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Traue niemandem, vor allem nicht dir selbst
Der packende True Crime Thriller basierend auf einem ungelösten Mordfall in Finnland
Fünf Teenager zelten am Karfreitag 1984 am Totenmaar. Am nächsten Morgen sind drei von ihnen tot – sie wurden auf grausame Art und Weise ermordet. Die anderen beiden überleben schwer verletzt. Sebastian behauptet, nichts gesehen zu haben und Katharina hat durch das Trauma ihr Gedächtnis verloren. Der Täter wurde nie gefunden.
30 Jahre später werden die Morde von Ermittlerin Janna Habena als „cold cases“ wiederaufgenommen. Bei der erneuten Befragung trifft Katharina nach all den Jahren wieder auf Sebastian und die beiden verlieben sich ineinander. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen? Spielt Sebastian ihr nur etwas vor, weil er Angst hat, dass sie sich erinnert? Und weiß er mehr als er zugibt?
Dies ist eine Neuauflage des bereits erschienenen Titels Forgotten Girl.
Erste Leserstimmen
„Einen fesselnden Schreibstil, gut gewählten Handlungsaufbau und Überraschungsmomente beherrscht die Autorin perfekt.“
„Schockierende Szenen, die einem Horrorfilm entsprungen sein könnten, erzeugen beim Lesen Gänsehaut.“
„Ein unglaublich gut konstruierter Psychothriller, der einem stellenweise das Blut in den Adern gefrieren lässt.“
„Eva-Maria Silber hat einen spannenden und düsteren Plot kreiert, der mich vor allem durch sein schockierendes und überraschendes Ende überzeugen konnte.“
„Bei dieser realistischen Darstellung merkt man, dass die Vorlage für diesen Thriller in der Realität zu finden ist.“
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Seitenzahl: 316
Fünf Teenager zelten am Karfreitag 1984 am Totenmaar. Am nächsten Morgen sind drei von ihnen tot – sie wurden auf grausame Art und Weise ermordet. Die anderen beiden überleben schwer verletzt. Sebastian behauptet, nichts gesehen zu haben und Katharina hat durch das Trauma ihr Gedächtnis verloren. Der Täter wurde nie gefunden. 30 Jahre später werden die Morde von Ermittlerin Janna Habena als „cold cases“ wiederaufgenommen. Bei der erneuten Befragung trifft Katharina nach all den Jahren wieder auf Sebastian und die beiden verlieben sich ineinander. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen? Spielt Sebastian ihr nur etwas vor, weil er Angst hat, dass sie sich erinnert? Und weiß er mehr als er zugibt?
Dies ist eine Neuauflage des bereits erschienenen Titels Forgotten Girl.
Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2021
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-733-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-107-4
Copyright © 2018, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2018 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Forgotten Girl (ISBN: 978-3-96087-326-6).
Covergestaltung: Inka Burgard unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Inga Nielsen, © Stillfx, © kurapy, © Yeti Studio Lektorat: Birgit Förster
E-Book-Version 19.01.2023, 17:53:01.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Die Erinnerung ist ein wildes Tier,
flieh vor ihr, so schnell du kannst.
1984
Am meisten schockierte Elisabeth das ausgestochene Auge.
Sie war an diesem lauen, sonnigen Ostersamstag mit Mann und Labrador Tessie am Totenmaar unterwegs. Auf halber Strecke an der alten sechseckigen Holzhütte unterhalb der Martinskapelle jaulte die Hündin auf. Da sie sonst friedfertig war und nur selten bellte, blieb das Ehepaar verdutzt stehen. Nun zerrte Tessie an der Leine in Richtung See.
„Elisabeth, halt mal den Hund, ich schau nach, was los ist“, verkündete ihr Mann und marschierte los. Doch schon nach wenigen Schritten blieb er stehen, würgte und übergab sich. Elisabeth, zutiefst beunruhigt, lief ihm nach.
Diese fünf Schritte würde sie für den Rest ihres Lebens bereuen.
Der erste Streifenwagen, der eintraf, war mit Polizeihauptmeister Herbert Schüller und Polizeiobermeister Heinz Sartorius besetzt. Eine Viertelstunde nach dem Notruf, den die Eheleute Schmidt vom nahe gelegenen Segelflugplatz abgesetzt hatten, erreichten sie den Parkplatz an der alten Kapelle. Über den Rundwanderweg machten sie sich an den Abstieg, ließen den alten Friedhof links liegen.
So ganz glauben konnten sie nicht, was die Eheleute gemeldet hatten. Sicherlich war das wieder nur ein Spaß von jungen Leuten, die zu gerne hier verboten zelteten und sich gegenseitig mit alten Gruselgeschichten Angst einjagten. Die waren bestimmt mit einem Scherz zu weit gegangen.
Der See ruhte friedlich unter ihnen. Zwei blendend weiße Schwäne ließen sich im hellen Sonnenschein auf dem Wasser treiben und leise brummend suchten die ersten frühen Bienen Nektar. In dieser Idylle störte lediglich das Schwirren der Fliegen, das plötzlich an ihre Ohren drang, kaum dass sie die alte Holzhütte beim See erreicht hatten. Trotzdem waren sie nicht auf das Bild vorbereitet, das sich ihnen bot.
Sartorius war vorneweg gegangen. „Verdammte Scheiße.“
Fassungslos starrte er auf das wirre Knäuel aus zerfetztem Zeltstoff und blutigen Körpern. Auf einem zusammengefallenen Zelt lag eine halb nackte Mädchenleiche, ihr Kopf eine einzige Masse aus Blut und Knochensplittern. Dass es sich überhaupt um das Antlitz eines Mädchens handelte, erkannte er nur an dem blonden halblangen Haar, das verfilzt von Blut einer grotesken Hochsteckfrisur glich. Jeans und Schlüpfer waren ihr bis zu den Fußknöcheln heruntergezogen.
Ihr rechtes, leicht angewinkeltes Bein ruhte auf dem leblosen Kopf der zweiten Mädchenleiche, die fast komplett in eine blutrot verfärbte, ehemals hellbraune Filzdecke eingehüllt war. Nur der dunkle Pferdeschwanz mit rosafarbener Haarschleife wies sie als weibliches Wesen aus. Auch ihr Schädel war oberhalb der Augenbrauen eine einzige blutige Masse. Ihre verschleierten Augen starrten in den Himmel, schienen Gott oder ein Monster um Gnade anzuflehen.
