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Zwei Jahre nach der Entdeckung Ihrlands werden die Freunde Mark, Torte, Molly und Patsy von einem Hilferuf überrascht und müssen ihren ihrländischen Freunden in einer nahezu ausweglosen Situation zur Seite stehen. Währenddessen wird Peggy, Marks Mutter, von alten Bekannten besucht und findet sich plötzlich und unerwartet in einer äußerst bedrohlichen Lage wieder.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Kampf um Ihrland
Ein Abenteuerroman
Jörg Bothe
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2021.
Herstellung und Lektorat: CAT creativ - cat-creativ.at
Illustrationen: © Jann Bergner
ISBN: 978-3-96074-488-7 – Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-489-4 – E-Book
*
Erinnerungen
Wenig Erinnerungen
Schwarz
Am Badesee
Alte Bekannte
Aufbruch
Überfall!
Auf dem Weg nach Ihrland
Auf der Kippe
Mark und der Geist
Kein leichter Weg
Zuflucht
Ratlos in Ihrland
Freya
Harm-Uwe / Ein Plan
Bedenken
Auf in den Kampf
Ein Wendepunkt?
Abschied ins Ungewisse
Die anderen
Peggy ist hier?
Kurt
Unerwartete Ereignisse
Der Baum der Seelen
Hillrich der Schreckliche
Wiedersehen
Der Friedensplatz
Das Gedicht
Die Wahrheit
Mark
Auld lang Syne
Auch das noch
Der Autor
Buchtipp
*
Für alle Menschen, die in Frieden
und Freiheit leben wollen, gründe
ich hier einen neuen Lebensraum.
Dies ist ihr Land.
Und so will ich es auch nennen.
Ihrland
Klaus zum Wetterfest, im Februar 1874
(Spruch auf einer Gedenktafel in Ihrland)
*
Wieder so ein trüber Tag.
Es regnete schon gefühlt seit Wochen. Meine Laune war im Keller. Überall Menschen, die geduckt unter Regenschirmen durch die Gegend eilten. Ihre Blicke nach unten gerichtet, hatten sie keine Zeit mehr für ihre Umgebung. Selbst die Touristen waren langsam von unserem Schietwetter genervt, obwohl es bei ihnen eigentlich ja sehr beliebt ist. Tja, hier im Norden war es eine Pflicht für jeden Auswärtigen, einmal in Sturm und Regen am Meer spazieren zu gehen. Ich mag das auch, so ist das ja nicht. Aber für uns Einheimische ist das etwas anderes. Wir wachsen damit auf und lernen, das Wetter zu respektieren. Man nimmt es auch irgendwie intensiver wahr als die Touristen. Es hat schon eine gewisse Macht über Meer, Land und Leute. Diese Macht kann kein Geld der Welt kaufen, um es für sich zu nutzen, und das ist auch gut so.
Ich saß in meinem Zimmer unterm Dach unseres Hauses auf der Fensterbank und ließ meinen Blick über das bunte Treiben in den Straßen unter mir schweifen. Aus den Boxen meiner Musikanlage dröhnten die Klassiker verschiedener Punkbands. Ich hatte beim Stöbern auf dem Dachboden die alten Langspielplatten meines Vaters gefunden, den dazugehörigen Plattenspieler entstaubt und an meiner Anlage angeschlossen. Das Knistern der feinen Staubkörner in der Rille des Vinyls, die die Nadel an die Lautsprecher leitete, war immer wieder eine willkommene Erinnerung an die alten Zeiten, meinte mein Pa.
Und so war es auch. Gerade gaben die Ramones alles, was ihre Instrumente hergeben konnten. Unser Hund hatte es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht und schlief. Er schlief eigentlich immer, wenn er nicht gerade am Fressen war oder zum Gassigehen gezogen werden musste. Ein Basset, wie er im Buche steht. Er wirkt immer so schwerfällig und sein Blick vermittelt den Eindruck, als wäre er immer mies gelaunt oder gelangweilt. Im Gegensatz zu dem Hund aus der Krimireihe von Columbo hatte unserer wenigstens einen Namen. Da er wenig von Bewegung, noch weniger von schneller Bewegung hielt, nannten wir ihn Blitz. Fanden wir witzig. Die Musik störte ihn bei seiner Dauer-Siesta auch nicht wirklich.
Regentropfen zogen ihre Bahnen an der Scheibe und suchten sich ihren Weg nach unten.
Unsere Stadt hatte seit dem Vorfall um das Elternhaus von Mark vor zwei Jahren traurige Berühmtheit erlangt. Sogar das Fernsehen hatte über die Geschichte der Familie Wetterfest berichtet, bei der durch kriminelle Machenschaften ihr geliebtes Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Die Gauner hatten nach ihrer Festnahme alles zugegeben und wurden sogar zwischenzeitlich für psychisch krank erklärt, weil sie immer wieder von einem sprechenden Wirbelsturm redeten, der sie eingefangen und zum Ort des Unglücks zurückgebracht hatte. Dass es sich dabei um den Geist von Klaus dem Großen, dem Ur-Ur-Urgroßvater von Mark handelte, behielten wir für uns. Auf die Fragen der Verteidiger zuckten wir nur mit den Schultern. Die Verbrecher baten reumütig um Entschuldigung und so fiel die Strafe, kombiniert mit ihrer schlechten Kindheit und verschiedener anderer Geschehnisse in ihrem bisherigen Leben – bla, bla, bla – verhältnismäßig gering aus. Das Urteil brachte uns alle auf die Palme. Mark konnte sich damals im Gericht nicht mehr auf seinem Platz halten und sprang wie ein wildes Tier auf den Tisch der Verteidiger, um seinem Unmut freien Lauf zu lassen. Ich weiß nicht mehr genau den Wortlaut, aber er sprach viel und schnell. Schon in den ersten Sekunden wurde mir klar, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis der Richter und die Angeklagten aus seinem Wortschwall etwas Verständliches herausfiltern konnten. Die Zeit wollte ich nutzen, sprang hinterher und versuchte, ihn einzufangen.
