Östersund steigst du in den Zubringerbus, der hält in Åre Björnen. Von dort sind es nur zehn Minuten Fußweg bis zum Haus, oder du nimmst dir ein Taxi.«

Angesichts der Tatkraft ihrer Schwester fühlt Hanna sich gleich noch gelähmter. Wie soll sie all das schaffen, wo sie es doch nicht einmal fertigbringt, zu duschen oder sich anzuziehen? Geschweige denn, ein Flugzeug nach Åre zu besteigen.

Sie hat nicht einmal die Kraft, dankbar zu sein. Es kostet sie schon Mühe, nur das Handy zu halten, ihre Hand zittert, obwohl sie im Bett liegt.

»Genau«, sagt Lydia. »Um Viertel vor zwei kommt ein Taxi und holt dich ab. Hab’s gerade für dich bestellt.«

»Ich kann mir kein Taxi nach Arlanda leisten«, wendet Hanna ein.

Lydia ist wie eine Dampfwalze, wenn sie erst mal angefangen hat. Ihre Einstellung, dass sich alles regeln lässt, ist überwältigend. Als hätte sie eine Liste im Kopf, auf der Punkt für Punkt abgehakt wird.

Als würde alles schon dadurch besser, dass man etwas tut.

»Ist im Voraus bezahlt, mach dir deswegen keinen Kopf. Das Taxi übernehme ich.«

Sie gibt ein zufriedenes kleines Schnauben von sich.

»So«, sagt Lydia abschließend. »Die Situation ist unter Kontrolle.«

Nichts ist unter Kontrolle.

Aber Hanna hat weder die Energie noch die Fähigkeit, das zu erklären. Gegen Lydia kann sie sich sowieso nicht durchsetzen.

»Danke«, flüstert sie matt.

»In der Gefriertruhe ist jede Menge zu essen, nimm dir, wonach dir ist. Du kannst dir auch gerne eine Skiausrüstung aussuchen, wir haben so viel überflüssiges Zeug, dass wir einen Skiverleih aufmachen könnten.«

Lydia lacht leise über ihren eigenen Witz.

»Sag Bescheid, wenn du angekommen bist, damit ich weiß, dass alles geklappt hat. Ich muss jetzt Schluss machen. Hab einen Termin bei einem wichtigen Klienten und darf nicht zu spät kommen. Vorweihnachtszeit, alles muss noch vor den Feiertagen erledigt sein. Du weißt ja, wie das ist.«

Sie legen auf, und Hanna lässt sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen.

Lydia will sie nach Åre schicken, damit sie dort ihre Wunden leckt. Das meiste ist organisiert, sie braucht sich nur noch anzuziehen und ihre Tasche zu packen. Das Taxi wird bald hier sein.

Åre.

Sie sieht den Åreskutan vor sich, genauso deutlich, als stünde sie am Fuß des mächtigen Berges. Für Lydia war es selbstverständlich, ihr langersehntes Ferienhaus dort zu bauen, im jämtländischen Gebirge. Hanna hat den Ort auch immer geliebt, aber sie ist nie dorthin zurückgekehrt. Er hat sie zu sehr an ihre Kindheit erinnert, vor allem an die Jahre, als sie allein mit den Eltern dort war, nach Lydias Auszug von zu Hause.

Jetzt bleibt ihr keine andere Wahl. Wenn sie nicht nach Åre fährt, kann sie nirgendwo hin.

Hanna rollt sich im Bett zusammen. Sie vermisst Christian so sehr, dass es sie fast zerreißt.

Das Gefühl, morgens gemeinsam mit ihm aufzuwachen. Die Geborgenheit, mit einem anderen Menschen zusammenzuleben.

Zu zweit zu sein.

Wenn sie sich im Bett umdreht, kann sie immer noch seinen Duft auf dem Kopfkissen riechen.

Könnte sie doch nur die Zeit zurückdrehen und alles wiedergutmachen.

6

Die Tür zum Sprechzimmer der Schule ist abgeschlossen, als Amanda Halvorsson sich zum Perspektivgespräch mit Lasse Sandahl einfindet, dem Mentor ihrer Klasse. Er ist Leiter der Projektkurse Wirtschaft am Jämtland-Gymnasium, das sie im letzten Schuljahr besucht.

Er muss sich verspätet haben, sie waren für vier Uhr verabredet. Sie hofft, dass er bald kommt. Die Schule liegt in Järpen und der Bus heim nach Åre geht um zwanzig vor fünf.

Da Amanda im September achtzehn geworden ist, hat sie kein Elternteil dabei. Es ist das erste Mal und ziemlich cool. Mama nervt mit ihren ewigen Vorhaltungen über Amandas schulische Leistungen. Sie mischt sich in alles ein, will immer wissen, wohin sie geht oder mit wem sie sich trifft. Es ist, als ob sie nicht wahrhaben will, dass ihre Tochter jetzt volljährig ist. Dass sie selbst entscheiden kann.

Deshalb hat Amanda auch nichts von Viktor erzählt.

