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In seinem Stück ›Kanalratten‹ wirft Maxim Biller einen scharfen Blick auf die Kulturschickeria, deren Mitglieder sich um einen einflussreichen Journalisten versammeln. Und in ›Menschen in falschen Zusammenhängen‹ nutzt Micky, ein jüdischer Intellektueller, einen Talkshowauftritt, um seine Geliebte zu einer Entscheidung zu zwingen: für ihn oder für ihren Mann. Zwei Theatertexte, die Biller als bissigen Beobachter zeigen – der Gesellschaft wie der Zweierbeziehung. »Es geht um die Liebe als ganz großes Abenteuer. Sie ist wie eine Antarktis-Expedition, bei der man nicht weiß, ob man ankommt. Und viele sind schon auf dem Weg dahin zu ängstlich.« Maxim Biller über ›Menschen in falschen Zusammenhängen‹
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Seitenzahl: 195
Maxim Biller
Kanalratten
Zwei Stücke
Fischer e-books
JOSEF »JOE« KARPELES jüdischer Journalist und Schriftsteller, der nach zehn Jahren aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt ist, Ende vierzig
ANNA Redakteurin einer großen Wochenzeitung und Karpeles’ Ex-Freundin, Anfang vierzig
HERMANN »HERSCHEL« GIRSCH Direktor des Jüdischen Museums, Ende vierzig
HENNING JAKOB HOFMAN Chefredakteur einer großen Wochenzeitung und Annas Freund, Ende vierzig
JOBST KALLENDER Untergebener von Hofman, Anfang vierzig
DR. WEISSELBERG jüdischer Internist, Arzt von Karpeles und Anna, um die sechzig
SAMUEL DINTER KZ-Überlebender und Ostberliner Dichterfürst, um die siebzig
Zeit:
Heute
Ort:
Die Parterre-Wohnung und der Garten von Hofman und Anna in der Treitschkestraße, Berlin
Ein Schlafzimmer. Ein großer Spiegelschrank. Ein Doppelbett, auf dem Mäntel und Jacken liegen. An den Wänden deutsche Expressionisten. Genau über dem Bett – wie in einem Kinderzimmer – das Modell eines Kampfflugzeugs, wohl aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. In einem modernen, orangefarbenen Sessel sitzt, abgewandt von der Tür, Girsch. Er bewegt sich nicht, dann tippt er langsam etwas in sein Telefon, dann erstarrt er wieder. Das mehrmals. Hinter der Tür hört man leise Partygeräusche: meist nur Stimmen, selten Musik. Es wird immer wieder dasselbe Lied gespielt, Gloria Gaynors »I Will Survive«. Girsch hält sich dabei jedes Mal theatralisch die Ohren zu. Die Tür geht auf, und Karpeles und Anna kommen herein. Sie sehen Girsch nicht. Sie lachen.
KARPELES
Hier. Hier rein. Hier ... Jetzt komm schon.
ANNA
Ich weiß nicht.
KARPELES
Kurz. Fünf Minuten. Was sind fünf Minuten? Was kann ich dir schon tun in fünf Minuten?
ANNA
Dir reichen zwanzig Sekunden.
KARPELES
Dreißig! Dreißig Sekunden. Länger war das nicht. Ich hab dreißig Sekunden geredet – und sie sind sofort alle wieder verrückt geworden. Sogar Weisselberg. Jemand wird noch sterben, wenn die nicht sofort aufhören, weiterzustreiten. Man müßte reingehen und ... und jemand andern beleidigen. Dann würde auch Hofman aufhören. Der konnte noch nie aufhören.
ANNA
Hofman. Mit langem »o«. Hofman.
KARPELES
Wie Ofen? Wie Ofenmann?
ANNA
Warum machst du das? Es macht dir doch selbst keinen Spaß. Zuerst Girsch, dann Hofman – dann ich?
KARPELES
Das bin nicht ich, das ist meine Zunge.
ANNA
Hmm.
KARPELES
Hmmm ...?
Pause.
ANNA
Bist du noch so gut wie früher?
