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Familienmord auf Föhr: Hochspannend und atmosphärisch erzählt. In einer Holzhütte auf Föhr werden fünf Tote entdeckt. Sie gehörten alle derselben Familie an. Gemeinsam mit Polizeianwärterin Maja Storm rekonstruiert Kriminalhauptkommissar Jan Andretta die Tat und stellt sich die Frage, wer der fünf das eigentliche Ziel des Mörders war. Doch sie kommen der Lösung erst näher, als ein sechster Toter gefunden wird – und sich die verworrenen Spuren zu einem erschreckenden Bild zusammensetzen.
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Seitenzahl: 367
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Eva-Maria Silber, geboren 1959 an der ehemaligen Zonengrenze, studierte Jura in Gießen und arbeitete als Hauptgeschäftsführerin eines Bundesverbandes, Rechtsanwältin und Strafverteidigerin in und um Frankfurt am Main. Seit 2010 schreibt sie Krimis und Thriller an der Nordsee und im Harz.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Der »Wald« auf Föhr ist nicht so groß wie geschildert, und es hat auf der Insel auch keinen Waldbrand gegeben. Noch nicht!
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: stock.abobe.com/DreamLight-Pictures, stock.adobe.com/Matthias
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-084-6
Insel Krimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören, Berlin.
Wo nun so viele Bäume stehen,Lag ehemals ein Heideland,Kein grünes Blättchen war zu sehen,Nur Steine, Wasser oder Sand.
Wie anders ist das doch geworden!Im schattgen Grund am MeeresstrandZeigt sich dem Auge hoch im NordenHeut unser liebes Inselland.
Ihr Männer, die ihr das errungen,Euch danken wir, euch Preis und Ehr!Ihr habt manch Vorurteil bezwungenAuf unserer schönen Insel Föhr.
Sodass wir mutig weiter bauen!Was heut geschenkt uns der Verein,Als euer Denkmal sollen schauenDie Enkel einst den Lembke-Hain.
Ein Mitglied des Heidekulturvereins in Wyk auf Föhr, 1902
Am Abend, als die Luft durch den leichten Regenschauer endlich auf wohltuende zwanzig Grad abgekühlt war, erinnerte sich Maja Storm daran, dass der Morgen so verheißungsvoll begonnen hatte: schwül und doch samtig, mit einem Hauch von Tanggeruch vom nahen Meer, voller Versprechungen, die nur ein Sommertag einem einflüstern konnte. Nichts hatte sie, die vier Monate zuvor zur Polizeimeisterin ernannt und zum Bäderdienst auf Föhr abgeordnet worden war, auf das vorbereitet, was an diesem Tag ihr Leben nachhaltig verändern sollte.
Der Polizeifunk knisterte, dann hörten sie und Thorsten, ihr Kollege auf Streife und ebenfalls als Absolvent der Polizeischule im Bäderdienst, die Stimme von Hartmut in der Einsatzzentrale: »Einsatz in Witsum, fahrt mal hin und schaut nach, was da los ist. Eine junge Frau, Kristina Gösling, vermisst ihre Eltern und hat bei der Suche nach ihnen Blut entdeckt. Nehmt die Traumstraße, bis ihr die Strunwoi von Borgsum passiert habt. Ein paar Meter weiter geht links ein Weg ab. Dort müsstet ihr sie schon sehen. Sie wartet auf euch.«
Zum ersten Mal fuhren zwei Bäderdienstler gemeinsam Streife. Bisher mussten sie den Streifendienst zusammen mit einem dienstälteren Kollegen absolvieren, der sich vor Ort auskannte und mehr Berufserfahrung hatte. Maja war das nur recht gewesen.
Thorsten nutzte die Gelegenheit, das Blaulicht einzuschalten und wie ein Irrer zu rasen. Maja sagte nichts dazu, sie würde ja doch nur wieder die Frage zu hören bekommen, ob sie ihn anschwärzen wolle.
Schon von Weitem sahen sie eine junge Frau winken, die wenige Kilometer hinter den letzten Häusern von Nieblum an einer Abzweigung zu einem Feldweg auf sie wartete. Neben ihr standen ein Mann, etwas älter und einen Kopf größer, und ein blauer VW Polo.
Thorsten bog ein und bremste. Dann ließ er sein Fenster runter.
»Was liegt an?«, fragte er wenig originell und professionell.
»Meine Eltern. Da.« Sie wies auf eine Hütte, die knapp zweihundert Meter entfernt am Rand eines Kiefernwäldchens lag. »Wir waren verabredet. Den gestrigen Tag wollten sie hier verbringen, heute waren wir zu Hause in Flensburg verabredet. Aber sie waren nicht da, als wir kamen. Sie hatten uns zum Mittagessen eingeladen. Ich habe sie weder auf dem Handy erreicht, noch hat sie jemand aus der Nachbarschaft seit vorgestern gesehen. Da haben wir kurzerhand die Fähre genommen und sind rübergekommen.«
»Und, sind sie hier?«, fragte Thorsten.
Die junge Frau, Maja schätzte sie auf Anfang zwanzig, zuckte die Schultern und schaute hilfesuchend zu dem Mann neben ihr. »Ich weiß es nicht. Ihr Wagen ist nicht da. Der ist eigentlich immer vor der Hütte geparkt, wenn sie hier sind. Wir haben vor der Hütte dunkle Flecken im Gras entdeckt, die wie Blut aussehen. Und das hier.«
Sie hielt ihnen eine Patronenhülse entgegen. Ihrer Größe nach gehörte sie zu einem Gewehr. Die beiden Polizeiobermeister sahen sich an, verunsichert, was das zu bedeuten hatte.
»Gut«, verkündete Thorsten, »wir sehen uns das mal an. Bleiben Sie so lange hier.«
Im Schritttempo näherten sie sich der selbst zusammengezimmerten Hütte, die erhöht auf Betonsockeln kurz vor Witsum, dem kleinsten Dorf auf Föhr, stand. Nur wenige hundert Meter trennten sie vom Meer. Braune Holzwände, eingedeckt mit roten Eternitplatten. Ein Fenster mit geöffneten, bläulich gestrichenen Fensterläden, das auf die angebaute ebenfalls hölzerne Terrasse wies. Ein weiteres, bis zu dem der Vorbau nicht reichte, hinter zugeklappten Läden verborgen. Am Geländer hingen Blumenkästen, gefüllt mit üppig blühenden magentafarbenen Geranien.
Thorsten parkte daneben. Sie stiegen aus und sahen sich um. Auf den Steinplatten vor der geschlossenen Hüttentür lagen Pappen. Ein paar Meter weiter entdeckte Maja im Gras sechs Patronenhülsen neben dunkelroten Flecken. Sie zeigte darauf.
»Was machen wir?«, fragte sie ihren Kollegen. »Sollen wir Verstärkung rufen?«
Thorsten ließ den Blick über die Umgebung schweifen. »Ist ein bisschen wenig. Wir sollten uns erst noch genauer umsehen, sonst machen wir uns vielleicht lächerlich.«
»Wenn das ein Tatort ist, besteht die Gefahr, dass wir ihn verunreinigen. Dann bekommen wir richtig Ärger«, konterte Maja.
