Kanarenblut - Carsten Schütte - E-Book

Kanarenblut E-Book

Carsten Schütte

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

EINGEKREIST – FIXIERT – ERLEGT Erst ist er nur stiller Beobachter, dann mischt er sich ein, und plötzlich zieht er unbemerkt die Strippen, bis er es dominiert – das Todesspiel. Das OFA-Team von Thorsten Büthe erhält das Angebot, während der Kanarentour an einer Crime Cruise auf einem Kreuzfahrtschiff teilzunehmen. Hochkarätige Experten der Polizei, der Staatsanwaltschaft, des Gerichts und der Rechtsmedizin halten Fachvorträge. Die Profiler bieten einen mehrtägigen Workshop zur Tatrekonstruktion und Täterprofilerstellung an. Während der Landausflüge können die Passagiere an fiktiven Tatorten Spuren sichern, die sie interpretieren müssen. Mit jeder neuen Tat sollen sie den Täter weiter einkreisen und sein Profil immer detaillierter skizzieren. Als das OFA-Team plötzlich mit echten Opfern und Tatorten konfrontiert wird, eskaliert das Szenario unter den Teilnehmern und Experten. Jeder könnte der Täter sein.

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Seitenzahl: 373

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEpub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8451-1

Carsten Schütte

KanarenblutEin Profiler-Thriller

Für Adam und Joris

Prolog

Es gab Herausforderungen, die musste er einfach annehmen …

Kein Reise-Krimi ohne ihn! Das war der Wahnsinn! Von so etwas hatte er noch nie gelesen, geschweige denn gehört, aber die Information stimmte: An Bord eines Kreuzfahrtschiffes trafen sich interdisziplinäre Experten für Tötungsdelikte, um den interessierten Passagieren in Fachvorträgen und Workshops zu vermitteln, wie professionell die Polizei und Justiz in Deutschland aufgestellt waren.

Renommierte Psychologen, Rechtsmediziner, IT- und DNA-Forensiker, Juristen und Kriminalbeamte berichteten von echten Fällen, während derer sie zur Klärung und Verurteilung von Mördern und Serientätern beigetragen hatten.

Bestsellerautoren erklärten, was sie inspirierte und wie sich daraus die Storys entwickelten, die später von einem Millionenpublikum aufgesogen werden konnten.

Selbst ein Team echter LKA-Profiler stellte in Workshops vor, wie sie Taten rekonstruierten und daraus ein Täterprofil entwickelten.

Er las die Reisebeschreibung ganz genau und war fasziniert.

Die Passagiere würden den Experten an den Lippen kleben. Sie wären die Helden ihres Alltags, die sie in abgrundtiefe Sphären führen konnten, die ihnen normalerweise verborgen waren. Und das alles ganz ohne Gefahr! Sie blieben immer in der Rolle des Zuschauers, konnten sich bei einem leckeren Cocktail zurücklehnen und sich an der Bar mit anderen Insidern der Krimi-Szene oder den Ermittlern austauschen.

Sie waren hier so nah dran an der Realität, näher, als es ihnen ein Fernsehabend mit Medical Detectives und „True Crime“-Serien in dieser Tiefe je bieten konnte. Chipstüte und Flaschenbier auf dem Sofa hatten sie gegen ein Sechs-Gänge-Menü, ein reichhaltiges Büfett und edle Weine getauscht. Spötter nannten es luxuriösen, dekadenten Krimiwahn!

Die Veranstalter hatten eigentlich an alles gedacht, um die Reise eindrucksvoll und facettenreich zu gestalten.

Nur was war mit ihm? Hatten sie ihn vergessen? Ihn, der das Ganze erst möglich machte? Ohne ihn gäbe es keinen Hype um Serienmorde, True Crime und Cold Cases. Er war die Hauptperson, ein echter Insider!

Ja, er war ein Mörder!

Aber kein Veranstalter würde ihn jemals ansprechen, obwohl allein er es war, der diese Reise zu etwas wirklich Besonderem werden lassen konnte. Nur er vermochte es, die Passagiere aus ihrer Passivität zu reißen, indem er sie aktiv in die Geschichte miteinbezog.

Er sorgte für den prickelnden Spannungsbogen, der bei Gesprächen an der Bar Misstrauen und Ängste schüren würde.

Er war es, der nicht nur den Verlauf der Vorträge und der Workshops beeinflusste, sondern auch darüber entschied, wer diese Reise überlebte und wer nicht.

Zu guter Letzt gefiel ihm der Gedanke, die sogenannten Experten auf die Probe stellen zu können. Waren sie wirklich so versiert, wie sie ihr Publikum glauben machen wollten?

Er selbst zweifelte daran. Sie überschätzten sich gewaltig, denn sie kannten IHN nicht. Mit einem Klick auf „Verbindlich buchen“ nahm er die Herausforderung an.

Lasset die Spiele beginnen, dachte er bei sich.

Kapitel 1 – Ein kurzer Rückblick

Die letzte Dienstreise des OFA-Teams in Kroatien und Italien hatte bis heute deutliche Spuren hinterlassen.

Kristin Bäumer war nach einer Reha und Wiedereingliederungsphase entgegen allen Erwartungen vollständig genesen, womit nach diesen schweren Verletzungen niemand gerechnet hatte.

Maik Holzner und Thorsten Büthe hatten sich ebenfalls erholt und waren wieder uneingeschränkt einsatzfähig.

Zu seinem Leidensgenossen Gerrit Sander, dem Security-Offizier der Adriana, der auch verletzungsbedingt ausgefallen war, hatte Maik weiterhin Kontakt.