KARPELES
War ich so gut?
ANNA
Keiner war so gut. Ich weiß noch – weißt du noch? –, ich weiß noch, beim letzten Mal, als du mittendrin angefangen hast zu heulen.
KARPELES gleichzeitig mit »heulen«
War’s wirklich so schlimm, was ich gesagt hab?
ANNA
»Das sind Tränen der Liebe, meine Schöne, und außerdem kann ich dich dann schneller ficken.«
KARPELES
Das meine ich nicht. Denkt nach. Hab ich das damals wirklich gesagt? Es ist fast zehn Jahre her.
ANNA gleichzeitig mit »her«
Ich finde es – halbschlimm. Ich weiß nichts über diesen Mann, wie hieß er ...
KARPELES gleichzeitig mit »er«
Ich hab geheult, weil ich wusste, dass es das letzte Mal ist. Pause. Woher weißt du noch so genau, was ich damals gesagt hab?
ANNA gleichzeitig mit »gesagt hab«
Treitschke, ja? Also wenn ihm das so wichtig ist, dann lass ihn doch. Er wohnt in dieser Straße. Sein Vater, sein Großvater, sie alle haben hier gewohnt. Treitschkestraße. Klingt doch gar nicht so schlecht, klingt fast ein bisschen jüdisch. Klingt wie ... Jouch mit Treitschkelknedel. Wie ... mein kleines, süßes Treitschkele. Und an Purim drehen unsere Kinderlach ihren – Treischkel-Dreidel-Scheidl!
KARPELES
Hör auf Jiddisch zu reden. Du kannst es nicht. Pause. Anne-Frank-Straße klingt besser.
ANNA
Ich würde auch nicht in der Anne-Frank-Straße wohnen wollen.
KARPELES
An deiner oder an seiner Stelle? Fällt sich selbst ins Wort. Wirst du aber, meine Schöne, du hast jetzt das ganze Paket. Ofenmann, seine tausend Arschlecker, und die Treitschkestraße, die am 2. Dezember Anne-Frank-Straße heißen wird.
ANNA
Glaubst du wirklich?
KARPELES
Diese Null Girsch wird das erste Mal in seinem Leben etwas schaffen! Ganz Berlin stimmt ab. Weil Girsch, das Leichlein von der Lindenstraße, einmal eine Idee hatte. Ganz Berlin! Innen rechts, außen links, alles wie immer. Wusstest du, dass Girsch mit achtundzwanzig fast an einem Kürbiskern erstickt wäre?
Girsch bewegt sich lautlos in seinem Sessel. Er schiebt sich die Faust in den Mund und beißt lautlos darauf.
ANNA nach kurzem Nachdenken
Aber du hättest es trotzdem anders sagen können.
KARPELES nach kurzem Nachdenken
Jemand sagt, Heinrich von Treitschke war größer als Ranke mit seinem lächerlichen Objektivismus. Jemand sagt, Treitschkes »Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« ist das Manna, von dem dieses Volk endlich kosten sollte. Zu sich selbst. Kosten sollte – was für ein Deutsch! Dann wieder zu Anna. Jemand sagt, das Moderne an Treitschke ist seine enigmatische Geschichtsschreibung. Und ich soll nichts antworten? Ich, der Rache-Karpeles?
ANNA
Jemand sagt? Hofman sagt. Dir geht es doch gar nicht um Treitschke.
KARPELES
Stimmt.
ANNA
Sag’s anders, sonst glaube ich dir nicht.
KARPELES weicher
Stimmt ...
ANNA
Und was hast du zu »jemand« gesagt? Du hast gesagt: Ihr sitzt hier in eurer geklauten, von Opi arisierten Wohnung, in einer Straße, die nach diesem Choleriker benannt ist, von dem das »Stürmer«-Motto stammt ...
KARPELES
... die Nudeln der Juden sind unser Unglück ...
ANNA
... du hast zu »jemand« gesagt, dass er kein Nazi ist, aber dass er die Nazis liebt, dass er wie dieser Typ ist, der damals die Karin II gekauft hat ...