»Auch wieder wahr. Schließen wir einen Kompromiss und umrunden die Hütte. Vielleicht entdecken wir ja was. Das Blut und die Hülsen könnten ja auch von einem Jäger stammen, der Karnickel oder so was geschossen hat.«
Da war was dran. In der letzten Zeit hatte es häufiger Anzeigen wegen des illegalen Abschießens von Hasen, die sich auf der Insel zur Plage entwickelt hatten, gegeben.
Sie traten näher an die Eingangstür der Hütte. Die Pappen wirkten seltsam in dieser Idylle, die ansonsten so gepflegt erschien. Bevor sich Maja bremsen konnte, schob sie eine mit dem Fuß vorsichtig ein Stückchen weg. Eine in der Sonne rot glänzende Pfütze kam zum Vorschein. Hastig zog sie ihren Fuß zurück.
»Das ist zu viel Blut für einen Hasen«, verkündete sie. »Da muss tatsächlich etwas passiert sein. Lass uns nachschauen, vielleicht braucht jemand dadrin Hilfe.« Sie wies mit dem Kopf auf die Hütte.
Sie entriegelte die beiden Sicherungen ihrer Dienstwaffe am Holster mit Daumen und Zeigefinger. Vorsorglich, wie sie sich selbst Mut machte. Dann zog sie einen Handschuh über und drückte den Griff der Tür an den seitlichen Kanten nach unten, bemüht, möglicherweise vorhandene Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Abgeschlossen.
Vielleicht konnte sie ja durch eines der Fenster erkennen, ob in der Hütte alles in Ordnung war. Sie stieg die zwei Stufen zur Terrasse, die nach Süden in Richtung Meer ausgerichtet war, hinauf, doch ein unter dem Fenster liegender zusammengerollter Teppich versperrte den Weg. Sie versuchte, ihn wegzuziehen, aber er war zu schwer.
»Los, pack mal mit an, ich bekomme ihn nicht weg, und so kann ich nicht reinschauen«, forderte sie Thorsten auf.
Ihr Kollege packte das andere Ende, und sie zogen gleichzeitig. Doch der Teppich wickelte sich auf statt weg von der Wand. Beide sprangen mit einem Aufschrei zurück, als der leblose Körper einer Frau zum Vorschein kam. Barfuß, in ein längs gestreiftes Kleid gekleidet, das ordentlich bis zu den Knien heruntergezogen war, lag sie bäuchlings auf einer Wolldecke. Ihr linker Arm war unter dem Körper eingeklemmt. Der Kopf der Frau war mit einem gepunkteten Tuch abgedeckt, das blutgetränkt war, unter ihm hatte sich ein großer Blutfleck gebildet.
Das war nicht die erste Leiche, der Maja im Rahmen ihres Jobs begegnete. Doch die Auffindesituation, die Wehrlosigkeit der Frau in dieser idyllischen Umgebung, gravierte sich in ihr Gedächtnis ein wie ein Kupferstich.
Hektisch schaute sie sich um. Versteckte sich hinter den Büschen und Bäumen der Mörder? Zielte er gerade auf sie? Sie standen ungeschützt, während er sich in den dicht gewachsenen immergrünen Sträuchern verbergen könnte. Oder war ihre Sorge unbegründet? Sie hockte sich neben die Leiche. Das Blut sah geronnen aus. Die Frau hatte also vor längerer Zeit aufgehört zu bluten. Trotzdem!
»Wir müssen prüfen, ob sich der Schütze noch in der Nähe versteckt«, flüsterte sie Thorsten zu.
Sein Blick flackerte, dann schaute auch er sich hastig um, nickte und entsicherte seine Waffe. Beide huschten gebückt jede Deckung nutzend auf das Gebüsch neben der Terrasse zu. Schoben sich durch dornige Brombeeren und gelb leuchtende Ginsterbüsche. Sie kamen kaum durch. An einer Stelle, von der aus sie durch eine Blätterlücke den Eingang im Blick hatten, waren unter einer Kiefer die wenigen Grashalme, die der Trockenheit des Frühsommers und dem Schatten der Baumkronen getrotzt hatten, umgeknickt, der Zweig eines Rhododendrons abgeknickt. Beide atmeten durch.
»Keiner mehr da«, verkündete Thorsten. »Schauen wir hinten nach.«
Auf der anderen Seite der Holzhütte, die nach Norden in Richtung Witsum ausgerichtet war, entdeckten sie auf dem Sandboden vor einer zweiten Tür weitere Patronenhülsen. Fassungslos sahen sie sich an.
»Ruf die Zentrale. Wir brauchen dringend Unterstützung.«
Maja nickte, sicherte ihre Waffe und schob sie zurück in das Holster.
»Beeilt euch«, bat sie Hartmut in der Wyker Polizeistation, »es wird noch ein Mann vermisst, und hier ist alles voller Blut und Gewehrhülsen.«
Thorsten war inzwischen damit beschäftigt, Kristina, die zusammen mit ihrem Freund zur Hütte geeilt war, daran zu hindern, auf die Terrasse zu stürzen. An ihrer Reaktion hatte die junge Frau wohl erkannt, dass etwas entdeckt worden war. Nicht verhindern konnte er, dass sie die Leiche sah.
Zwischen Weinkrämpfen und panischem Schluchzen berichtete sie, dass ihre Eltern am Vortag in der Hütte mit ihrer Tante und den beiden Cousins verabredet gewesen waren. Immer wieder rief sie nach ihrem Vater.
Keine zehn Minuten später traf ein Streifenwagen mit Blaulicht und eingeschaltetem Martinshorn ein. Am Lenkrad saß Herrmann Adickes höchstpersönlich, Leiter der Polizei-Zentralstation Föhr. Er war es, der die Treppenstufen zur Terrasse hochstieg und die Tote wieder mit dem Teppich notdürftig bedeckte, nachdem er sie genau inspiziert hatte.
»Was ein Schlamassel, und das auf unserer Insel. Rufen wir die große Besatzung vom Festland.«
»Es wurden zwei Personen als vermisst gemeldet. Müssen wir nicht den Ehemann suchen? Vielleicht braucht er Hilfe«, sagte Maja.
»Oder Martin Gösling war das, hat seine Ehefrau erschossen«, konterte Adickes. »Bring erst mal die Tochter mit ihrem Freund hier weg. Die muss ja nicht alles mitbekommen. Hast du nicht gesagt, dass der Familienwagen hier parken müsste?«
Maja nickte.
»Vielleicht ist der Ehemann damit abgehauen, als ihm klar wurde, was für eine Scheiße er gebaut hat.«
Nachdem sie Kristina und ihren Begleiter zu deren Wagen an der Abbiegung bugsiert hatte, kehrte sie zurück zu der Gruppe, die sich um die Eingangstür der Hütte geschart hatte. Adickes hatte zusammen mit Thorsten die auf dem gepflasterten Weg liegenden drei Pappen weggehoben. Zum Vorschein war eine riesige Blutlache gekommen. Von ihr führte eine Schleifspur zu den beiden Stufen, an deren linker Treppenwange ebenfalls eine rote Verfärbung zu erkennen war. Maja und Thorsten hatten sie vorher nicht bemerkt.