Das hatten auch die Gerichtsdiener und Polizisten vor, mit denen ich mich um Mark rangelte. Der Richter schlug einige Male mit seinem Holzhammer auf den Tisch und brüllte nach Ruhe und Ordnung im Gerichtssaal. Selbst im Zuschauerbereich kam es zu tumultartigen Szenen. Peggy, die Mutter von Mark, versuchte, mich zu stoppen und auch Mark zu beruhigen. Ihr Anwalt sprang dazwischen und riss die Gerichtsschreiberin zu Boden. Das Geschrei war groß und die Beamten hatten alle Mühe, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach wenigen Minuten hatte sich die Lage dann doch beruhigt. Ich saß mit Mark in Handschellen auf dem Flur vor dem Saal, bewacht von vier Polizisten. Mark atmete schwer ein und aus. Er war gerade in einer anderen Welt und nicht ansprechbar. Das Grinsen von Tollini und Schwarz wird er wohl genauso wenig vergessen wie ich.
Tollini konnte nichts nachgewiesen werden, er hatte auch nicht ausgesagt. Ein Jahr auf Bewährung.
Schwarz, Ede und Kurt bekamen jeweils vier Jahre Gefängnis mit Aussicht auf Entlassung nach zwei Jahren bei guter Führung.
Genug Gründe, um auszurasten.
Wir bekamen im Anschluss an die Verhandlung eine Belehrung des Richters, der uns nach eigener Aussage auch wohl irgendwie verstehen konnte. Aber wir sollten doch auf die Rechtsprechung des Staates vertrauen. Wir nickten und mussten innerlich kotzen.
Die Versicherung von Peggy hatte einen Teil der Kosten für einen Wiederaufbau übernommen, den Rest hatten sie von dem Gold und den Edelsteinen aus Ihrland bezahlen können, die der Geist von Marks Ur-Ur-Uropa als Geschenk an die Familie Wetterfest zurückgelassen hatte. Die Aufräumarbeiten auf dem Grundstück der Wetterfests dauerten lange an. Bis alle Trümmer beiseitegeschafft und der Keller freigelegt war, vergingen zwei Wochen. Wir versammelten uns an dem Tag gemeinsam am Ground Zero, wie Mark es nannte, und verschlossen gemeinsam die Steintür, die wir einige Wochen zuvor entdeckt und durch die wir unser bis dahin größtes Abenteuer erlebt hatten. Es war unser Geheimnis und so sollte es auch bleiben. Unsere Freunde aus Ihrland sollten in ihrem Leben nicht weiter gestört werden. Den Schlüssel nahm ich vorerst an mich, solange die Wetterfests nicht in ihr neues Heim einziehen konnten. Sie zogen erst einmal in ein Hotel in der Innenstadt und anschließend in eine Ferienwohnung von guten Freunden. Ihr Papagei Purple begleitete sie, so oft es ging. Meistens saß er dann auf der Schulter von Peggy oder Mark und wirkte mächtig stolz auf das, was er die letzte Zeit so erlebt und dadurch auch geholfen hatte. Einen Käfig sollte er nicht wieder bekommen, meinte Mark. Da war ich absolut seiner Meinung. Er hatte sich seine Freiheit redlich verdient. Nach Monaten stand also endlich ein neues Haus an der Stelle, wo das alte niedergebrannt war.
Mittlerweile ging unsere kleine Gruppe immer öfter getrennte Wege. Greg studierte seit Kurzem weit im Süden und kam nur noch selten zu Besuch. Melissa, beziehungsweise Molly, wie sie seit Ihrland genannt wurde, hatte sich mit Mark näher angefreundet und war jetzt inoffiziell mit ihm zusammen. Inoffiziell, wie sie beide immer wieder kräftig beteuerten. Bis heute habe ich sie noch nicht wieder mit einem Finger im Mund gesehen, dieses Baby-Verhalten hatte sie tatsächlich durch Ihrland abgelegt. Sie besucht mit Patsy die zehnte Klasse der Realschule. Danach wird sie wohl in die Fußstapfen ihrer Familie treten und der Fischerei treu bleiben. Meine Schwester Martha hat vorzeitig ihren Schulabschluss gemacht und besucht seit letztem Sommer eine Kunsthochschule. Sie studiert Mode- und Textildesign und will dort ihre Erfahrungen aus Ihrland mit einbringen. Abwechslung sollten ihrer Meinung nach alternative Mittel und Stoffe in die Modewelt bringen. Patsy und ich sind tatsächlich immer noch zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie es so lange bei mir aushält. Wir versuchen, so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Unsere Clique existiert zwar immer noch so irgendwie, nur die Treffen werden immer seltener. Tja, man wird wohl älter ...
Mark und ich haben uns für die Ausbildung in handwerklichen Berufen entschieden. Mark als Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik – oder Gas-Wasser-Scheiße-Installateur, wie er es immer nennt. Mich hat Elektrizität schon immer fasziniert und so bin ich jetzt in der Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik gelandet. Wir merkten schnell, dass die Lehre doch etwas anspruchsvoller war als die Schule, die wir vorher durchlaufen hatten. „Hätte ich mal früher ein bisschen besser aufgepasst ..“, war eigentlich immer ein blöder Spruch gewesen, hörte ich uns aber doch immer öfter sagen.