KARPELES
... Heidemann ...
ANNA
... und du hast zu »jemand« gesagt, ich bin aus Israel wiedergekommen nach zehn Jahren, um euch den Spaß zu verderben, ihr deutschen Idioten! Weißt du was? Das finde ich schlimmer als halbschlimm.
KARPELES
Es gibt Leute dort drüben er zeigt mit dem Kopf in Richtung Tür, die mich nicht für blöd halten. Denen ich gefehlt habe. Und die machen gerade den Fehler ihres Lebens – und streiten sich wegen mir mit Ofenmann. Wusstest du, dass Ofenmann in seinem Notizbuch eine Liste von allen seinen Arschleckern hat und ab und zu ein kleines schwarzes Kreuz hinter einen Namen macht?
ANNA
Ich halte dich auch nicht für blöd.
KARPELES
Sag’s anders, sonst glaube ich dir nicht.
ANNA
Nein.
Pause.
KARPELES
Das waren jetzt mehr als fünf Minuten.
ANNA
Dann gehe ich jetzt.
KARPELES
Muschinki, bitte. Er versucht, sie aufs Bett zu drücken. Sie fallen auf die Mäntel. Sie umarmen sich, ohne sich zu küssen.
ANNA
Du kannst nicht mehr ›Muschinki‹ zu mir sagen – verstehst du das?
KARPELES
Ja ... ja.
Pause.
ANNA
Ich hab’s bereut.
KARPELES
Ich nicht.
ANNA
Ich auch nicht.
KARPELES
Na siehst du.
ANNA
Nein ...
KARPELES
Was nein?
ANNA
Doch.
KARPELES
Jetzt sag schon.
ANNA
Das erste Jahr hab ich jede Nacht nur eine Stunde geschlafen. Ich bin ins Bett gegangen, ich schlief ein, ich wachte nach einer Stunde wieder auf, und dann schlief ich die ganze Nacht nicht mehr. Ich habe Briefe an dich geschrieben. Ich wollte, dass du zurückkommst, und ich wollte, dass du nicht mehr so hart bist. Manchmal bin ich noch mal eingeschlafen, und dann hab ich fast immer von ihm geträumt. Er hatte lange Wimpern, ein kleines Puppengesicht, er konnte fast nichts mehr hören und sehen, und wir saßen an seinem kleinen Kinderbett und weinten. Und dann wachte ich auf, und ich dachte, wie gut, dass du gegangen bist. Pause. Er wäre sowieso bald wieder gestorben. Er hieß Lenny.
KARPELES
Wir hätten einen kleinen Neger adoptieren sollen. Warum haben wir keinen kleinen Neger adoptiert? Dann wären wir jetzt noch zusammen.
ANNA
Weil du es nicht wolltest.
KARPELES
Okay, dann hätten wir eben den Test nicht machen sollen. Warum haben wir den Test gemacht?
ANNA
Weil du es wolltest. Weil dein schrecklicher Dr. Weisselberg gesagt hat, ihr müßt es machen, in Amerika machen es alle Juden, sie sind alle in dieser Computerdatei, oder ein kleiner Stich in die Fruchtblase, mehr nicht, und seit sie es machen, ist die Rate fast gleich Null.
KARPELES
In Israel auch. Tay-Sachs ist inzwischen fast bei Null in Israel. Bei Autounfällen sterben mehr. Nein, bei Anschlägen. Nein, bei Telefonaten mit Florida ... in Florida.
ANNA gleichzeitig mit »Florida«
Ohne den Test war unsere Chance auch gleich Null.
KARPELES
Auch bei Lenny?
ANNA
Der war nur ein Traum. Pause. Wir hätten es überhaupt nicht gemerkt. Es war neurotisch, es zu machen.
KARPELES
Null Komma Null Null Eins?
ANNA
Das ist wie Null, verstehst du, das ist nichts ... gar nichts. Pause. Wir hätten nie im Leben ein krankes Kind bekommen! Schau uns an. Wir haben uns so geliebt, wie kann man da ein krankes Kind kriegen. Glaubst du, sie waren glücklich im Schtetl damals? Die konnten sich überhaupt nicht lieben, für alles hatten sie Regeln. Auch dafür. Es hat sich alles gekrümmt in ihnen ...