»Vielleicht sollten wir doch besser nachschauen, ob der Mann hier irgendwo steckt und Hilfe braucht«, verkündete Adickes, nachdenklich an seinem Kinn kratzend.
Ihr Vorgesetzter stieg vorsichtig, ohne in die Blutlache zu treten, hoch zur Tür und versuchte ebenfalls, sie zu öffnen.
»Abgeschlossen. Maja, frag die Tochter, ob sie weiß, wo der Schlüssel ist«, wies er sie an.
Wieder eilte sie zurück zu Kristina.
Zwischen zwei Schluchzern beschrieb sie, dass immer ein Reserveschlüssel hinter dem Betonpfeiler rechts neben der Tür deponiert war.
Adickes hangelte nach dem Schlüssel, der tatsächlich an der beschriebenen Stelle lag. Erneut stieg er eine Stufe hoch und schloss auf. Die Tür schwang nach links außen auf und gab den Blick auf eine rustikale Küche mit einem kleinen Küchentisch frei.
Doch niemand achtete auf das Mobiliar, alle starrten auf den Kopf einer älteren Frau, der in Richtung Tür wies. Weiße Haare und ein verzerrtes Gesicht, in dessen Stirn ein schwarzes Loch wie ein Zyklopenauge mitten zwischen den Augen eingestanzt war.
Adickes wich einen Schritt zurück, ohne daran zu denken, dass er auf einer Stufe stand. Thorsten stützte ihn im letzten Moment. Dann erkannte er, wovor sein Chef zurückgeschreckt war, und stöhnte auf.
Die Beine der Leiche reichten fast bis zur hinteren Wand. Der Rock ihres Kostüms war bis zur Hüfte hochgerutscht, ihre rechte Körperhälfte lag schräg auf einer gewölbten karierten Decke.
Thorsten fuhr herum, stolperte ein paar Schritte in Richtung Wald und würgte das Matjesbrötchen, das er sich mittags gegönnt hatte, heraus.
Adickes hatte sich wieder gefasst und hangelte sich tiefer in den Raum, darauf bedacht, die Tote nicht zu berühren. Ein Balanceakt in Anbetracht der Enge. Dann beugte er sich auf Höhe des Kopfes über die Leiche der alten Frau und zog an dem Deckenzipfel unter ihr. Schlagartig verstärkte sich der metallische Geruch im Raum. Nur undeutlich erahnte Maja den von Einschüssen zerfetzten Kopf eines Mannes.
Das war auch für sie zu viel. Sie schnappte nach Luft und würgte, bis sie ihr Hefestückchen vom Mittagessen die Speiseröhre wieder runtergezwungen hatte. Maja war speiübel. Weniger wegen des schaurigen Anblickes als vielmehr der Trauer über drei sinnlose und grausame Tode in dieser Idylle.
»War nicht von zwei Vermissten die Rede?«, fragte Adickes, leicht grünlich um die Nase. »Wenn ich noch richtig zählen kann, sind das jetzt schon drei. Hat einer eine Ahnung, wer die alte Frau sein könnte?«
»Während wir auf euch gewartet haben, hat die Tochter uns erzählt, dass ihre Tante mit ihren beiden Söhnen gestern zum Nachmittagskaffee erwartet wurde«, berichtete Maja.
Adickes, inzwischen leichenblass, starrte sie an, offenbar sprachlos. Dann fasste er sich.
»Also kann es sein …? Fünf? Sind das etwa …? Ist das Helena?« Ein Schluckauf hinderte ihn am Weiterreden.
Maja zuckte die Schultern.
Er stolperte zurück zur Tür und starrte auf das Gesicht der Toten. Nach einem Moment, der hauptsächlich aus Kopfschütteln bestand, wandte er sich wieder an Maja.
»Du hast doch schon mehrfach mit der jungen Frau gesprochen. Ist sie einigermaßen ruhig?«
Maja nickte. Klar hatte Kristina Gösling geweint, aber hysterisch war sie ihr nicht vorgekommen. Das sagte sie ihm.
»Gut. Am besten ist, du kommst mit, dich kennt sie schon. Und du«, er wandte sich an Mirko, den Kollegen, der ihn begleitet hatte, »rufst die Verstärkung. Die ganz große.«
Auf eine Antwort wartete er nicht, sondern setzte sich in Richtung des VW Polo in Bewegung.
Kristina schien sich inzwischen etwas beruhigt zu haben. Zumindest war sie ansprechbar, obwohl Tränen über ihre mascaraverschmierten Wangen liefen. Bevor Adickes seine Fragen stellen konnte, überflutete sie ihn mit ihren.
»Liegt da meine Mama auf der Terrasse? Ist sie tot? Was ist passiert? Wo ist mein Papa?«
Offenbar hatte sie nichts von den Leichen in der Hütte mitbekommen.
»Leider hab ich keine gute Nachricht für Sie. Aber ohne offizielle Identifizierung kann ich wirklich nicht sagen, ob sie es ist. Wir werden Sie später dafür brauchen. Ist das okay?«, fragte Adickes.
Die junge Frau hatte die Hand ihres Freundes ergriffen und nach einem Moment des Zögerns genickt.
»Zunächst aber muss ich wissen, wer alles in der Hütte anwesend war. Haben Ihre Eltern Besuch erwartet, oder haben sie noch jemanden hierher mitgenommen?«
Mit großen Augen schaute Kristina Maja an.
»Was soll das heißen? Ich hatte Ihnen doch von meiner Tante und meinen Cousins erzählt.«
Sie warf einen Blick zu Adickes, um die Frage weiterzugeben, aber auch, um die schlechte Nachricht nicht überbringen zu müssen. Darin war sie erbärmlich, wie sie bei einem früheren Versuch festgestellt hatte.
»Nun, wir haben noch zwei«, Adickes stockte, »nun ja, also Tote gefunden.«
Kristina unterbrach ihn mit einem Aufschrei. »Papa?«
Er holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Auch das wissen wir noch nicht. Nur fragen wir uns natürlich, wer die dritte Person sein könnte. Mit wem genau waren Ihre Eltern verabredet?«
Zwischen den Sturzbächen gleichen Tränenflüssen sagte sie: »Meine Tante Helena und meine Cousins Jürgen und Franz-Xaver wollten gestern zu Besuch kommen. Heißt das …?«
»Verdammt!«
Noch nie hatte ihr Vorgesetzter in Majas Gegenwart geflucht.
»Hören Sie, Kristina, ich darf Sie doch so nennen?«, fuhr er nach einem Moment, in dem Maja seinen Adamsapfel deutlich zucken sah, fort.
Sie starrte ihn nur an.
»Helena. Ist das etwa Frau Rüegg aus Borgsum?«
Kristina nickte.
»Also, im Moment wissen wir noch gar nichts Genaues. Am besten wird sein, Sie fahren nach Hause, und wir melden uns bei Ihnen. Lass dir Adresse und Telefonnummer geben, Maja.«
Mit einem letzten Nicken verabschiedete er sich.
