Kanadische Wälder - Giles Blunt - E-Book

Kanadische Wälder E-Book

Giles Blunt

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Beschreibung

Der Nebel ist so dicht, dass Ivan Bergeron die Hand vor den Augen nicht sieht. So staunt er nicht schlecht, als sein Hund ihm einen abgerissenen Arm vor die Füße legt, den er offenbar in der Wildnis oberhalb von Algonquin Bay gefunden hat, einem kleinen Nest in Ontario im Südosten Kanadas. Zunächst glauben Detective John Cardinal und seine Partnerin Lise Delmore, dass der Mann von einem Bären getötet wurde. Doch schon bald entdecken sie in der Nähe einer abgelegenen Hütte weitere Leichenteile, und wenig später wird im Wald eine tote Frau gefunden. Als sich herausstellt, dass das erste Opfer nicht nur US-amerikanischer Staatsangehöriger war, sondern auch ehemaliges Mitglied der CIA, wird der Fall noch komplizierter. Cardinal und Delmore sehen sich mit der Naturgewalt eines Jahrhundert-Eissturms konfrontiert – und mit dem kanadischen Geheimdienst. Die Spuren führen sie in die besten Kreise von Algonquin Bay – und zu einem Verbrechen, das mehr als dreißig Jahre zurückreicht.

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Giles Blunt

Kanadische Wälder

Aus dem kanadischen Englisch Anke Kreutzer

Kampa

Für Janna

Denn jene Schachfiguren in der Ferne

Durchkreuzen diesen menschlichen Wunsch

Und so prallen sie gegen einen

ganz eigentümlichen Himmel.

Donald Lorimer,

Der stille Sturm

1

Zuerst kam die Wärme. Gerade mal drei Wochen nach Silvester, und es geschah etwas für diese Jahreszeit ganz und gar Ungewöhnliches: Das Thermometer stieg über den Gefrierpunkt. Innerhalb weniger Stunden glänzten die Straßen in Algonquin Bay schwarz von geschmolzenem Schnee.

Und keine Spur von Sonne. Über dem Turm der Kathedrale hing eine Wolkendecke, die, so schien es, nie mehr weichen wollte. In den milden Tagen, die folgten, herrschte vom Frühstück bis in den späten Nachmittag hinein ein beklemmendes Zwielicht. Alle munkelten vom Klimawechsel.

Dann kam der Nebel.

Zunächst strich er in zarten Bändern durch die Wälder rund um Algonquin Bay. Am Samstagnachmittag wogte er bereits in dicken Schwaden über die Highways. Die endlose Weite des Lake Nipissing schrumpfte zu einer blassen Silhouette, um schließlich ganz zu verschwinden. Langsam quoll der Nebel in die Stadt, unerbittlich drückte er sich an Kaufhäusern und Kirchen empor. Haus für Haus zogen sich die roten Backsteinbauten hinter den schmutzig grauen Vorhang zurück.

Am Montagmorgen konnte Ivan Bergeron nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Er war spät aus dem Bett gekommen, weil er am Abend zur Übertragung des Hockeyspiels ein Bier zu viel getrunken hatte. Jetzt ging er vom Haus in seine Werkstatt hinüber, die der Nebel völlig verschluckt hatte, obwohl sie keine zwanzig Meter entfernt lag. Das Zeug klebte ihm wie Spinnweben an Gesicht und Händen und waberte ihm durch die Finger. Und es trieb seltsame Spielchen mit Geräuschen. Gelbe Scheinwerferkegel schwebten in Zeitlupe vorbei, bevor, mit gespenstischer Verspätung, das Quietschen von Reifen auf nasser Fahrbahn folgte.

Irgendwo bellte sein Hund. Normalerweise war Shep ein ruhiger, unaufdringlicher Bursche. Doch aus irgendeinem Grund – vielleicht wegen des Nebels – lief er draußen im Wald herum und bellte wie verrückt. Der Lärm drang Bergeron wie Nadeln in den verkaterten Schädel.

»Shep! Hierher, Shep!« Er wartete einen Moment in der grauen Suppe, doch der Hund kam nicht.

Bergeron machte die Werkstatt auf und ging zu dem ramponierten Skimobil, das er eigentlich schon bis letzten Donnerstag hätte reparieren sollen. Der Eigentümer wollte den Motorschlitten mittags abholen, und das Ding lag immer noch, in alle Einzelteile zerlegt, quer über den Boden verstreut.

Er machte das Radio an, und die Stimmen der CBC tönten durch den Raum. Wenn es warm genug war, ließ er das Garagentor bei der Arbeit meistens offen, doch der Nebel wälzte sich wie eine Spukgestalt über die Schwelle, und er fand das deprimierend. Er wollte das Tor gerade herunterziehen, als das Bellen des Hundes lauter wurde und so klang, als käme es nunmehr aus dem Garten.

»Shep!« Bergeron watete durch den Dunst, eine Hand wie ein Blinder ausgestreckt. »Shep! Herrgott noch mal, bist du wohl still!«

Das Bellen ging in Knurren über, in das sich ein eigentümliches Winseln mischte. Bergeron durchlief eine Woge des Unbehagens. Das letzte Mal, als so etwas passierte, hatte er seinen Hund dabei erwischt, wie er mit einer Schlange spielte.

»Shep! Ist ja gut, mein Junge, ich komm ja schon.«

Langsam tastete er sich wie auf einem Felsvorsprung weiter. Er blinzelte in den Nebel.

»Shep?«

Er konnte den Hund – in zwei Meter Entfernung – so gerade eben erkennen, und er sah, dass er die Vorderläufe auf dem Boden ausgestreckt hatte und etwas zwischen den Pfoten hielt. Bergeron arbeitete sich näher heran und fasste ihn am Halsband.

»Ruhig, mein Junge.«

Der Hund winselte leise und leckte ihm die Hand. Bergeron bückte sich tiefer, um den Fund auf dem Boden besser sehen zu können.

»O mein Gott!«

Er lag da, weiß wie der Bauch eines Fischs, auf einer Seite von gekräuseltem Haar bedeckt. Kurz vor dem Ende mit dem Handgelenk waren noch die gezackten Abdrücke einer Uhr mit Gliederarmband auf der Haut zu erkennen. Auch wenn die Hand fehlte, lag dort, mitten in Ivan Bergerons Garten, unverkennbar ein menschlicher Arm.

 

Nur weil Ray Choquette beschlossen hatte, in Pension zu gehen, saß John Cardinal mit seinem Vater in diesem Wartezimmer fest. Er hätte längst drüben im Polizeipräsidium sein können, um die eingegangenen Anrufe abzuhören, oder – noch besser – draußen auf der Straße, um einem der schlimmen Finger rings um Algonquin Bay das Leben schwer zu machen. Aber nein, er hing hier fest, hatte seinen Vater am Hals und wartete auf eine Ärztin, die sie beide noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Eine Frau ausgerechnet – als ob Stan Cardinal sich von einer Frau was sagen lassen würde. Ray Choquette, dachte Cardinal, du fauler, rücksichtsloser Hund, dafür könnte ich dich erwürgen!

Cardinal senior war dreiundachtzig – physisch jedenfalls. Das Haar an seinen Unterarmen war inzwischen weiß, und er hatte die wässrigen Augen eines sehr alten Mannes. Andererseits benahm er sich nach Ansicht seines Sohnes nicht selten wie ein Vierjähriger.

»Wie lange will sie uns denn noch warten lassen?«, fragte Stan zum dritten Mal. »Wir hocken hier schon seit einer geschlagenen Dreiviertelstunde. Meint die vielleicht, andere Leute hätten ihre Zeit gestohlen? Kannst du mir sagen, wie die als Ärztin was taugen soll?«

»Das ist so wie überall im Leben, Dad. Ein guter Arzt ist ein gefragter Arzt.«

»Blödsinn. Es ist die Habgier. Hundert Prozent pure kapitalistische Habgier. Du weißt doch, bei der Bahn war ich mit fünfunddreißigtausend Dollar im Jahr glücklich und zufrieden. Dafür mussten wir uns schon ganz schön ins Zeug legen, und, bei Gott, was haben wir uns ins Zeug gelegt! Aber für fünfunddreißigtausend Dollar studiert kein Mensch Medizin.«

Jetzt geht das wieder los, dachte Cardinal. Nummer 27D. Das Hirn seines Vaters schien aus einer einzigen Plattensammlung zu bestehen.

»Und dann kommt die Regierung und hält sie am ausgestreckten Arm aus dem Fenster«, fuhr Stan fort. »Also satteln sie um und werden Börsenmakler oder Rechtsanwalt, wo sie die Kröten verdienen, die sie haben wollen. Und am Ende gehen uns die verdammten Ärzte aus.«

»Sag das Geoff Mantis. Er ist derjenige, der das Gesundheitswesen mit der Kettensäge saniert.«

»Die würden einen so oder so warten lassen, egal, wie viele es von ihrer Sorte gibt«, sagte Stan. »Sie halten sich für was Besseres, und sie halten sich nicht nur dafür, sondern es soll auch ja jeder sehen. Sie lassen dich warten, um dir zu sagen: ›Ich bin wichtig, du nicht.‹«

»Dad, es gibt zu wenig Ärzte, deshalb müssen wir warten.«

»Verrat mir mal eins: Hat ’ne junge Frau nichts Besseres zu tun, als den Leuten von morgens bis abends in den Hals oder den Hintern zu gucken? Mein Fall wär das jedenfalls nicht.«

»Mr. Cardinal?«

Stan erhob sich mühsam. Die junge Sprechstundenhilfe kam mit einem Schnellhefter hinter ihrem Schreibtisch hervor.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Geht schon, geht schon.« Stan drehte sich zu seinem Sohn um. »Worauf wartest du?«

»Ich muss doch nicht mit reinkommen«, sagte Cardinal.