Unsere Abneigung gegenüber den asozialen Netzwerken rund um Faxenbook und den anderen Datensammlern besteht immer noch und ist in keinster Weise gesunken. Wo es geht, versuchen wir, auf unsere Mobiltelefone zu verzichten und erst gar nicht im Internet aufzutreten. Seitdem wir unsere Online-Präsenzen eingestellt hatten, bemerkten wir erst, wie viel Zeit wir plötzlich für andere, viel nützlichere Sachen hatten. Dass da nicht mehr Leute drauf kommen, wundert uns immer wieder. Hey Leute! Es gibt ein Leben außerhalb des Internets! Ups, ich schweife schon wieder ab, also weiter ...
Der Regen ließ langsam nach und jetzt kämpfte sich sogar die Sonne mal wieder durch die Wolken. Die Musik war inzwischen zur Höchstform aufgelaufen und es ballerte Anarchy in UK von den Sex Pistols aus den Lautsprechern. Meine Zimmertür sprang plötzlich auf und knallte gegen die Wand. Ich wunderte mich kurz über die Kraft der Türscharniere, die trotz der Wucht und dem Schwung des Türblattes standhielten und die Tür festkrallten. Im Türrahmen stand Mark, einen Arm hochgestreckt, die Finger zur Pommesgabel geformt – kleiner Finger und Zeigefinger ausgestreckt, die restlichen Finger in den Handballen gesteckt – und wild mit dem Kopf nickend. Er brüllte mit aller Kraft: „Anarchy“, und grinste mich anschließend frech an. Blitz hob kurz gelangweilt den Kopf und drehte sich auf dem Bett einmal im Kreis, um wieder umzufallen und gleich darauf wieder einzuschlafen. Ich ging zur Musikanlage und drehte die Lautstärke runter.
„Moin, Torte, alter Punkrocker! Was liegt an?“
„Moin, Herr Wetterfest. Ich sag mal so: deine Haare nicht!“
„Hallo? Ich hab sie heute extra für dich geföhnt“, sagte er gespielt empört und strich sich mit der Hand durch die Haare.
„Hat nicht geholfen, kann ich dir sagen. Bist du als Schlechtwetter für den miesen Regen verantwortlich?“
„Also bitte! Ich habe alle meine Kontakte spielen lassen, aber keiner konnte etwas dagegen unternehmen. Und meinen Ur-Ur-Uropa wollte ich deswegen nicht extra rufen ...“
Sein Grinsen verriet mir, dass er tatsächlich darüber nachgedacht hatte. Immerhin hatte der Geist von Klaus dem Großen, der sein Ur-Ur-Uropa ist, damals zum Abschied gesagt, wir könnten jederzeit seinen Namen rufen, wenn wir in Schwierigkeiten wären. Er würde uns dann zur Seite stehen und uns unterstützen, so gut es ihm möglich sei. Na ja, für das Wetter wäre es wohl zu übertrieben gewesen, ihn zu rufen.
„Wie bist du eigentlich reingekommen?“, wollte ich von ihm wissen. „Soviel ich weiß, ist doch niemand zu Hause, oder doch?“
„Also, das war so“, begann er tief Luft holend, „ich ging so vor mich hin und dachte über den Weltfrieden nach ...“
„Oha“, dachte ich, „das wird eine längere Geschichte.“
„... dann sah ich diese riesige Pfütze auf der Straße. Ich konnte nicht anders, ich musste da reinspringen. Das hatte etwas Befreiendes, weißt du? Ja gut, der eine oder andere Autofahrer fand das jetzt nicht so witzig. Die haben dann gehupt oder sogar irgendwas gerufen. War mir aber egal, ich hatte Spaß. Bis dann dieser eine Typ ausstieg.“
„Was trinken?“, fragte ich schnell dazwischen, als er kurz Luft holte. Inzwischen brüllte, nun nicht mehr ganz so laut, If the Kids are united von Sham 69 aus den Boxen.
„Kein Bier vor vier“, grinste er, „oh, schon nach vier? Her damit.“
Ich hatte in meinem Zimmer einen kleinen Kühlschrank, den man auch zum Camping mitnehmen konnte. Ich griff hinein und zog zwei Dosen Bier raus. Er nahm mir eine ab und öffnete sie. Wir stießen an und nahmen einen großen Schluck.