Carlottas Horizont an Grenzerfahrungen hatte sich auf der Reise an die Adria unfreiwillig erweitert. Diese persönlichen Erlebnisse ließen ihre psychologischen Expertisen und Beratungen noch authentischer ausfallen.

Radiomoderatorin Hannah Rohde hatte die Vergangenheit leider nicht verarbeiten können. Sie musste ihre Tätigkeit aufgeben und kehrte nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Region Hannover den Rücken. Selbst Kristin und ihrer Freundin Lisa war Hannahs aktueller Wohnort nicht bekannt. Sicher war sicher.

Die Leiche des Stalkers und mehrfachen Mörders, Jan Mischke, war nie gefunden worden. Der ominöse Anruf während Hannahs Radiosendung konnte nicht rückverfolgt werden und blieb rätselhaft.

Saskia Münter hatte sich erfolgreich auf die freie Stelle von Nina Bachmann beworben, konnte aber erst in zwei Monaten ins LKA Niedersachsen versetzt werden.

Die Hoffnung auf Ruhe und wiedereinkehrende Beständigkeit in der OFA erfüllte sich leider nicht, da sich Thomas Schulte auf eine höher bewertete Stelle im Fachkommissariat 1 in Hildesheim erfolgreich beworben hatte. Hier würde er künftig als Ermittlungsführer für Tötungs- und Sexualdelikte in seiner Heimatstadt tätig sein, was immer sein Traum war. In dieser Konstellation war zwar die weitere Kooperation mit seinem alten Team in der OFA gewährleistet, aber es war auch innerhalb kürzester Zeit eine weitere Stelle in dem Profilerteam vakant geworden, die nachbesetzt werden musste. Thorsten Büthe brauchte schnellstmöglich kompetenten Nachwuchs, damit er die beiden neuen Teammitglieder parallel ausbilden konnte.

In der Stellenausschreibung waren die Voraussetzungen für den OFA-Posten transparent deklariert. Die Bewerber mussten mehrjährige Erfahrungen im Ermittlungsbereich, idealerweise in der Bearbeitung von Tötungs- und sexuellen Gewaltdelikten, aufweisen. Den ebenso formulierten Wunsch der OFA, sich im Vorfeld einer Bewerbung mit dem Team zusammenzusetzen, um sich gegenseitig kennenzulernen, nutzten alle Interessierten.

Letztendlich hatten sich sechs Bewerber durchgesetzt, die sich einem persönlichen Auswahlgespräch stellen durften. In kleiner Runde saßen neben dem OFA-Leiter Thorsten Büthe, dessen Vertreterin Kristin Bäumer, Maik Holzner sowie die LKA-Psychologin Carlotta Bayer-Westholdt im Analyseraum zusammen, um dieses Auswahlgespräch zu konzipieren. Neben allgemeinen Fragen zur Motivation, dem bisherigen Werdegang sowie einer Stärken- und Schwächenanalyse waren Fachfragen zur ViCLAS-Datei (Violent Crime Linkage Analysis System), einem polizeilichen System zur Verknüpfung von sexuellen Gewaltdelikten, zu beantworten. Hier musste der Ablauf eines Sexualdeliktes danach beurteilt werden, welches Täterverhalten derart individuell erschien, dass es sich für Recherchen weiterer Taten eignete und im Idealfall Tatzusammenhänge erkennen ließ. Anhand einer fiktiven problembehafteten Beratungssituation einer Mordkommission wurden ergänzend das Rollenverständnis an sich sowie die erforderliche Beratungskompetenz geprüft.

Kapitel 2 – Zurück im bitteren Alltag

Es klopfte, was eigentlich überflüssig war, denn die Tür zum OFA-Raum flog in dem Moment auf. Jana Staßfurt, die Kriminalanalystin der Zentralstelle Gewalt, legte sofort los.

„Sorry, ich muss euch mal stören. Ich hatte euch gestern doch von dem zwölfjährigen Jungen berichtet, der nach dem Besuch des Stöckener Bades nicht nach Hause gekommen war. Heute ist sein Rucksack in einem Papierkorb im Wald an der Gemeindeholzstraße aufgefunden worden. Bei einer Absuche des Waldes hat man dann noch seine komplette Bekleidung im Unterholz verstreut gefunden. Das sieht nicht gut aus.“

„Was heißt ‚die komplette Bekleidung‘?“, hakte Thorsten Büthe nach.

„Na, komplett halt. Alles, inklusive Unterwäsche, Schuhen und Socken“, ergänzte die agile Analystin.

Das Telefon im Analyseraum klingelte, und Kristin schaute aufs Display.

„Das ging ja schnell, 1.1 K (Fachkommissariat für Tötungsdelikte) ist schon dran. Hey Anja, Kristin hier.“

Die Kollegin des Fachkommissariates 1.1 K, Anja Schlüter, sprach eine Minute ohne Punkt und Komma, woraufhin Kristin sie unterbrach.

„Anja, stopp! Wir sind gerade mit Carlotta und Jana im Analyseraum. Könntest du über Skype noch mal anrufen? Dann kannst du uns alle gleichzeitig auf Stand bringen.“

Zwei Minuten später erschien Anja auf dem großen Monitor des Smartboards und startete durch.