Die Tür, die man nicht sehen kann, geht auf. Es wird laut, dann geht die Tür wieder zu.
ANNA
... und sie haben sich gekrümmt, und ihre Chromosomen haben sich gekrümmt, und darum haben sie manchmal solche schrecklichen, missgebildeten Kinder auf die Welt gebracht.
KARPELES
Glaubst du wirklich?
ANNA
Glaubst du nicht?
KARPELES
Wir könnten Girsch fragen, den Gettogirsch. Seine Mutter hat ihm sogar die Frau ausgesucht. Wie früher im Schtetl. Eine kleine, dicke, haarige Ameise aus Antwerpen. Sie riecht nach Mottenkugeln, glaube ich.
ANNA
Aber er hat jetzt zwei Kinder. Und wir haben keins. Keins zusammen, keins ohne einander.
Die Tür geht wieder auf.
Stimme von KALLENDER
Vielleicht ist er hier. Girsch? Bist du hier? Zu jemandem draußen. Er hat mir eine SMS geschickt, und Hofman hat er auch eine geschickt. Pause. Nein. Nein ... Ich glaube, wir sollten uns beeilen. Vielleicht doch unten im Garten.
Die Tür geht wieder zu.
ANNA
Haben Girsch und seine Frau den Test gemacht?
KARPELES
Sogar wenn.
ANNA
Wie – sogar wenn?
KARPELES
Ich hab sie alle vor einer Woche in diesem kleinen Park vor der Alten Nationalgalerie gesehen.
ANNA
Du bist erst fünf Tage wieder hier.
KARPELES gleichzeitig mit »hier«
Ich hab sie vor einer Woche in diesem Park gesehen, und das Mädchen und der Junge sahen genauso dämlich aus wie ihre Eltern. Tay-Sachs light, verstehst du.
ANNA
Nein, verstehe ich nicht.
KARPELES
Die Ameise hatte zwei tiefe Falten auf der Stirn, aus denen bestimmt auch bald Haare wachsen werden, und Girsch sah aus wie Odradek – nachdem er die Treppe heruntergerollt ist.
ANNA
Du bist widerlich.
KARPELES
Das Leben ist widerlich.
ANNA
Das Leben ist nicht widerlich.
KARPELES
Ich hab ihn aber gegrüßt ... Ich hab gesagt: Hallo Girsch, ich bin wieder da, und ich hoffe, dass du inzwischen besser deutsch kannst als deine polnischen Eltern.
Die Tür geht noch mal auf.
Die Stimme von KALLENDER leise
Ich hab euch gesehen. Ich hab euch vorhin schon gesehen ... Er kommt rein. Joe, wir müssen noch das Interview machen. Ich muss morgen um zwei fertig sein, Hofman will es für den 9. November, tut mir leid. Ich such Girsch, und wenn ich ihn hab, fessel ich ihn an einen Küchenstuhl, und dann machen wir unser großes Heimkehrer-Interview.
KARPELES
Ja. Unser Interview.
ANNA gleichzeitig mit »Interview«
Du fesselst ihn an einen Küchenstuhl?
KALLENDER
Ja, was sonst. Er hat uns allen eine SMS geschrieben, jedem von uns. Es war eine Ich-kann-so-nicht-mehr-weiter-SMS. Dann kam eine Ich-bin-absolut-nichts-wert-SMS. Und dann ... eine Ihr-werdet-diesen-Abend-nicht-vergessen-SMS. Pause. Wegen Joe. Kleine Pause. Bestimmt wegen Joe ... Joe hat vorhin zu ihm im Garten gesagt, das jüdische Museum sei der neue Judenrat. Pause. Naja, auch nicht schlecht. Süße Idee. Pause. Hast du doch, Joe, oder nicht?
KARPELES gleichzeitig mit »nicht«
Und eine Ich-bin-nur-deshalb-Direktor-weil-ich-nichts-kann-SMS?