»Nee, nee, du kommst mit. Ich will, dass du es selber hörst. Du meinst, ich könnte nicht mehr fahren, ich will, dass du die Wahrheit hörst.«

Die Arzthelferin machte die Tür zum Sprechzimmer auf, und sie gingen hinein.

»Mr. Cardinal? Winter Cates.« Die Ärztin war kaum älter als dreißig, doch sie stand von ihrem Schreibtischsessel auf, kam zu ihnen herüber und begrüßte sie mit dem unterkühlt knappen Handschlag eines alten Profis. Sie hatte eine zarte, blasse Haut, die sich scharf von ihrem schwarzen Haar abhob. Die dunklen Augenbrauen zogen sich zu einem fragenden Blick zusammen, der jetzt Cardinal galt.

»Ich bin sein Sohn. Er hat mich gebeten, mit reinzukommen.«

»Er glaubt, ich könnte nicht fahren«, sagte Stan. »Aber ich weiß, dass meine Füße wieder besser sind, und ich will, dass er es aus erster Hand erfährt. Wie alt sind Sie überhaupt?«

»Ich bin zweiunddreißig. Und wie alt sind Sie?«

Stan gab einen erstaunten Laut von sich. »Ich bin dreiundachtzig.«

Dr. Cates wies auf einen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch.

»Danke. Ich stehe lieber.«

So standen sie zu dritt mitten im Zimmer, während Dr. Cates Stans Krankenblatt durchging. Ihr Haar war mit einer Spange zusammengehalten, ohne die es, wild und schwarz, in alle Richtungen gesprungen wäre. Sie strahlte eine enorme Vitalität aus, die der Ernst ihres Berufs nur gerade eben im Zaum hielt.

»Also, Sie waren bis vor Kurzem ein gesunder Mann«, sagte die Ärztin.

»Nie geraucht, nie mehr getrunken als ein Bierchen zum Essen.«

»Dann sind Sie auch ein kluger Mann.«

»Soll Leute geben, die das anders sehen.« Stan warf seinem Sohn einen vielsagenden Blick zu, den Cardinal ignorierte.

»Und Sie haben Diabetes, den Sie mit Glukophage behandeln. Kontrollieren Sie Ihren Zucker selber?«

»Sicher. Wüsste zwar was Besseres, als mir alle fünf Minuten in den Finger zu piken, aber egal. Ich halte meinen Blutzucker strikt im Normalbereich. Sie können sich gern davon überzeugen.«

»Das habe ich vor.«

Stan sah Cardinal an. Sein Gesicht sagte: Will die Frau mir dumm kommen? Bei Gott, falls diese Frau mir dumm kommen will …

»Und Dr. Choquette schreibt hier, Sie hätten nicht unerhebliche neuropathische Beschwerden in den Füßen.«

»Hatte. Ist besser geworden.«

»Sie hatten Mühe mit dem Laufen. Sogar mit dem Stehen. An Fahren war gar nicht zu denken, stimmt’s?«

»Also, das würde ich so nicht sagen. Meine Füße haben sich einfach angefühlt wie … nicht wirklich taub, aber … als hätt ich Schwämme drum. Aber deshalb bin ich nicht langsamer gegangen.«

Bitte lass ihn nicht fahren, dachte Cardinal. Er bringt sich noch selber um oder jemand anderen, und ich bin nicht scharf drauf, den Anruf zu kriegen.

Dr. Cates führte Stan zu einer Tür nach rechts. »Nehmen Sie einen Moment im Behandlungszimmer Platz. Ziehen Sie bitte Ihre Schuhe und Strümpfe und das Hemd aus.«

»Das Hemd?«

»Ich möchte Ihr Herz abhorchen. Dr. Choquette hat Rhythmusstörungen festgestellt und Sie an einen Kardiologen überwiesen. Das war vor sechs Monaten, aber hier stehen keine Untersuchungsergebnisse.«

»Na ja, hab’s irgendwie nie bis zu diesem Kardiologen geschafft.«

»Das ist nicht gut«, sagte Dr. Cates. Es lag eine gewisse Strenge in ihrem Ton.

»Er hatte zu tun, ich hatte zu tun. Sie wissen ja, wie das ist. Irgendwie kam’s nicht dazu.«

»In Ihrer Familie gibt es Herzinsuffizienz, Mr. Cardinal. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Sie wandte sich an Cardinal. Sie hatte diesen kühlen Blick, den er an einer Frau sexy fand, offensichtlich, weil er das Gegenteil bezweckte. »Ich glaube, Sie warten besser hier draußen.«

»Gerne.« Cardinal setzte sich.

Es klopfte an der Tür, und die Sprechstundenhilfe kam herein. »Tut mir leid. Craig Simmons ist da. Ich soll Ihnen unbedingt ausrichten, dass er immer noch wartet.«

»Melissa, ich habe einen Patienten hier. Ich hab den ganzen Tag Patienten, die warten, bis sie an die Reihe kommen. Er kann nicht einfach so reinplatzen.«

»Ich weiß. Genau das versuch ich ihm die ganze Zeit klarzumachen. Ich hab’s ihm hundertmal klargemacht, aber er hört einfach nicht.«

»Na schön. Sagen Sie ihm, ich hab nach diesem Patienten fünf Minuten Zeit für ihn. Aber das ist das letzte Mal … Tut mir leid«, sagte Dr. Cates, als ihre Helferin gegangen war, und ihre dunklen Augen wirkten plötzlich nicht mehr kühl. »Manche Leute wollen einfach nicht begreifen.«

Sie ging in das Behandlungszimmer und machte die Tür hinter sich zu. Cardinal konnte ihre Stimmen hören, aber nicht verstehen, was sie redeten. Er sah sich im Sprechzimmer um. In Ray Choquettes Tagen hatte es nur aus Chrom und Vinyl bestanden. Jetzt gab es Ledersessel, einen Deckenventilator und zwei Glasvitrinen randvoll mit medizinischer Fachliteratur. Ein dunkelroter Perserteppich verlieh dem Ganzen etwas Behagliches, Einladendes, es wirkte eher wie ein Arbeitszimmer als ein Praxisraum.

Eine Viertelstunde später kam Dr. Cates aus dem Behandlungszimmer, gefolgt von seinem Vater, der aussah, als wäre er kurz vor dem Platzen.

Sie zog ihren Rezeptblock heraus und redete mit ihm, während sie schrieb. »Ich gebe Ihnen zwei Rezepte. Das erste ist ein Diuretikum; damit sollten wir Ihre Brust wieder freibekommen. Und das andere ist ein Blutverdünnungsmittel, damit Ihr Blutdruck nicht zu hoch wird.« Sie riss die Rezepte ab und reichte sie Stan. »Ich werde den Kardiologen selber anrufen. So können wir sicherstellen, dass Sie schnell einen Termin bekommen. Meine Sprechstundenhilfe wird Sie anrufen und Ihnen durchgeben, wann.«

»Und was ist mit dem Autofahren?«, fragte Cardinal.

Dr. Cates schüttelte den Kopf. Eine schwarze Haarsträhne fiel herab und kringelte sich um ihren Hals. »Kein Autofahren.«

Das brachte für Stan das Fass zum Überlaufen. »Verdammt noch mal. Wie würden Sie das finden, wenn Sie nicht aus dem Haus könnten, ohne jemanden zu holen? Was wissen Sie denn schon mit Ihren dreißig Jahren? Woher wollen Sie wissen, was ich fühlen kann oder nicht – in meinen Füßen oder sonst wo? Ich bin schon zwanzig Jahre Auto gefahren, da waren Sie noch nicht geboren. Hab nicht einen Unfall gehabt. Nicht mal ein Knöllchen wegen Geschwindigkeitsübertretung. Und da kommen Sie und wollen mir weismachen, ich könne nicht fahren? Was soll ich Ihrer Meinung nach wohl tun? Ihn alle fünf Minuten anrufen?«

»Ich weiß, dass es unangenehm ist, Mr. Cardinal. Und Sie haben recht, mir würde das ganz und gar nicht gefallen. Aber es gibt ein paar Dinge, die Sie nicht vergessen sollten.«

»Oh, sicher, jetzt dürfen Sie mir auch noch sagen, was ich denken soll.«

»Lassen Sie mich bitte ausreden.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, lassen Sie mich ausreden.«

Geschieht dir recht, dachte Cardinal. Eine Menge Leute – zuweilen auch sein eigener Sohn – ließen sich von Stans Ausbrüchen einschüchtern, doch diese junge Frau bot ihm die Stirn.

»Ein paar Dinge, die Sie vielleicht bedenken sollten. Erstens, diese Neuropathie wird wahrscheinlich wieder besser. Sie haben auf Ihren Blutzucker geachtet, und das ist das Beste, was Sie tun können. In drei, vier Monaten sieht vielleicht alles schon ganz anders aus. Zweitens, jeder von uns ist auf andere Menschen angewiesen. Wir müssen alle lernen, um Hilfe zu bitten, wenn wir jemanden brauchen.«

»Ich komm mir wie ein Krüppel vor, verdammt noch mal.«

»Davon geht die Welt nicht unter. Ehrlich gesagt macht Ihr Herz mir viel größere Sorgen. Ich höre eine Menge Wasser in Ihrer Brust. Kümmern wir uns erst mal darum, und danach machen wir uns Gedanken, wie wir Sie wieder hinters Steuer kriegen, einverstanden?«

Als Cardinal und sein Vater ins Wartezimmer zurückgingen, sprang ein Mann von seinem Stuhl auf und stürmte an ihnen vorbei. Irgendwie kam er Cardinal bekannt vor – diese Mischung aus Blondschopf und Fitness-Freak war ihm schon mal begegnet, doch die Tür zum Sprechzimmer schloss sich, bevor ihm einfiel, wo er den Typen hinstecken sollte.

Er wartete, während die Arzthelferin seinem Vater ein Überweisungsformular erklärte. Aus dem Sprechzimmer drangen wütende Stimmen.

»Hat Dr. Cates oft solche Patienten?«, fragte Cardinal die junge Frau.