„Der zwölfjährige Kevin Ortmer war gestern Nachmittag mit drei weiteren Freunden im Stöckener Hallenbad. Die vier Jungen sind dem Schwimmmeister aufgefallen, weil sie nur Blödsinn gemacht haben. Sie sind vom Beckenrand gesprungen, haben im Nichtschwimmerbereich gekämpft und dabei sich und andere untergetaucht. Der Schwimmmeister hat sie mehrfach angepfiffen und ihnen gedroht, sie rauszuwerfen. Irgendwann wurden sie ruhiger, sodass er gar nicht mehr verfolgt hat, wann sie gegangen sind. Die drei Kumpels von Kevin waren mit ihren Rädern da, er selbst wohnt direkt hinter dem Gemeindeholz, dem Stöckener Wald. Deshalb war als Einziger zu Fuß unterwegs. Die Gruppe hatte sich vor dem Bad gegen 18 Uhr verabschiedet. Alle haben sich getrennt auf den Heimweg gemacht – sind gegangen beziehungsweise gefahren. Kevin sollte spätestens um 19 Uhr zu Hause sein. Das Bad schloss um 20 Uhr. Die Eltern von Kevin hatten dann ab halb acht versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Es sprang sofort die Mailbox an. Sie dachten, dass ihr Sohn im Bad die Zeit vergessen hatte, und ahnten nichts Böses. Gegen Viertel vor acht machte sich der Vater auf den Weg, um Kevin entgegenzugehen, traf ihn aber nicht an. Der Eingang des Bades war schon geschlossen, wobei er dem Schwimmmeister noch begegnete, der über einen Nebeneingang seinen Arbeitsplatz verließ. Als Herr Ortmer ihn auf seinen Sohn und die Gruppe ansprach, erfuhr er von dem Verhalten der Jungs. Wann sie genau das Bad verlassen hatten, konnte der Bedienstete nicht sagen. Die Reinigungsfrau sei durch die Umkleidekabinen gegangen, wobei es üblich ist, die Schränke nach zurückgebliebenen Gegenständen abzusuchen und die Türen offen zu halten. Da sie ihm nichts gesagt hatte, ging der Schwimmmeister davon aus, dass ihr nichts aufgefallen war.

Der Vater habe dann die drei Jungs nacheinander angerufen und sich nach Kevin erkundigt, erklärte er. Alle gaben an, sich vor dem Schwimmbad getrennt zu haben, und Kevin sei alleine zu Fuß in Richtung Hogrefestraße gegangen. Sein Handy war aus, es sprang sofort die Mailbox an. Auch die Anrufe im Bekanntenkreis, der Nachbarschaft und eigene Absuchen am Abend erbrachten keine Hinweise auf den Aufenthaltsort von Kevin. Gegen 22 Uhr erschienen die Eltern im Polizeikommissariat Stöcken und meldeten Kevin als vermisst.

In der Nacht fuhren die Kollegen verstärkt Streife und informierten uns heute Morgen über den Fall. Wir haben dann die Eltern und die Jungs befragt. Der Schwimmmeister kommt heute erst zur Spätschicht, den greifen wir uns gleich. Parallel haben wir die möglichen Wegstrecken von Kevin mit Kräften der Bereitschaftspolizei absuchen lassen. Die haben dann anfangs in einem Papierkorb den Rucksack des Jungen samt Handy und später, im Unterholz verteilt, seine gesamte Kleidung gefunden. Heute Morgen haben wir die Soko ‚Schwimmbad‘ eingerichtet. Das ist zunächst der aktuelle Stand. Und nun meine Frage: Könnt ihr uns unterstützen?“

„Danke, Anja, für die Einweisung. Das hört sich nicht unbedingt gut an. Wann habt ihr die erste Einsatzbesprechung?“, erkundigte sich der Leiter der OFA.

„Wir haben alle zusammengetrommelt und treffen uns in 15 Minuten, also um 14 Uhr, in unserem Einsatzraum. Könnt ihr dazukommen?“, bat die Ermittlerin.

Kristin und Thorsten tauschten einen Blick aus. „Okay, Kristin und ich kommen rüber. Bis gleich“, sagte der Teamleiter zu.

Vom Dienstgebäude des LKA Niedersachsen am Waterlooplatz lag die Polizeidirektion Hannover nur einen Fußweg von circa fünf Minuten entfernt, sodass sich die spontane Zusage direkt einrichten ließ.

„Kristin und ich gehen erst mal zu zweit rüber. Maik, kannst du die Unterlagen des Auswahlverfahrens an die Personalstelle weiterleiten? Könnt ihr bitte mit Carlotta und Jana so lange noch im Dienst bleiben, bis wir wieder zurück sind? Jana, würdest du in der Zeit bitte schon mal recherchieren, was wir in den letzten Wochen für Vorfälle in Schwimmbädern insgesamt hatten? Weiterhin wären alle Sachverhalte mit möglichem sexuellen Kontext spannend, in denen Kinder, primär Jungs, angesprochen oder angemacht wurden. Nach unserer Rückkehr können wir uns über die weiteren Schritte austauschen. Vielen Dank und bis gleich“, verabschiedete sich Thorsten Büthe.

Das Fachkommissariat 1.1 K in Hannover war für Vermisstensachen, in denen ein Verbrechenshintergrund nicht auszuschließen war, Todesermittlungen im Allgemeinen und Tötungsdelikte zuständig.

Insbesondere bei vermissten Kindern war eine hohe Sensibilität gefragt, die sich – wie in diesem Fall – potenziert, wenn die gesamte Bekleidung des Jungen in einem Wald gefunden wird.

Im Einsatzraum der Mordkommission trafen die beiden Profiler auf 20 Mitglieder der neu eingerichteten Soko ‚Schwimmbad‘.

Als deren Leiterin war Kriminalhauptkommissarin Anja Schlüter eingesetzt worden. Sie begrüßte die beiden Fallanalytiker und wies ihr Team in den aktuellen Stand des Vermisstenfalles ein.

Nach den vorliegenden, der OFA schon bekannten Informationen konnte sie die ersten Erkenntnisse zu dem vermissten Jungen und der Clique im Schwimmbad mitteilen.