Auf der rechten Seite des Zelts, halb unter der blutgetränkten Plane, krümmte sich ein junger Mann mit geöffnetem Jeanshemd und über der Brust gekreuzten Armen. Sein rechtes Bein klemmte unter dem Körper der unteren Mädchenleiche. Sein Kopf wurde von dem über ihm zusammengefallenen Zelt bedeckt.
Ganz oben auf dem Leichenhaufen lag ein weiterer toter Jugendlicher auf dem Rücken. Auch sein Gesicht von Schlägen malträtiert und blutüberströmt, wenn auch nicht so schlimm wie bei den anderen.
Sartorius war seit über zwanzig Jahren Polizist. Zunächst in Frankfurt am Main und dann, weil es ihm dort zu brutal zuging, hier in der Eifel. Er hatte schon viele Tote gesehen, bei Autounfällen, nach dem goldenen Schuss oder Messerstechereien im Bahnhofsviertel. Doch nichts hatte ihn auf diese surreale Szene vorbereitet. Entsetzen wütete in seinem Kopf. Tote Jugendliche, fast noch Kinder, dachte er und bebte innerlich vor Empörung. Das Bedürfnis, zu ihnen zu gehen, die Blutungen zu stoppen, sie zu retten, war übermächtig. Aber er wusste, es war zu spät.
Schüller trat neben ihn.
„Oh mein Gott, das sind ja fast noch Kinder“, stöhnte er auf und bewegte sich einen Schritt auf den Leichenberg zu. Dort ging er in die Knie und legte die Hände über Kreuz auf die Brust des zuoberst liegenden Jungen, wie um Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen.
„Mensch, lass das, siehste denn nicht, dass die alle tot sind?“
Doch Schüller konnte offenbar nicht anders. Er drückte und drückte, war so völlig darauf konzentriert, dass er nicht den zuckenden Fuß bemerkte.
„Oh Gott, der lebt ja noch“, entfuhr es Sartorius. Sich über den Jugendlichen beugend, fühlte er nach dem Puls am Hals. Tatsächlich, er konnte einen schwachen spüren.
„Ich lauf zum Wagen und fordere Verstärkung und einen Rettungswagen an“, brüllte er unnötig laut im Umdrehen.
Diesmal nahm er den Weg über den Friedhof, das ging schneller. Noch im Rennen hört er ein Schluchzen. Verwirrt blieb er stehen. Warf einen Blick in die Runde, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Weiter, zum Wagen. Doch schon nach ein paar Schritten hört er es wieder, diesmal wie das Wimmern eines verletzten Hundes. Ruckartig blieb er stehen. Drehte sich um, hatte nun eine andere Perspektive und konnte hinter den großen Doppelgrabstein bei den Steinstufen zur Pforte der Kapelle sehen. Dort hockte ein junges Mädchen, mit dem Rücken an den Grabstein gelehnt. Vorsichtig ging er näher. Sofort zuckte sie panisch zusammen, strampelte hilflos, versuchte, auf die Beine zu kommen.
„Ruhig, ganz ruhig“, versuchte Sartorius sein Glück, doch das Mädchen, das den gehetzten Blick eines angeschossenen Rehes hatte, wich zurück. Ihre Jeans war an den Knien aufgerissen und im Schritt blutig. Ein Träger ihres Tops war gerissen, das Gesicht von Schrammen überzogen. Blut war auch in ihrer engelsgleichen Haarpracht.
Das ist doch die Pfarrerstochter, schoss es Sartorius durch den Kopf.
„Komm her, Mädchen, ich will dir doch nur helfen“, versuchte er erneut, sie zu beruhigen. Diesmal schien er zu ihr durchzudringen.
Verzagt, mit schwimmenden Augen, sah sie zu ihm auf. Er streckte die Hand aus, nickte wohlwollend und trat einen Schritt näher. Wieder dieses Wimmern, doch ihr Blick hielt ihn fest. Noch ein Schritt und er erreichte ihren Arm, auch der zerkratzt.
Was hatte man ihr nur angetan?, fragte Sartorius sich, als er sie hochzog und in den Arm nahm. Sie schlotterte wie Espenlaub und fühlte sich eiskalt an.
„Komm mit, Mädchen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Ihren Vornamen wusste er nicht und sie mit Fräulein Zamanka anzusprechen, erschien ihm zu unpersönlich. Vorsichtig zog er sie mit sich zum Streifenwagen und schob sie auf den Rücksitz des funkelnagelneuen Mercedes, der ganze Stolz der Dienststelle. Sofort setzte er sich auf den Fahrersitz und forderte über das Funksprechgerät Verstärkung und zwei DRK-Rettungswagen aus der Leopoldstraße in Daun an.
Zeitgleich mit dem Rettungswagen traf Kriminalmeisterin Janna Habena an der Martinskapelle ein. Sie verrichtete an diesem Feiertag Bereitschaftsdienst im Kriminalkommissariat Daun und war im Erstzugriff zuständig für alle Vorgänge, die das Einschalten der Kriminalpolizei erforderten.
Janna war todmüde. In der Nacht hatten Viele zu viel getrunken und selbst in einem ruhigen Örtchen wie Daun war es zu Randale zwischen einer Gruppe einheimischer Jugendlicher und Auswärtigen gekommen. Zudem hatte sich an der Lindenstraße ein Exhibitionist gezeigt. Nachdem sie mit den Kollegen von der Streife angekommen war, wurde schnell klar, dass es nur ein Besoffener war, der die Hose nicht schnell genug zubekommen hatte.
Zu guter Letzt hatten ein paar junge Leute „Autowackeln“ gespielt. Sie schaukelten geparkte Luxuslimousinen so lange hin und her, bis die Alarmanlage losging.
An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen.
Der Einsatz am Ostersamstagmorgen hatte zunächst geklungen, als sei ihre Anwesenheit nicht erforderlich. Alle glaubten, es handele sich um einen weiteren Spaß von Jugendlichen – bis der Funkspruch des Kollegen alle aufscheuchte.