Als Kristina Gösling und ihr Freund endlich abgefahren waren, kehrte sie ebenfalls zurück zur Hütte. Vor dem Eingang stand niemand mehr. Doch von der anderen Seite hörte sie Rufe. Maja umrundete die Holzhütte in Richtung der Stimmen, drehte sich aber um, weil sich von hinten ein Wagen näherte. Der dritte Streifenwagen der Wache in Wyk rollte langsam und vorsichtig über den Feldweg. Sie winkte den Kollegen und eilte weiter zu der anderen Tür.
Adickes tauchte just in diesem Moment hinter dem rechten Betonpfeiler der Hütte auf.
»Pech gehabt«, verkündete er, »kein Schlüssel. Da müssen wir wohl grob werden.«
Mirko holte aus dem Kofferraum des Streifenwagens eine Brechstange. Vorsichtig quetschte Adickes sie in die Spalte zwischen Tür und Angel. Ein fester Ruck, und sie sprang nach rechts auf. Direkt dahinter auf dem Boden wurden zwei Köpfe sichtbar. Wieder waren sie rot von Blut, das in Richtung Ausgang geflossen und sogar aus dem Spalt darunter getropft war. Erst jetzt erkannte Maja die dunkelrote Pfütze unter der Gitterroststufe. Hinter sich hörte sie ein Stöhnen, dann ein Würgen. Es kam von ihrem Bäderdienstkollegen Werner, der mit Hajo eingetroffen war. Schon folgte er Thorsten, der immer noch würgend unter einer Kiefer saß.
Maja wandte sich den Toten zu. Diese beiden Opfer lagen näher am Ausgang als die auf der anderen Seite der Hütte. Der rechte Arm der einen Leiche war in Richtung Türöffnung ausgestreckt. Es handelte sich eindeutig um Männer.
Ihr Vorgesetzter, der in den Türrahmen getreten war, hatte selbst keinen Tropfen Blut mehr im Kopf, so blass war er geworden. Maja stand fassungslos vor der Tür. Fünf Tote! Auf dieser sonst so friedlichen Insel. Wie war das nur möglich?
»So eine Scheiße«, würgte Adickes heraus. Schon wieder fluchte ihr stets beherrschter Chef, der sich immer zusammenriss.
Der Platz in dem Raum, der deutlich kleiner als die Küche auf der anderen Seite war, hatte nicht gereicht, um die Leichen nebeneinander abzulegen. Wohl deswegen lagen sie an den Hüften übereinander. Das zuvor schneeweiße Hemd des unteren Toten wies auf der linken Brust rote Flecken auf, da, wo die Kugeln ihn durchsiebt hatten. Quer über ihm lag der zweite Leichnam, den Maja aufgrund seiner grauen Haare als älter einschätzte. Nun waren sie rot durchzogen vom Blut aus seiner Stirn, von dort, wo die Kugeln ihn zerfetzt hatten. Bei den verheerenden Verletzungen musste es sich um eine großkalibrige Schusswaffe gehandelt haben. Das passte zu den Patronen, die sie im Gras entdeckt hatten.
Die Leichen lagen eingeklemmt zwischen übereinandergestapelten Gartenstühlen und einem auf die Seite gedrehten Rasenmäher. Wie es aussah, waren die Toten nacheinander an den Beinen hineingeschleift worden. Genauso wie auf der anderen Seite der Hütte.
»Warten wir auf die Kriminaltechnik«, verkündete Adickes. »Hier können wir nichts mehr tun.«
Dann schloss er die Tür.
Da war er nun, der Tag, vor dem sich Erster Kriminalhauptkommissar Jan Andretta als stellvertretender Leiter des 1. Fachkommissariats der Flensburger Mordkommission gefürchtet hatte. Der Tag, an dem sein Lebensmodell, gerade erst aus der Taufe gehoben, ad absurdum geführt wurde. Der Tag, an dem er sich eingestehen musste, dass sein Leben ein einziges Desaster war.
Der Anruf hatte ihn vor dem Gerichtssaal 9 im Landgericht Flensburg erreicht, wo er auf seinen Einsatz als Zeuge auf dem Gerichtsflur gewartet hatte. Leichenfund auf Föhr. Und er sollte der Leiter der Soko sein. Was bedeutete, dass er Tag und Nacht, am Wochenende, kurzum ständig erreichbar und einsatzbereit sein musste. Seine finsteren Gedankengänge wurden durch den Aufruf des Gerichtsdieners, einzutreten, unterbrochen.
Zwei Stunden und eine Verurteilung aufgrund seiner Zeugenaussage später war er nach Hause geeilt. Dort hatte er den Anzug, den er stets bei Gerichtsverhandlungen zusammen mit den schwarzen Lederhalbschuhen trug, gegen hochschaftige Wanderschuhe und Cargohosen getauscht, bevor er zum Hafen in Dagebüll aufgebrochen war. Die »MS Sylt« der Wasserschutzpolizei setzte ihn nach Föhr über. Am Innenhafen holte ihn ein Streifenwagen der Polizeidienststelle Wyk ab. Von dort aus fuhren sie auf der Traumstraße vorbei an Nieblum Richtung Witsum. Auf halber Strecke in Höhe von Borgsum passierten sie linker Hand ein Wäldchen. Direkt dahinter zweigte ein sandiger Feldweg ab. Andretta entdeckte an dessen Ende die rot-weißen Absperrbänder und diverse Polizeiwagen am Rand des Forstes. Auch der Mercedes Sprinter der Spurensicherung parkte dort.
Das Watt, das von dem wolkenlosen Himmel dieses herrlichen Sommertages blaubraun eingefärbt war, lag wenige hundert Meter entfernt. Die Sonne, von keiner Wolke bedeckt, erhitzte die Luft auf ungewöhnliche achtundzwanzig Grad. Doch was war an diesem Frühsommer mit seinen Dürre- und Hitzeperioden schon gewöhnlich? Warum also sollte er sich über diesen für Ende Juni extrem heißen Tag wundern?
Der Blick offenbarte nicht nur das Meer, das sich bis kurz vor dem Horizont zurückgezogen hatte, sondern auch seine in schwarze Overalls mit reflektierendem Aufdruck »Polizei« gekleideten Kollegen, die leicht gebückt die Umgebung absuchten. Gleichzeitig untersuchten Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen eine schlicht gezimmerte Holzhütte, einer stand auf der angebauten Terrasse.
Rainer und Tine, seine Mitarbeiter in der Mordkommission Flensburg, winkten ihm zu. Während er zu ihnen eilte, näherte sich von der Seite ein weiterer Uniformierter, geschätzt Ende fünfzig mit schütterem Haar, gekleidet in ein hellbeiges Hemd mit drei Sternen auf der Schulter und schwarzer Krawatte, die die Blässe um seine Nase betonte.
»Herrmann Adickes, Leiter der Polizei-Zentralstation Föhr«, stellte er sich vor und reichte Andretta die Hand. »Kennen Sie schon die Details?«
Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Dazu war noch keine Zeit. Was ist hier passiert?«
»Fünf Tote. Erschossen. Alles Mitglieder einer Familie. Dass so was hier, auf unserer Insel, passieren würde, hätte ich niemals für möglich gehalten.«
Nach einem Räuspern, das wie ein Schluchzen klang, beschrieb er, wie sie die Toten aufgefunden hatten, und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Wäldchen und auf die suchenden Streifenpolizisten.