»Das ist kein Patient. Das ist – na ja, ich weiß nicht, wie man so was nennen soll.«

»Können wir hier bitte verschwinden?«, sagte Stan. »Ob du es glaubst oder nicht, ich hab keine Lust, den Rest meines Lebens in einer Arztpraxis zu verbringen.«

 

Cardinal musste es den Algonquin hoch langsam angehen lassen. Der Nebel, der seit Tagen über der Gegend lag, war am Fuß des Airport Hill am dichtesten. Ende Januar, und so warm wie im April. Normalerweise hätten sie um diese Jahreszeit einen grellblauen Himmel haben müssen und Minusgrade, dass man am liebsten gar nicht mehr aufs Thermometer guckte. Doch der Nebel sah so aus, als bliebe er für immer.

»Natürlich dummes Zeug mit der globalen Erwärmung«, sagte Cardinal, um seinen Vater aus seinen düsteren Gedanken zu reißen.

»Sie hat mit mir geredet wie mit einem Sechsjährigen«, sagte Stan.

»Sie hat dir die Wahrheit gesagt. Jemandem die Wahrheit zu sagen, zeugt von Respekt.«

»Wie zum Beispiel, dass du nichts Besseres zu tun hättest, als mich durch die Gegend zu kutschieren?«

»Also, du sagst doch immer, ich hätt mir einen lausigen Job ausgesucht.«

»Womit ich ja wohl recht habe. Wieso du deine Zeit damit verplempern willst, Geistesgestörte und Landstreicher zu jagen, geht über meinen Verstand. Oder diese Familiengeschichten, die du auf den Tisch kriegst – Ehemänner, die so besoffen sind, dass sie nicht mehr stehen können. Wir wissen doch beide, dass ihr nur deshalb überhaupt je welche schnappt, weil die Gauner noch dämlicher sind als die … Hey, wo willst du hin, John? Das da hinten war meine Einfahrt.«

»Tut mir leid. Ich seh rein gar nichts in dieser Suppe.«

»Guck mal da rüber, das Eichhörnchen ist gerade noch zu erkennen.«

Stan Cardinal hatte ein riesiges Eichhörnchen aus Kupfer in seinem Vorgarten, eine antike Wetterfahne, die er vor Jahren aufgetrieben hatte. In dem grauen Einerlei hatte das Ding etwas Gespenstisches. Cardinal wendete und bog in die Auffahrt ein.

»Ruf mich morgen an und lass uns zusehen, dass du zu diesem Kardiologen kommst. Wenn ich nicht kann, macht es Catherine bestimmt nichts aus, dich … Wart mal.« Sein Handy summte.

»Cardinal, wo stecken Sie?« Es war Mary Flower, Sergeant im Dienst. »Wir haben einen Banküberfall Ecke Main Street, McPherson, und wir brauchen jeden Mann.«

»Ich übernehme.« Er schaltete das Handy aus. »Ich muss los«, sagte er zu Stan. »Ruf Catherine nachher an und gib ihr durch, wann du morgen hinmusst.«

»Ernste Krise, ja? Wetten, noch so ’n Familiendrama.«

»Ein Banküberfall genauer gesagt.«

 

Die Federal Trust lag mitten im Stadtzentrum an der Hauptstraße – ein niedriger roter Backsteinbau, der gar nicht erst versuchte, sich in die ein Jahrhundert alte Architektur seiner Umgebung einzufügen. Cardinal hatte kein Konto bei dieser Bank, doch er erinnerte sich, wie er einmal als Kind mit seinem Vater hineingegangen war. Als er vorfuhr, standen bereits drei schwarz-weiße Polizeiautos kreuz und quer über der Straße und auf dem Bürgersteig.

Ken Szelagy, ein Grizzlybär von einem Mann und nach eigener Aussage ein verrückter Ungar, stand an der Tür und quasselte in sein Handy. Als er Cardinal sah, hob er die Hand. »Der Kerl hat sich längst aus dem Staub gemacht. Wir versuchen gerade, das Überwachungsvideo in die Finger zu kriegen. Wird bestimmt lustig, in dieser Erbsensuppe nach ihm zu suchen, he?«

»Jemand verletzt?«

»Nee. Aber ’n bisschen mitgenommen.«

»Ist Delorme schon da drinnen?«

»Mmh. Hat den Laden ziemlich gut im Griff.«

Lise Delorme war nicht nur eine erstklassige Kriminalbeamtin, sondern sie hatte darüber hinaus diese ruhige, vernünftige Art, ein echter Pluspunkt im Umgang mit der Öffentlichkeit. Sie besaß auch optische Qualitäten, die für sie sprachen, doch im Moment zählte nur ihre vernünftige Art. Cardinal hatte schon mehrere Banküberfälle bearbeitet, und gewöhnlich bekam man es am Tatort mit einem Haufen Leute am Rande der Hysterie zu tun. Doch Delorme hatte es fertiggebracht, dass alle Angestellten ruhig hinter ihren Schreibtischen saßen und auf ihre Vernehmung warteten. Als Cardinal hereinkam, sah er sie hinter der Glasfront des Vorgesetztenbüros mit dem Direktor sprechen.

Der Direktor selber hatte von dem Raubüberfall nichts mitbekommen, doch er führte sie zu der jungen Kassiererin, die wenige Minuten zuvor in die Mündung einer Pistole gestarrt hatte. Cardinal überließ die Befragung Delorme.

»Er hatte ein Tuch vor dem Gesicht«, sagte die Kassiererin. »Mit einem Schottenmuster. Er hatte es wie ein Bandit hochgezogen, ich meine, wie in einem Western. Es ging alles so schnell.«

»Und seine Stimme?«, fragte Delorme. »Wie hat er sich angehört?«

»Ich hab seine Stimme nicht gehört. Er hat nichts gesagt – glaube ich jedenfalls. Er stand einfach nur da, starrte mich an und reichte mir einen Zettel über die Theke. Es war entsetzlich.«

»Haben Sie diesen Zettel noch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat ihn wieder mitgenommen.«

Cardinal sah sich um. Zu seinen Füßen lag ein zusammengeknülltes Stück Papier. Er hob es auf und entfaltete es an den Ecken, um keine Fingerabdrücke zu verwischen. Auf der einen Seite war es maschinenbeschriftet, auf der Rückseite stand in Bleistift und in eigenwilliger Orthographie: Halt den Munt oder ich schiese. Drück keinen Alarmknopf oder ich schiese. Reich mir alles Geld rüber, dass du in deiner Schupplade hast.

»Ich hab die oberste Schublade ausgeleert und alles in einen braunen Umschlag gesteckt. Wir sind ausdrücklich angewiesen, uns in einer solchen Situation so zu verhalten, wir sollen einfach tun, was sie verlangen. Er hat das Geld in seinen Rucksack gesteckt.«

»Was für eine Farbe hatte der Rucksack?«

»Rot.«

»Sind Sie sicher, dass er überhaupt nichts gesagt hat?«, fragte Delorme. »Zweifellos ging alles sehr schnell, aber versuchen Sie, das Ganze noch einmal in Gedanken durchzugehen.«

»Er hat gesagt: ›Tu’s einfach.‹ So was in der Art. Ach, und: ›Beeil dich.‹«

»Hatte er einen Akzent?«, fragte Delorme. »Englisch? Frankokanadisch?« Sie selber hatte einen leichten frankokanadischen Akzent. Cardinal hatte ihn immer nur bemerkt, wenn sie sich ärgerte.

»Ich hatte solche Angst, er würde mich erschießen, dass ich nicht darauf geachtet habe.«

»Ach du liebes bisschen«, sagte Cardinal und starrte auf die Rückseite des Zettels. »Es ist Wudky.« Er trat von der Kasse zurück und winkte Delorme zu sich.

»Wer zum Teufel ist das – Wudky?«, fragte sie. Delorme hatte, bevor sie zum Kriminalkommissariat kam, sechs Jahre lang im Innendienst der Sonderermittlung gearbeitet. Ihre Kenntnisse der hiesigen Fauna waren daher lückenhaft.

»WDK – oder Wudky – die Abkürzung von ›Der Welt dümmster Krimineller‹. Wudky ist Henry Hewitt.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, Sie kennen diesen Hewitt-Typen?«

Cardinal reichte ihr den Zettel. »Halten Sie ihn an der Ecke fest, hier.«

Delorme warf einen Blick auf beide Seiten des Papiers und hielt plötzlich den Atem an. »Das ist ein alter Haftbefehl. Der Typ schreibt ›Hände hoch‹ auf seinen eigenen Haftbefehl? Ich glaub’s nicht.«

»Wer den Titel ›Der Welt dümmster Krimineller‹ halten will, macht keine halben Sachen. Robert Henry Hewitt ist ein richtiger Champion, und ich weiß auch zufällig, wo er wohnt.«

»Ach ja? Ich auch. Steht hier auf seinem Haftbefehl.«

 

Robert Henry Hewitt bewohnte das Kellerappartement eines winzigen, heruntergekommenen Hauses, das sich in die Gletscherspalte eines Felsens hinter der Ojibwa-Hauptschule zwängte. Cardinal brachte den Wagen in einem grauen Nebelschwaden zum Stehen. Sie konnten so eben die Reihe verbeulter Mülltonnen am Ende der Einfahrt erkennen.

»Sieht fast so aus, als könnten wir ihn zu Hause hochnehmen.«

»Wieso denken Sie, dass er noch kommt, falls er noch nicht da ist?«

Cardinal zuckte die Achseln. »Es ist das Dümmste, was mir einfällt.«

»Was für einen Wagen fährt er?«

»Einen orangefarbenen Toyota, ungefähr hundert Jahre alt. Selbst die Spachtelstellen sind verrostet.«

Sie hörten das Auto, bevor sie es sahen – eine körperlose Ansammlung von Soundeffekten für den Blechmann im Zauberer von Oz. Dann rasselte etwas neben ihnen, und ein loses Auspuffrohr schleifte über den Bürgersteig, als der Wagen in die Einfahrt bog.