Girsch beißt sich wieder auf die Faust.
ANNA
Wo ist er jetzt?
KALLENDER
Er hat geschrieben, er sei irgendwo hier, wir sollen ihn aber nicht suchen, und dass er es genau hier machen wird, hier, in der Anne-Frank-Straße Nummer 32.
ANNA
In der Anne-Frank-Straße?
KARPELES
Noch bevor sie umbenannt wird?
ANNA
Du bist widerlich.
KALLENDER gleichzeitig
Was weiß denn ich. Pause. Hofman wird toben, wenn er euch sieht. Verzagt. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht ...
ANNA
Was wird er machen?
KALLENDER
Hofman?
ANNA
Nein – Girsch.
KALLENDER
Was weiß denn ich!
Er geht raus und schließt vorsichtig und leise von außen die Tür.
KARPELES leise, wie zu sich selbst
Hofman. Mit kurzem »o« und zwei »f« – wie Futzftaffel.
ANNA
Ein Interview, ja?
Er antwortet nicht.
ANNA
Joe.
KARPELES
Er hat mich gebeten. Er hat gesagt, wir machen es so, wie ich will. Sogar die Überschrift machen wir zusammen, wenn ich will.
ANNA
Das hat er zu Dinter auch gesagt.
KARPELES
Zu Dinter? Wann war das?
ANNA
Hör auf.
KARPELES
Ich hab in Israel sehr wenig gelesen. Also kaum was ... also kaum was von hier.
ANNA gleichzeitig mit »hier«
Du lügst. Du hast für sie geschrieben. Du warst hier einmal im Monat im Fernsehen. Deine Bücher kamen hier raus – nicht dort. Du hattest mit Hofman einen Vertrag, ich weiß es. Er hat mich gefragt, als du ihn gefragt hast, ob sie das wollen. Er fragt mich immer ...
KARPELES
... aber nicht wegen des Interviews ...
ANNA
... und er macht fast immer, was ich ihm sage. Ich hab ihm gesagt, ja, gib Joe den Vertrag. Gib ihm fünf Euro für die Zeile, Israel ist teurer als Dubai.
KARPELES
Danke, meine Schöne. Wusstest du, dass es auch in Israel Zeitungen gibt, für die man schreiben kann?
ANNA
Die »Israel-Nachrichten« ... Hm. Di letzten neies aus Galycz, Dohrobycz und Nichtsowycz.
KARPELES
Ich liebe dich.
ANNA
Ich dich nicht.
KARPELES
Ich hab oft für die englische Ha’aretz geschrieben, auf deutsch, und mein Honorar hat der Übersetzer gekriegt.
ANNA
Du tust mir nicht leid.
KARPELES
Nein?
ANNA
Nein ... warum? Du hättest hier bleiben können.
KARPELES
Ja. Hätte ich.
ANNA
Ich hasse den kakophonischen Klang deiner Ironie.
KARPELES
Anna ... du wolltest auch, dass ich gehe! Wir haben gesagt, das halten wir nicht aus, wenn wir kein Kind haben können, darum soll ich gehen. Wir hatten diese Verabredung, Anna. Anna, glaubst du, ich wollte es? Arnold Zweig hat es nicht geschafft, David Vogel hat es nicht geschafft, warum sollte Joe Karpeles es schaffen?
ANNA
Max Brod hat es geschafft.
KARPELES
Der konnte nichts, gar nichts. Der konnte sich nur an Kafka erinnern.
ANNA
Ich wollte nie, dass du gehst.
KARPELES
Das hast du nicht gesagt. Verwirrt. Das hast du nie so gesagt ...
ANNA
Doch, nachts, wenn du neben mir gelegen und geschlafen hast. Ich hab’s dir ins Ohr geflüstert. Immer wieder: »Bitte, bitte, nicht gehen! Bitte, nicht gehen ... bitte, bitte.«
Sie schweigen. Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht, und sie sieht ihn lange ernst an.