„Also, der Typ steht da vor mir und hält mir sein Mobiltelefon vor die Nase. Da bin ich zu ihm, hab das Telefon genommen und mir ans Ohr gehalten. Ich sagte: Hallo? Es war aber keiner dran. Der Typ regte sich voll auf und wollte das Ding wieder haben. Ich frag ihn, wieso, ob das Gespräch doch nicht für mich war und wer da überhaupt dran war. Da fragt der mich ernsthaft, ob ich sie nicht alle hab oder was. Er wolle mich nur filmen für sein Intergramm oder wie das heißt. Ich frag ihn: Inter Gramm? Ich kenne nur Inter Mailand. Er wird voll handgreiflich und reißt mir das Telefon aus der Hand. Er wolle so einen Verrückten im Internetz prosten. Ich frag ihn: Wieso im Internetz? Er könne doch auch hier bei uns im Irish Pub jemandem zuprosten. Da sagt der noch, dass ihm so viele folgen bei diesem Inter Gramm. Da hab ich ihm vorgeschlagen, zur Polizei zu gehen, wenn er verfolgt wird. Er guckt mich nur doof an, sagt noch, ich soll mal lieber zum Arzt und gefälligst sofort von der Straße runter. Da sag ich ...“
„Mark?“
„Nee, nicht Mark. Ich sag zu ihm ...“
„Mark!“
„Wieso? Nein, nicht Mark. Ich ...“
„Mark Wetterfest! Ich wollte wissen, wie du hier reingekommen bist!“
„Ach so, ja. Durch’s Fenster.“
„Durch’s Fenster?“
„Ja, gut zugehört.“
„Welches Fenster?“
„Wohnzimmer.“
„Wohnzimmer?“
„Wieder gut zugehört.“
„So ein Quatsch! Das war verschlossen, als meine Eltern vorhin weggefahren sind.“
„Na ja, da war so ein Kerl ...“
„Was für ein Kerl?“
„Der da am Fenster stand.“
„Da stand ein Kerl am Fenster?“
„Ja, der hat mir aufgemacht.“
„Da war ein Typ bei uns im Wohnzimmer, der für dich das Fenster aufgemacht hat?“ Ich starrte ihm in die Augen und suchte nach einem Zucken oder Flimmern, das er immer bekam, wenn er seine Geschichten an Freunde oder Fremde loswerden wollte, aber ich konnte nichts erkennen.
„Ja, ich glaub, der wollte zur Kartbahn.“
„Häh? Wieso das denn?“
„Na, er hatte so eine Motorrad-Lederjacke an und so eine Sturmhaube auf, die man immer unterm Helm anzieht auf der Kartbahn. Außerdem noch Lederhandschuhe. Und ich glaube, er hatte es eilig, die Bahn macht wohl heute früher zu wegen des Wetters.“
„Also, den Quatsch soll ich dir abnehmen?“
„So war es. Ich bin dann durchs Fenster, nachdem er raus war, und war doch sehr verwundert über die Unordnung in eurem Wohnzimmer. Da sollte dringend mal wieder aufgeräumt werden.“
Da! Da war es! Ich konnte es genau sehen. Einen kurzen Moment war da dieses Flackern in seinen Augen.
„Erwischt!“ Ich sprang ihm entgegen und hielt meinen Zeigefinger direkt vor sein Auge. „Fast hättest du es geschafft. Nicht, dass ich dir auch nur eine Sekunde geglaubt hätte. Aber Respekt. Hat lange gedauert. Also, wie bist du reingekommen?“
Er grinste über das ganze Gesicht und nahm einen weiteren Schluck aus der Dose. „Ja, ich habe trainiert. Jeder andere hätte es mir auch abgenommen. Aber gut, pass auf. Ich habe geklingelt und die Tür öffnete sich.“
„Aha, wie spektakulär.“
„Ja, dein kleiner Bruder war so nett, aufzumachen. Du konntest ja leider in deiner musikalischen Gehör-Testphase die Klingel nicht vernehmen.“
„Snoopy? Ich dachte, die Nervensäge wäre mit Mami und Papi weg.“
„Immer noch so einen Stress mit ihm?“
„Nee, ist besser geworden nach Ihrland. Damals ist irgendwas zwischen uns passiert. Ab und zu muss man ihn noch wieder einnorden, aber es hat sich ziemlich positiv entwickelt.“
„Schön, zu hören. Was machen wir noch?“
„Weiß nicht. Ist so’n kaputter Tag heute. So ein verregneter Freitag hat irgendwie nichts. Musst du morgen arbeiten?“
„Nee, hab frei. Und nächste Woche Urlaub!“
„Echt? Ich auch! Lass uns dann mal was machen.“
„Gute Idee. Ich will mal wieder raus, irgendwo wild zelten oder so.“
„Bin dabei.“
Die Platte war mittlerweile bei einem Titel von Chelsea angekommen. You have the right to work grölten wir mit, stießen mit Dosenbier an und mussten lachen. Wir einigten uns auf einen Besuch am Abend im Irish-Pub, der einem alten Freund unserer Familien gehörte, trafen uns dort mit Patsy und Molly und feierten zu irischen Folksongs. Es wurde sehr spät und der nächste Morgen war nicht einfach.
*
Die Nacht war trocken geblieben und das Wochenende sollte schön werden. Nachdem ich nach einer intensiven Duschorgie mit wechselnden Kalt- und Heißwasserphasen meine Lebensenergie wiedererlangt hatte, ging ich in die Küche und setzte einen Kaffee auf. Die Maschine blubberte leise vor sich hin, während ich mir ein paar Eier in die Pfanne schlug. Mit Milch, Salz, Pfeffer und Muskat mixte ich mir eine große Portion Rührei zusammen. Genau die richtige Kombination, um meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Meine Eltern waren bereits fleißig im Garten und harkten die Blumenbeete. Snoopy spielte auf dem Rasen Fußball mit sich selbst und Blitz sah gelangweilt zu. Mit der Pfanne in der einen und dem Kaffeebecher in der anderen Hand jonglierte ich durch die Terrassentür raus auf die Veranda und machte es mir in einem Rattansessel gemütlich.
„Aha! Er lebt!“
Mein Vater. Kleiner Spaßvogel.
„Jo. Moin.“ Ich hob kauend den Daumen.
„Moin. Ganz schön spät geworden, was?“ Er lehnte locker auf seiner Harke.
„Halb“, sagte ich mit vollem Mund.
„Nee, Viertel vor.“ Jetzt mit erhobenem Zeigefinger.
„Vor was?“
„Sechs.“
„Aha.“ Wusste ich das auch schon mal.