In dem Streifenwagen der Bereitschaftspolizei auf dem Parkplatz bei der Kapelle saß Kollege Sartorius auf dem Rücksitz und hielt ein junges Mädchen in den Armen. Gerade winkte er die Rettungssanitäter weiter.
„Unten bei der Hütte liegt ein Junge, der schlimm verletzt ist. Ich warte mit Fräulein Zamanka auf den nächsten Rettungswagen.“
Janna kannte sich nach ihrer kurzen Dienstzeit von knapp drei Monaten noch nicht in der Dauner Umgebung aus. Hatte keine Ahnung, wo hier eine Hütte sein sollte. Also folgte sie den Sanitätern, die mit einer zusammengeklappten Trage über den Friedhof liefen. Im Eiltempo rannten sie weiter eine Erdtreppe runter, die mit ihren zu hohen hölzernen Setzstufen zum Stolpern einlud. Endlich sah sie vor sich eine Holzhütte und ein paar Meter entfernt am Ufer des Sees einen zweiten Streifenbeamten. Die Sanitäter waren gerade bei ihm angekommen, erstarrten aber mitten in der Bewegung.
Janna holte auf, erreichte sie und erstarrte ebenfalls. Einen Moment lang war sie zu schockiert, konnte weder sprechen noch denken.
„Was zum Teufel ist denn hier passiert?“, entfuhr es ihr, kaum, dass sie wieder ein Wort herausbekam.
Normalerweise ließ sie sich nicht so schnell aus der Fassung bringen, war selbst bei unappetitlichen Dienstaufgaben nicht empfindlich. Wollte allen Kollegen beweisen, wie hart sie im Nehmen war, härter als alle anderen zusammen. Doch hier fiel ihre sonst auch in den übelsten Situationen perfekt aufgesetzte Fassade der Standhaftigkeit in sich zusammen.
Gerade untersuchte der ältere Sanitäter einen Jungen, der rücklings auf einer halb nackten Mädchenleiche lag. Janna konnte unter ihr weitere Körper ausmachen. Als die Rettungssanitäter den Jugendlichen von dem Leichenberg runtergehoben und auf die inzwischen aufgeklappte Trage bugsiert hatten, war das ganze Ausmaß des Gemetzels zu erkennen.
Das Gesicht der nun zuoberst liegenden Mädchenleiche war im Gegensatz zu dem des Jungen völlig zertrümmert. Die Zähne waren aus dem Unterkiefer herausgebrochen, der Oberkiefer zerbrochen und der Schädel ein einziger Klumpen aus Fleisch und Blut. In dem vielen Rot leuchteten lediglich die Knochensplitter weiß. Zudem konnte Janna unzählige Messereinstiche im Hals und Nacken erkennen. Doch am schlimmsten war die mit Blut gefüllte leere Augenhöhle, da, wo eigentlich ihr rechtes Auge sein sollte.
Schräg unter ihr lag ein weiteres weibliches Opfer, eingehüllt in eine Decke. Nur der Kopf war sichtbar. Janna wünschte, er wäre bedeckt. So aber musste sie den Anblick des freiliegenden Schädelknochens und der Platz- und Schürfwunden am rechten Arm und Hals ertragen. Der Täter hatte das Mädchen fast skalpiert. Die blutigen Flecken auf der Decke zeugten von unzähligen Messerstichen in den Oberbauch. Sie hatte wohl versucht, sich mit ihrem rechten Arm zu schützen, den linken hatte sie nicht rechtzeitig aus der Decke winden können. Ob es ihr geholfen hätte, wagte Janna zu bezweifeln. Noch nie hatte sie solch eine unglaubliche Brutalität gesehen.
Das letzte Opfer schien männlich zu sein, das konnte man lediglich an dem Bürstenhaarschnitt erkennen, von dem Gesicht war nicht viel übrig geblieben. Janna entdeckte mehrere Einstiche in die Wangen und Nase.
Das war endgültig zu viel für sie. Janna rannte zum nächsten Busch und übergab sich.
Der mit der eilends in der Kriminalinspektion Trier, Abteilung K1, eingesetzten Mordkommission „Eifelmaar“ eingetroffene Gerichtsmediziner Dr. Wolfgang Heimann von der Rechtsmedizin der Universität des Saarlandes legte sich bei dem Todeszeitpunkt nicht eindeutig fest.
„Die Totenstarre ist vollständig eingetreten, also ist der Mord“, er runzelte die Stirn, „sind die Morde vor mindestens sechs Stunden begangen worden, mindestens. Nachts ist es ja noch richtig kalt, das könnte den Vorgang verlangsamt haben“, stellte er fest, während er versuchte, das Bein der zuoberst liegenden jungen Frau zu bewegen.
„Haben Sie schon Aufnahmen von den Toten gemacht? Kann ich sie bewegen?“
„Helge, komm mal rüber und schieß ein paar Bilder von der Toten hier“, wies Kriminalhauptkommissar Helmuth Berg, Leiter der Mordkommission und stellvertretender Kommissariatsleiter der Kriminalinspektion Trier, den mitgekommenen Erkennungsdienstler Helge Reuter an.
Drei tote und zwei schwer verletzte Jugendliche erforderten die ganze Erfahrung der Kripo und wer, wenn nicht Berg – nach fast fünfundzwanzig Jahren Dienstzeit, immer an der Front –, sollte das besser können? Sieben Jahre noch, dann war es vorbei, dann musste er seinen Platz räumen. Ihm graute schon jetzt davor.
„Jetzt dürfen Sie sie umdrehen, Doc“, erlaubte Berg nach fünf Minuten.
Vorsichtig legte der Gerichtsmediziner die Hand unter die Schulter der zuoberst liegenden Leiche und drehte sie, sodass ihr Rücken zu sehen war. Das Schulterblatt war blaurot angelaufen. Vorsichtig, als könne er ihr noch wehtun, drückte der Arzt zwei Finger in den Rücken.