»Schon in direkter Nähe zur hinteren Tür fanden wir jede Menge Patronenhülsen und Blut. Die Kollegen suchen jetzt die Umgebung nach weiteren Hinweisen ab. Vor allem, woher der oder die Täter kamen. Außerdem fehlt der Familienwagen. Wie uns die Tochter berichtet hat, sind ihre Eltern immer mit ihrem blauen Golf-Viertürer zur Hütte gefahren. Üblicherweise parkte der Vater ihn vor dem hinteren Raum auf der Rückseite der Hütte.« Er wies mit der Hand in die Richtung.
Sie näherten sich der Holzhütte, in der Andretta zwei Kriminaltechniker herumhantieren sah. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass sie sich über eine in eine Wolldecke gewickelte Leiche beugten.
»Die ermordete Frau, Helena Rüegg, die halb auf diesem Toten lag, haben wir schon rausgeholt. Eine alte Frau, ich glaube, um die achtzig. Mitten auf der Stirn, der Einschuss. Sah aus wie bei den Indern, die sich da«, er deutete auf die Falte oberhalb der Nasenwurzel, »einen Punkt hinmalen. Wer macht so was? Einfach so eine alte, wehrlose Frau erschießen.«
»Sie kannten die Opfer?«, fragte Andretta.
»Ja klar, ist schließlich eine Insel, und ich arbeite seit über zwanzig Jahren hier. Erst habe ich Helena Rüegg gar nicht erkannt. Ehrlich gesagt habe ich bei dem schaurigen Anblick auch nicht so genau hingeschaut. War nur fixiert auf das Loch in der Stirn.«
Donnerwetter, dachte Andretta. Nicht jeder würde das zugeben.
»Und wer ist das hier?«, fragte er auf den am Boden liegenden Leichnam weisend.
»Das ist der Hüttenbesitzer Martin Gösling.«
Adickes führte den Kommissar zu der Terrasse, die mit ihren Geranien Idylle pur versprach. Vor allem jetzt im Sommer mit der sanften Brise vom Meer, die die stickige Hitze vertrieb, den duftenden Kiefern rundherum und dem Blick auf das Wattenmeer im Süden kam das Holzhaus einem Paradies nahe. Er wunderte sich allerdings darüber, dass außerhalb der Ortschaft und so dicht beim Strand eine Baugenehmigung erteilt worden war.
Gar nicht zu diesem Paradies passte die Leiche der Frau. Zwei schwarz gekleidete Männer mit einer Trage näherten sich von der Seite, der Kriminaltechniker war verschwunden.
»Seine Frau Ingrid«, erklärte Adickes.
Andretta trat auf die Terrasse und dicht an die Tote heran, zog seine Einweghandschuhe über und wandte sich an den Leiter der Polizeistation: »Darf ich?«
Der nickte. »Die Forensiker sind hier erst mal fertig.«
Andretta beugte sich zu der Leiche, die vor ihm bäuchlings ausgestreckt lag. Bestimmt hatte sie nicht geahnt, dass sie hier an diesem wunderbaren Tag sterben würde. Wie furchtbar.
»Als sie gefunden wurde, war sie komplett in den Teppich unter ihr eingewickelt. Sieht so aus, als hätte der Täter nicht gewollt, dass sie zu früh entdeckt würde«, meinte Adickes.
Andretta nickte. »Fragt sich nur, von wem zu früh entdeckt. Wissen Sie schon, wann das passiert ist?«
»Der Gerichtsmediziner meinte, dass sie seit mindestens einem Tag tot sind. Ich hoffe, dass uns die Tochter dabei weiterhelfen kann. Sie war heute mit ihren Eltern verabredet. Ihre Eltern wollten den gestrigen Tag mit Martins Schwester und seinen Neffen hier verbringen und dann abends wieder nach Hause fahren.«
»Können wir sie wegbringen lassen?«, fragte einer der schwarz gekleideten Männer.
Andretta nickte.
»Gut, dann sehen wir uns jetzt die letzten beiden Toten an«, sagte Adickes.
Sie umrundeten die Hütte. Dort war von den Kriminaltechnikern ein großes Arbeitszelt errichtet worden. Nachdem Andretta die Kollegen, die er alle vom Festland kannte, gegrüßt hatte, trat er zum Zelt. Im Inneren war ein großes Schüttelsieb aufgebaut, ein rechteckiger Holzrahmen, an dem ein grobmaschiges Netz befestigt war. Jeder Spatenaushub aus dem Umfeld des Fundortes wurde da durchgetrieben, um zu verhindern, dass tatbezogene Gegenstände unentdeckt blieben.
Etwas klimperte im Netz. Ernst Klausen, der Kommissar erkannte ihn trotz des Mundschutzes, bückte sich und hob das Fundstück auf. Nach einem Moment der genauen Betrachtung warf er es weg. Offenbar hatte es sich nur um einen kleinen Stein gehandelt.
Klausen, Leiter der Kriminaltechnik, richtete sich auf, zog den Mundschutz herunter und nickte ihm zur Begrüßung zu.
»Na, habt ihr was gefunden?«, fragte Andretta.
Der Forensiker führte ihn zu einem klappbaren Arbeitstisch, der bedeckt war von durchsichtigen Beweisbeuteln unterschiedlicher Größe.
»Wir haben jede Menge Patronen gefunden«, verkündete er und hob einen der Beutel mit einer glänzenden Hülse hoch.
Bevor Andretta etwas fragen konnte, wurde er von einem weiteren Klimpern beim nächsten Aushub des anderen Kriminaltechnikers, dessen Namen er vergessen hatte, unterbrochen. Diesmal klang der dabei erzeugte Ton anders, heller. Der Techniker hob den Fund auf und trug ihn zu einem weiteren Arbeitstisch, der mit Hilfe von Steinen halbwegs waagerecht aufgestellt war. Der Scheinwerfer daneben, der von einem Generator betrieben wurde, warf gespenstisch weißes Licht darauf.
Andretta und Klausen traten näher. So nahe, dass er den leichten Schimmer erkannte. Der Fund landete in einem Beweissicherungsbeutel.
»Kann ich mal sehen?«, fragte er und bekam den Beutel kommentarlos gereicht. Man kannte ihn.
Er zückte seine Lesebrille und trat näher an den Scheinwerfer, dann betrachtete er die verformte Kugel. Sie war zu groß für eine Pistole, stammte eher von einem Gewehr. Auffallend war die Spitze, die flacher war als bei gewöhnlichen Patronen, was trotz der Verformung durch den Schuss und Aufprall leicht erkennbar war.
»Sonst noch was?«, fragte er und wies auf den Arbeitstisch.
»Dreizehn leere Patronenhülsen«, verkündete der namenlose Techniker und reichte Andretta eine andere Beweissicherungstüte.
Er drehte sie so, dass er den Boden sehen konnte. Eingestanzt war »30–30 WIN Super Speed«. Eine Winchester-Patrone? Unglaublich. Wie kam denn die hierher? Seltsam. Nicht gerade eine weitverbreitete Marke hier im Norden. Er reichte die Tüte an Adickes weiter, der hinter ihm stehen geblieben war.