„Nachdem du endlich die Treppen hoch gefallen warst, bin ich aus dem Bett und habe die Haustür zu und die Lichter hinter dir aus gemacht.“
„Danke“, grinste ich und nahm einen großen Schluck Kaffee aus dem Becher.
„Hauptsache Spaß gehabt und keinen Unsinn gemacht“, sagte meine Mutter, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
Die beiden waren zum Glück schon immer sehr locker in Sachen Erziehung und ließen uns eine Menge Freiraum.
„Wir wollen gleich den Grill anmachen. Bist du dabei?“, fragte mein Vater – jetzt auch wieder am Harken.
„Nee, danke. Hab erst mal genug gegessen. Ich fahr gleich zu Mark, wir zelten heute mit den Mädels am See.“
„Gut, dann nimm doch ein paar Senfpeitschen und den Einweggrill mit. Ihr könnt da ja zusammen grillen.“
Das Angebot nahm ich gerne an. Nachdem ich mein Geschirr in die Spülmaschine gestellt hatte, packte ich meine Sachen zusammen und holte das Zelt und die Campingtasche aus dem Keller. Die Bratwürste beziehungsweise Senfpeitschen, wie mein Vater immer so schön sagt, und den Grill steckte ich mit in die Tasche, verabschiedete mich und stieg aufs Rad.
Die Straßen waren inzwischen wieder von der Sonne getrocknet worden und nicht viel befahren. Da Mark nur zwei Straßen weiter um die Ecke wohnte, war ich nach kurzer Zeit am Ziel. Beim Neubau der Wetterfests angekommen, lehnte ich mein Fahrrad an den Gartenzaun und ging zur Tür. Das neue Haus hatte von außen große Ähnlichkeit mit dem alten Gebäude, das ja bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Sie wollten es beide so. Es sollte an den alten Familiensitz der Wetterfests erinnern. Natürlich wurde es auf dem aktuellsten Stand der Technik erbaut. Mit der neuesten Dämmtechnik und allem möglichen technischen Schnickschnack. Sogar die Strukturen der Räumlichkeiten des Vorgängerhauses wurden größtenteils übernommen.
Ich klingelte viermal, so wusste Mark, dass ich vor der Tür stand. Trotzdem öffnete meistens seine Mutter. Durch das geöffnete Wohnzimmerfenster hörte ich die Stimme von Purple.
„Keiner zu Hause! Hau ab!“, krächzte er.
Ich musste schmunzeln. Kleiner verrückter Papagei. Das mutigste Tier, von dem ich je gehört hatte. Er hatte Peggy damals durch den Geheimgang nach Ihrland geführt und so das Leben der beiden gerettet. Es war einfach unglaublich. Noch heute kommt das Thema bei fast jedem Gespräch auf den Tisch.
„Hey Purple! Ich bin’s, Onkel Torte! Mach mal auf!“, rief ich Richtung Fenster und grinste in mich hinein.
„Witzig. Haha!“, krächzte er zurück. „Mark! Torte!“, rief er laut. Seine Stimme verschwand aus dem Wohnzimmer. Er war wohl auf dem Weg zu Mark.
Ich klingelte noch einmal, diesmal ein wenig aggressiver und länger.
„Ja, Mann!“, hörte ich es genervt durch die geschlossene Tür. Diese öffnete sich dann endlich und Mark stand in Unterhose vor mir. Purple saß inzwischen auf seinem Kopf wie in einem Nest. Die Frisur von Mark war original nach dem Motto Ich steh jetzt mal auf und ignoriere jeden Kamm und jede Bürste, die mich aufhalten will. Er machte auf mich den Eindruck, als hätte er zwischen zwei Bahngleisen geschlafen, auf denen zwei Güterzüge stundenlang aneinander vorbeigefahren sind. Eigentlich sah er so aus, als wären sie über ihn drüber gefahren.
„Wie spät?“, fragte er zerknittert und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, zurück in den Keller, wo er auch im Neubau wieder sein Zimmer hatte.
Ich sah auf meine Armbanduhr und ging hinter ihm her, nachdem ich die Haustür hinter mir geschlossen hatte. „Gleich fünfzehn Uhr.“
„Nee, nicht jetzt. Heute Nacht.“ Bei jedem Schritt, den Mark die Stufen runterging, wippte Purple mit seinem Schwanz und Kopf auf und ab. Ich fragte mich, ob Mark überhaupt registriert hatte, dass der Vogel auf seinem Kopf saß.
„Viertel vor sechs, sagt mein Pa.“
„Aha.“ Er schlurfte in sein Zimmer und ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen. Purple hob während des Umfallens ab und flog auf seinen Stammplatz in dem neuen Zimmer. Im hinteren Bereich unter der Decke gab es jetzt ein Fenster zum Garten raus. Von außen war es auf Höhe der Grasnarbe eingebaut. So kam jetzt wenigstens Tageslicht ins Zimmer. Ein riesiger Fortschritt im Gegensatz zum alten Haus, in dem damals nur elektrisches Licht das Zimmer erhellte. Dort saß Purple jetzt auf seiner Stange und sah auf den wie erschlagen daliegenden Mark. Es kam mir so vor, als würde er den Kopf schütteln.