„Die Totenflecken sind bereits fest.“
„Was bedeutet?“
„Dass sie vor mindestens zehn Stunden gestorben ist. Totenflecken sind erst danach unveränderlich.“
„Können Sie den Todeszeitpunkt noch genauer eingrenzen?“, hakte Berg nach.
„Wenn ich sie im Institut habe, werde ich die Restkörpertemperatur messen, dann wissen wir es wesentlich genauer. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen. Kommen Sie morgen früh ins Institut, dann erfahren Sie mehr.“
„Weiß jemand, wer die Jugendlichen sind?“, fragte Berg in die Runde der inzwischen eingetroffenen Beamten. Doch er erntete nur Kopfschütteln. Keiner mochte zu lange in die geschundenen Gesichter der gestern noch lebenden Teenager schauen.
„Ich glaube, einer der Kollege von der Streife, die als Erste vor Ort war, könnte sie kennen. Zumindest die Überlebende hat er mit Namen angesprochen.“
„Und wo ist der? Und wer sind Sie?“
Unwirsch betrachtete Berg die junge Frau vor sich. Groß und schlaksig war sie, die Arme viel zu lang und der Körper zu dünn. Die halblangen rotblonden Schlottenhaare machten sie auch nicht attraktiver. Zu allem Unglück trug sie eine dieser neuartigen ausgewaschenen Jeans, die aussahen, als wären sie zu oft bei neunzig Grad zusammen mit Bleiche gewaschen worden. Dazu einen kribbelbunten Pullover. Er war viel zu lang für den Anorak, der vorne verdächtige Flecken aufwies.
Berg schüttelte den Kopf.
Der Anblick der toten Jugendlichen setzte auch ihm zu, mehr als ihm lieb war. Er konnte es der jungen Beamtin nicht verdenken, dass sie sich übergeben hatte. Die kleinen Spuren von Erbrochenem auf ihrem Anorak und der säuerliche Geruch hatten sie entlarvt. Sie war wohl nicht die Einzige gewesen, der der Anblick zu viel war.
Davon abgesehen hatten Frauen an einem solchen Ort nichts zu suchen. Und trotzdem drängten sie in die Kripo und nahmen den Familienvätern die Arbeitsplätze weg. Ein Elend war das. Er würde ihr schon zeigen, dass sie sich selbst mit diesem Job überforderte.
„Janna Habena, Polizeimeisterin. Ich hatte Bereitschaftsdienst im Kriminalkommissariat Daun, als die Meldung reinkam. Der Kollege ist mit dem verletzten Mädchen ins Maria-Hilf-Krankenhaus gefahren. Sie war so verstört, dass sie ihn nicht loslassen wollte. Der Arzt meinte, es wäre besser, wenn er mitkäme.“
„Und der zweite Streifenbeamte?“
„Sitzt oben im Dienstwagen, ich hab ihn schon befragt. Er kannte die jungen Leute auch nicht. Ihm hat das Ganze schwer zugesetzt.“
„Kein Wunder, wer bleibt schon ruhig bei drei toten Teenagern? Gut, dann fahren Sie ins Krankenhaus und fragen den Kollegen nach den Namen der anderen Opfer. Irgendwie müssen wir mit dem Schlamassel hier weiterkommen. Außerdem will ich sofort informiert werden, wenn die beiden Überlebenden vernehmungsfähig sind. Machen Sie dem Arzt mal ein bisschen Dampf.“
„Könnte es sein, dass sie in Gefahr sind, wenn rauskommt, dass sie überlebt haben?“
Berg runzelte die Stirn. Möglich war alles in solch einem Fall.
„Und deshalb werden Sie diesen wunderschönen Ostersamstag im Krankenhaus verbringen. Sorgen Sie dafür, dass die beiden, falls möglich, nebeneinanderliegende Zimmer bekommen, und dann setzen Sie sich davor und bleiben sitzen, bis ich Ihnen eine Ablösung schicke. Und wenn die Ablösung da ist, werden Sie bleiben und aufpassen, ob einer der beiden was zu sagen hat. Ich erwarte Sie dann heute Abend gegen neunzehn Uhr im Präsidium zur Besprechung.“
Als Janna das Maria-Hilf-Krankenhaus erreichte, wurden die beiden überlebenden Opfer noch untersucht. Vor dem Untersuchungsraum für das Mädchen saß der Kollege Sartorius.
„Hat sich schon was ergeben?“
Sartorius schüttelte den Kopf. „Sie hat eine Beruhigungsspritze bekommen, hat gar nicht aufgehört zu schlottern, das arme Ding.“
„Kennen Sie die Opfer? Der Leiter der Mordkommission hat gefragt und ich dachte, weil Sie den Namen dieses Mädchens kannten, dass Sie vielleicht auch den Rest erkannt haben.“
Sartorius sah zu Janna auf, sein Blick war äußerst beunruhigt.
„Oh mein Gott, das Mädchen hier ist die Pfarrerstochter von der evangelischen Kirchengemeinde. Ich hab sie erst nicht erkannt. Und der junge Mann heißt Sebastian Hoffmann. Seinen Eltern gehört der örtliche Boschdienst. Dann werden die anderen auch Kinder aus dem Ort sein. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Ich muss hin und nachsehen. Meine Enkelin Karin ist mit der Zamanka in einer Klasse.“
Panisch sprang er auf, wurde von Janna jedoch wieder auf die Bank gedrückt.
„Ruhig Blut, rufen Sie von der Zentrale aus zu Hause an. Ich gehe mit Ihnen. Im Moment ist doch jemand bei ihr, oder?“
„Sicher, ein ganzes Team versorgt die beiden. Alle waren geschockt, als sie erfahren haben, was los ist.“
„Okay, dann los, ich muss gleich zurück. Hab den Auftrag, auf die beiden aufzupassen.“
„Aufzupassen?“ Ruckartig blieb Sartorius stehen.
„Man weiß ja nie, rein vorsorglich“, beruhigte Janna ihn.
An der Zentrale angekommen, erfuhren sie, dass die Telefone bereits heiß liefen. Alle machten sich Sorgen, wer die Opfer wohl waren, ob man sie kannte, ob man sie vermisste.