»Machen Sie schon mal Ihre Tür auf«, sagte Cardinal. »Halten wir uns bereit.«

»Aber er ist bewaffnet«, sagte Delorme. »Sollten wir nicht Verstärkung anfordern?« Sie sah ihn an und maß ihn mit diesen ernsten braunen Augen von oben bis unten. Cardinal musste öfter an Delormes Augen denken, als ihm lieb war.

»Eigentlich ja. Andererseits kenne ich Robert. Wir sind nicht in Lebensgefahr.«

Das eine noch funktionierende Rücklicht des Toyota wurde matt und ging aus.

Cardinal und Delorme stiegen aus und ließen den Wagen offen, um keine Geräusche zu machen. Auf dem nassen Pflaster schlichen sie langsam auf den Toyota zu.

Der Fahrer, ein kleiner Mann mit krausem hellbraunem Haar und einem karierten Tuch um den Hals, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Er holte eine zum Bersten volle Food-Mart-Einkaufstüte heraus, schlang sich einen roten Rucksack über die Schulter und warf die Kofferraumtür mit dem Ellbogen zu.

»Robert Henry Hewitt?«

Er ließ den Rucksack und die Lebensmittel fallen und rannte los, doch Cardinal erwischte seine Jacke, und sie fielen beide in einem Knäuel von Armen und Beinen zu Boden. Schließlich zog Cardinal ihn hoch, und der Meisterdieb von Algonquin Bay fand sich, Gesicht nach unten und die Beine gespreizt, auf dem Kofferraum seiner Klapperkiste wieder.

»Wenn er sich rührt, versohlen Sie ihm den Hintern«, sagte Cardinal zu Delorme und klopfte ihn ab. Er zog eine Pistole aus der Jackentasche. »Du liebe Güte. Eine Feuerwaffe.«

»Is doch nur ’n Spielzeug«, sagte Hewitt. »Ich hätt doch nie keinem Menschen was getan.«

»Hätt doch nie keinem Menschen wo was getan?«

»In der Bank, verflucht noch mal.«

»Robert, was sage ich jedes Mal zu dir, wenn ich dich sehe?«

Wudky verdrehte den Kopf und blickte über die Schulter. Als er Cardinal erkannte, grinste er und bleckte die schiefen, verdorbenen Zähne.

»Oh, hi! Wie geht’s? So ’n Zufall aber auch, hab grad an Sie gedacht.«

»Robert, was sage ich jedes Mal zu dir, wenn ich dich sehe?«

Wudky überlegte einen Moment. »Sie sagen: ›Sauber bleiben, Robert.‹«

»Keiner hört auf mich, Sergeant Delorme«, sagte Cardinal. »Das ist ein echtes Problem. Werfen Sie mal einen Blick in den Rucksack da. Ich würde sagen, das genügt für hinreichenden Tatverdacht.«

Delorme machte den Reißverschluss des Rucksacks auf und zog einen dicken, braunen Umschlag heraus, auf dessen einer Ecke Federal Trust eingeprägt war. Sie öffnete ihn weit und zeigte Cardinal den Inhalt.

Cardinal pfiff anerkennend. »Da haben wir ja ’ne tolle Ausbeute, Robert. Mann, wie’s aussieht, hast du zig Dollar ergattert.«

2

Nachdem Wudky sicher hinter Schloss und Riegel war, kehrte Cardinal an seinen Schreibtisch zurück, um seine Zusatzberichte zu schreiben.

Der Betrag, den Wudky ergattert hatte, war eine Bagatelle. Hätte er ihn aus einer Ladenkasse gestohlen, bekäme er kaum mehr als eine Bewährungsstrafe, doch Cardinal wusste, dass die Staatsanwaltschaft auf einer Anklage wegen Bankraubs bestehen würde, und verfasste seinen Bericht entsprechend.

Er war fast fertig, als Sergeant Mary Flower ihm zurief: »Hey, Cardinal, ich glaube, Sie sollten mal mit Wudky reden.« Sie kam aus dem Gang, der von den Zellen zum Wachraum führte.

»Wudky?«, sagte Cardinal. »Wie wichtig soll das schon sein?«

»Er sagt, er hat Informationen über einen Mord.«

Cardinal warf Delorme, die ein paar Tische weiter saß, einen vielsagenden Blick zu. Sie verdrehte die Augen.

»Wissen Sie, wie unwahrscheinlich das ist?«, sagte Cardinal.

Flower zuckte die Achseln. »Das müssen Sie ihm sagen, nicht mir.«

Cardinal und Delorme gingen zum Zellentrakt nach hinten. Es gab acht Zellen, die zwischen Gewahrsam und Garage ein L bildeten. Wudky war in der zweitletzten, der einzigen, die im Moment besetzt war.

»Für nix sag ich nix«, rief er ihnen entgegen und versuchte, knallhart zu klingen. Mit seinem zerknirschten Gesicht und seinem stinkenden Sweatshirt war er die elendeste Kreatur, die Cardinal je gesehen hatte. »Wollt mal fragen, ob ich Ihnen eventuell vielleicht ’nen Deal oder so anbieten könnte, wodurch ich eventuell gegen Kaution rauskönnte oder so.«

»Da würd ich mir nicht allzu große Hoffnungen machen«, sagte Cardinal. »Hängt allerdings davon ab, was du uns zu sagen hast. Ich kann nichts versprechen.«

»Aber Sie könnten ’n gutes Wort für mich einlegen? Denen sagen, dass ich meine Pflicht getan hab? Als Staatsbürger un’ so? Dass ich der Polizei geholfen hab?«

»Wenn du uns brauchbare Informationen lieferst, werde ich dem Staatsanwalt sagen, dass du dich nützlich gemacht hast.«

»Und Reue gezeigt hab, ja? Sagen Sie ihm, das mit der Bank tut mir leid. Weiß gar nicht, was da in mich gefahren ist.«

»Ich werd’s ihm sagen. Was hast du auf Lager, Robert?«

»Ich meine, ich find’s echt beschissen, wissen Sie – besonders, wo Sie mir doch andauernd gesagt haben, ich soll sauber bleiben – und ich nehm das ernst. Ich will nich’, dass Sie denken, dass ich nich’ auf Sie höre. Ich hör schon auf Sie, ich vergess es nur wieder. Ich meine, mir setzt sich einfach so ’ne Idee im Kopf fest, und dann wirbelt sie da so lange rum wie ’n Wäschetrockner.«

»Robert?«

»Wie?«

»Erzähl uns einfach, was du weißt.«

»Okay. Also, an dem Tag, bevor ich so getan hab, als ob ich die Bank überfallen würde?«

»Sie haben Geld gestohlen«, sagte Delorme. »Sie haben nicht nur so getan.«

»Okay, okay. An dem Tag davor. Bin nach Toronto runter, zu meiner Freundin.«

Cardinal notierte im Geist, dass er – wenn er mal nichts Besseres zu tun hatte – mehr über die Freundin rausfinden sollte. Entweder war die nicht ganz richtig im Kopf, oder sie war eine Heilige.

»Ich bin also nach T.O. runter zu meiner Freundin, und abends denk ich so, ach, gehst mal in ’ne Bar, ich mein, einfach mal ’n Abend alleine weg un’ so. Ich fahr also zur Spadina Road rüber – kennen Sie das Penny Wheel?«

»Nur zu gut.« Bevor er nach Algonquin Bay kam, war Cardinal zehn Jahre lang bei der örtlichen Polizei von Toronto gewesen. Jeder Cop da unten kannte das Penny Wheel. Es war ein Kellerloch auf der Spadina, die Art roter Plüschschuppen, die nur ein Krimineller schön finden konnte. Erstaunlicherweise hatte es – in ganz Toronto – ausgerechnet dieser Schuppen geschafft, sich allen Veränderungen zu widersetzen.

»Ich bin also drüben im Penny Wheel, und wer kommt zur Tür rein? Thierry Ferand höchstpersönlich – das is’n Trapper und all so ’n Scheiß.«

»Ich kenne Thierry.« Ferand gehörte tatsächlich zu den Pelztierjägern der Gegend. Zweimal im Jahr kam er aus den Wäldern in die Stadt, um seine Ware bei der Pelzauktion zu verkaufen. Dabei schaffte er es jedes Mal, wegen Trunkenheit und ordnungswidrigen Verhaltens oder ähnlicher Vergehen verhaftet zu werden. Es gab Gerüchte, denen zufolge er gelegentlich für die hiesige Version der Mafia arbeitete, doch nichts dergleichen konnte ihm je nachgewiesen werden. Er war klein und gemein und ziemlich ausgekocht. Wenn er sich aufregte, trieben seine dreckigen kleinen Hände ganz plötzlich Schlagringe aus.

»Also, ich und Thierry, wir kennen uns schon ’ne Ewigkeit.«

»Seit Kingston Pen, wenn ich mich recht entsinne.«

»Wow! Woher hab’n Sie das denn? Ihr Jungs seid unglaublich. Na ja, ich seh also Thierry allein in ’ner Ecke sitzen, ich geh also rüber, und wir kommen ins Quatschen un’ so. Und Thierry hat ganz schön einen in der Krone, verstehen Sie? Ich meine, er is’ stinkbesoffen. Und er fängt an, mir Sachen zu flüstern.« Wudky trat an die Stangen seiner Zelle und spähte nach links und rechts in den Korridor, bevor er, in einem Tonfall, der auf eine Information von nationaler Bedeutung schließen ließ, hinzufügte: »Große Sachen.«

»Wie zum Beispiel?«

»Ach, nix. Nur ’n klitzekleiner Mord. Wär das eventuell interessant für Sie?« Neben Robert Henry Hewitts anderen herausragenden Qualitäten ging er locker als der schlechteste Schauspieler der Welt durch. Cardinal hatte Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. Er wagte nicht einmal, Delorme anzusehen, damit sie nicht beide zugleich losprusteten.