Auch die muffigen Gerüche der feuchten Räume waren natürlich nun nicht mehr vorhanden. Der auffallendste Unterschied aber war die neue Größe des Raumes. Beim Neubau war der Keller komplett umgeplant worden. Marks Zimmer war jetzt ein riesiges Loft. Mit Bar, Tresen, großer Surroundanlage für Musik oder Heimkino. Das Highlight des Raumes war aber die große Steintür, die vor zwei Jahren für uns der Eingang zu unserem größten Abenteuer wurde. Den Schlüssel dazu bewahrte Mark in einer Vitrine auf, die ebenfalls bei ihm im Zimmer stand. Bisher waren wir uns nicht einig geworden, ob wir ihn jemals wieder benutzen würden. Na ja, da lag Mark nun und stöhnte vor sich hin.
„Kaffee?“
„Mhmm ...“
„Okay, komme gleich wieder.“
Ich stieg die Treppe wieder hinauf und begab mich in die Küche, wo Peggy gerade aus dem Garten zu einer Pause reingekommen war und einen Cappuccino trank.
„Moin, Peggy, alles fit?“
„Moin, Thorsten. Ja, bei mir schon. Du stehst ja auch schon wieder aufrecht, aber Mark ... ich bin ja schon froh, dass er überhaupt wieder aufgewacht ist. Ihr hattet ja anscheinend eine anstrengende Nacht, was?“
„Och, soweit ich weiß, waren wir total entspannt“, grinste ich. „Mark braucht einen Kaffee. Ich mach mal, ja?“
„Du weißt ja, wo alles steht. Mach mal eine Bohne mehr rein. Du solltest jeden Trick anwenden, damit wieder Leben in seinen Körper zurückfließt.“
„Das bekomme ich locker hin.“ Ich mixte einen starken Kaffee zurecht und ging mit der Kanne und zwei Bechern wieder runter. Mark lag noch immer genauso da wie vorhin, nur schnarchte er jetzt leise ins Kissen.
„Kaffee!“, rief ich freudig.
Mark brummte irgendwas in die Federn.
„Komm schon. Wir wollen uns doch gleich mit den Mädels treffen und zum See. Nimm einen Schluck, dann fühlst du dich sofort wieder topfit.“
Wieder ein nicht zu identifizierendes Genuschel ins Bett hinein. Ich versuchte, mir vorzustellen, was er gesagt haben könnte.
„Ja, heute. Haben wir gestern mit ihnen abgemacht, weil doch heute und morgen gutes Wetter gemeldet ist. Dein Vorschlag war Zelten am See. Und jetzt hoch.“ Mit einem Schlag auf seinen Hintern verlieh ich meinen Worten Nachdruck.
„Ey ... Ich hab ’ne Freundin“, brummte er müde, aber jetzt wenigstens in der Bewegung des Aufstehens.
Ich setzte mich in seinen Relaxsessel und nahm einen Schluck zu mir. Mark rappelte sich auf und hockte sich auf die Bettkante. Dankbar hielt er den Becher Kaffee mit beiden Händen vor die Nase und sog den Duft erst mal ein, bevor er einen großen Schluck zu sich nahm.
„Hammer. Das ist Benzin für meinen Motor.“
Wir unterhielten uns noch kurz über die letzte Nacht und lachten über die Erlebnisse, die der jeweils andere nicht mehr so ganz auf dem Schirm hatte. Dann begab er sich in sein Badezimmer – ja, der feine Herr hatte jetzt ein eigenes Bad direkt an seinem Zimmer – und sprang unter die Dusche.
Kurze Zeit später packte er seine Sachen zusammen und wir holten sein Zelt aus einem der anderen Kellerräume. Nachdem wir alles beisammen hatten, verabschiedeten wir uns von Peggy, die jetzt Purple auf der Schulter sitzen hatte, stiegen auf die Räder und fuhren los in Richtung Innenstadt. Hier befand sich seit Gründung unserer Clique unser Treffpunkt: der große Brunnen im Stadtgarten. Durch die kleinen Gassen fuhren wir an einem Kanal entlang, der uns bis zur Kesselschleuse führte. An dieser Stelle verband eine große runde Schleuse vier Kanäle miteinander, die durch die Stadt beziehungsweise hinaus aufs Land führten. Weiter ging es über alte Kopfsteinpflaster-Straßen in Richtung Innenstadt. Am großen Fernmeldeturm vorbei kamen wir schließlich in die Fußgängerzone, wo wir vom Rad abstiegen und den Rest schoben. Wir gingen durch die Brickstraße, in der sich mein Lieblingscafé befand. In diesem Lesecafé konnte ich gemütlich einen Tee trinken und in Büchern schmökern. Die hektische Welt blieb draußen vor der Tür und drinnen entspannten die Gäste in ruhiger Atmosphäre. Durch den Rathausbogen zum alten Hafen waren es nur ein paar Meter. Direkt angrenzend am Hafenbecken begann der Stadtpark. Dort am Brunnen saßen Molly und Patsy bereits mit einem Eis in der Hand. Auch sie hatten uns erkannt und winkten uns zu. Als wir näher kamen, sahen wir ihre ernsten Gesichter und sie tippten beide mit ihren Zeigefingern auf ihre Uhren.
„Tut uns leid“, entschuldigte sich Mark, „wir wurden aufgehalten. Zuerst das kleine Mädchen bei uns in der Straße. Sie war mit dem Fahrrad gestürzt, da haben wir sie getröstet und nach Hause gebracht. Dann die Oma, die über die Straße wollte. Nachdem wir den Verkehr gestoppt und sie zur anderen Straßenseite gebracht hatten, mussten wir am Schwanenteich noch eine Entenfamilie aus einer misslichen Lage befreien. Dann kam noch ...“
„Mark Wetterfest!“ Es reichte Molly. „Das kannst du später mal deinen Enkelkindern erzählen. Wer feiern kann, sollte sich auch über die Konsequenzen im Klaren sein und keine voreiligen Termine vereinbaren, die er dann nicht einhalten kann.“
„Okay, ich bitte um Entschuldigung“, sagte er jetzt trotzig. „So war die Nacht ja auch nicht geplant. Ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen.“
„Kommt, wir können ja noch am See ein wenig weiter diskutieren“, beendete ich die kleine Auseinandersetzung.