»Na, das ist doch schon mal was. So viele Winchester-Gewehre gibt es in Deutschland ja wohl nicht«, bestätigte er Andrettas Gedankengang.
Adickes gab die Tüte dem Forensiker zurück. Gerade als sie das Zelt verließen, tauchten zwei junge Streifenbeamte seitlich der Hütte auf.
»Wir haben dahinten Fahrzeugspuren entdeckt«, sagte die junge Polizistin, die nur wenige Zentimeter kleiner war als ihr ein Meter neunzig großer Kollege, und zeigte Richtung Osten zu dem Wäldchen.
»Wo genau?«, fragte Adickes nach.
Sie öffnete den Mund zur Antwort, wurde aber von ihrem Kollegen ausgebremst, der auf eine tiefe Rinne im Sand neben der Hütte deutete.
»Hier hat der Inhaber laut Auskunft seiner Tochter immer geparkt, wenn sie anwesend waren. Und von hier aus weisen frische Fahrspuren auf einen schmalen Weg, der direkt hinter der Hütte in den Wald führt. Das Gras dort ist platt gefahren worden. Wir sind den Spuren etwa einen halben Kilometer gefolgt. Dann sind wir auf eine Sandkuhle am Wegesrand gestoßen, in der eine Wolldecke liegt. Ganz zusammengedreht ist die. Das sieht ganz danach aus, als hätte sich ein Fahrzeug festgefahren. Der oder die Fahrer müssen ausgestiegen sein und die Decke dicht vor die Hinterräder gelegt haben. Offenbar hat es geklappt, die Spuren führen weiter in Richtung Goting und Traumstraße.«
»Dann gib mal gleich eine Fahndungsmeldung nach dem Wagen der Göslings raus. Der Haltername ist ja bekannt«, wies Adickes den jungen Polizeiobermeister an.
Sofort hastete der zu dem vordersten Streifenwagen, während die Polizistin mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zu Boden schaute.
»Ist noch was?«, fragte Adickes.
»Wir sollten überprüfen, ob der Wagen mit der Fähre die Insel verlassen hat. Im Hafen ist doch alles kameraüberwacht.«
Adickes schaute zu Andretta, der bestätigend nickte und sich an die junge Frau wandte.
»Gute Idee, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich der oder die Täter aufs Festland abgesetzt haben«, antwortete er. »Kannst du das übernehmen?«
Sein Kollege zuckte leicht zusammen, sagte aber nichts. Der Blick der jungen Frau wurde hart, als sie das bemerkte, dann senkte sie ihn wieder.
Was ist denn hier los?, fragte sich Andretta verwundert.
»Ich suche mir einen Kollegen und fahr hin«, antwortete sie nach einem Moment, in dem die Luft zwischen ihr und dem Dienststellenleiter brannte, drehte sich um und eilte zu zwei Polizisten, die neben einem Streifenwagen standen. Andretta beobachtete, dass die beiden zunächst abwehrend den Kopf schüttelten. Aber nach einem Blick zu seinem Dienstvorgesetzten stieg einer von ihnen ein und fuhr los, nachdem sich die junge Frau auf den Beifahrersitz gesetzt hatte.
Andretta schaute Adickes fragend an.
»Die beiden, die die Reifenspuren des Wagens gefunden haben, waren die Streifenbesetzung, die die Leichen entdeckt hat. Und das«, er schaute dem Streifenwagen hinterher, »war Maja. Unser Problemfall.«
Probleme hatte Andretta selbst genug. Mehr brauchte er nicht, konnte er nicht schultern. Gottlob war das nicht seine Sorge. Er wandte sich wieder seinem Kollegen zu.
»Da wollte jemand nicht dabei gesehen werden, wie er den Tatort verlässt. Ich vermute mal, dass der Täter den Wagen genommen und die Strecke gewählt hat, auf der er am wahrscheinlichsten niemandem begegnet«, meinte Adickes.
»Klar ist damit aber auch, dass sich der Mörder, wenn er mit dem Benutzer des Golfs identisch ist und es sich nicht um einen zufälligen Diebstahl handelt, sehr gut in der Gegend auskennen muss. Das spricht nicht gerade für einen missglückten Raubüberfall oder Zufallsmord.«
Da war was dran. Aber wie vieler Täter bedurfte es wohl, um fünf Menschen zu töten, fragte sich Andretta. Und gab sich selbst Antwort: Mit einer Schusswaffe genügte ein einziger. Doch schaffte es einer alleine auch, die Leichen in die Räume zu bugsieren? Und was war mit den Opfern? Wie hatte der Täter sie auf beiden Seiten der Hütte in Schach gehalten? Und warum hatte keiner versucht zu fliehen?
Neben Andretta tauchte Wolfgang Hartmann, sein Kollege und größter Konkurrent bei der Bewerbung auf die Position des Leiters des Zentralen Kriminaldienstes der Polizeiinspektion Flensburg, auf. Hartmann, ein Mann von fast zwei Metern mit Babygesicht und Geheimratsecken, begrüßte ihn mit einem wölfischen Grinsen. Sein früheres freundliches Lächeln war verschwunden, als er erfahren hatte, dass Andretta sich ebenfalls auf die Position beworben hatte. Natürlich war sein Kollege bereits am Tatort, als Andretta eingetroffen war.
Hartmann nickte ihm kurz zu, dann wandte er sich an Adickes.
»Wo …«
Plötzlich hörten sie einen Ruf aus dem Wäldchen, das an die Rückseite der Hütte grenzte. Einer der jungen Polizisten, die abkommandiert waren, die Umgebung abzusuchen, winkte aufgeregt. Andretta setzte sich in seine Richtung in Bewegung, wurde aber von Hartmann überholt, der selbst beim Erreichen des Fundortes einen Ehrgeiz an den Tag legte, als hinge sein Leben davon ab. Lächerlich, das hier war ein Leichenfundort und keine Wettkampfarena. Doch hielt sich Andretta zurück, sagte nichts, verzog nicht einmal seine Miene. Zu oft hatte es in letzter Zeit sinnlose Auseinandersetzungen mit seinem Kollegen gegeben, in denen der erbittert darum gekämpft hatte, recht zu haben, schneller als er zu sein. Als ob das ausschlaggebend für die Entscheidung wäre, wer die Stelle bekam.
Unbewusst schüttelte Andretta den Kopf. Noch vier Monate würde es dauern, bis einer von ihnen ernannt wurde. Das würde sich ziehen wie ein Expanderseil und am Ende zu einem Riss zwischen ihnen führen. Das war ihm klar. Einer wäre der Schlechtere, der Zweite, der Versager, so irrational der Gedanke war. Die anderen würden so denken, und das war entscheidend. Für sich hatte Andretta beschlossen, einen Versetzungsantrag zu stellen, sollte Hartmann gewinnen.
Obwohl sich sein Ehrgeiz in Grenzen hielt, gedachte er, um die Position zu kämpfen. Bei ihm ging es um mehr als nur um Beförderung und Geld. Bis vor Kurzem hatte er sein spannendes Ermittlerleben und das vertrauensvolle Teamwork mit den Kollegen genossen, das mit dem Aufstieg vorbei wäre. Doch er hatte keine Wahl.
Hoffentlich belastete das alles nicht noch mehr ihre Zusammenarbeit, die vor seiner Bewerbung bestens funktioniert hatte.