„Kevin lebte mit seinen Eltern und einem vier Jahre jüngeren Bruder in der Obentrautstraße, die direkt hinter dem Wald verläuft, in dem seine Kleidung aufgefunden wurde. Der Vater arbeitet am Band bei VW, die Mutter halbtags am Vormittag als Kassiererin bei Netto in Stöcken. Kevin hatte sich nachmittags – wie jeden Mittwoch – mit seinen drei Schulfreunden im Hallenbad verabredet. Zwei der Jungs wohnen in Ledeburg, einer am Fuhrenkamp, sodass die drei mit dem Rad zusammen fahren konnten. Kevin kam stets alleine und ging auch wieder unbegleitet nach Hause. Die Mutter war mit dem Umgang nicht unbedingt zufrieden, da die anderen Jungs stets Scheiße bauten. Kevin war eher ein Mitläufer und wurde des Öfteren zu Mutproben angestiftet, um dazuzugehören. Sie hatten ihn sogar schon zum Ladendiebstahl angestiftet, um Zigaretten zu klauen. In letzter Zeit hatte er sich wohl integriert und war froh, in der Gruppe aufgenommen worden zu sein. Sonst hatte er keine Freunde, weshalb die Eltern den Kontakt dann toleriert hatten. Zu den Eltern der Jungs bestand keine Verbindung, wobei sie gestern erstmalig telefoniert hatten, um sich nach dem Verbleib von Kevin zu erkundigen. Das Schwimmbad ist nach Spuren abgesucht worden. Negativ. Die aktuellen Vernehmungen haben bislang auch noch keine weiteren Ergebnisse erbracht. Gibt es Fragen?“

„Liegen schon Erkenntnisse zum Handy des Jungen vor?“, fragte ein Beamter der Soko.

„Das Handy ist schon bei den Experten des LKA. Wir erwarten heute Abend die ersten Hinweise“, klärte Anja Schlüter auf.

Kristin meldete sich zu Wort. „Habt ihr einen vollständigen Überblick seiner Bekleidung und der mitgeführten Gegenstände? Ist wirklich alles vorhanden und können wir uns auf die Angaben der Eltern verlassen?“

Die Soko-Leiterin öffnete das Foto mit der Liste der aufgefundenen Objekte im Wald.

„Seine Bekleidung ist samt Socken und Unterwäsche vollständig. Seine Zehnerkarte vom Schwimmbad, sein Portemonnaie mit 12,30 Euro, Handy, Smartwatch, alles da.“

Kristin stutzte. „Was ist mit seiner Badehose? Die finde ich nicht auf der Liste.“

„Mist, an die haben wir gar nicht gedacht. Die ist nicht dabei“, schränkte Anja Schlüter ein.

„Dann vermissen wir jetzt einen zwölfjährigen Jungen in Badehose. Wahrscheinlich hat er das Bad nie verlassen“, befürchtete Thorsten Büthe. „Bei einer Mutprobe in einem Hallenbad habe ich eine ganz komische Ahnung. Ihr müsst dort alles auf den Kopf stellen. Wann wollt ihr den Schwimmmeister vernehmen, Anja?“

„Direkt nach der Besprechung. Wieso?“, fragte die Ermittlerin.

„Wir würden direkt mitkommen. Ist das okay für dich? Alles andere erkläre ich dir im Auto“, kündigte Thorsten an.

Kristin hakte ihren Kollegen unter und schob ihn an die Seite.

„Du hast während deiner Schulzeit als Schwimmmeister gejobbt, stimmt’s? War das damals im Stöckener Bad?“

Thorsten nickte. „Ich bin genau in dieser Ecke aufgewachsen und war als Kind und Jugendlicher Dauerkartengast im Bad. Nach der Schule habe ich bis zur Einstellung bei der Polizei dort als Schwimmmeistergehilfe gearbeitet. Auch wir haben seinerzeit als Kinder Mutproben im Hallenbad absolvieren müssen. Eine davon war unter den Boden des Nichtschwimmerbeckens zu tauchen, während zwei andere den Hubboden hochhielten, was nicht einfach war. Der Boden des Nichtschwimmerbeckens kann nämlich in der Höhe verstellt werden. Beim Schwimmtraining der Vereine wurde der Boden komplett abgesenkt und bei normalem Badebetrieb wieder angehoben. Ein Problem gab es immer, wenn der Schwimmmeister uns beobachtete. Dann haben die anderen die Bodenplatten loslassen und sich davon entfernen müssen. Sofort war der Bereich unter dem Nichtschwimmerbecken stockduster, und du wusstest nicht mehr, wo du rausmusstest. Sobald der Bademeister wieder wegging, haben die Jungs den Hubboden angehoben, und der Taucher konnte rausschwimmen, wenn er noch genug Luft hatte. Ich habe gerade die Horrorvorstellung, dass Kevin einer dieser Taucher gewesen sein könnte und es nicht mehr geschafft hat. Wenn das Bad noch dieselbe Technik wie früher verwendet, müssen wir da runter!“

Kristin hatte selbst zwei Söhne und war betroffen.

„Du meinst, die Jungs haben sich dann nicht getraut, etwas zu sagen, und Kevins Klamotten verstreut, um von sich abzulenken?“

Thorsten nickte sorgenvoll.

Im VW Tiguan der Kripo Hannover äußerte der OFA-Chef seine Vermutung auch gegenüber der Soko-Leiterin, die über das Autotelefon sofort im LKA anrief und das Gaspedal durchtrat.

„Schlüter von der ,Soko Schwimmbad’. Sind die Handys der drei Jungs noch bei euch? Wir brauchen umgehend die Standortdaten von gestern Abend ab 17 Uhr. Danke.“

Das Stöckener Hallenbad war relativ gut besucht. Der Schwimmmeister, Hauke Waldeck, hatte die Spätschicht bereits übernommen und konnte aus seinem Glaskasten das gesamte Bad samt Schwimm- und Sprungbecken überblicken.