Sartorius verließ das Krankenhaus in Richtung Totenmaar, nachdem ihm seine Tochter versichert hatte, dass Karin friedlich in ihrem Bett schlief. Doch der Weg fiel ihm sichtlich schwer. Janna beneidete ihn nicht.
In der Zentrale veranlasste sie, dass die beiden Verletzten in nebeneinanderliegenden Krankenzimmern untergebracht wurden. Dafür verlegte man andere Patienten. Alle wollten helfen.
Dann setzte sie sich in den Gang vor den Untersuchungszimmern und wartete.
Eine Stunde später kam Chefarzt Dr. Bernhard Kuckartz aus dem Untersuchungsraum des Mädchens. Er hatte es sich nach seiner Aussage nicht nehmen lassen, sie höchstpersönlich zu untersuchen.
„Die Patientin ist noch nicht ansprechbar. Wir mussten ihr Beruhigungsmittel spritzen. Die Verletzungen sind nicht so schlimm, die sind in ein paar Tagen vergessen, hauptsächlich Schürfwunden und Kratzer. Aber sie wurde wohl vergewaltigt. Auf jeden Fall hatte sie kürzlich Geschlechtsverkehr, denn ihr Jungfernhäutchen wurde penetriert. Blut haben wir gefunden, ihr eigenes, aber Sperma war keins in der Vagina. Der Täter war offenbar sehr vorsichtig. Wir haben trotzdem einen Abstrich gemacht und ihr Höschen in eine Tüte gepackt. So ganz eindeutig ist der Befund der Vergewaltigung allerdings nicht. Wir haben keine Hämatome an den Oberschenkelinnenseiten gefunden. Das heißt aber nicht viel. Diese Spreizverletzungen sind kein absoluter Beweis, ihr Fehlen beweist also auch nicht das Gegenteil. Ihren Reaktionen nach muss sie jedenfalls Schreckliches erlebt haben. Wenn Sie mich fragen, war das eine Vergewaltigung, Beweise hin oder her.“
„Wann kann ich denn mit ihr sprechen? Wir sind dringend auf ihre Aussage angewiesen“, hakte Janna nach.
„Wie gesagt, die Patientin ist derzeit sediert. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn es so weit ist. Im Moment muss sie vor allem geschont werden.“
„Hat sie irgendetwas gesagt, mit dem wir was anfangen könnten?“
„Nein, erst war sie panisch, vor allem als wir den Polizeibeamten rausschickten, und jetzt ist sie apathisch. Sie braucht viel Zeit und die werden wir ihr gönnen, nicht wahr?“, setzte er mit einem vielsagenden Blick einen Schlusspunkt unter die Diskussion.
„Und wie sieht es bei dem jungen Mann aus?“
„Der ist deutlich schwerer verletzt und bewusstlos. Er hat wohl mehrere Schläge auf den Kopf bekommen. Gleich machen wir eine Computertomografie, um festzustellen, wie schlimm es tatsächlich ist. Ansonsten weist er lediglich Abwehrverletzungen an den Händen und Armen auf. Wenigstens hat er keine Schnitt- oder Stichverletzungen.“
Ein junger Schutzpolizist trat auf sie zu. Endlich kam die Ablösung, bestens.
„Kann ich mich zu der Patientin ins Zimmer setzen? Wir haben die Befürchtung, dass sie in Gefahr sein könnte.“
Schockiert sah der Chefarzt Janna an. „So schlimm ist es?“
Janna nickte.
„Okay, ausnahmsweise dürfen Sie sich zu ihr reinsetzen. Aber Sie werden sie nicht ansprechen und vor allem nicht bedrängen. Sobald sie aufwacht, rufen Sie einen Arzt, ist das klar?“
„Natürlich“, erwiderte Janna.
Ich schreckte hoch. Neben mir saß ein Mensch. Aber ohne meine Brille konnte ich nicht genau erkennen, wer es war. Panisch versuchte ich, von ihm wegzukommen. Unter das Bett zu flüchten, in dem ich lag, ohne zu wissen, wo und warum. Die Umgebung war mir fremd, alles in kaltem Weiß, ein gleichmäßiger Piepton hinter mir und eine Nadel in meinem Arm. Sie brannte bei der hektischen Bewegung höllisch. Der an ihr hängende Schlauch war gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich dachte, es würde gleich platzen. Dabei war meine Brust zu eng, ich bekam kaum Luft. Das Hemd, das ich trug, war in Sekunden klatschnass.
Nur weg, war alles, was ich denken konnte. Nur weg.
„Ruhig, ganz ruhig, ich ruf sofort einen Arzt“, hörte ich hinter mir. Doch die fremde Stimme beruhigte mich nicht. Ein Schrei suchte sich seinen Weg, hing aber unter meiner zu engen Brust fest. Ich fing an zu japsen, glaubte, zu ersticken. Ich sterbe, war mein letzter Gedanke. Dann sackte ich weg.
Ich tauchte wieder auf aus dem Nirgendwo. An den weißen Raum konnte ich mich erinnern. Auch an den fremden Menschen in dem Zimmer. Panisch warf ich einen Blick in die Richtung, in der er gesessen hatte, und schoss hoch, bereit zur Flucht. Und tatsächlich saß er noch immer da. War nicht verschwunden, wie es nach Albträumen der Fall ist.
Doch irgendetwas lähmte mich. Meine Angst vor ihm war da, aber ich konnte mich nicht rühren. Vorsichtig warf ich einen weiteren Blick in seine Richtung. Jetzt hatte er bemerkt, dass meine Augen offen waren. Ganz ruhig blieb er sitzen, bewegte sich nicht. Versuchte nicht, zu mir zu kommen. Trotzdem wollte ich weg, weg aus diesem Zimmer und vor allem weg von ihm.
In diesem Moment öffnete sich eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Herein kam eine weiß gekleidete Frau; alles, was weiter entfernt war, konnte ich deutlicher sehen. Mein müdes Hirn flüsterte mir den Begriff ‚Krankenschwester‘ zu. Krankenschwester? Hatte der Mensch nicht von einem Arzt gesprochen?
Ich war nur einmal im Leben im Krankenhaus gewesen. Das war lange her, als mein Großvater starb. Der Geruch hier und das viele Weiß erinnerten mich daran.