Sie weiß genau, was ihre Mutter sagen wird, falls sie von ihrem neuen Freund erfährt. Viktor mit seinem schlechten Ruf würde bei ihr nicht auf Begeisterung stoßen.

Amanda setzt sich auf die Bank an der Wand des weiß gestrichenen Schulkorridors und zieht das Handy aus der Tasche. Sie überprüft ihre Frisur im spiegelnden Display, die frisch gefärbten schwarzen Haare reichen ihr genau bis auf die Schultern. Wie üblich hat sie die Augen dunkel geschminkt und dunkelroten Lippenstift aufgetragen, einen neuen, etwas zu teuren, den sie vor ein paar Tagen gekauft hat.

Sie geht auf Snapchat und scrollt zerstreut durch ein paar Storys. Ebba, ihre beste Freundin, hat mehrere Snaps und eine Nachricht geschickt, obwohl sie erst vor weniger als einer Viertelstunde auseinandergegangen sind.

Wo bleibt Lasse bloß?

Sie ist allein auf dem Flur, die meisten der fast vierhundert Schülerinnen und Schüler sind schon weg. Amanda hat Hunger und will nach Hause. Außerdem friert sie, um diese Jahreszeit ist es hier drinnen ganz schön kalt. Wenn die Temperatur unter zwanzig Grad minus sinkt, ist es schwer, das große Schulgebäude warm zu halten.

Auf der Treppe sind Schritte zu hören, und dann erscheint Lasse Sandahl. Wie gewohnt trägt er Jeans und einen jugendlichen Pullover, obwohl er schon fünfunddreißig ist.

»Entschuldige die Verspätung«, sagt er außer Atem. »Ich bin im Rektorat aufgehalten worden.«

»Kein Ding«, murmelt Amanda.

Lasse schließt auf und sie folgt ihm in den Raum mit den moosgrünen Vorhängen. Ein runder Tisch steht in der Mitte, umgeben von drei mit schwarzem Stoff bezogenen Stühlen.

Sie zieht einen davon heraus und nimmt gegenüber von Lasse Platz, nicht zu nah.

»Tja, Amanda«, sagt er. »Wie ist das letzte Halbjahr deiner Meinung nach gelaufen? Im Frühjahr steht das Abitur an, bald musst du mich und die anderen Lehrer nicht mehr jeden Tag sehen.«

Er lächelt übertrieben breit, wie immer kann Amanda sehen, dass mehrere der hinteren Zähne überkront sind.

Sie lächelt zurück, um ihn bei Laune zu halten.

»Ganz okay, denke ich«, sagt sie mit einem Schulterzucken.

Ihre Noten sind mittelprächtig, sie hat keinen Bock, abends zu lernen, obwohl sie weiß, dass sie es eigentlich müsste.

Lasse kramt in seiner abgeschabten Aktentasche und zieht einige Unterlagen heraus.

»Was schätzt du, wie du bei der Englischprüfung am Freitag abgeschnitten hast?«, fragt er.

Amanda pult ein bisschen an dem dunklen Nagellack herum, der an einem Daumen abzublättern beginnt. Es ist ihr schwergefallen, sich auf die Fragen zu konzentrieren, obwohl sie wusste, dass es wichtig war. In der Nacht davor hatte sie stundenlang wachgelegen und gegrübelt.

Was soll ich tun?

Die Gedanken waren immer im Kreis gegangen, ohne dass sie eine Antwort gefunden hatte. Sie weiß, dass sie mit einem Erwachsenen über das reden sollte, was sie gesehen hat, aber alles ist so kompliziert.

Sie hat Angst, was passiert, wenn die Wahrheit herauskommt.

»Was ist los, Amanda?«

Lasses Stimme holt sie zurück in die Gegenwart.

»Wie bitte?«

»Du wirkst in der letzten Zeit ziemlich unkonzentriert. Gibt es etwas, das dich bedrückt, über das du reden möchtest?«

Die Ironie der Frage lässt Amanda zusammenzucken.

Er ist der Letzte, dem sie sich anvertrauen würde.

Bevor sie reagieren kann, rückt Lasse seinen Stuhl ein wenig näher. Er streckt seine Hand aus und legt sie auf ihre Hand.

»Ich bin da, um zu helfen.«

Er lässt die Hand länger als nötig liegen, Amanda spürt seine verschwitzte Handfläche auf ihrer Haut, ehe sie ihre Hand wegzieht.

»Alles gut«, versichert sie. »Ich hab nur ein bisschen viel gejobbt, anstatt zu lernen.«

Diskret versucht sie, sich auf ihrem Stuhl zurückzulehnen, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern.

»Hab Geld für Weihnachtsgeschenke gebraucht«, fügt sie noch hinzu.

»Verstehe«, sagt Lasse und blättert in seinen Unterlagen. »Aber deine Fehlzeiten haben offenbar auch zugenommen. Das ist nicht so fett.«

Lasse will gerne als Kumpel rüberkommen, obwohl er viel älter als seine Schüler ist. Er benutzt Ausdrücke, die peinlich klingen, wenn sie aus seinem Mund kommen.