Wir stiegen auf die Fahrräder und machten uns auf den Weg in Richtung Badesee. Den blank polierten schwarzen Mercedes, der am Straßenrand parkte, beachteten wir nicht. Er hätte uns eigentlich bekannt vorkommen müssen.
*
Er hatte die beiden sofort wiedererkannt. Das Mädchen mit dem roten Lockenkopf und die Blonde daneben gehörten zu dieser Bande von Nichtsnutzen, die ihm vor zwei Jahren, vier Monaten und dreizehn Tagen sein ganzes Leben versaut hatten. Ja, er hatte jeden Tag, eigentlich jede Stunde gezählt, die er im Gefängnis verbracht hatte. Es verging kein Tag, an dem er nicht über seine Rache nachgedacht hatte. Dieser glückliche Zufall, dass er sie hier im Stadtpark erkannt hatte, musste ein Zeichen sein. Als dann nach einigen Minuten auch noch zwei der Jungs dazukamen, konnte er sein Glück gar nicht mehr fassen. Dem Gepäck nach sah es so aus, als wollten sie zum Zelten fahren. So lange hatte er auf diesen Moment gewartet. Nach dem Prozess um die Brandstiftung, bei dem sogar behauptet wurde, er wäre ein Fall für die Psychiatrie – aufgrund seiner Aussagen um den unsichtbaren Geist, der sie gefangen und mit dem Auto zu den Polizisten gefahren hatte –, war schnell klar, dass er die gute Führung komplett durchstehen musste, um nach der Hälfte der Haftzeit entlassen zu werden.
Dieser Tag war gestern gekommen und endlich konnte die Zeit der Vergeltung beginnen. Die Kontakte, die er im Knast geknüpft hatte, waren ihm jetzt eine gute Hilfe. Als Erstes hatte er sich am Vortag in einem schäbigen Hinterhof mit einem heruntergekommenen Typen getroffen, der ihm eine Pistole verkauft hatte. Mit diesem Meinungsverstärker in der Hand war er zu seinem ehemaligen Boss Tollini gegangen und hatte seinen Mercedes zurückverlangt. Wie einfach das war, wenn man am längeren Hebel saß. Selbstverständlich könne er den Wagen wieder bekommen. Er könne auch wieder für ihn arbeiten, hatte Tollini mit Schweißperlen auf der Stirn und nervösen Zuckungen um die Mund- und Augenwinkel vorgeschlagen.
„Ist mir scheißegal, was du sagst“, hatte er als Antwort gegeben und Tollini war mehr und mehr in seinem großen Sessel zusammengesackt. Dieser ach so große Tollini hatte ihn und die beiden Ganoven Ede und Kurt damals einfach so hängen lassen. Das würde ein W. C. Schwarz nicht noch einmal zulassen. Er zielte mit der Waffe auf den Kopf seines Gegenübers und rief nach einem kurzen Moment der Stille laut: „Peng!“ Tollini wurde im selben Augenblick ohnmächtig. Er musste lachen. Ja, so hatte er es sich vorgestellt. Jetzt war er am Drücker. Er nahm Tollini die glimmende Zigarre aus den Fingern und warf sie in den Papierkorb. Anschließend schnappte er sich die Autoschlüssel vom Schreibtisch und ging seelenruhig in die Garage zu seinem geliebten Mercedes. Er zog das Tuch vom Auto und betätigte den automatischen Garagentoröffner. Dann stieg er hinter das Steuer und fuhr im Schutz der Nacht davon. Wenn Tollini Glück hatte, wachte er rechtzeitig auf, um den Brand zu löschen oder ihm zu entkommen. Wenn nicht, dann ... dann hatte er halt kein Glück. Er musste grinsen und erwischte sich bei dem Gedanken, dass es ihm um den schönen großen Eichenschreibtisch leidtun würde.
Die Kinder, ja für ihn waren es immer noch Kinder, obwohl sie mittlerweile fast volljährig sein müssten, machten sich jetzt auf den Weg und kamen direkt auf ihn zu. Er schnappte sich schnell die Tageszeitung vom Beifahrersitz, die er sich heute Morgen am Kiosk gekauft hatte, und versteckte sich dahinter, um nicht erkannt zu werden. Eine Schlagzeile lautete:
Brandstifter der Pistazienstraße vorzeitig aus Haft entlassen.
*
Am Badesee angekommen, packten wir unsere Zelte aus und bauten sie gemeinsam auf. Die Fahrräder schlossen wir mit einer Kette zusammen. Als alles aufgebaut und verstaut war und die Luftmatratzen aufgepustet waren – Mark machte Witze über die Mädels, warum das so lange dauern würde mit dem Blasen ... –, zogen wir uns die Badesachen an und sprangen ins Wasser. War nicht viel los um diese Uhrzeit. Die meisten Gäste waren wohl vormittags und über Mittag hier gewesen. Es war jetzt bereits später Nachmittag und außer uns waren nur noch zwei ältere Ehepaare anwesend. Die Idee, hier zu zelten, war wohl nur uns gekommen. Das Wetter der letzten Woche hatte sicherlich viele abgeschreckt.