Der Dreimetersprungturm war geöffnet, und fünf bis sechs Jugendliche sprangen ausgelassen in das 3,50 Meter tiefe Becken. Rechts unterhalb des Aufsichtsraumes drehten im Schwimmbecken ältere Badegäste ihre Runden. Dahinter war der Nichtschwimmerbereich durch eine rote Absperrkette aus Kunststoff abgetrennt, in dem sich Familien mit kleinen Kindern tummelten, die teilweise herumtobten. Diese Gruppe wurde von einer jungen Badeaufsicht in komplett weißer Kleidung mit langen blonden Haaren beobachtet.

Soko-Leiterin Schlüter und die beiden Fallanalytiker traten über den Kioskbereich in den Aufsichtsraum des Hallenbades ein. Die Kriminalhauptkommissarin stellte sich und die LKA-Beamten vor. Hauke Waldeck klopfte mit dem Zeigefinger zweimal auf das Hallenmikrofon. Seine Kollegin drehte sich zu ihm um und verstand sofort, dass sie kurz die Gesamtaufsicht übernehmen sollte.

Im relativ leeren Bereich der Kiosk-Sitzgruppe konnten sie den Schwimmmeister zu den Ereignissen des gestrigen Tages befragen. Waldeck schilderte die Situationen mit der Jugendgruppe.

„Die vier haben im Bereich des Sprungbeckens herumgetobt. Sie schubsten sich gegenseitig ins Becken und gingen zusammen auf den Sprungturm, was nicht erlaubt ist. Ich schickte die Gruppe wieder ins normale Becken, wo durch ihr weiteres Verhalten andere Badegäste belästigt wurden. Als ich den Jugendlichen androhte, sie des Bades zu verweisen und ihnen für den Rest des Monats Hausverbot auszusprechen, wurden sie ruhiger und hielten sich an der Absperrung zum Nichtschwimmerbereich auf. Dann kam eine Mutter mit einem Kleinkind zu mir in den Aufsichtsraum. Der Junge war beim Laufen gestürzt und hatte sich das Kinn aufgeschlagen. Ich habe hier oben die Wunde versorgt. Beim Blick auf die anderen Badegäste ist mir nichts aufgefallen. Die Gruppe mit den Jungs war ruhiger geworden und hat dann gemeinsam das Bad verlassen, als der kleine Junge versorgt war.“

„Waren Sie gestern auch zu zweit, Herr Waldeck?“, hakte Anja Schlüter nach.

„Grundsätzlich ja. Meine Kollegin musste sich am späten Nachmittag um einen Defekt in der Filteranlage kümmern und war einige Zeit im Technikraum. In der Zeit war ich hier allein. Unser Haustechniker ist krank, und Ersatz bekommen wir nicht. So lange fahren wir hier zweigleisig“, ergänzte der Schwimmmeister.

Für Thorsten Büthe war dieser Besuch ein Déjà-vu. In den letzten fast 40 Jahren hatte sich hier kaum etwas verändert. Auch er war seinerzeit einer dieser Jugendlichen gewesen, die sich ausgetobt hatten. Später hatte er die Perspektive gewechselt und auch in diesem Glaskasten gesessen, um für einen friedlichen Badebetrieb zu sorgen.

Seine nun folgende Frage an Hauke Waldeck verunsicherte den Schwimmmeister. Er war darauf nicht vorbereitet.

„Ist die Hubbodentechnik des Nichtschwimmerbeckens noch dieselbe wie vor 40 Jahren? Ist der Boden in der Höhe noch immer variabel?“

Hauke Waldeck wurde bleich und wusste sofort, auf was der Polizist hinauswollte. „Scheiße, Sie glauben doch wohl nicht ...“

„Es ist nur eine Möglichkeit, die wir abklären müssen, und zwar jetzt“, forderte der LKA-Beamte.

Der Schwimmmeister klopfte wieder auf sein Hallenmikro und winkte seine junge Kollegin heran. Vor dem Aufsichtsraum zog er sie an sich heran und flüsterte ihr zu, was jetzt zu veranlassen sei.

„Herr Waldeck, würden Sie die Gäste bitte auffordern, das Bad zu verlassen?“, verlangte die Soko-Leiterin.

Der Mann zitterte am ganzen Körper und stotterte. „Wie soll ich das denn begründen? Ich kann doch nicht ... Für wie lange denn?“

Anja und Thorsten nickten sich kurz zu, worauf der OFA-Leiter auf dem Schwimmmeisterstuhl Platz nahm und das Hallenmikrofon aktivierte.

„Sehr geehrte Badegäste, ich muss Sie leider wegen dringender Wartungsarbeiten bitten, das Bad umgehend zu verlassen. Der Eintritt wird Ihnen am Ausgang erstattet. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“

Die Badegäste kamen der Ansage zögerlich und widerwillig nach. Die junge Schwimmmeisterin musste einige uneinsichtige Gäste hinausbegleiten und fand dabei die richtigen Worte.

Kristin ging auf sie zu und stellte sich vor.

„Hallo, mein Name ist Kristin Bäumer vom LKA. Hatten Sie gestern auch gemeinsam mit Herrn Waldeck Dienst?“

Die junge Aufsicht war aufgeschlossen und selbstbewusst. „Eigentlich schon. Aber wir hatten Probleme mit unserer Filteranlage, sodass ich meinen Kollegen am späten Nachmittag über eine Stunde alleine lassen musste und im Technikraum beschäftigt war. Ich bin übrigens Nina Heller.“ Ihr Kollege nickte unsicher.