»Was gefunden?«, fragte Hartmann den jungen Kollegen, der erschrocken zusammengezuckt und einen Schritt zurückgestolpert war, als er ihn auf sich zustürmen sah.
Auf seiner Unterlippe kauend, als würde er ein Block-House-Steak essen, zeigte er auf eine Zigarettenkippe.
Hartmann hockte sich neben den Fund und begutachtete ihn. Nach einem Moment kam er wieder hoch und fauchte den jungen Mann an, dessen Gesicht sich tiefrot einfärbte: »Und deswegen schreist du so?«
Klausen, wieder mit Maske vor dem Mund, tauchte hinter Andretta auf. Mit einem knappen »Zurück« wies er Hartmann in die Schranken, während er ihm einen blutrünstigen Blick zuwarf.
Sein Kollege öffnete den Mund und schnappte nach Luft, schloss ihn aber wieder, bevor ihm ein Wort entschlüpfen konnte. Die beiden verabscheuten sich. Kein Wunder, oftmals traf sein Konkurrent den falschen Ton und galt unter den Kollegen als arrogant.
Andrettas Handy klingelte. Das Display zeigte die Telefonnummer von Lisa an, seiner seit drei Monaten bei ihm lebenden Nichte. Da musste er rangehen.
»Ja, was gibt’s?«
»Kannst du mich abholen?«
Andretta schluckte schwer. Dass das Zusammenleben mit einer Zehnjährigen nicht unproblematisch werden würde, war ihm klar. Er schaute auf die Uhr. Eigentlich sollte sie in der Schule, im Sportunterricht, sein. Der vorletzte Tag vor Beginn der Sommerferien. Gottlob. Aber wie konnte er sie in dieser Zeit beschäftigen?
Eins nach dem anderen, beschloss er. Nicht jedes Problem musste sofort gelöst werden.
»Wo bist du denn? Ich stecke mitten in einem neuen Fall.«
»Schon klar. Ist gut.«
Andretta holte schwer Luft. Niemand hatte ihn auf eine Vaterschaft vorbereitet. Niemand hatte …
Weiter kam er nicht. Adickes gab ihnen Zeichen, ihm zur Hintertür zu folgen, Hartmann eilte sofort hinterher.
»Ich ruf gleich zurück, bleib, wo du bist, warte auf mich«, wies er Lisa an, drückte den Anruf weg und folgte den beiden.
Zwei Hinterköpfe waren hinter der Tür zu erkennen.
Adickes deutete auf den Kopf des oben liegenden Grauhaarigen. »Das ist Franz-Xaver Rüegg, unter ihm ist sein Bruder Jürgen«, berichtete er.
Hartmann zog Plastikhandschuhe über und stapfte in den Geräteraum.
Tine näherte sich von der Seite. »Haben wir die Adresse der Mordopfer?«, fragte sie Adickes.
Der nickte.
»Die alte Frau und ihre Söhne hatten ein Haus ganz in der Nähe, etwas über einen Kilometer entfernt. Die Göslings wohnten in Flensburg.«
»Fahrt ihr zu dem Haus der Rüeggs?«, fragte Andretta seine Kollegin.
Tine nickte, der hinter ihr aufgetauchte Rainer ebenso.
»Habt ihr einen Schlüssel dazu?«, wandte sich die junge Ermittlerin an Adickes. »Wenigstens einer der Toten muss doch einen dabeigehabt haben.«
Der zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, das müsste doch Klausen wissen, oder?«
»Okay«, wandte sich Andretta an Rainer und Tine. »Fragt Klausen und dann los.«
Maja spürte die Blicke ihres Vorgesetzten und des Ermittlungsleiters der Kripo aus Flensburg, dessen Name so gar nicht zu seinem blonden Haar und den blauen Augen passte, wie Flammenwerfer im Rücken brennen. Sie hasste das, hasste ihre Kollegen, die sie so bloßstellten vor dem Kommissar. Thorsten hatte sie schon den ganzen Vormittag mit Andeutungen provoziert. Er war sauer auf sie, weil die Ernennung seines besten Freundes zum Polizeibeamten wegen ihrer Vorwürfe gestoppt worden war. Gerade erst hatte er davon erfahren.
Sie selbst war aufgrund ihrer Anzeige gegen ihn beim »Bäderdienst« auf Föhr gelandet. Aus der Schusslinie wolle man sie nehmen, war ihr mitgeteilt worden. Maja empfand das als Strafe. Wer sich freiwillig für die Hochsaison meldete, durfte die Insel nach sechs Monaten wieder verlassen. Gab es keine Inseleinsatzbewerber, wurden junge Kräfte direkt nach Beendigung ihrer Ausbildung an der Polizeischule Eutin zu acht Monaten verdonnert. Sie war nicht freiwillig hier.
Ebenfalls wegen ihrer Vorwürfe hatte man sie nicht in einem Zimmer mit Hafenblick im dritten Stock des Polizeigebäudes mit den anderen Bäderdienstlern untergebracht, sondern im Erholungswerk der Polizei. Damit man sie nicht weiter belästigen könne, hatte ihr Ausbilder mit kaum verhohlenem Grinsen als Begründung angegeben. Auch das empfand Maja als Strafe. Wofür? Dafür, dass sie sich gewehrt hatte?
Wenigstens wurden die Kosten für die Unterbringung komplett übernommen. Und die Inselzulage verbesserte ihr mageres Gehalt.
Wie erwartet hatte Mirko nur abgewinkt, als sie gefragt hatte, ob er mit ihr zum Hafen fahren würde. Thorsten saß immer noch in ihrem gemeinsamen Streifenwagen und war mit der Fahndungsmeldung beschäftigt. Schließlich hatte sich ihr Kollege Peter breitschlagen lassen.
Die Fahrt in den Fährhafen von Wyk brachten sie schweigend hinter sich. Dort angekommen, stieg Maja aus und betrachtete die langen Schlangen von Autos, deren Fahrer darauf warteten, an Bord einer der Fähren der Wyker Dampfschiffs-Reederei gewinkt zu werden.
Wenn sie ein Fünffachmörder wäre, würde sie sich dann mit einem gestohlenen Wagen hier anstellen? Sie ließ den Blick über die Hafenanlage schweifen und entdeckte mindestens drei Videokameras, die den Platz überwachten. Wohl kaum. Auf der anderen Seite des Hafenbeckens standen jede Menge Hallen und Lager. Wohnhäuser gab es dort nur wenige.
Sie trat neben Peter, der an den Streifenwagen gelehnt eine Zigarette rauchte.
»Lass uns da mal nachschauen«, forderte sie ihn mit einem Kopfnicken in Richtung der Lagerhallen auf.
»Warum?«
»Wo würdest du einen gestohlenen Wagen abstellen, der nicht so schnell gefunden werden soll?«
Peter nickte, trat die Kippe unter seinem Schuh aus und stieg ein.
Langsam kreuzten sie durch die kurz vor Feierabend leeren Straßen des Industriegebietes, kontrollierten die offenen Parkplätze der Betriebe und die Fahrbahnränder. Doch erst in der hintersten Ecke neben einer riesigen Leichtbauhalle am Ende der Straße entdeckten sie ihn: einen Golf in hellem Metallicblau mit Flensburger Autokennzeichen.