»Außerdem war ich erkältet«, schwindelt Amanda. »Mehrere Male. Im Frühjahrshalbjahr wird es sicher besser.«

Lasse liest die Beurteilungen ihrer jeweiligen Lehrer vor, während Amanda versucht, ein Gesicht zu machen, als würde sie zuhören und sich alles zu Herzen nehmen.

Am Anfang, als er Mentor für die ganze Klasse wurde, fand sie ihn süß und cool. Viele mochten seine flirtige Art, die einem das Gefühl gab, gesehen und bevorzugt zu werden. Er war nicht wie die anderen Lehrer.

Sie pult noch mehr Nagellack vom Daumen, inzwischen ist kaum mehr etwas übrig.

Endlich sind sie fertig. Es ist schon halb fünf und sie wird rennen müssen, wenn sie den Bus nach Hause noch erwischen will.

Als sie aufstehen, macht Lasse ein paar Schritte auf sie zu. Er legt ihr den Arm um die Schultern, sie kann ihn nicht abschütteln, ohne dass es auffällt.

»Ich hoffe, du kommst zu mir, wenn du reden willst«, sagt er. »Sonst wäre ich wirklich enttäuscht.«

Schwer zu sagen, ob es ein Angebot ist oder etwas anderes, das sie teuer zu stehen kommen kann.

Der Geruch von Zigaretten und Kaffee in seinem Atem hängt zwischen ihnen.

Amanda nickt, lächelt steif und schielt zur Tür. Sie hat kein Fenster, niemand kann hereinsehen.

Sie will nur so schnell wie möglich raus hier.

7

Es ist Viertel nach sechs, als der Flughafenbus im Zentrum von Björnen hält und Hanna absetzt.

In Stockholm war kein Schnee, aber hier ist tiefster Winter.

Alles ist weiß.

Hanna ist wie ein Zombie nach Åre gereist, sie hat sich darauf konzentriert, einen Schritt vor den anderen zu setzen, und kein unnötiges Wort gesprochen. Trotzdem ist sie völlig erschöpft, so als wäre sie einen Marathon gelaufen. Ihre Brust schmerzt vor Kummer und sie hasst sich dafür, dass sie alles kaputt gemacht hat.

Das GPS des Handys führt sie weg vom kleinen Zentrum mit Apartmenthäusern, Liftanlagen und dem Skiverleih. Sie geht über eine Brücke, vorbei an der Langlaufarena und in Richtung des etwas abseits gelegenen Sadeln, wie man die neue Ferienhausanlage getauft hat.

Es knarrt unter ihren Schuhsohlen, ansonsten ist es unwirklich still. Der Schnee dämpft alle Geräusche, die Welt ist eingehüllt in eine weiße Decke. Die Kälte macht ihre Finger und Zehen taub.

Nach zehn Minuten erreicht sie die Einfahrt zur Anlage. Mit Schiefer verkleidete Mauern erheben sich zu beiden Seiten des Weges. »Sadeln« steht daran in glänzenden Kupferbuchstaben.

Es wirkt edel, aber auch abweisend. Als ob nur Leute mit berechtigten Interessen willkommen sind, alle anderen brauchen sich gar nicht erst die Mühe zu machen.

Der Weg führt steil bergauf. Als Hanna oben ankommt, bleibt ihr die Luft weg.

Es ist überwältigend und so … groß.

Die Häuser verteilen sich auf weiten Hängen, der Fichtenwald scheint kein Ende zu nehmen. Trotz der Dunkelheit fällt ihr die moderne Architektur auf, breite Torfdächer, geräumige Balkone und große Fenster mit Panoramablick. Grundstücke und Häuser sind viel größer als in Björnen, hier gibt es reichlich Platz und eine endlose Aussicht.

Unterhalb von Sadeln liegt der See Åresjön in frostigem Schlummer.

Es wirkt ein bisschen wie eine Geistersiedlung, obwohl sie bald erwachen wird, wenn die Saison beginnt. Alles ist still, die Häuser sind dunkel und unbewohnt, die Vorhänge zugezogen. Adventsschmuck und Außenbeleuchtung können die Einsamkeit der weiten Landschaft, in der keine Menschenseele zu sehen ist, nicht vertreiben.

Hanna setzt sich wieder mit ihrem Rucksack und der Reisetasche in Bewegung. Zehn Minuten Fußweg, hat Lydia gesagt, aber mittlerweile ist sie bestimmt schon eine Viertelstunde gegangen.

Sie hätte sich ein Taxi nehmen sollen, aber sie wollte nicht mehr Geld als nötig ausgeben. Nicht, wenn die Zukunft so unsicher ist.

Als ihr Chef, Manfred Lidwall, sie gestern in sein Büro gerufen hatte und sorgfältig die Tür hinter ihr schloss, begriff sie, was auf sie zukam.