KARPELES
Was hat Ofenmann mit Dinter gemacht?
ANNA
Du weißt es also wirklich nicht.
KARPELES
Nein, ich weiß es wirklich nicht. Pause. Vielleicht war bei uns gerade Krieg? Vielleicht gab es gerade etwas Wichtigeres als ein deutsches Nazi-Drama? Vielleicht hatte Scheikh Nasrallah gerade eine sehr gute Zeit?
ANNA
Ich will nicht, dass du ihm ein Interview gibst!
KARPELES langsam
Was war mit Dinter?
ANNA
Henning ist schlauer als du.
KARPELES
Klüger auch?
ANNA
Manchmal.
KARPELES
Und kann er es auch so gut?
ANNA gleichzeitig mit »gut«
Nein, er kann »es« nicht so gut.
KARPELES
Nein?
ANNA
Nein. Denn er hat nicht so eine lange Zunge wie du, Muschinki. Aber es gibt Leute, die haben sie, und die meisten von ihnen bezahlt er auch noch dafür.
KARPELES
Jetzt bist du widerlich, siehst du? Kleine Pause. Siehst du es?
ANNA
Ich sehe nur eine graue, grüne, kilometerhohe Wand. Das sind meine Erfahrungen. Und dahinter ist ein Wasserfall, der Wasserfall meiner Wünsche, der in tausend Farben sprudelt. Den werde ich aber niemals sehen.
KARPELES
Das ist unlogisch.
ANNA
Na und?
Pause.
ANNA
Weißt du, vielleicht ist »es« mit ihm nicht so gut wie mit dir. Aber wenn ich mit ihm Kinder hätte, dann müsste ich nicht vorher meine aschkenasischen Zellen sezieren lassen.
KARPELES
Nein, das nicht.
ANNA
Dass Juden und Gojim zusammen Tay-Sachs produzieren, ist nicht besonders wahrscheinlich, oder? Wie hoch ist sie, glaubst du ... die Rate?
KARPELES
Null Komma Null Null Eins ...
ANNA
Also weniger als Null.
KARPELES
Und trotzdem habt ihr keine Kinder. Warum? Weil er dich nie leckt? Oder weil er keiner von uns ist?
Anna steht vom Bett auf.
KARPELES
Bleib hier.
ANNA
Nein.
KARPELES
Warum nein?
ANNA
Manchmal riechst du auch nach Mottenkugeln.
KARPELES
Wird er mich reinlegen? Wie wird er mich reinlegen, Anna?
Anna geht zum Fenster, schaut in die Nacht raus, und als sie sich wieder umdreht, sieht sie Girsch in dem großen, orangefarbenen Sessel sitzen. Sie sehen sich stumm an.
ANNA zu Karpeles
Ich sag dir, wie er Dinter reingelegt hat, ich sag’s dir. Er hat zu ihm gesagt: Mein lieber Herr Dinter, Sie haben eine Autobiographie geschrieben, die besser ist als alles, was ich in den letzten fünf Jahren gelesen habe. Sie haben die einfachsten Worte für die kompliziertesten Dinge gefunden. Und Ihre Ehrlichkeit, lieber Samuel Dinter, ist so kostbar, ich will Ihrer Ehrlichkeit eine ganze Seite opfern ...
KARPELES
Er hat wirklich »opfern« gesagt? Du warst dabei? Dieses Arschloch hat wirklich »opfern« gesagt?
ANNA gleichzeitig mit »gesagt«
... nein, nicht eine Seite, wir machen eine ganze Beilage, Riesenfotos, Farbe, Sie, das schönste Kapitel aus Ihrem Jahrhundertbuch, ein Gespräch, in dem Sie Ihre ganze Geschichte erzählen, erlären, erläutern. Mein Lieber, Sie werden die andern über Nacht aus dem Amazon-Rating fegen, Sie werden einen Monat lang der bekannteste, der glücklichste Mann von Deutschland sein! Pause. Das hat er gesagt, und Dinter hat ja gesagt, obwohl er noch genau wusste, wie das damals war, als Hofman die Bormann-Tagebücher abdruckte.