Wir sprangen vergnügt wie kleine Kinder in den See, versuchten, die Tanzfigur aus Dirty Dancing nachzustellen oder mit einem Salto von den Schultern des anderen zu springen. Natürlich durften die Sprünge vom zehn Meter hohen Felsen nicht fehlen. Wir hatten das Gefühl, den Mädels würde das sehr imponieren. Ich glaube heute, das Gefühl hat uns damals wohl getäuscht. Na ja, wir hatten Spaß und das war es, was wichtig war.
Nachdem wir ausgiebig geplanscht hatten, zogen wir uns wieder in unser Zeltlager zurück. Wir sammelten Holz für ein Lagerfeuer und zündeten es – genau wie den Einweggrill – an. Bei Bratwurst und Bier saßen wir gemütlich um das knisternde Feuer und unterhielten uns über dies und das. Natürlich kamen wir auch wieder auf unser großes Abenteuer zurück, dass jetzt über zwei Jahre zurücklag. Auf den Geheimgang, den wir im Keller der Wetterfests fanden, das mittelalterliche Dorf, das wir in den unterirdischen Höhlen entdeckten, und dessen nette Bewohner, die uns so freundlich aufgenommen hatten. Das ausgerechnet der Vorfahre von Mark dieses Dorf damals angelegt und einen neuen Lebensraum geschaffen hatte, war für uns alle nicht zu glauben, aber wahr. Die Bedrohung durch einen kriegerisch veranlagten Häuptling eines zweiten Dorfes konnte mit unserer Hilfe beendet werden. Dabei lernten wir die Dorfälteste Freya kennen. Eine liebenswerte, sehr alte Frau, die uns das Leben der Ihrländer, so nannte sich das kleine Völkchen da unten, näher brachte. Auch den Anführer der Dorfwehr lernten wir näher kennen. Er hieß Kelvin und war anfangs ein heißblütiger Kämpfer, der niemandem traute. Wir konnten ihn schließlich davon abhalten, alle zu töten, die nicht seiner Meinung waren, und ihn davon überzeugen, sich unsere Verhaltensweisen anzueignen. Wir setzten mehr auf das miteinander Reden, statt sich gegenseitig zu bekämpfen. Mit der Hilfe von Klaus dem Großen, wie der Urururgroßvater von Mark genannt wurde, hatten wir schließlich die Probleme der beiden Dörfer in einer kurzen unblutigen Auseinandersetzung behoben und den Frieden nach Ihrland zurückgebracht. Wir spielten einige Szenen von damals am Lagerfeuer nach und mussten viel über die eine oder andere Szene lachen. Inzwischen waren wir die Einzigen, die sich noch am See aufhielten. Die Sonne verschwand langsam in den Baumspitzen, wobei die Temperatur jedoch noch recht angenehm war.
Plötzlich war es Patsy, die uns auf etwas aufmerksam machte. „Hey, seht mal da hinten! Am Wasserfall. Da rudert doch einer mit den Armen! Mein Gott, ich glaube, da ertrinkt jemand! Der ruft auch irgendwas!“
„Los, schnell! Wir müssen helfen! Da stimmt was nicht!“, rief ich erschrocken. Wir rannten ins Wasser und sprangen kopfüber hinein. Ich kraulte, so schnell ich konnte, zu der Stelle, wo eben noch jemand gezappelt hatte, jetzt aber nur noch aufgewühltes Wasser zu sehen war. Mark war dicht hinter mir. Nach endlosen Sekunden erreichten wir die Stelle, an der wir die Person vermuteten, und tauchten ab. Das Wasser war trüber, als gedacht, und so dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis meine Hand etwas packen konnte. Mark war neben mir und zog die Person auf der anderen Seite mit nach oben. Nach Luft schnappend, tauchten wir im Dämmerlicht der untergehenden Sonne wieder auf und wurden von Patsy und Molly unterstützt, um an der Oberfläche zu bleiben. Gemeinsam schwammen wir mit dem leblosen Körper im Schlepptau in Richtung Strand zurück.
Dort angekommen, zogen wir ihn ein Stück aus dem Wasser über den Strand, wobei wir ihn unter den Armen hielten und seine Fußspitzen zwei Spuren durch den Sand zogen. Sein Kopf hing locker zwischen den Schultern und wippte bei jedem Schritt von uns auf und ab. Es war ein Mann, so viel konnte man erkennen. Lange blonde Haare hingen ihm nass ins Gesicht. Die Kleidung kam mir seltsam vor, was ich aber auf die Nässe schob, die seine Klamotten am Körper kleben ließ. Während wir ihn zogen, prüfte Patsy mir ihren Fingern an seinem Hals den Puls. Er war schwach, aber wenigstens noch da. Wir diskutierten kurz, wer die Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen sollte. Mark sagte sofort wegen angeblichen Herpes ab. Die Mädels wollten nur, wenn es unbedingt sein musste. „Gut“, sagte ich, „dann werde ich es versuchen.“ Der Erste-Hilfe-Kurs war ja zum Glück noch nicht so lange her, da wir vor kurzer Zeit mit der Fahrschule begonnen hatten. Schließlich legten wir ihn auf dem Rücken ab und ich wischte ihm die Haare aus dem Gesicht. Entsetzt und sprachlos starrte ich ihn an. Die anderen sahen es jetzt auch und wie aus einem Mund riefen wir panisch: „Kelvin!“
Ich begann sofort mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung, da er nicht mehr atmete. Abwechselnd pumpte ich auf seinem Brustkorb mit beiden Händen aufgestützt und summte dabei den Bee Gees-Hit Staying Alive
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