Sie war schon lange wütend und enttäuscht, hatte protestiert und sich quergestellt, weil niemand etwas unternahm. Trotzdem hatte sie nicht erwartet, dass sie es war, die bestraft werden sollte. Bis zum Schluss hatte sie gehofft, die höheren Vorgesetzten würden eine Wiederaufnahme der Ermittlung anordnen. Dass sie ihren Kollegen Niklas Konradsson doch noch hinter Gitter bringen wollten, den Mann, der eine Frau zu Tode geprügelt hatte. Aber Josefins Schicksal kümmerte niemanden. Alle haben sich hinter Niklas gestellt.

Und nun war es Hanna, die den Kopf hinhalten musste, der man Unwilligkeit zur Zusammenarbeit und fehlenden Teamgeist vorwarf.

Manfred hat ihr nicht mal einen Stuhl angeboten. Er stand einfach mit verschränkten Armen da und sah sie mit kaltem Blick an. Seine Stimme klang beißend, als er sagte, sie solle sich auf eine Dienststelle außerhalb der Citypolizei bewerben, sonst würde er dafür sorgen, dass man sie irgendwohin versetzte, wo ihre Laufbahn garantiert beendet sei.

Er hatte noch mehr Sachen auf Lager. Wie sehr ihn ihr Mangel an Respekt ankotzte, dass sie so dicht davor war, wegen Dienstvergehens angezeigt zu werden, und dass keiner ihrer Kollegen mehr mit ihr zusammenarbeiten wollte. Ihr Wutausbruch in der Woche zuvor, als sie ihm vorgeworfen hatte, inkompetent und korrupt zu sein, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Manfred hatte sich auf eine Art ausgedrückt, wie kein Vorgesetzter es je tun dürfte, hatte Hanna zumindest geglaubt. Wahrscheinlich hätte er sich auch nicht dazu hinreißen lassen, wenn sie nicht allein im Zimmer gewesen wären, aber unter vier Augen konnte er es sich leisten, sie persönlich anzugreifen.

Hanna versuchte sich zu sagen, dass er ein mieses Arschloch war, aber sie nahm sich die Sache trotzdem zu Herzen.

Man wollte sie nicht mehr haben.

Sie war mehr oder weniger gefeuert worden.

Sie geht die Straße entlang, wo der Schnee festgefahren ist. Es gibt keine Bürgersteige, nur hohe Schneewälle, die die Fahrbahn säumen. Sie bleibt stehen, um sich zu orientieren, und kommt zu dem Ergebnis, dass Lydias Haus das große Gebäude sein muss, das etwa hundert Meter voraus liegt.

Sie kann kaum verhindern, Mund und Augen aufzureißen.

Das Ding ist riesig, ein massives Blockhaus mit zwei Flügeln und doppelter Deckenhöhe. Es liegt ganz oben auf dem Hügel, ohne Nachbarn, die hereinschauen könnten. Riesige Glasflächen mit schönen Sprossen blicken auf die Aussicht, und die Fassadenbeleuchtung erzeugt eine Art Glorienschein, der den Eindruck von Exklusivität noch verstärkt.

Lydia hat darüber gescherzt, dass sie richtig zugelangt hätten. Das ist nicht übertrieben.

Irgendwie hatte Hanna sich eine normale Berghütte vorgestellt, aber dieses Gebilde aus Glas und dunklem Holz hat kaum Überschneidungspunkte mit der Norm in den schwedischen Bergen. Es erinnert eher an eine Mountain Lodge im amerikanischen Aspen oder ein exklusives Chalet in der Schweiz.

In Schweden ist man zurückhaltend, man prahlt nicht mit seinem Geld und seinem Besitz, aber Lydias Anwesen tut genau das.

Das Aufheulen eines Motors durchbricht die Stille.

Hanna hat das Scheinwerferlicht kaum bemerkt, als auch schon ein dunkler SUV um die Kurve der schmalen Straße rast. Sie erinnert sich vage an ein Schild mit einer 30 neben der Einfahrt zur Anlage, aber der Fahrer nimmt darauf keinerlei Rücksicht.

Für eine Sekunde steht sie wie angewurzelt da. Das Auto kommt viel zu schnell auf sie zu, die hohe Motorhaube türmt sich vor ihr auf.

Der Lack glänzt bedrohlich nah.

Es besteht kein Zweifel, dass der Wagen sie überfahren wird.

Ihr Instinkt schickt sie mit einem Hechtsprung in den nächsten Schneewall. Der gibt zum Glück nach, und sie rollt in einer Wolke aus Schnee weg von der Straße.

Das Auto rast in nur wenigen Zentimetern Abstand vorbei. Es ist pures Glück, dass sie ihren Fuß noch wegziehen kann, ehe der Hinterreifen vorbeidonnert.

Hanna liegt auf dem Rücken, in ihrem Brustkorb pocht es schmerzhaft. Sie traut sich kaum, nachzufühlen, ob sie alle Glieder bewegen kann; hat sie den Vorfall unverletzt überstanden?

Versuchsweise setzt sie sich auf, alles scheint heil geblieben zu sein, obwohl sie sich beim Sprung zur Seite die Hüfte gestoßen hat.