„Ich werde die Polizeitaucher anfordern. Das wird einen Moment dauern“, kündigte die Soko-Leiterin an.

„Wir brauchen keine Taucher. Das machen wir. Es ist auch schließlich unsere Verantwortung“, widersprach die junge Schwimmmeisterin, die ihren Kollegen eindringlich ansah.

„Ja, wir beide gehen runter“, bestätigte er.

„Zu zweit ist es zu riskant. Ich gehe mit rein. Haben Sie eine Leihbadehose und eine Schwimmbrille für mich?“, erkundigte sich Thorsten.

Nina Heller verschwand im Erste-Hilfe-Raum und reichte dem Profiler eine „geräumige“, blaue Badehose mit der Aufschrift der Stadt Hannover sowie ein Handtuch und eine Schwimmbrille. Als die beiden Aufsichtspersonen neben Thorsten Büthe in ihrer Badekleidung am Beckenrand standen, musste sich Kristin auf die Zunge beißen. Einen Spruch in Richtung ihres Chefs, der in der viel zu großen Badebekleidung samt rosa Schwimmbrille vor ihr stand, verkniff sie sich lieber in dieser angespannten und für alle belastenden Situation.

Bevor einer der beiden Männer etwas sagen konnte, ergriff Nina Heller das Wort.

„Ihr haltet den Boden hoch, ich tauche. Sollte ich was finden, komme ich erst alleine raus und sage Bescheid. Okay?“

Die Männer nickten, ließen sich am Beckenrand zum Boden in einer Tiefe von zwei Metern hinunter und hoben einen Teil des schweren Hubbodens an, damit Nina Heller mit einer Unterwasserlampe in das dunkle Loch tauchen konnte.

Dann ließen sie die schwere Platte kurz los und kamen hoch, um Luft zu holen.

Unter dem Boden des Nichtschwimmerbeckens war es stockfinster. Der Schein der kleinen Unterwasserlampe reichte maximal zwei Meter weit. Nina Heller wurde bewusst, dass sie den gesamten Bereich des 15 x 10 Meter großen Areals nicht komplett absuchen konnte.

Die Luft wurde knapp, sie musste zurück zur Öffnung, hatte aber die Orientierung verloren.

Beide Männer waren wieder abgetaucht und hoben die Hubplatten erneut an.

Die Taucherin sah den Lichtschein der Luke, die sich langsam öffnete und schwamm hindurch. Schwer nach Luft ringend stieg sie wieder auf.

„So wird das nichts. Ich sehe kaum was und will systematisch vorgehen. Also muss ich bestimmt drei bis vier Mal runter, um alles abzusuchen. Hauke, ich brauche ein Seil zur Orientierung, das ich mir umbinde. Haltet es stets auf Spannung und zieht mich im Notfall raus“, forderte die junge Frau.

„Wie viel Platz ist dort unten bis zur Oberfläche des Hubbodens?“, wollte Thorsten wissen.

„Etwa ein Meter. Wieso?“, fragte die Schwimmmeisterin nach.

„Falls der Junge wirklich dort im Wasser ist, kann es sein, dass er unter der Decke und nicht am Boden treibt“, formulierte der Profiler vorsichtig und war überrascht von der Antwort der jungen Frau.

„Ich weiß, ab wann Wasserleichen durch die beginnende Fäulnis nach oben treiben. Ich bin nicht nur Rettungsschwimmerin, sondern auch bei der freiwilligen Feuerwehr. Ein Kind hatte ich zwar noch nicht, aber ich musste schon mehrere Wasserleichen bergen. Trotzdem danke für den Hinweis.“

Ihr Kollege brachte ein rotes Seil, das sich Nina Heller fest um die Hüfte band. „Wenn ich einmal kräftig ziehe, öffnet ihr die Hubplatten, ziehe ich dreimal, holt ihr mich raus. Okay?“ Die Männer nickten.

Sie tauchten ab und öffneten den Schlund der finsteren Höhle. Nina orientierte sich an den schwarzen Streifen auf dem Boden, die den Schwimmern als Markierung dienten, in der richtigen Bahn zu bleiben. Sie fing noch mal systematisch von vorne an und nahm sich immer zwei der fünf Bahnen vor. Dabei schwamm sie seitlich, um auch die Decke im Blick zu haben. Bahn eins und zwei waren negativ. Sie zog einmal kräftig am Seil. Wenige Sekunden später öffnete sich die Luke.

An der Wasseroberfläche atmete die Taucherin tief ein. „So fühle ich mich safe. Zweimal noch, dann haben wir Sicherheit.“

Nach zwei Minuten Pause war sie wieder bereit. „Okay? Dann los!“

Beide Männer gingen unter Wasser und öffneten die Luke. Nina tauchte ein und orientierte sich im Strahl der Taschenlampe an den Bahnmarkierungen drei und vier. Plötzlich flackerte die Lampe nur noch, dann ging sie kurzerhand aus.

„Bleib ruhig!“, sprach sie zu sich selbst und versuchte sich zurechtzufinden. Jetzt war es erst mal wichtiger, wieder rauszukommen. Sie folgte dem Seil, um in die korrekte Richtung zu gelangen und zog. Das Licht der Schwimmbadbeleuchtung ließ einen schummrigen Lichteinfall zu, als Nina etwas über die Wange strich. Sie erschrak, zuckte zusammen und zog instinktiv dreimal kräftig am Seil, was sich sofort spannte. Auch Hauke Waldeck und Thorsten Büthe waren überrascht. Sie zogen Nina schnellstmöglich aus dem dunklen Bereich. Die junge Frau stieß sich kräftig vom Boden nach oben ab und schoss förmlich aus dem Wasser. Kristin und Anja Schlüter erschraken und traten einen Schritt vom Beckenrand zurück.