»Nun ja, sicher, Robert. Das könnte uns interessieren.«

»Und Sie erzählen diesem Staatsanwaltstypen, dass ich Ihnen geholfen hab?«

»Das war’s, ich gehe.« Cardinal machte einen Schritt Richtung Tür.

»Warten Sie, okay, okay! Ich sag’s ja schon. Sie sind ’n ganz schön harter Brocken. Hab im Knast Typen getroffen, die nich’ so Druck machen wie Sie.« Wie um den Kopf von Cardinals Ungeduld freizubekommen, bohrte sich Wudky ausgiebig mit dem Finger im Ohr herum. »Wo war ich stehen geblieben? Also, Thierry is wirklich sternhagelvoll, und er fängt an, so ’ne Sache zu erzählen, wo er richtig Schiss ’von gekriegt hat, wissen Sie? Er kippt sein zehntes Bier oder so, und er lehnt sich volle Breitseite über den Tisch und erzählt mir, was ’nem Freund von ihm passiert is’. Typ namens Guy Bressard. Noch so ’n Trapper, verstehn Sie? Stellt sich raus, dass sie diesen Paul Bressard ’n Kopf kürzer gemacht haben. Und zwar ’n Kerl von auswärts, dem er Geld schuldete. Könnte die Mafia sein, ’n Pate oder so was in der Art. Schonma’ das Video gesehen?«

»Könnten wir uns auf diese Geschichte konzentrieren, Robert?« Bressard hatte tatsächlich einmal, wenn auch vor langer Zeit, wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht gestanden, nachdem er einen Mann halb tot geprügelt hatte, der Leon Petrucci Geld schuldete. Vielleicht war es der eisige Klang von Petruccis Stimmensynthesizer (Andenken an seine Vorliebe für kubanische Zigarren) auf den Bändern des Abhörgeräts, in dem Bressard mitgeteilt wurde, es solle sein Schaden nicht sein, wenn er »ihren Standpunkt klarmachen würde«, jedenfalls hatten die Schöffen kalte Füße bekommen, und weder Bressard noch Petrucci hatten auch nur einen Tag gesessen. Nicht auszuschließen, dass seine Mafia-Verbindungen Bressard jetzt eingeholt hatten.

»Ich sag Ihnen was. Der Kerl – irgend so ’n übler Bursche – kam von irgendwo auswärts nach Algonquin Bay und erledigte Bressard, und Thierry sagt, er weiß, wo die Leiche liegt.«

Cardinal drehte sich zu Delorme um. »Irgendeine Vermisstenanzeige zu Paul Bressard reingekommen?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich kann mal auf dem schwarzen Brett nachsehen.«

»Also gut, Robert, wo ist die Leiche?«

»Muss ich das wissen, wenn Sie mir helfen soll’n?«

»Sagen wir mal, es würde deine Chancen verbessern. Und woher will Thierry Ferand überhaupt wissen, wo die angebliche Leiche vergraben ist?«

»Weiß ich doch nich’! Hab ihn nich’ gefragt!« Wudky legte den Kopf schief wie der Hund auf dem Schallplatten-Label und kratzte sich den Schädel. »Na ja, vielleicht hat er es mir ja auch gesagt, und ich kann mich nur nich’ dran erinnern. Hatte selber ’n paar Bier gekippt. Aber ich verrat Ihnen da ’nen Mord, von dem Sie keine Ahnung haben, stimmt’s? Das wird mir der Staatsanwalt doch wohl hoffentlich anrechnen, oder?«

»Ich geh der Sache nach«, sagte Cardinal. »Und ich kann nur hoffen, du verschwendest nicht meine Zeit.«

»Bestimmt nich’, würd ich doch nie wagen, ey!«

3

Cardinal fuhr am Haus seines Vaters vorbei an den nördlichen Stadtrand von Algonquin Bay, wo er nach links in die Ojibwa Road einbog. Dort gab es nur drei Häuser – zwei verfallene Bungalows und Bressards anderthalbstöckiger Backsteinbau. Selbst im Nebel sah es aus wie jedes andere spießige Vorstadthaus, nichts daran verriet dem flüchtigen Betrachter, dass sein Eigentümer so wie Generationen vor ihm davon lebte, Tieren wegen ihres Fells Fallen zu stellen.

Bei Paul Bressard selber war das was anderes. Er kam gerade aus dem Haus, als Cardinal in die Einfahrt bog, und er sah ganz und gar nicht spießig aus. Pelztierjäger sind eine Sorte für sich, mit einem Hang zur Exzentrik, gelinde gesagt, sodass sie an einem konservativen Ort wie Algonquin Bay ziemlich aus dem Rahmen fallen. Aber selbst in diesem bunten Haufen war Bressard eine auffallende Type. Er kam in einem breitkrempigen Biberhut und einem bodenlangen Waschbärmantel die Eingangsstufen heruntergerauscht, obwohl es für beides zu warm war. Er hatte einen gezwirbelten Schnauzbart, der ihm bis unters Kinn reichte, und tief liegende Augen, die so dunkel waren, dass sie schon schwarz wirkten. Diese Augen richtete er auf Cardinal, und als er ihn wiedererkannte, brach er in ein Grinsen aus, das einem Filmstar zur Ehre gereicht hätte.

»Arbeiten Sie neuerdings für den Naturschutz? Woll’n Sie mich wegen irgend so ’nem Schonzeitscheiß drankriegen?«

»Nein, ich hab nur gehört, Sie wären tot. Dachte, ich schau mal vorbei, um sicherzugehen.«

Bressard runzelte die Stirn. Augenbrauen wie Eichhörnchenschwänze trafen über der Nase aufeinander.

»Ich möchte Sie keinesfalls beunruhigen«, fuhr Cardinal fort. »Es geht da nur dieses Gerücht, Sie hätten das Zeitliche gesegnet. Vielleicht der Anfang für eine Stadtlegende.«

Bressard blinzelte genau zwei Mal, um die Nachricht zu verdauen, bevor er zum zweiten Mal sein Filmstarlächeln auflegte. »Sie sind den weiten Weg hier rausgekommen, nur um zu sehen, ob’s mir gut geht? Ich bin gerührt, Mann, wirklich gerührt. Wie soll ich denn gestorben sein?«

»Man erzählt sich, dass irgendjemand von auswärts – vielleicht einer von diesen finsteren Touristentypen, die Sie auf die Jagd mitnehmen – es sich in den Kopf gesetzt hat, Sie umzulegen und im Wald zu verbuddeln.«

»Also, eigentlich krieg ich um diese Jahreszeit nicht allzu viele Touristen zu sehen. Und wie Sie sehen, bin ich noch am Leben.«

»Ich weiß – Sie sind nicht mal als vermisst gemeldet. Herbe Enttäuschung.«

Bressard lachte.

»Mit solchen Gerüchten müssen die Großen nun mal leben«, sagte Cardinal. »Jetzt können Sie wenigstens sagen, dass Sie mit Paul McCartney was gemeinsam haben.«

»Machen Sie Witze? Ich seh zehnmal besser aus als der Typ. Kann auch besser singen.« Bressard stieg in seinen Ford Explorer und kurbelte das Fenster herunter. »Sie sollten mal zu ’nem Karaoke-Abend bei den Chinook rauskommen. Sie werden mich um ein Autogramm anbetteln.«

Cardinal sah zu, wie Bressard Richtung Stadt an ebendem Wald vorbeifuhr, in dem der Trapper seinen mehr als angemessenen Lebensunterhalt verdiente.

 

An der Kreuzung zwischen der Algonquin und der Umgehungsstraße zum Highway 11 kam Cardinal wegen eines Unfalls nicht weiter. Ein Traktor war mit seinem Anhänger auf die Gegenfahrbahn geschwenkt. Es gab keine Toten, doch der Verkehr kam nur stockend voran, solange sie versuchten, das Hindernis von der Straße zu bekommen. Cardinal hörte die Nachrichten und wartete. Der Vorsitzende des Provinzverbands der Neuen Demokraten umriss die Themen der Partei für die kommenden Wahlen: Gesundheitsreform, Kindertagesstätten zur Entlastung berufstätiger Mütter und höhere Mindestlöhne. Leider mochte Cardinal den Kerl nicht, auch wenn er ihm in allem, was er sagte, nur beipflichten konnte. Dann kam die Erwiderung von Premierminister Geoff Mantis, in der er die Opposition als die »Meister im Steuererhöhen und Geldausgeben« bezeichnete. Kein Zweifel, die Tories hatten die besseren Sloganschreiber. Sie schienen nur gar nicht auf die Idee zu kommen, die Regierung müsse vielleicht für irgendjemanden irgendetwas tun. Schließt die Krankenhäuser, macht die Schulen dicht, und alle sind zufrieden.

Dann kam der Wetterbericht. Über dem größten Teil des nördlichen Ontario würde sich der Nebel halten, und danach gäbe es ein bisschen Regen. Ein Experte erklärte, warum diese komische Wärme nicht unbedingt ein Zeichen globaler Erwärmung war, sondern vermutlich nur eine statistische Abweichung darstellte.

Cardinals Handy klingelte.

»Cardinal.«

Es war Mary Flower. Sie klang aufgeregt. »Cardinal, Sie müssen sofort zur Sackville Road raus – Skyway Service Centre. Delorme ist schon unterwegs.«

»Wieso? Was ist los?«

»Sie haben eine Leiche gefunden, so was Ähnliches jedenfalls.«

 

Cardinal kehrte um und fuhr nach Westen Richtung Sackville Road. Der Nebel war in diesem Teil der Stadt dünner, nicht viel mehr als ein weißer Dunst. Nach einer Weile kam er an eine vergammelte Tankstelle. Skyway Service Centre, Reparaturen von Schneemobilen & Außenbordern. Verbeulte Wracks von Schneemobilen waren wie buntes Kaminholz an eine Wand gestapelt.

Als er aus dem Wagen stieg, hielt Lise Delorme hinter ihm.