Langsam sackte die Erkenntnis in mein Bewusstsein. Ich war in einem Krankenzimmer. Warum nur? Doch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, trat die Krankenschwester an mein Bett und strich sanft über meinen Kopf.
„Ganz ruhig, du bist hier in Sicherheit.“
Ich bekam besser Luft, musste nicht mehr japsen.
„So ist’s gut. Tief durchatmen, wir wollen dir alle nur helfen.“
Ich sank etwas entspannter zurück aufs Bett. „Und wer ist das da?“, flüsterte ich ihr zu. Sie durfte mich nicht mit dem fremden Wesen allein lassen.
„Das ist eine ganz liebe Polizeibeamtin, die aufpasst, dass dir nichts passiert. Sie ist dein persönlicher Schutzengel.“
Schutzengel? Das klang gut. Auch wenn ich nicht wusste, wovor sie mich beschützen sollte.
„Haben Sie meine Brille? Ich kann fast nichts sehen.“
„Nein, aber ich werde deine Eltern danach fragen.“
Meine Augen fielen wieder zu. Alles wurde ruhig um mich herum und ich schlief ein.
Das Schlagen einer Tür weckte mich. Ruckartig setzte ich mich auf. Wo war ich nur? Hektisch sah ich mich um, erkannte wieder den fremden Menschen auf einem Stuhl links von mir an der Wand. Ich versuchte wegzukommen, aus dem Bett zu springen, doch alle Bewegungen fühlten sich an wie in Zeitlupe. Das Bein, das ich über die Bettkante schwang, brauchte gefühlte Minuten, bis es den eiskalten Fußboden berührte. Richtig aufsetzen konnte ich den Fuß nicht mehr, zwei Hände rissen mich zurück. Ich fing an zu schreien, schrie um mein Leben. Irgendjemand setzte mir meine Brille auf und da erkannte ich das Wesen als junge Frau. Noch ein paar Japser und ich hatte mich so weit beruhigt, dass ich wieder Luft bekam. Ich erinnerte mich wieder an den Schutzengel.
Die Tür öffnete sich.
„Was ist los? Soll ich einen Arzt holen? Braucht sie mehr Beruhigungsmittel?“, hörte ich hinter mir.
„Nein“, sagte die junge Frau an meiner Seite, „ich glaube, sie kommt jetzt ohne aus, oder?“
Ich nickte und ließ mich zurück auf das Bett sinken.
„Weißt du, warum du hier bist?“
Ich schüttelte erneut den Kopf. Mein Hirn arbeitete so langsam, dass ich die Bilder, die mir durch den Kopf schossen, kaum halten konnte.
Nur eine Folge von Wörtern erschien in diesem Gewirr ganz klar: See, Stein, rot, See, Stein, tot.
Was hatte das zu bedeuten? Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
„Können wir reden?“, hörte ich die junge Frau fragen.
Mein Mund war wie zugeschweißt. Nichts konnte ich über die Lippen bringen.
Ich schloss die Augen.
Aus großer Ferne hörte ich eine Männerstimme. „Wir werden die Anxiolytika und Schlafmittel jetzt langsam runterfahren. Bis dahin müssen Sie sich gedulden.“
Eine Frauenstimme erwiderte: „Wir brauchen unbedingt ihre Zeugenaussage. Ohne die kommen wir nicht weiter. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was passiert ist, ob weiter Gefahr für sie oder andere besteht. Das müssen Sie doch verstehen.“
„Fräulein Habena, ich habe vollstes Verständnis für Ihre Situation. Aber hier geht es um meine Patientin. Und die braucht Ruhe. Sie wurde geschlagen und vergewaltigt. Wer weiß, was sie alles durchmachen musste. Ich werde nicht zulassen, dass Sie sie mit Ihren Fragen zu früh zurück in diese Hölle schicken.“
Als ich das nächste Mal aufwachte, hielt meine Mutter meine Hand, ich fühlte mich nicht mehr wie unter Wasser. Die junge Polizistin war noch immer da.
„Erinnerst du dich, was passiert ist?“, hörte ich Mutti fragen. Dabei tätschelte sie meine Hand.
Ich schüttelte den Kopf.
„Kannst du dich daran erinnern, dass du mit deinen vier Freunden am Weinfelder Maar zelten warst?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich und Freunde? Das konnte nicht sein. Ich war doch immer allein, niemand wollte mich in seiner Clique haben. Das musste ein Irrtum sein. Ich schloss die Augen, mein Hirn war noch nicht bereit, das Denken wieder aufzunehmen.
„Bitte, wir brauchen ganz dringend deine Hilfe. Denk nach, das kannst du doch nicht vergessen haben. Britta, Anette, Marc und Sebastian waren mit dir am See.“
Sebastian! Etwas zog sich in mir zusammen. Und dann kam mit einem Schlag die Erinnerung, wie ein Faustschlag in den Magen.
Der Tag war drückend heiß, ganz ungewöhnlich für April. Dieses Jahr lag Ostern kurz vor dem Maianfang. Ein idealer Tag zum Zelten, dachten wir. Was für ein Irrtum!
Es verblüffte mich schon, dass die sagenhafte, umworbene Britta und Anette, die als Erste in unserer Klasse einen festen Freund hatte, ausgerechnet mich, das Klassenpummelchen, fragten, ob ich mitmachen wollte. Natürlich wollte ich. Nichts lieber als das.
Immer hatte ich am Rande gestanden, war ausgeschlossen gewesen, wenn beim Handball die Mannschaften ausgewählt oder in den Pausen auf dem Schulhof heimlich die ersten Zigaretten rumgereicht wurden. Klar, ich war schließlich nicht nur fett, ich war auch noch die Tochter des Pfarrers. Langweiliger ging nicht. Im Klassenzimmer unseres altehrwürdigen Thomas-Morus-Gymnasiums saß ich meistens allein, es sei denn, ein neuer Mitschüler wurde eingeführt. Der musste neben mir sitzen.
Wenn andere kicherten, stand ich allein in der Ecke und starrte in irgendein Buch, das ich vorgab zu lesen. Das gelang mir nie. Über den Rand lugte ich zu den anderen. Doch als wäre die Buchoberkante ein Stacheldrahtzaun, schaffte ich es nie, die Grenze zu überwinden und zu den anderen zu kommen.