„Da war was!“, rief sie und musste sich völlig außer Atem mit beiden Unterarmen auf dem Seitenrand des Beckens abstützen.

„Diese Scheißlampe ist ausgegangen. Plötzlich war alles duster. Aber irgendetwas hat mich berührt.“

„Das wird mir jetzt zu heiß, Leute, ich alarmiere die Polizeitaucher“, kündigte die Soko-Leiterin energisch an.

„Nein, das ziehen wir jetzt durch“, beschloss Kristin. „Nina, habt ihr auch einen Badeanzug für mich?“

„Zum Ausleihen nicht, aber bestimmt unter den Fundsachen. Wir können ja mal schauen, ob einer passt“, schlug die Schwimmmeisterin vor.

Als Kristin mit einem deutlich zu kleinen Badeanzug zurückkehrte, der an den Arm- und Beinausschnitten mit pinkfarbenen Rüschen versehen war, musste sich Thorsten zurückhalten, vor allem, als er auch noch das Abzeichen eines Seepferdchens aufgestickt sah, aber die Situation ließ nun einmal keine Scherze zu.

„Nina, wir tauchen zusammen. Kannst du die Stelle einordnen, wo du die Berührung wahrgenommen hast?“, fragte Kristin.

„Ungefähr“, erwiderte die Schwimmmeisterin.

„Und ihr beiden Experten reißt euch jetzt mal zusammen und haltet den Boden komplett oben, während wir da unten sind. Dann haben wir zumindest ein wenig Licht. Schafft ihr das?“, erkundigte sich Kristin.

Beide Männer wussten, dass es nur eine Antwort auf diese beschwörende Frage gab. Sie nickten.

„Nina, wenn das Kevin ist, hängen Arme und Beine runter. Das was wir zuerst greifen können, ziehen wir zu uns und geben den Männern das Signal, uns rauszuholen. Okay?“, schlug Kristin vor.

Die Männer gingen erneut unter Wasser und hoben den Boden an. Dreimal atmeten die Taucherinnen tief ein und aus, dann verschwanden sie in der dunklen Öffnung. Kristin hielt sich am Seil von Ninas Hüfte fest, sodass sie dicht zusammenblieben.

Vorsichtig bewegte sich die Schwimmmeisterin in den Bereich der vierten Bahnmarkierung und zeigte nach oben. Auch Kristin konnte nun schemenhaft den treibenden Körper einer Person ausmachen. Dessen Kopf sowie beide Arme und Beine baumelten nach unten, der Rücken berührte den unteren Bereich des Nichtschwimmerbodens. Nina erfasste einen Unterarm und zog dreimal kräftig am Sicherungsseil. Die Anspannung der vier Taucher war derart hoch, dass sie ihre akute Luftnot fast gar nicht wahrnahmen. Nachdem sie mit dem leblosen Körper die Luke passiert hatten, stießen sich die Schwimmer kräftig am Boden ab und schossen wieder an die Oberfläche. Kaum hatten sie tief eingeatmet, da war auch der Leichnam durch die bereits gebildeten Fäulnisgase aufgetrieben und dümpelte nun zwischen den Schwimmern.

Alle waren sichtlich geschockt und betroffen. Niemand hatte jetzt auch nur einen Blick oder dummen Spruch für den Badeanzug mit dem Seepferdchen übrig. Hauke Waldeck kroch aus dem Wasser und hockte sich heulend auf die kalten Fliesen des Hallenbades. Er war sich seiner Verantwortung bewusst, der er nicht hatte nachkommen können.

Die anderen zogen den Körper von Kevin aus dem Wasser und legten ihn am Beckenrand auf den Rücken. Einen Reflex von Nina Heller, mit einer Wiederbelebung zu beginnen, hielt Kristin zurück. Stattdessen setzte sich die junge Frau neben ihren Kollegen Hauke, um ihn zu trösten.

Die Leiterin der Soko „Schwimmbad“ alarmierte ihr Team, um die Spuren dieses vermutlichen Unglücksfalles aufzunehmen.

Kristin und Thorsten baten die beiden Schwimmmeister, sich in den Erste-Hilfe-Raum zurückziehen zu können, und sahen sich den Leichnam intensiver an.

Sämtliche Fingerkuppen beider Hände des Jungen waren aufgekratzt. Sowohl an den Oberarmen und beiden Schultern waren deutliche Hämatome sichtbar, die bei der nun erforderlichen Obduktion als sogenannte Griffspuren diagnostiziert werden würden. Auch an den Unterarmen waren solche Begleitverletzungen vorhanden, welche für ein Abwehrverhalten sprechen dürften.

Während Anja Schlüter der Soko Anweisungen gab, rief ihr Thorsten etwas zu.

„Anja, wir benötigen hier auch die Rechtsmedizin und den großen Bahnhof. Wir befinden uns jetzt an einem Mordtatort.“

„Da denken wir immer, wir haben nach so vielen Jahren alles gesehen und dann kommt so etwas“, resümierte Kerstin betroffen.

„Allein deshalb sollten wir uns in diesem Outfit lieber zurückziehen, bevor hier irgendjemand noch Fotos von uns schießt“, warf Thorsten ein. Seine Sorge war berechtigt.

Dass es dafür bereits zu spät war, ahnten sie noch nicht.

Soeben hatten sich Kristin und Thorsten wieder umgezogen, erschien die Rechtsmedizinerin, Doktor Sandra Stockinger, vor Ort.

„Hey, Sandra, hast du jetzt ein Blaulicht in deinem Auto? Das waren ja nur Minuten. Aber im Ernst, gut, dass du da bist“, begrüßte die Fallanalytikerin die junge Rechtsmedizinerin.