KARPELES gleichzeitig mit »abdruckte«
Oi wej ...
ANNA
Und dann machen sie also das Interview, bei Dinter zuhause, in Pankow. Kallender und Henning machen es, und es gibt Tee und Mille Feuilles von der Galeries Lafayette, und ein Fotograf ist auch da, mit Lampen und einem großen, schwarzen Tuch als Hintergrund, aber das Foto kommt natürlich nicht, und später macht Henning aus dem Ganzen ein einziges Zitat, das bestimmt auch schon dein Scheikh Nasrallah auf Al-Manar gehört hat.
KARPELES
Jetzt weiß ich.
ANNA
Verstehst du, Joe? Samuel Dinter, der in Straszow von einem betrunkenen SS-Mann wie ein Hund an der Leine herumgeführt wurde, der in Litzmannstadt Wasser aus Pfützen getrunken und die eigenen Fingernägel gegessen hat, der sich durch ein kinderkopfgroßes Loch in der Gettomauer gezwängt hat und abgehauen ist und später mit falschen Papieren drei Wochen eine deutsche Uniform getragen hat, ja ... also dieser Samuel Mojsejewitsch Dinter sagt auf der ersten Seite von Hennings Zeitung: »Ich war einer von ihnen!«
KARPELES
Bist du sicher, dass du Ofenmann liebst?
ANNA
Wie der Teufel die Teflonpfanne, in der er die Sünder gart.
Pause.
KARPELES
Das wird er mit mir nicht machen ... Warum soller so was mit mir machen? Zögert. Warum soll er es mit mir machen? Er hat mir diesen Abend geschenkt. Er macht eine Willkommensparty für mich – und dann legt er mich rein?
ANNA zu sich selbst
Ich glaube, ich liebe es, in seiner Nähe nervös zu sein.
KARPELES
Wie weiblich von dir. Pause. Genau dafür habe ich dich immer geliebt.
ANNA gleichzeitig mit »geliebt«
Henning Hofman, mein Schöner, hat bisher jeden reingelegt. Mich wird er auch reinlegen. Und vorher – dich. Wir leben alle auf einem Staubkorn, aber manche wissen es nicht.
KARPELES
Das verstehe ich nicht. Was redest du da immer überhaupt? Was meinst du?
Plötzlich steht Girsch auf und geht stumm zur Tür. Dort bleibt er, mit dem Gesicht zur Tür, stehen. Langes Schweigen.
KARPELES nicht besonders überrascht
Girsch? Girsch?! Was machst du hier? Du Joine – du hast uns die ganze Zeit zugehört? Was ... machst du ... hier?
GIRSCH ohne sich umzudrehen, mit leichtem jüdischen Einschlag
Ich zähle die Minuten, Jossel. Die letzten Minuten. Tay-Sachs light war mein Leben, und jetzt ist alles egal. Er geht raus.
KARPELES
Der auch.
ANNA
O Gott.
KARPELES
Ach was. Ganz normaler Girschwahnsinn.
ANNA
Nein, etwas war anders. Er war anders. Er war anders als sonst. Hast du das nicht gesehen?
KARPELES
Nein – hob ich nicht gesejn.
ANNA
Du bist eben alt geworden. Deine Augen sind alt geworden. Alles an dir ist alt geworden ... Früher hättest du so was sofort gesehen. Aber früher warst du auch nur die halbe Zeit des Tages ein Widerling. Pause. Man muss sich um ihn kümmern. Ich muss mich um ihn kümmern ... Sie steht vom Bett auf und geht zur Tür. Kommst du mit? Wir müssen den andern Bescheid geben. Ohne sich umzudrehen, geht sie raus.
KARPELES nachdem sie weg ist
Okay. Und wer kümmert sich um mich? Langsam. Wer sagt »O Gott«, wenn es mir schlecht geht? Wer? Wer ... Wem kann ich sagen, dass es mich in drei Monaten nicht mehr gibt, aus, weg, futschiccato. Wer, bitte, bitte, bitte, bitte, kümmert sich um den armen, traurigen Jossel Karpeles?