Als Britta letztes Jahr in unsere Klasse kam, landete sie wie alle Vorgänger zunächst neben mir. Das Niveau der Neuen ließ sich daran ablesen, wie schnell sie von diesem Platz wieder verschwanden. Bei Britta dauerte es nur einen Tag, das war neuer Rekord. Und sie hatte die Wahl zwischen dem Platz neben Heike, unserer Klassensprecherin, und dem bei Anette. Es wurde später viel spekuliert, warum sie sich ausgerechnet neben Anette setzte, doch eins steht fest: Die beiden hatten sich gesucht und gefunden. Sie hingen nur dann nicht zusammen ab, wenn Anette bei ihrem Freund Marc war. Gerüchten zufolge war aber auch das nicht immer der Fall.
Zu gerne hätte ich neben Anette gesessen. Nicht nur, weil ich dann auf der Beliebtheitsskala in der Klasse ganz oben gestanden hätte, sondern auch, weil Anettes Freund Marc der beste Freund von Sebastian war. Und Sebastian war der Hit. Alle Mädels schwärmten ihn an, nicht nur ich. Mit seiner Größe von einsneunzig und einem Körper, der der Marmorstatue des Hermes von Praxiteles perfekt glich, wie Maren, unsere Klassenbeste, einmal feststellte, war er ein Adonis. Er hatte gerade das Abitur bestanden und uns unglücklich im Pausenhof zurückgelassen, auf dem wir ihm jeden Tag mit schwärmerischen Blicken gehuldigt hatten. Natürlich hatte er uns nicht wahrgenommen.
Selbstredend hatte ich nicht die geringste Chance bei Sebastian, doch träumen durfte ich von ihm, und das machte ich ausgiebig. Überhaupt verbrachte ich die Tage damals am liebsten mit Träumen. Was hätte ich auch sonst unternehmen sollen, so allein?
Und dann geschah das Wunder: Britta, die große Britta, von allen geliebt und umschwärmt, fragte mich, ob ich mit ihr und Anette zusammen eine Nacht zelten wollte. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Ohne meinen gestrengen Vater zu fragen, sagte ich sofort zu. Endlich dazugehören! Das würde ich mir von ihm nicht verderben lassen. Gottlob – eigentlich durfte ich dieses Wort wegen ihm nie gebrauchen, war es doch in seinen Augen bereits blasphemisch – stand meine Mutter immer hinter mir. Sie hatte wohl ein schlechtes Gewissen, weil ich äußerlich nach ihr schlug und mein Vater sie sicherlich nicht wegen ihres Aussehens geheiratet hatte. Dafür hatte ich seine Haare geerbt, das einzig Hübsche an mir: lange blonde, leicht gewellte Rauschgoldengellocken. Leider zwang er mich, sie immer als strengen Dutt zu tragen.
Mutter erlaubte mir sofort, mit den beiden Mädchen zu zelten, und erklärte sich auch bereit, das meinem Vater beizubringen. Ich hatte den Verdacht, dass sie ihm nicht ganz die Wahrheit sagte. Doch das war mir egal. Zu viel stand auf dem Spiel: meine Chance, endlich dazuzugehören.
Ich war total aufgeregt, als ich zu Brittas Eltern eingeladen wurde. Gesichtskontrolle, wie sie es kichernd nannte. Was sie damit meinte, verstand ich damals noch nicht. Brav erschien ich zum Nachmittagstee und stellte mich vor. Ganz entzückt von der Vorstellung, dass ihre Tochter mit der Pfarrerstochter befreundet war, gestatteten sie ihr die Nacht am See. Gemeinsam berichteten wir Anettes Eltern von der Erlaubnis, sodass sie ihrer Tochter die Zustimmung nicht mehr verweigern konnten.
Und so planten und kicherten wir gemeinsam. Gemeinsam, ein großes Wort, wenn man das Gefühl nicht kennt. Brittas Vater stellte ein kleines Spitzdachzelt zur Verfügung und Anettes Eltern stifteten den Propangaskocher, auf dem wir die vorher von ihrer Mutter zubereitete Linsensuppe erhitzen konnten. Mein Vater gab uns seinen Segen.
Dem Gottesdienst am Gründonnerstag zur Einsetzung des Abendmahls durch Jesus konnte ich nur mit Mühe folgen, in der Nacht zu Karfreitag kaum schlafen. Ich sollte mit den beiden zelten. Darum hätten sich alle Mädels in der Klasse gerissen, die Jungs natürlich auch. Wahnsinn!
Wir waren um fünf Uhr nachmittags verabredet. Eigentlich war das Zelten am Weinfelder Maar verboten. Deshalb hatten wir unseren Eltern auch nicht erzählt, wo genau wir zelten würden. Aber abends war es dort immer leer, außer jungen Leuten traute sich niemand bei Dunkelheit dorthin. Unter ihnen galt eine Nacht dort als Geheimtipp. Wegen der Nähe zum Wasser mit dem angeblich mit Mann und Maus versunkenen Schloss sowie des nahen Friedhofs konnte man sich in der Eifel keinen unheimlicheren Ort nachts vorstellen. Das machte den großen Reiz für die Teenies aus, die sich einen Spaß daraus machten, sich beim Lagerfeuer Gruselgeschichten zu erzählen. So hatte ich zumindest gehört.
Die beiden holten mich zu Hause ab. Wir waren schwer beladen. Jede trug einen Rucksack, gemeinsam und abwechselnd trugen wir das Zelt zwischen uns. Was hoffte ich auf Klassenkameraden auf dem Weg zum Maar, damit sie sehen konnten, dass ich nicht mehr die Außenseiterin war. Und tatsächlich trafen wir einige. Alle blieben mit offenen Mündern stehen, konnten nicht glauben, dass ich, ausgerechnet ich, dabei sein durfte.
Zwei Kilometer waren es. Ich kann mich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein als in jener Stunde auf dem Weg zum Weinfelder Maar – dem Totenmaar.