Sie starrt dem Auto nach, das bereits verschwunden ist. Der Fahrer muss sie gesehen haben. Trotzdem hat er nicht angehalten, um nachzusehen, ob ihr etwas passiert ist.

Idiot.

War es überhaupt ein Mann, der am Steuer gesessen hat? Schwer zu sagen, es ist alles so schnell gegangen. Sie hat weder das Modell noch das Kennzeichen erkannt, nur dass der Wagen ebenso schwarz wie die Dunkelheit war, die sie jetzt wieder umgibt.

Auf jeden Fall war es ein Verrückter, um ein Haar hätte er sie überfahren. Sie hätte tot sein können.

Hanna ist so schockiert, dass sie kurz den Impuls verspürt, liegenzubleiben. Sie könnte einfach hier im Schnee einschlafen, dann müsste sie sich über all das, was passiert ist, wenigstens keine Gedanken machen.

Sie kann nicht mehr. Sie ist überall voll Schnee, er schmilzt langsam unter ihrer Jacke, in der es eiskalt ist. In ihren Zehen ist kein Gefühl mehr.

Christian würde es leidtun, wenn man sie morgen hier fände.

Schließlich rappelt sie sich auf und kommt mühsam wieder auf die Beine. Sie klopft sich den Schnee ab, so gut es geht, greift nach der Tasche und stapft das letzte Stück zum Haus hinauf.

Die Eingangstür liegt auf der Rückseite, vermutlich, um die Aussicht nicht zu stören. Sie muss am separaten Ski-Eingang vorbei, um zum Haupteingang zu gelangen.

Hanna müht sich mit dem Zahlencode des hypermodernen Schlosses ab, das Lydia hat anbringen lassen. Sie friert so unglaublich, dass sie kaum stillstehen kann.

Noch nie hat sie sich so klein und einsam gefühlt. Der Gedanke, dass Christian sie tatsächlich verlassen hat, rumort in ihrem Hinterkopf.

Endlich bekommt sie die Tür auf und tritt ein. Holzhausduft weht ihr entgegen. Ein Hauch von etwas Tröstlichem aus der Kindheit, einem knisternden Kaminfeuer, von heißer Schokolade mit Schlagsahne. Hanna auf dem Schoß von Lydia, die ihr eine Geschichte vorliest.

Vor Erleichterung, endlich ins Warme zu kommen, bricht sie beinahe in Tränen aus.

Mittwoch, 11. Dezember

8

Es ist schon nach zwölf, als Hanna aus dem Bett steigt und sich in ihrem alten, verwaschenen Pyjama in die Küche schleppt.

Über Lydias Gästezimmer kann man nicht meckern. Im Souterrain gibt es vier davon, und drei haben breite Doppelbetten. Hanna hat das östliche Eckzimmer genommen, das mit der Einrichtung in gedeckten Farben und der herrlichen Aussicht auf den Åresjön.

Trotz des Komforts hat sie unruhig geschlafen und ist mehrmals davon aufgewacht, dass sie im Schlaf geweint hat.

Auf nackten Füßen tapst sie zum luxuriösen Kaffeeautomaten und drückt auf den Knopf für extra starken Kaffee. Im Gefrierschrank findet sie Brot und andere Lebensmittel. Er quillt über vor Fleisch, Fisch und Gemüse in diversen Tiefkühlpackungen. Es gibt sogar selbstgebackene Brötchen. Der Kühlschrank enthält Marmelade, Kalles Kaviar und anderen lang haltbaren Brotbelag. Im obersten Fach steht ein Karton Eier. Natürlich sind Eier im Haus, auch wenn die Bewohner nicht da sind.

Lydia hat gesagt, das Haus sei gut ausgestattet. Hanna muss über ihre perfekt organisierte Schwester lächeln.

Nachdem sie sich zwei belegte Brote gemacht hat, lässt sie sich am Esstisch nieder und schaltet den Fernseher ein, um die Stille loszuwerden. Sie starrt durch die bodentiefen Fenster hinaus. Der Himmel ist bedeckt, es schneit leicht. Oberhalb des Renfjälls direkt gegenüber verrät ein kaum sichtbarer Lichtkranz, wo sich die Sonne versteckt hat. Darunter liegt der Åresjön, der die Bergflanken im Tal miteinander verbindet.

Sie folgt dem See mit den Augen, bis er im Westen Richtung Duved abbiegt. Hinter dem Berg liegt Norwegen, bis dahin sind es nur sechzig Kilometer.

Sie würgt eine Scheibe Brot hinunter und wirft die andere in den Mülleimer. Der Kaffee rutscht besser, vertreibt aber die Kopfschmerzen nicht. Auf der Anrichte steht die leere Flasche Rotwein von gestern, sie hat sie nach ihrer Ankunft aus dem Weinkühlschrank gemopst. Hanna versteht genug von Wein, um die Preislage zu schätzen. Er hat mit Sicherheit nicht weniger als zweihundert Kronen gekostet.