»Wir stehen schwer in Wudkys Schuld, Lise. Wir sollten den Richter bitten, ihm eine Woche extra aufzubrummen.«

»Paul Bressard ist nicht tot?«

»Paul Bressard ist nicht nur nicht tot, Paul Bressard erfreut sich bester Gesundheit.«

»Na ja, das hier wird vermutlich ein bisschen interessanter.«

Ein großer Mann kam in einem verschmierten Overall aus der Werkstatt. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und war vermutlich einmal eine imposante Erscheinung gewesen. Doch der Overall wölbte sich vorne, als steckte ein Basketball darin. Sein Gesicht verschwand unter einem buschigen Holzfällerbart, schwarzgrau meliert. Ivan Bergeron war die eine Hälfte der Bergeron-Brüder, eineiige Zwillinge, die volle sechs Jahre lang den Mannschaftssport an der Algonquin Highschool beherrscht hatten. Das war ein bisschen vor Cardinals Zeit gewesen, doch Ivan und sein Bruder Carl waren ihm aus seinem ersten Jahr am Gymnasium als eine explosive Mischung im Hockey- wie auch im Football-Team in Erinnerung geblieben.

»Sagen Sie uns, was Sie gefunden haben«, sagte Cardinal. »Dann gehen wir rüber und werfen einen Blick drauf.«

»Also, ich bin in der Werkstatt«, erzählte Bergeron, »und versuch, ein 74er-Ski-Doo wiederzubeleben, das schon vor zwanzig Jahren auf den Schrott gehört hätte. Der Hund fängt an zu bellen, ist sonst nicht seine Art, und auf einmal kläfft er los wie ’n Wahnsinniger. Ich brüll, er soll aufhören, aber er macht weiter. Irgendwann geh ich raus, und da steht er im Garten hinterm Haus und – am besten kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen.«

Um die Ecke lehnte sich ein zweistöckiges Haus an die Werkstatt, als wäre es ohnmächtig geworden. Bergeron führte sie daran vorbei in den Garten. »Da liegt es, da«, sagte er und wies mit dem Finger drauf. »Ich hab den dämlichen Köter gleich ins Haus geschleift, als ich sah, was es ist. Er hat auch noch erwartet, ich würde ihn dazu beglückwünschen oder so, aber ich dachte nur, das kann doch nicht wahr sein.«

»Wann war das?«, fragte Cardinal.

»Weiß nicht – so um zehn herum?«

»Und Sie holen uns erst jetzt?«

»Na ja, woher soll ich denn wissen, was ich machen soll? War ja nicht gerade so was wie ’n Notfall. Und ehrlich gesagt, ich wollte am liebsten gar nicht drüber nachdenken.«

Cardinal hatte in seinen zwanzig Dienstjahren eine Menge unschöner Dinge gesehen, aber noch nie einen menschlichen Arm, der vollständig von seinem Eigentümer abgetrennt war. Sie standen vielleicht drei Meter davon entfernt. Ivan Bergeron machte keine Anstalten, einen Schritt näher zu gehen. Er pflanzte sich breitbeinig auf und verschränkte die Arme über dem Bauch.

Cardinal und Delorme gingen zu dem Ding hinüber.

»Ihr nehmt es doch hoffentlich mit«, sagte Bergeron.

»Noch nicht«, sagte Cardinal. »Sind Sie sicher, dass der Hund es hierhergebracht hat? Sie haben ihn nicht dabei beobachtet, oder? Sie sind erst rausgekommen, als er dastand und es anbellte, nicht wahr?«

»Er muss es aus dem Gebüsch rübergeschleppt haben. Er hat ’ne ganze Weile da draußen rumgetobt, bevor er damit ankam.«

Cardinal merkte, wie sein Magen seltsame Kapriolen schlug. Es war etwas Irritierendes an einem menschlichen Körperteil, der so gänzlich fehl am Platze war. Er lag auf einem schmutzig grauen Stück Schnee und war, abgesehen von den krausen dunklen Haaren, die zum Ellbogen hin dichter, zum Handgelenk hin dünner wurden, vollkommen blass. Er wies tiefe Male von Tierkrallen auf, doch wenig Blut.

»Sieht ganz so aus, als hätte sich da jemand mit einem Bären angelegt«, sagte Cardinal.

»Einem Bären?«, fragte Delorme. »Halten die nicht um diese Jahreszeit Winterschlaf?«

»Das warme Wetter kann sie durcheinanderbringen«, erwiderte Cardinal. »Kommt schon mal vor, dass sie aufwachen. Und dann kommt der kleine Hunger. Wird lustig werden, den Kerl da zu identifizieren.«

»Sehen Sie sich die Haare an seinem Unterarm an«, sagte Delorme und zeigte mit dem Finger darauf. »Sie sind grau.«

»Hmm. Wir müssen die Vermisstenmeldungen nach älteren Männern durchforsten. Aber erst mal sollten wir das finden, was sonst noch von dem Kerl übrig ist.

»Sie schaffen das Ding da doch weg, ja?«, sagte Bergeron noch einmal. »Ich merke nämlich, dass ich mit einem Arm auf meinem Rasen nicht gut arbeiten kann.«

 

Am Ende musste Ivan Bergeron doch noch den ganzen Nachmittag lang mit einem Arm auf seinem Rasen arbeiten. Cardinal hängte sich ans Telefon und besorgte sich so viele Polizisten außer Dienst, wie Mary Flower zusammentrommeln konnte. Dann rief er bei der Provinzpolizei Ontario an und eiste noch einmal dreißig Beamte los. Zuletzt rief er den Leiter der Feuerwehr an und bekam weitere dreißig Mann dazu – die, was mindestens genau so wichtig war, drei Suchhunde mitbrachten. Diese Suchhunde hatten nichts von den Dalmatinern, die man gewöhnlich mit der Feuerwehr assoziiert; vielmehr handelte es sich um deutsche Schäferhunde, die darauf abgerichtet waren, in ausgebrannten Häusern, in die man wegen der Einsturzgefahr keine Menschen mehr schicken konnte, Leichen aufzuspüren.

Binnen einer Stunde hatte Cardinal einen Trupp von hiesigen Beamten, unterstützt von Feuerwehrmännern und Provinzpolizei, zusammen. Eine kleine Armee von Männern und Frauen in blauer Uniform rückte aus und arbeitete sich systematisch zwischen glitzernden Kiefern und Birken voran. Niemand sprach ein Wort. Es war wie in einem Film, wenn man den Ton abgestellt hat.

Sie stapften durch glitschiges Unterholz und sogen den schweren Geruch von Kiefernnadeln und faulendem Laub ein. Die Zweige stachen ihnen ins Gesicht und verfingen sich in ihrem Haar. Nach ungefähr zehn Minuten machte Constable Larry Burke den nächsten Fund, diesmal ein Bein. Und noch einmal überkam Cardinal dieses Gefühl, als ob sich ihm der Magen umdrehte. Was da vor ihnen lag, war das Bein eines Mannes, das ihm an der Hüfte abgetrennt worden war, am Fuß heil, doch mit einem völlig zerfetzten oberen Ende.

»Gott Allmächtiger«, sagte Delorme.

»Ganz offensichtlich ein Bär.« Cardinal wies auf die Wunden. »Da sieht man es deutlich. Und da. Das Biest muss Zähne so groß wie Ihre Hand gehabt haben.«

Im Nebel kam die Arbeit nur langsam voran. Zwei Stunden vergingen, bevor sie noch weitere Körperteile fanden: ein zweites, teilweise abgenagtes Bein und einen Unterleib, der so angefressen war, dass man ihn kaum noch erkennen konnte; einer der Spürhunde hatte seine Entdeckung unter einem umgefallenen Baumstamm angeknurrt. Wahrscheinlich hatten der oder die Bären es dort versteckt, um es später aufzufressen.

Einige Zeit danach fand Cardinal ein Stück Schädel mit einem Stück Ohr, an dem noch eine getönte Fliegerbrille hing.

»Glauben Sie, es ist Zufall, wo die Teile jeweils liegen?«, fragte er Paul Arsenault, der die Brille fotografierte. »Oder können Sie sich vorstellen, dass jemand sie absichtlich verstreut haben könnte?«

»Sie meinen, jemand, der kein Bär ist?«

»Jemand, der kein Bär ist, ja.«

Arsenault ging in die Hocke und kaute an einem Ende seines Schnurrbarts herum. »Falls es ein Muster gibt, glaube ich kaum, dass wir es von hier unten erkennen können. Wir brauchen eine Luftansicht.«

»Der Nebel wird zwar dünner, aber wir werden wegen der Bäume trotzdem nichts sehen können. Nicht mal mit roten Sichtzeichen.«

Arsenault kaute am anderen Zipfel weiter. »Wir könnten Gasballons anbringen. Meine Tochter hatte letzte Woche Geburtstag, und wir haben noch ’ne ganze Menge zu Hause.«

Also schickten sie einen Polizisten zu Arsenault nach Hause, der nach zwanzig Minuten mit den Ballons zurückkam. Sie banden zehn Meter Angelschnur an jeden Ballon, befestigten ein Gewicht am anderen Ende und platzierten es jeweils an den Fundstellen. Anschließend machte die Provinzpolizei Aufnahmen aus der Luft.

 

Cardinal und Delorme waren schon wieder beim Skyway Service Centre, um den nächsten Suchtrupp einzuteilen, als ein schwarzer Lexus vorfuhr. Cardinal erkannte ihn und sackte innerlich zusammen. Dr. Alex Barnhouse war die Art Störenfried, die man bei einer Untersuchung am wenigsten brauchen konnte. Zugegeben, ein guter Coroner, aber er ging einem auf den Wecker, und zwar nicht nur Cardinal.