Bald schon kamen die sanften Hänge, bewachsen mit Eifelgold – dem im Sonnenlicht golden blühenden Besenginster – in Sicht. Dieses Jahr war er früh dran wegen der unerwarteten Wärme. In der Senke unter uns lag das türkis scheinende Wasser des Maares.
Als Zeltplatz suchten wir uns den kleinen Rastplatz schräg unterhalb der Martinskapelle mit dem alten Friedhof aus. Ich stolperte mehrfach über die Erdstufen, deren Setzstufen aus altem Holz ein wenig die Kanten überragten. Britta zog genervt die Augenbrauen hoch, ich errötete. Irgendwie schaffte ich den Rest des Weges ohne Straucheln. Erleichtert setzte ich das Zelt vor der alten Holzhütte mit Bank ab. Knapp unterhalb erkannte ich ein nettes lauschiges Uferplätzchen, ideal zum Zelten.
Britta zog sofort ihre Schuhe aus und stapfte in das eiskalte Wasser.
„Herrlich“, verkündete sie ihrer Gänsehaut zum Trotz. Als sie auch Hose und Bluse auszog, unter denen ein knapper, knallgelber Bikini zum Vorschein kam, hatte ich Gelegenheit zu studieren, was uns unterschied. Ihre Beine waren vorgebräunt und ohne diese unansehnlichen Haare, die bei mir munter sprossen und die abzurasieren mein Vater strikt verbot. Um ihre gertenschlanke Taille und die großen runden Brüste hätten sie Supermodells beneidet. Mit ihrem modisch halblangen Haar, stets leicht verwuschelt, als käme sie frisch aus dem Bett, ähnelte sie Brigitte Bardot in deren besten Zeiten.
Errötend und neidisch wandte ich den Blick ab. Damit die beiden meine Verlegenheit nicht bemerkten, fing ich an, das Zelt aus seinem Sack zu ziehen.
Ich hatte es noch nicht ausgebreitet, da vernahmen wir Motorengeräusch. Verwundert mich aufrichtend, erhaschte ich einen vielsagenden Blick zwischen Britta und Anette. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, hörten wir, wie sich jemand näherte.
„Auweia, das gibt Ärger“, stellte ich fest in der Annahme, dass wir nun von unserem trauten Plätzchen vertrieben würden. Ich hoffte nur, dass mein Vater das nicht mitbekam.
„Ach was, bleib cool“, erwiderte Anette.
Erstaunt sah ich auf dem Weg zwei Männer näher kommen. Bei einem genaueren Blick durch meine stets leicht verschmierte Brille erkannte ich Marc und dahinter – Sebastian. Ich konnte es nicht fassen, da kam mein Traummann des Weges. Sofort lief ich puterrot an und blickte entsetzt und hilflos zu den beiden anderen. Doch die taten so, als wäre es das Normalste der Welt, dass die Jungs kamen. Verblüfft und enttäuscht verstand ich, auf einen Schlag wurde mir meine Rolle an diesem Karfreitag bewusst: ich war nur das Alibi, die Garantie für die Eltern der beiden Mädels, dass alles okay war.
Ich hätte heulen können. Doch sofort war mir klar, dass ich das nicht tun durfte, wenn ich nicht den letzten Rest von Akzeptanz in der Klasse verlieren wollte. Alle hatten uns zusammen gesehen. Ich musste also nur die Klappe halten und mitmachen, was auch immer. Keiner durfte merken, dass ich nur geduldet war – wie immer. Zudem hatte ich die einmalige Chance, Sebastian einen Abend lang nahe zu sein.
Natürlich hatten auch sie ein Zelt und Rucksäcke dabei. Wenigstens zogen die Mädels eine Show vor mir ab, in der sie die Überraschten spielten mit viel „Na so was, was macht ihr denn hier?“ und „Was ein Zufall!“.
Ich spielte mit.
Gemeinsam bauten wir die Zelte auf. Dann zog auch Anette ihren Badeanzug an und die Mädchen gingen unter lautem Geschrei ins Wasser. Sebastian und Marc zückten große Messer und fingen an, sich Angeln zu schnitzen. Doch kaum standen sie in der Nähe des Wassers, spritzte Britta beide nass. Sofort entledigten sich die Jungs ihrer Klamotten und eilten zu den Mädels ins Wasser. Unter lautem Gejohle tobten sie, spritzen sich nass und tauchten sich unter. Neidisch beobachtete ich von meinem sicheren Platz bei unserem Zelt, wie Britta von Sebastian immer wieder umarmt und hochgehoben wurde. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Das musste ich mir dringend abgewöhnen.
Klar war er an Britta interessiert, wie alle anderen Jungs auch. Wie hätte es auch anders sein können? Dabei war sie doch Michaels Freundin. Das wusste ich, weil der neben uns wohnte und ich die beiden öfter heimlich Händchen haltend beobachtet hatte.
Plötzlich schossen Marc und Sebastian aus dem Wasser auf mich zu. Ehe ich michs versah, packten sie mich an den Beinen und Armen und schaukelten mich dicht am Ufer hin und her. Meinem Geschrei zum Trotz ließen sie irgendwann los und ich landete unsanft im eiskalten Wasser. Natürlich verschluckte ich mich und bekam kaum Luft in die Lungen, bevor ich versank. Kurz schaffte ich es zurück an die Oberfläche, nur um gleich wieder unterzugehen. Niemandem in der Klasse hatte ich erzählt, dass ich nicht schwimmen konnte.
Wild um mich schlagend versuchte ich, Boden unter die Füße zu bekommen, doch vergebens. Das Totenmaar senkte sich gleich am Ufer in seine stolze Tiefe. Ich bekam keine Luft mehr, wollte schreien. Strampelte hilflos mit Armen und Beinen, sank immer tiefer.
Fast schon besinnungslos spürte ich, wie ich an den Haaren nach oben gezogen wurde. Viel zu früh öffnete ich meinen Mund zum Schrei, bekam Wasser in die Kehle und Luftröhre, prustete, noch immer unter Wasser, glaubte, nun habe meine letzte Stunde geschlagen. Im letzten Moment schoss mein Kopf aus dem See, bevor ich die Besinnung verlor.