Im Wohnzimmer. Vorher. Hofman, Dinter, Anna, Kallender, Karpeles, Dr. Weisselberg, der kultivierte Arzt, und vielleicht noch jemand sitzen auf Sofas und Sesseln um einen besonders niedrigen Couchtisch herum. Auf dem Tisch stehen Gläser und eine große Schale mit japanischen Reiscrackern. Alle greifen ständig hinein. Andere Gäste möglicherweise im anderen Teil des Raums.
HOFMAN
Das sind Shimoto-Cracker. Es gibt Shimoto-Cracker aus Kyoto und aus Kashima. Aber die sind aus Shimoto.
KALLENDER
Herrlich. Ich nehm noch ein paar.
HOFMAN
Das sind die besten.
DINTER
Ich hab davon gehört. Sehr gut, wirklich. Das ist wie diese Sache mit dem Fisch ...
HOFMAN
Mit dem Fisch?
KALLENDER gleichzeitig mit »Fisch«
Mit dem Kugelfisch?
DINTER
Ja. Am besten ... am besten ist der Fugu aus Shimonoseki, sagt man. Fugu gleich Kugelfisch, ja? Also: Es gibt ihn natürlich auch anderswo, aber die Leute aus Shimonoseki haben den besten und machen ihn am besten, und wenn jemand, sagen wir, aus Takira sagt, Fugu aus Takira sei zwar nicht so gut wie der aus Shimonoseki, aber noch besser sei der von der anderen Seite der Jojoma-Bucht, dann wird bestimmt ein Dritter sagen: Haben Sie schon mal den aus Shimoto probiert?
KALLENDER
Aus Shimoto? Es gibt Kugelfisch aus Shimoto?
KARPELES leise zu sich selbst
Shimoto-Cracker? Was für ein Schwachsinn ...
ANNA zu Kallender
Das war nur ein Beispiel, Jobst.
DINTER
Ja – nur ein Beispiel.
HOFMAN
Für was, lieber Herr Dinter?
DINTER
Ich weiß nicht. Jetzt ... jetzt haben Sie mich durcheinandergebracht.
HOFMAN lachend
Das tut mir leid. Wirklich. Das tut mir so leid ... Mit verzerrter Stimme wie eine Comicfigur. leidileidleid. Hab ich Sie schon wieder durcheinandergebracht ... Sie kleiner, vergesslicher Gangster? Lacht wieder.
KARPELES
Schwachsinn ... Es gibt kein Shimoto, und es gibt keine Shimoto-Cracker. Diese trockenen, staubigen Dinger sind aus dem Asia-Markt am Alexanderplatz. Er greift in die Schüssel. Sie verkaufen sie in diesen großen Kilotüten für drei Mark ... also sie haben sie verkauft ... in diesen großen, diesen durchsichtigen, staubigen Plastiktüten.
KALLENDER
Unmöglich. Die sind doch so lecker ...
ANNA
Joe sagt, man soll nicht »lecker« sagen, das ist ein hässliches Wort, sagt er. Stimmt, Joe? Das hast du doch früher immer gesagt.
KARPELES
Ihr könnt »lecker« sagen, ich hab’s aufgegeben. Und ihr könnt weiter diesen Shimoto-Cracker-Schwachsinn reden.
HOFMAN
Sehr gut, Joe. Sie haben aufgepasst. Sie haben wie immer aufgepasst! Aber ... sie kosten inzwischen drei Euro. Euro ... Euro!
DINTER gleichzeitig mit »Euro« und anfangs nur zu sich selbst
Ach, Hofman ... nein, nein. Nein! Das war doch ganz anders. Ich hatte unterschrieben, als ich nach Mailand zur Kinderbuchmesse fuhr, 1976, das wissen Sie genau. Und trotzdem ... Sie kommen immer wieder mit dieser IM-Geschichte!
ANNA
Vielleicht hat er ja auch eine Geschichte. Hast du eine Geschichte, Henning?
DINTER gleichzeitig mit »Henning«