Barnhouse kurbelte das Fenster herunter. »Mal ein bisschen zack, zack, Leute, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

Cardinal winkte ihm vergnügt zu. »Tag auch, Doc! Wie geht’s?«

»Können wir voranmachen, bitte?«

»Haben Sie schon mal so was Atemberaubendes gesehen? Die Bäume? Der Nebel? Wie aus dem Bilderbuch, finden Sie nicht?«

»Ich wüsste nicht, was das auch nur im Geringsten mit dem zu tun hat, was mich herführt.«

»Sie haben recht. Am besten parken Sie diesen wunderschönen Buick da drüben, und wir fangen an.«

Barnhouse stieg aus und brachte seine Tasche mit. »Gott steh uns bei«, sagte er, »wenn die Dorfpolizei nicht mal mehr den Unterschied zwischen einem Buick und einem Lexus erkennt.«

»Sie sind ungezogen«, sagte Delorme leise, als sie zusammen zum Garten hinübergingen.

»Er hat was, das meine kindische Seite anspricht.«

Barnhouse untersuchte den abgetrennten Arm und folgte ihnen anschließend, die schwarze Tasche in der Hand, in den Wald. Er schenkte den verschiedenen Körperteilen kaum Beachtung. »Detective Cardinal«, sagte er. »Mein fachmännisches Urteil lautet, dass dieser nicht identifizierte Mann eines unnatürlichen Todes starb. Darauf weist zum Beispiel die Tatsache hin, dass in der Nähe der Leiche keine Kleider gefunden wurden. Die geringe Menge Blut deutet ebenfalls darauf hin. Angesichts der schweren Verletzungen, die das Tier oder die Tiere ihm zugefügt haben, müssten die Bäume und Blätter hier voller Blut sein. Sind sie aber nicht.«

»Könnte das nicht einfach nur bedeuten, dass die Bären ihn woanders getötet und die Leiche dann quer durch den Wald geschleppt haben?«

Barnhouse schüttelte den Kopf. »Der Bär oder mehrere Bären haben ihn gefressen. Sie haben ihn nicht getötet. Man sieht das deutlich an den großen Knochen. Ich bin überzeugt, dass einige der Verletzungen nicht von einem Tier stammen, sondern von einer Axt oder einem anderen scharfen Gegenstand. Die Knochen scheinen abgehackt, nicht herausgerissen zu sein. Ich bin in diesen Dingen kein Experte, und Sie werden zweifellos auf die Dienste des Gerichtsmedizinischen Zentrums in Toronto zurückgreifen müssen.«

»Was können Sie uns zur Todeszeit sagen?«

»Großer Gott, Mann. Wie soll ich mir dazu was aus den Rippen schneiden? Wir haben nicht einmal einen Magen, dessen Inhalt wir untersuchen können.«

»Na schön. Und das mit der Axt? War er da schon tot oder noch nicht?«

»Schon tot. Die Knochen sind nicht eingeblutet, das heißt, der Herzstillstand war schon eingetreten, bevor er zerstückelt wurde. Und dafür sind wir, nehme ich doch an, alle dankbar.« Barnhouse kritzelte etwas auf einen Formularblock, riss das oberste Blatt ab und reichte es Cardinal. »Mit schönem Gruß an die Gerichtsmedizin. Wenn jetzt bitte jemand die Güte hätte, mich hier rauszubegleiten? Ich wünsche noch einen schönen Tag.«

Cardinal machte Larry Burke ein Zeichen.

»Hier lang, Doc«, sagte Burke. Und Cardinal sah den beiden nach, bis sie der Nebel verschluckte.

»Ich sollte mich eigentlich inzwischen an ihn gewöhnt haben«, sagte Delorme. »Hab ich aber nicht.«

Cardinals Walkie-Talkie kreischte, und eine Stimme sagte etwas Unverständliches.

»Cardinal. Könnten Sie das bitte wiederholen?«

»Ich sagte, wir haben hier unten eine Hütte.« Es war Arsenaults Stimme. »Ich glaube, Sie sollten sich das mal ansehen.«

»Wo sind Sie?«

»Vom Service Centre den Hang runter. Folgen Sie dem Bachlauf nach Westen.«

Delorme blickte in das blassgraue Gespinst zwischen den Bäumen. »Nach Westen? Und wo bitteschön soll der Bach sein?«

 

Sie fanden den Wasserlauf und folgten ihm, bis sie Stimmen hörten. Vor ihnen nahmen die diffusen Umrisse einer Hütte Gestalt an. Arsenault kniete neben einem Busch und hantierte mit einem Taschenmesser und einem Reagenzglas.

»Was haben Sie gefunden?«, fragte Cardinal.

»Lacksplitter. Sieht so aus, als ob vor Kurzem jemand hier reingefahren ist.« Er machte eine Daumenbewegung nach hinten, wo eine schwache Reifenspur zu erkennen war. »Hier könnte der Wagen runtergekommen sein«, fügte er hinzu. »Ich meine, bevor die Bären sich den Kerl geschnappt haben.«

Cardinal sah sich die Reifenspuren genauer an. »Was meinen Sie? Können wir davon einen Gipsabdruck bekommen?«

»Ausgeschlossen«, sagte Arsenault. »Zu viele Blätter.«

»Dachte ich mir. Was ist das hier eigentlich? Ein ehemaliger Holzfällerweg?«

»Klar. Muss so achtzig Jahre alt sein. Man sieht allerdings, dass er benutzt worden ist. Wahrscheinlich von dem stolzen Besitzer dieser Bruchbude hier.«

Arsenaults Partner von der Spurensicherung, Bob Collingwood, war bereits in dem Verschlag.

»Bah«, sagte Delorme, »dieser Gestank!«

Die Hütte war kaum mehr als fünfzehn Quadratmeter groß und aus ungehobeltem Holz gezimmert, das wenig gegen die Kälte und nichts gegen die Feuchtigkeit ausrichtete. Es gab einen Kühlschrank, ein verrostetes Feldbett mit einer Matratze, die an einem Ende aufgerollt war, eine Küchenarbeitsplatte aus Metall mit zwei Spülbecken und einem eisernen antiken Holzofen, dessen Türchen an einem beschädigten Scharnier offen herunterhing. Der ganze Raum roch nach Fäulnis – Schimmel, Moder und verrottetem Holz.

»Es war kein Schloss dran«, sagte Arsenault, der hinter Delorme hereinkam. »Die Tür stand halb offen.«

»Ist lange nicht benutzt worden.« Delorme zeigte auf die riesigen Spinngewebe rund um den Eingang. »Ist das eine Trapperhütte?«

»Ganz und gar illegal natürlich«, sagte Cardinal. »Sie bauen sie sich, wo und wie es ihnen passt. Fragt sich nur, wessen Trapperhütte. Es muss mindestens ein Dutzend Kerle geben, die sich hier draußen ihre Brötchen verdienen.«

Collingwood war ein junger Mann mit Segelohren, der gründliche Arbeit leistete und kein Wort zu viel sagte. Cardinal konnte die vollständigen Sätze, die er während seiner ganzen bisherigen Laufbahn von sich gegeben hatte, an den Fingern einer Hand abzählen, denn Collingwood hatte die Neigung, wenn er schon mal den Mund aufmachte, in einzelnen Wörtern zu reden. Er wies schweigend auf die Spülbecken. Sie hatten diese Art Pumpenschwengel, wo man die Wasserhähne erwarten würde. Collingwood zog sich Latexhandschuhe an und steckte den Finger in den Ausguss. Als er ihn wieder herauszog, war er fleckig.

»Ist das Rost oder Blut?«, fragte Cardinal.

»Blut.«

»Er könnte demnach hier getötet worden sein. Andererseits könnte es auch einfach nur Tierblut sein.«

Delorme kniete inzwischen vor dem Holzofen. »Offenbar hat jemand versucht, in dem Ding Kleider zu verbrennen. Collingwood, haben Sie eine Staubdecke?«

Collingwood machte ein Lederköfferchen auf, das alle Werkzeuge seiner Zunft enthielt, und zusammen breiteten sie ein dünnes Plastiktuch aus – weiß, damit Beweismaterial darauf gut zu sehen war. Mit einer Pinzette zogen sie die verkohlten Reste aus dem Ofen. Sie fanden eine Jeans, von der nur noch der Bund übrig geblieben war, einen Hemdkragen, mehrere Knöpfe, den größeren Teil von zwei Schuhsohlen und einen Klumpen bis zur Unkenntlichkeit verbranntes Material.

Collingwood entnahm seinem Köfferchen ein Instrument und maß damit die Größe der Schuhsohlen. »Größe 45.«

»Gut«, sagte Cardinal. »Wir brauchen auch noch die Konfektionsgröße des Hosenbunds und des Hemdkragens, falls davon genug übrig ist, um es zu messen.«

Delorme stocherte äußerst behutsam mit der Pinzette in der Asche herum. »Was ist das denn?« Sie hatte nur laut gedacht.

In der Pinzette hing ein Klumpen geschmolzenes Metall. Sie legte es auf die Staubdecke. Die Rückseite war glänzender, und darauf war der Umriss eines Tiers noch teilweise zu erkennen.

»Sieht wie ein Seetaucher aus«, sagte sie. Sie warf den beiden Männern einen fragenden Blick zu.

Cardinal lehnte sich über ihre Schulter, um besser sehen zu können. »Ich glaube, ich weiß genau, was das ist.«

4

Das nördliche Ufer des Lake Nipissing gehört zu den malerischsten Flecken in ganz Ontario, doch beim Anblick des Lakeshore Drive – einer Straße, die am Steilufer der Bucht, der Algonquin Bay den Namen verdankt, entlangführt – hätte man meinen können, sie sei nur gebaut worden, um diese Tatsache vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Sie hatte schon immer die hässlichsten Häuser geradezu magisch angezogen. An der Seeseite wimmelte es von Fast-Food-Buden, Tankstellen und Motels mit exotischen Namen, denen jeder Charme abging; auf der anderen Seite reihten sich Einkaufszentren aneinander.