»Funk mal Thorsten an wegen dem Kennzeichen«, forderte Maja Peter auf.
Keine Minute später hatten sie die Bestätigung. Sie hatten den Wagen der ermordeten Göslings entdeckt.
Andretta war positiv überrascht von dem schnellen Erfolg bei der Suche nach dem Fahrzeug der ermordeten Familie. Die junge Kollegin, die von Adickes als Problemfall bezeichnet worden war, dachte mit, und zwar intuitiv, was man nicht von jedem Polizisten behaupten konnte. Fachliche Inkompetenz war also nicht das Problem.
Egal. Die Forensiker hatten sich des Fahrzeugs angenommen, in Kürze sollte es zum Kriminaltechnischen Institut in Kiel abtransportiert werden.
Das Haus der ermordeten Helena Rüegg in Borgsum war überprüft und gesichert worden. Eine Personenstandsanfrage hatte ergeben, dass außer ihr und ihren ebenfalls toten Söhnen niemand dort gelebt hatte. Für den morgigen Tag war die Durchsuchung geplant, über Nacht wurde es von Polizisten gesichert.
Und dann fiel es ihm siedend heiß ein: Lisa! Er sah auf seine Uhr, drückte auf »angenommene Anrufe« und stellte fest, dass er ihr vor anderthalb Stunden versprochen hatte, sie abzuholen. So ein Mist.
Er wählte ihre Handynummer, niemand ging ran. Von wo aus hatte sie angerufen? Um diese Uhrzeit fand noch Unterricht statt.
Kaum hatte ihn die »MS Sylt« auf dem Festland abgesetzt, spurtete er zu seinem Alfa und ließ beim Wenden die Reifen auf dem Asphalt qualmen. Ungebremst bog er vom Parkplatz auf die Straße. Beschleunigte weiter, obwohl er wusste, dass ihn hinter der nächsten Kurve ein fest montierter Blitzer erwartete und er die erlaubten sechzig Stundenkilometer um mindestens dreißig überschritt. Ein auf der rechten Fahrbahn schleichender Lastwagen verdeckte seine Ordnungswidrigkeit, und so stand er nach einer knappen halben Stunde vor ihrer Schule »Altes Gymnasium« in Flensburg. Von Lisa keine Spur.
Andretta sprang aus dem Wagen und rannte Richtung Eingang, der jetzt, kurz vor sechs, bereits abgesperrt war.
Und da saß sie. Auf halber Höhe der rechten Seite der zweiläufigen Treppenanlage auf einer Granitstufe in der Rundung, sodass er sie vorher nicht hatte sehen können. Mit großen Augen starrte sie ihn an. Sagte kein Wort. Das war schrecklicher als jede Schimpfkanonade.
Er entließ die angestaute Luft aus seinen Lungen. Was war er doch für ein miserabler Vormund. Und was für ein unfähiger Mutterersatz. Verdammt noch mal, was, wenn Lisa etwas passiert wäre? Eine unerträgliche Vorstellung.
Ob er doch eine andere Unterbringung für sie beantragen sollte? Er war ratlos. So konnte es nicht weitergehen. Er hatte sich das Zusammenleben mit ihr zu einfach vorgestellt, falls er vor seiner Entscheidung überhaupt ausreichend nachgedacht hatte.
Nach dem Versuch, sich bei Lisa mit einem Kinobesuch und anschließendem Festessen im Alten Speicher zu entschuldigen, verbrachte er eine weitere schlaflose Nacht mit Grübeln.
Lisas Blicke und Reaktionen waren ein einziger Vorwurf gewesen. Zu Recht, wie Andretta fand. Doch wie es besser hinbekommen? Sein eigenes Leben war mit ihrem Einzug zum GAU mutiert. Seit zwölf Wochen verbrachte er jeden Abend zu Hause vor dem Fernseher statt mit seinen Freunden im Pub oder am Wochenende im Fußballstadion. Seine letzte Freundin hatte sich eine Woche nach Lisas Ankunft verabschiedet. Nicht dass es was Ernstes gewesen wäre. Sein Job war für jede Partnerin eine einzige Zumutung. Ständige Nachtdienste, wenn ein Fall akut war, Wochenenden, die er mit Ermittlungen verbrachte, und die permanente Gefahr, dass ihm im Dienst etwas passierte, hatten jede ernsthafte Beziehung, von denen es nur am Anfang seiner Laufbahn einige wenige gegeben hatte, ruiniert. Danach hatte er die Suche aufgegeben und war damit bestens klargekommen.
Dann der Schock nach der Beerdigung von Brigitte, seiner Schwester. Dass sie eine Sorgerechtsverfügung hinterlassen hatte, in der er als Lisas Vormund bestimmt wurde.
Seine erste Reaktion war Ungläubigkeit, die zweite Ablehnung. Von der Vorstellung, einmal Kinder zu haben, hatte er sich längst verabschiedet. Und nun das. Klar hatte er gewusst, dass sonst niemand da war, der sich ihrer Tochter hätte annehmen können: Der Name des Vaters stand weder in der Geburtsurkunde, noch hatte Brigitte ihn verraten. Ihre Eltern waren vor vielen Jahren gestorben, und ihre Schwester Marion war nicht einmal zur Beerdigung erschienen.
Hätte er die Vormundschaft für Lisa ablehnen können? Seine viel zu früh tödlich verunglückte Schwester hatte ihm vertraut, ihm ihr Kind anvertraut. Nur gefragt worden wäre er gerne vorher. Er wusste nicht, was er darauf geantwortet hätte. Doch die Frage war häufiges Zentrum seiner Gedanken, wenn er nachts ohne die geringste Idee wach lag, wie er mit Lisa, mit der Situation klarkommen sollte.
Mit Grauen dachte er an die nun erforderlichen Einsätze zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die brachte sein Beruf mit sich, sie waren unvermeidbar. Bisher hatte er Glück gehabt, doch das hatte sich gerade geändert. Und eine Zehnjährige die ganze Nacht alleine zu Hause lassen, nein, das ging gar nicht. Vor allem war in der nächsten Zeit häufig seine Anwesenheit auf Föhr erforderlich, um die Ermittlungen vor Ort zu leiten. Wie er heute gelernt hatte, war das fatal, wenn er sich schnell um Lisa kümmern musste, wenn es brannte. Nicht immer würde er die Hilfe der Wasserschutzpolizei zur fährunabhängigen Überfahrt beanspruchen können. Nur, wie sah die Lösung aus?
Wenigstens hatte er es von Anfang an strikt abgelehnt, Chico, Lisas Hund, aufzunehmen. Das hätte das Chaos perfektioniert. Der wartete in dem Tierheim in der Westerallee darauf, dass sich jemand seiner erbarmte. So hässlich und alt, wie die Promenadenmischung war, waren seine Chancen allerdings miserabel. Obwohl Andretta Hunde mochte, lehnte er ein Haustier strikt ab. Wie sollte das bei seinem Job funktionieren?
Trotzdem hatte er jedes Mal Gewissensbisse und ein hohles Gefühl im Magen, wenn er an ihn dachte.