Sie macht sich noch einen Kaffee, greift nach ihrem Handy und scrollt durch die alten Fotos von Christian. Nach einer Weile bleibt sie bei denen hängen, die sie im letzten Sommer gemacht hat, als sie ihre Eltern im spanischen Guadalmina besucht haben, wo die beiden seit Jahrzehnten ein Haus besitzen.

Sie hat auf der Reise viele Fotos gemacht. Meistens auf der Terrasse, wo sie nachmittags immer einen Drink genommen haben. Christian hat fast jeden Tag ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln getragen. Das Mittelmeer hinter seinem Rücken war ebenso blau wie seine Augen, und die Sonne verwandelte sein hellbraunes Haar in Gold.

Papa und Christian spielten jeden Vormittag eine Runde Golf, und sie hatte den leisen Verdacht, dass Christian ihn manchmal hat gewinnen lassen.

Die offensichtliche Begeisterung ihrer Eltern über den »Schwiegersohn« hat Hanna fast darüber hinwegsehen lassen, dass sie eher nach ihm als nach ihr fragten. Keinem ihrer anderen Freunde war es gelungen, diesen zufriedenen Gesichtsausdruck bei ihrer Mutter hervorzurufen.

Ihr selbst auch nicht, um ehrlich zu sein.

Christian vereint all das in sich, was ihre Eltern lieben. Auch er ist in einem der besseren Vororte Stockholms aufgewachsen, hat einen akademischen Abschluss und Eltern, die in einer schönen Villa wohnen. Es ist geradezu lächerlich, wie ähnlich sie beide aufgewachsen sind.

Nur dass Hanna sich in diesem Milieu nie zu Hause gefühlt hat. Sie war immer das schwarze Schaf.

Sie hatte nie reingepasst, war nie wie die hübsche, allseits beliebte Lydia, die Bestnoten bekam und eine Unmenge von wohlerzogenen Boyfriends hatte, die sich artig bei den Eltern vorstellten.

Erst mit Christian fühlte Hanna sich als etwas Besonderes. Außerdem mochte sie die Reaktion ihrer Eltern, als sie endlich mit einem Mann nach Hause kam, der die Erwartungen erfüllte.

Es war so schön, ausnahmsweise mal … gut genug zu sein in ihren Augen.

Ein kleiner Hase flitzt über das Grundstück, ganz allein. Hanna folgt ihm mit dem Blick. Seine deutlichen Spuren durchbrechen die Schneedecke, die größeren Hinterpfoten perfekt vor die Vorderpfoten gesetzt.

Er wirkt ebenso einsam und verlassen wie sie.

9

Amanda und Ebba sitzen vor der Schule und rauchen. Der Himmel ist grau und es ist saukalt. Ebba versucht, ihre Zigarette zu genießen, obwohl die Bank, auf der sie sitzen, die Schenkel in Eiszapfen verwandelt.

Sie spürt, wie das Nikotin sich in ihrem Körper ausbreitet.

Die Luft ist erfüllt von kleinen Schneeflocken.

»Das ist so dermaßen gemein«, zischt Amanda, nachdem sie eine wütende Rauchwolke ausgestoßen hat. »Wie kann man jemandem in unserem Alter so etwas antun?«

Ebba wirft ihrer Freundin einen Seitenblick zu.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie darüber reden. Amanda hat gesagt, dass sie vorhat, die ganze Sache öffentlich zu machen. Dass sie erzählen will, wie die Dinge wirklich liegen, damit alle die Wahrheit erfahren.

Ihre Augen lodern unter der roten Mütze, die perfekt zu den Schals passt, die sie sich zusammen gekauft haben.

Ebba hat Amanda noch nie so aufgebracht gesehen. Das macht ihr ein bisschen Sorgen. Darüber zu schweigen wäre nicht richtig, das versteht sie. Gleichzeitig hat sie Angst vor den Konsequenzen.

Was wird passieren, wenn alles herauskommt?

»Willst du nicht mit deiner Mutter darüber reden?«, schlägt Ebba vor.

»Sie würde stinksauer werden. Ich weiß genau, was sie sagen wird.«

Amanda wirft die Kippe zu Boden und tritt sie aus. Fest, sodass nur braune Krümel im Schnee zurückbleiben.

»Und dein Vater?«

Amanda schnaubt.

»Du kennst doch meinen Vater. Wenn das geringste Risiko besteht, dass es seiner politischen Karriere schaden könnte, schweigt er es lieber tot.«

Wenn Amanda sich in Wut geredet hat, kann man ihr nicht mit Argumenten kommen. Sie hat ein viel hitzigeres Temperament als Ebba, ist immer diejenige, die sich über Ungerechtigkeiten aufregt und den Lehrern Kontra gibt.

Amanda ist es egal, was andere Leute meinen. Sie denkt auf eine Art, die Ebba sich nie trauen würde. Sie sagt, was sie will.

Amanda liegt nicht nachts wach und macht sich Sorgen, so wie Ebba.

»Damit kommen die nicht durch, das schwör ich dir«, sagt Amanda und fegt mit der Hand durch die Luft.