Loon Lodge befand sich am westlichen Ende dieser Ansammlung von Scheußlichkeiten. Es war kein richtiges Motel, sondern eine Gruppe von winzigen weißen Hütten mit grünen Fensterläden und Gardinen im Bauernstil, die aus den Fünfzigern stammten, bevor der Blockhausstil in Mode kam. In Algonquin Bay glauben viele, solche Etablissements seien im Winter geschlossen, doch in Wahrheit verfügen sie auch in der kalten Jahreszeit über zweierlei Einnahmequellen. Die eine sind die Angler, die im Eis fischen, jene Zahnärzte und Versicherungsvertreter, die sich ein paar Tage freinehmen und mit ihren Kumpels nach Norden fahren, um sich gegenseitig unter den Tisch zu trinken. Die andere Kundschaft sind Leute, die eine billige Bleibe suchen, und nichts ist außerhalb der Saison billiger als eine Hütte am Lakeshore Drive.

Cardinal war nicht zum ersten Mal in der Loon Lodge. Es kam immer mal wieder vor, dass einer der hier überwinternden Bewohner seiner Frau die Zähne ausschlug. Oder die Frau hatte von der Sauferei ihres Mannes genug und jagte ihm ein Steakmesser fein säuberlich zwischen die Rippen. Ab und zu gab es Drogendealer. Im Sommer dann sah man nur noch sonnengebräunte Amerikaner, Familien mit knapper Haushaltskasse, die sich den verlässlich schwachen kanadischen Dollar zunutze machten.

Cardinal und Delorme hatten die erste weiße Schindelhütte der Loon Lodge betreten, diejenige, auf der Büro stand. Sie war viermal so groß wie die vermieteten, und der Eigentümer wohnte darin mit Frau und Kindern. Es war ein eierköpfiger Mann namens Wallace. Sein Gesicht war aufgedunsen, mit einem leidenden Ausdruck, als ob er Zahnschmerzen hätte. Ein nicht minder eierköpfiger und untröstlicher vierjähriger Junge sah nebenan Zeichentrickfilme im Fernsehen. In der Luft hingen Essensgerüche, und Cardinal merkte auf einmal, dass er Hunger hatte.

Wallace zog ein Reservierungsbuch hervor, fand den Namen und drehte das Buch auf der Theke um.

»Howard Matlock«, las Delorme laut, »East Ninety-first Street, New York City.«

»Ich wünschte, ich hätte den Typ nie zu Gesicht bekommen«, sagte Wallace. »War absolut tote Hose letzte Woche, also hab ich mich wie ’n Schneekönig gefreut, als er auftauchte, auch wenn er nur für ’n paar Tage bleiben wollte.«

»Ford Escort«, las Delorme und notierte sich das Kennzeichen.

»Genau«, sagte Wallace. »Knallrot. Hab ich allerdings schon seit ’n paar Tagen nicht mehr gesehen.«

»An welchem Tag ist er angekommen?«, fragte Cardinal.

»Donnerstag, glaube ich. Ja, Donnerstag. Ich hatte gerade ein paar indigene Kerle weggeschickt, die sich einmieten wollten. Tut mir leid, egal, wie viel ich frei hab, an die Typen vermiete ich nicht. Hab einfach keinen Bock mehr, das Blut und die Kotze wegzuwischen. Man hat schließlich ’nen Ruf zu verlieren.«

»Dann kann ich nur für Sie hoffen, dass keiner von denen Sie wegen Diskriminierung anzeigt«, sagte Delorme.

»Die Leute haben ja keine Ahnung. Stecken Sie mal zwei oder drei von denen zusammen, ’ne Flasche Four Aces dazu, und Sie haben ’ne Hütte, die Sie nicht wieder vermieten können.«

»Und was haben Sie jetzt?«

»Sie sagen, Sie haben den Schlüsselanhänger ’nem Toten abgenommen?« Er zeigte auf die geschmolzene Masse in der Tüte, die Cardinal auf die Theke gelegt hatte.

»So ungefähr.«

»Dann hab ich vermutlich ’ne offene Rechnung und einen Mieter, der nicht mehr am Leben ist.« Wallace schüttelte den Kopf und stieß einen leisen Fluch aus. »Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie lange es dauert, bis man sich einen Namen gemacht hat wie hier mit der Loon Lodge? So was geht nicht über Nacht.«

»Sicher nicht«, sagte Cardinal. »Hat Mr. Matlock erwähnt, was ihn nach Algonquin Bay brachte?«

»Ich sag Ihnen was, nur ein solcher Fall, und die ganze Mühe – das gewisse Etwas, das einem Motel die besondere Note verleiht –, all das war für die Katz. Da könnte ich genauso gut mein Schild abmachen und gleich Konkurs anmelden.«

Cardinal fragte sich, woher ein notorischer Schwarzseher wie Mr. Wallace überhaupt den Optimismus genommen hatte, ein Motel zu eröffnen, doch er hielt sich an seine erste Frage. »Hat Mr. Matlock gesagt, was ihn nach Algonquin Bay brachte?«

»Eisfischen, hat er gesagt.«

»Nicht ’n bisschen früh dafür? Selbst ohne den Wärmeeinbruch.«

»Genau das hab ich auch zu ihm gesagt. Hab ihm gesagt, dass in den nächsten vierzehn Tagen kein Mensch auf diesen See rausgeht, selbst ohne die Wärme. Das wisse er auch, hat er gesagt. Er sei nur hier, um die Gegend schon mal für ein paar Kumpel auszukundschaften, die Ende Februar mit ihm herkommen wollten.«

»Aus New York?«, fragte Delorme. »Ist das nicht ein bisschen weit, nur um eine gute Stelle zum Eisfischen zu finden?«

Wallace zuckte die Achseln. »Amerikaner.«

Er schnappte sich einen Schlüssel von dem Brett hinter ihm, und sie folgten ihm nach draußen, an mehreren Hütten vorbei.

»Hab noch nie verstanden, was daran so sportlich sein soll«, sagte Cardinal zu Delorme. »Die Fische sind starr vor Kälte. Sie sind halb verhungert. Was soll daran so toll sein? Ist doch kein Kunststück, in einem schäbigen Verschlag über einem Loch zu hocken.«

»Sie vergessen das Bier.«

»Oh, vergessen Sie ja nicht das Bier«, sagte Wallace. »Sie glauben nicht, wie viele Kisten die Jungs da rausschleppen. Ich hab in jeder Hütte einen Schlitten stehen, offiziell für die Kinder, aber sehen Sie hier irgendwo Rodelhänge? Sie benutzen sie, um darauf ihre Bierkisten auf den See zu ziehen.«

»Sie sagen, Mr. Matlock kam am Donnerstag an. Wann haben Sie bemerkt, dass der Wagen nicht mehr da ist?«

»Ich glaub, so am Samstag. Vor zwei Tagen. Ja, genau. Weil ich ihn am Freitag gebeten hab, ihn woanders hinzustellen. Hatte ihn auf dem Platz für Nummer vier stehen. Nicht, dass in Nummer vier jemand gewesen wäre. Na, jedenfalls war er definitiv am Samstagmorgen nicht mehr da. Und ich hatte das Gefühl, da stimmt was nicht. Der Wagen weg, und ich konnte keinen Rauch aus dem Schornstein sehen. Hab heute Morgen an die Tür geklopft. Kam keine Antwort, und ich hab gedacht, ich geb ihm noch ein paar Stunden, bevor ich mir Gedanken mache, ob er mich beschissen hat.«

»Hat er irgendwelche Anrufe gemacht?«, fragte Cardinal. »Hätten Sie das mitbekommen?«

»Ferngespräche schon – hat er nicht geführt. Ortsgespräche kontrolliere ich nicht.«

»Danke, Mr. Wallace. Wir kommen allein zurecht.«

»In Ordnung.« Wallace machte ihnen die Tür auf. »Falls Bargeld da drinnen ist, stehen mir, wie’s aussieht, hundertvierzig Dollar zu.«

Die Inneneinrichtung einer Loon-Lodge-Hütte sah noch genauso aus wie das letzte Mal, als Cardinal hier gewesen war. Ein Doppelbett in einer Nische, eine Couch mit Blümchenmuster und eine Miniküche in einer Ecke – winziger Kühlschrank, Kochplatte, Aluminiumspülbecken. Eine Erinnerung huschte Cardinal durch den Kopf – eine kreischende Frau, die ihm eine Bratpfanne entgegenschleuderte, als er kam, um ihren Mann zu verhaften.

Neben einem Fenster stand ein Tisch mit einem gelben Plastiktischtuch. Darauf lag eine New York Times. Die Ausgabe war fünf Tage alt, und Matlock hatte sie vermutlich vom Flug mitgebracht.

Das Bett (mit der etwas fadenscheinigen Chenillebettwäsche inklusive Loon-Lodge-Emblem, identisch mit dem auf dem Schlüsselanhänger) war ordentlich gemacht. Daneben lag ein kleiner Koffer mit Rädern, in dem sich ausreichend Kleidung für ein Wochenende befand, und eine Taschenbuchausgabe von einem Tom-Clancy-Roman.

»Hier ist seine Brieftasche«, sagte Delorme. Sie holte sie unter dem Küchentisch hervor und hätte dabei fast eine Lampe (mit Loon-Lodge-Emblem auf dem Schirm) umgerissen.

»Also, das ist merkwürdig«, sagte Cardinal. »Der Wagen ist weg. Wieso fährt einer mit dem Auto weg und nimmt seine Brieftasche nicht mit? Wenn man mit dem Wagen fährt, nimmt man seine Brieftasche doch mit, oder?«

»Vielleicht stand derjenige, der ihn getötet hat, hier auf der Matte.«

»Möglich. Sie kämpfen, und er verliert seine Brieftasche – obwohl hier drinnen eigentlich nichts auf einen Kampf hindeutet.«

Delorme öffnete die Brieftasche. »Wie auch immer, Raub können wir als Motiv jedenfalls ausschließen. Hier sind siebenundachtzig Dollar drin, amerikanische. Vielleicht ist er nur raus, um ’ne Packung Zigaretten zu kaufen. Dafür hat er seine Brieftasche nicht gebraucht.«