Ebba kann direkt sehen, wie ihre beste Freundin Blitze versprüht.

»Wir müssen rein«, sagt sie. »In drei Minuten fängt Mathe an.«

Sie nickt zum Eingang des hellgelben Schulgebäudes. Jämtland-Gymnasium! steht auf einem Schild über dem Portal. Ebba hat sich schon immer gefragt, was das Ausrufezeichen soll.

Als Ebba aufsteht, hat sie ein mulmiges Gefühl im Bauch. Sie fürchtet sich vor der Reaktion ihrer Eltern, wenn sie erfahren, was sie und Amanda gemacht haben.

Sie wünschte, sie hätte die Finger von der ganzen Sache gelassen, hätte von vornherein Nein gesagt.

»Was hast du vor?«, fragt sie.

Amanda antwortet nicht.

10

Das Wasser in der Wanne ist handwarm, als Daniel die kleine Alice vorsichtig für das abendliche Bad hineinhält.

Sie strampelt ein bisschen, wie sie es am Anfang immer tut, bevor sie sich mit seiner stützenden linken Hand im Rücken zufrieden entspannt.

Er kniet auf den weißen Badezimmerfliesen, vor sich in der Dusche die rosa Plastikwanne. Das ist ihr gemeinsamer kleiner Moment. Daniel versucht immer, rechtzeitig zu Hause zu sein, um seine Tochter zu baden.

Das ist einer der großen Vorteile an seiner Arbeitsstelle hier oben, es gibt regelmäßige Dienste und kaum größere Verbrechen aufzuklären. Auch wenn er sich manchmal ein etwas schnelleres Tempo wünscht, vermisst er seinen alten Arbeitsplatz im Drogendezernat von Göteborg nicht. Die meist nutzlosen Versuche, viel zu viele Ermittlungen gleichzeitig abzuarbeiten. Das Gefühl, dass auf jedes aufgeklärte Verbrechen sofort zwei neue folgen. Die Bandenkriege und die Schießereien, die kein Ende nehmen.

Außerdem ist er Norrländer, aufgewachsen in Sundsvall. Die Atmosphäre in Åre ist eine willkommene Erinnerung an seine alte Heimat. Als er Sundsvall verließ, war es das Großstadtleben in Göteborg, das ihn lockte, aber er hat schnell Bekanntschaft mit dessen Kehrseite gemacht.

Er seift Alice ein, die zufrieden gluckst. Das feine blonde Haar legt sich weich in seine Handfläche, als er das Köpfchen abspült. Zum Schluss wäscht er den Nabel mit der Kuppe seines Zeigefingers.

Er wünschte, seine Mutter Francesca hätte Alice noch kennenlernen können. Zehn Jahre ist der Unfall jetzt her, und er hat gelernt, mit dem Verlust zu leben. Bevor Alice geboren wurde, hat er manchmal tage-, ja wochenlang nicht an seine Mutter gedacht.

Inzwischen vergeht fast kein Tag, an dem sie nicht in seinen Gedanken bei ihm ist.

Er war erst sechsundzwanzig, als sie starb. Sie wohnte noch in Sundsvall; ein kurzer Spaziergang, um Milch einzukaufen, sollte das Letzte sein, was sie tat. Der Fahrer flüchtete vom Unfallort. Der Verkehrsunfall ist immer noch nicht aufgeklärt, eine Wunde, die nicht heilt. Daniel arbeitete in Göteborg und fuhr wie betäubt heim, um die Beerdigung zu organisieren.

Er hat sich nie die Mühe gemacht, seinen Vater zu informieren. Warum sollte ihn interessieren, dass Francesca tot war, wenn sie ihm doch so gleichgültig gewesen war, als sie noch lebte?

Sein Vater hatte sie dazu gebracht, Italien zu verlassen, aber nur wenige Jahre später, als Daniel noch klein war, machte er sich aus dem Staub. Als Mutter unverheiratet zu sein, war für sie eine zu große Schande, deshalb war sie nicht in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern in Schweden geblieben.

Daniel hat keine Verbindung zu seiner italienischen Verwandtschaft, und der Kontakt zu seinem schwedischen Vater ist gleich null. Er wohnt in Umeå, ist wieder verheiratet und hat neue Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Daniel hat sie nur einige wenige Male getroffen, bei seinen seltenen Besuchen, die irgendwann ganz aufhörten, als er ins Teenageralter kam.

Der Verrat sitzt tief, unvergessen und nicht verziehen. Daniel hat sich oft geschworen, eine andere Art von Vater zu sein.

Er wird Alice niemals im Stich lassen, ganz gleich, was passiert.

Sie soll auch nie Angst vor ihm haben müssen, so wie seine Mutter Angst vor ihrem Vater hatte, Daniels cholerischem Großvater, den er nie kennengelernt hat.

Er ist mit Geschichten über die Tobsuchtsanfälle seines Großvaters aufgewachsen. Francesca hat oft erzählt, wie ihr Vater explodierte und der Rest der Familie sich verkriechen musste, bis er sich wieder beruhigt hatte. Es klang wie eine leichtfüßige Anekdote, aber in Wirklichkeit muss es sehr belastend gewesen sein. Bei einem Mann aufzuwachsen, der die Familie mit seinen Launen terrorisierte, war ganz sicher nicht lustig.

Daniel hat sich fest vorgenommen, dass er sein aufbrausendes Temperament, das er manchmal nur schwer kontrollieren kann, nicht an Alice auslassen wird.

»Wie war’s bei der Arbeit heute?«

Ida steht mit frisch geföhnten Haaren in der Tür. Sie wirkt fröhlich, Daniel hat früh Feierabend gemacht und war schon um vier zu Hause. Sie konnte ein Nickerchen machen und sogar die Küche weihnachtlich schmücken.

Jetzt ist sie wieder wie früher, sieht eher aus wie die fesche Skilehrerin, die er vor einem guten Jahr im Bygget kennengelernt hat, nicht mehr wie eine erschöpfte Säuglingsmama.

Er zuckt die Schultern.

»Nichts Besonderes. Ein paar Besprechungen per Video mit Umeå. Morgen ist Östersund dran, wie üblich.«

Rein formal ist er der Abteilung Schwerverbrechen in Östersund zugeordnet, aber seine Vorgesetzte hat nichts dagegen, dass er an drei Tagen in der Woche von Åre aus arbeitet. Obwohl er viel Zeit im Auto verbringt, ist er froh über diese Regelung. Das gibt ihm die Chance, in Åre heimisch zu werden. Hier gehört er jetzt hin, zusammen mit Ida und Alice.

Seinen Mädels.

Er hebt Alice aus der Wanne und hüllt sie in ein großes Badetuch, das Ida bereitgehalten hat.

»Was hältst du von Lasagne zum Abendessen?«, fragt er. »Mit selbstgemachter Tomatensoße?«

Daniel liebt es, zu kochen, er hat schon immer gern in der Küche gestanden. Er witzelt oft über seine italienischen Gene, seine Leidenschaft für Pasta und Parmesan.

»Klingt gut«, sagt Ida lächelnd.

Sie streckt die Arme aus und nimmt ihm Alice ab.

»Mein Schnubbelchen«, gurrt sie. »Komm zu Mama.«

Daniel drückt ihr einen Kuss auf die Stirn.

In diesen Momenten, wenn Alice sie beide mit ihrem zahnlosen Lächeln anstrahlt, kann er sich kaum daran erinnern, warum in der letzten Zeit so viel Zank und Streit zwischen ihnen geherrscht hat.

Donnerstag, 12. Dezember

11

Amanda steht vor dem Spiegel in Ebbas Zimmer und versucht, sich zu entscheiden.

Zur Wahl stehen das gerippte gelbe Top von H&M und das rote, das sie im Netz bestellt hat. Heute ist der Abend vor dem Luciafest, und das rote passt besser zum Weihnachtsthema, aber das gelbe macht einen hübscheren Busen.

Sie betrachtet sich kritisch von allen Seiten, mustert missbilligend ihren Po und zieht schließlich das gelbe Top an.

Ebba ist schon im Bad und schminkt sich. Im Hintergrund läuft Aviciis letztes Album. Eine Männerstimme singt »SOS«, und Amanda macht ein paar Tanzschritte, während sie ihr Spiegelbild anlächelt. Sie sieht gar nicht so übel aus. Jetzt ist Party angesagt, und sie hat sich wirklich auf diesen Abend gefreut.

Amanda denkt an Viktor und lächelt wieder.

Sie sind seit einer Weile zusammen, wenn auch heimlich. Er wird niemanden mehr schlagen. Schon gar nicht sie. Viktor hat ganz offen über seine Vergangenheit geredet, er hat geschworen, dass es ein Unfall war, und sie glaubt ihm.

Außerdem kann er fantastisch küssen, und er bringt sie auf andere Gedanken. Sie braucht ihn jetzt, sie kann nicht immer nur daran denken, was vorige Woche passiert ist.

Sie hat sich fest vorgenommen, die ganze Sache auszublenden, wenigstens für ein paar Stunden. Sie fühlt sich immer noch schmutzig, grübelt seither jede Nacht darüber nach und bereut, dass sie das Geld genommen hat.

Wenn sie es sich leisten könnte, würde sie jede einzelne Krone zurückzahlen.

Ihre gute Laune droht zu verfliegen. Amanda zieht entschlossen ihr Top zurecht, verdrängt die dunklen Gedanken und geht ins Bad, wo Ebba vor dem Spiegel steht. Sie ist voll damit beschäftigt, ihre Wimpern zu tuschen. Ein großer Gin Tonic steht neben dem Waschbecken.

Amanda nimmt das Glas und trinkt ein paar große Schlucke. Das Dunkle weicht zurück. Der Alkohol wärmt innerlich, das fühlt sich viel besser an.

Heute Abend werden sie einfach Spaß haben. Sie trinkt noch mal.