„Ich war zur Begutachtung eines Betriebsunfalles auf dem VW-Gelände nebenan und gerade auf dem Weg zum Parkplatz, als Frau Schlüter anrief“, berichtete Sandra Stockinger.

Im Anschluss an eine kurze Einweisung in die Fundsituation und die bisherigen Erkenntnisse gingen sie die Leichenerscheinungen gemeinsam durch. Nach einer Rektaltemperaturmessung, einem Abgleich mit der Wassertemperatur, der Ausprägung der Leichenstarre sowie den beginnenden Fäulniserscheinungen korrespondierten die rechtsmedizinischen Feststellungen der Todeszeit mit denen der derzeitigen Ermittlungsergebnisse.

In Anwesenheit der Soko-Leiterin bestätigte Doktor Stockinger die Vermutungen der Profiler.

„Die an den Oberarmen und beiden Schultern festzustellenden Hämatome sind deutliche Hinweise auf ein bewusstes Festhalten und wohl von oben auch Herunterdrücken auf den Boden des Schwimmbeckens. Kevin dürfte am Auftauchen gehindert worden sein, indem ihn jemand nicht nur herunter, also unter Wasser gedrückt, sondern vermutlich sogar getreten hat. An beiden Unterarmen finden sich Abwehrverletzungen, die auf Versuche hindeuten, die Tritte in Richtung des Kopfes und des Oberkörpers abzuwenden. Bei den aufgekratzten Fingerkuppen beider Hände kann ich nur vermuten, dass der Junge noch von unten versucht hat, die Hubbodenplatten nach oben zu drücken, was er aus eigener Kraft aber nicht geschafft hat. Vielleicht hat auch jemand von außen dagegengedrückt. Es sieht zumindest zunächst so aus, als sei der arme Kerl jämmerlich ertränkt worden. Details können wir nur in der Obduktion weiter diagnostizieren.“

Büthe seufzte.

„Anja, du weißt, was das heißt. Wie alt sind die Jungs genau?“, fragte er nicht ohne Hintergedanken.

„Der Jüngste ist zwölf Jahre, einer 13 und der Älteste wird in zwei Wochen erst 14 Jahre alt“, bestätigte die Soko-Leiterin seine Befürchtungen. „Wir brauchen schnellstmöglich die Geodaten der noch sichergestellten Handys. Wir werden sie nach Bekanntwerden nicht mehr verwenden dürfen. Aber so haben wir wenigstens die Sicherheit, was wirklich abgelaufen ist. Über unsere Feststellungen darf noch nichts nach außen dringen. Ein weiteres Problem wird sein, es den Eltern beizubringen. Sie werden es verständlicherweise nicht begreifen können, was jetzt passiert“, vermutete Kristin zu Recht.

„Thorsten, du kennst dieses Bad und diese Falle. Würdest du mitkommen, und können wir eure Psychologin mit in Anspruch nehmen?“, bat Anja Schlüter.

„Na klar. Carlotta soll direkt zu uns kommen. Wir müssen die Eltern umgehend informieren. Ich rufe sie gleich an“, versprach der LKA-Beamte.

Doch die Zeit hatten sie nicht mehr.

Ein gellender Schrei wurde durch die kahlen Wände des Hallenbades wie ein Echo reflektiert. Das Ehepaar Ortmer war über den Kiosk und die offene Tür zum Aufsichtsraum der Schwimmmeister ins Bad geraten. Wie von Sinnen liefen sie auf den Leichnam ihres Sohnes zu, der wegen der rechtsmedizinischen Begutachtung wieder auf dem Rücken am Beckenrand lag. Anja versuchte die Mutter aufzuhalten, was ihr nicht gelang. Auch Thorstens Versuch, den Vater zu stoppen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Eltern stürzten sich auf den leblosen Körper ihres Sohnes und weinten bitterlich. Niemand konnte und wollte sie in dieser Phase mehr daran hindern.

Der Vater von Kevin war außer sich. Er richtete sich auf, stürmte auf die Soko-Leiterin zu und schrie sie an. „Was ist mit meinem Sohn passiert?“

„Herr Ortmer, es tut mir sehr leid. Wir haben Kevin gerade erst gefunden. Nach aktuellem Stand ist er unter den Hubboden des Nichtschwimmerbeckens getaucht und dort ertrunken“, versuchte Anja sachlich, aber so sensibel wie möglich zu erklären.

„Mein Sohn würde freiwillig nie so einen Schwachsinn machen. Ich bin doch nicht blind. Schauen Sie sich ihn doch mal genau an. Wer um Himmels willen hat ihn denn so zugerichtet? Waren das diese Tiere? Was sollte er jetzt wieder für sie tun? Er wollte doch nur dazugehören“, schluchzte Kevins Vater verzweifelt und sank auf die Knie. „Wo sind sie jetzt? Haben Sie die Schweine verhaftet? Haben sie gestanden? Warum haben sie unserem Sohn das angetan?“, fragte der Vater weiter wütend.

Nina Heller und Hauke Waldhoff traten unter Tränen aus dem Erste-Hilfe-Raum und gerieten sofort ins Visier des aufgebrachten Vaters. „Wo warst du, als sie ihn ermordet haben? Hast du weggeschaut? Du bist dafür verantwortlich! Warum hast du denn nichts getan?“

Kristin hatte mittlerweile die LKA-Psychologin erreicht. „Carlotta, wir brauchen dich hier, bitte schnell. Bring auch Maik mit und gebt Gas.“

Der OFA-Leiter blieb dicht bei dem Vater, um gegebenenfalls auf Kurzschlussreaktionen reagieren zu können. Allerdings war der ihm körperlich deutlich überlegen.

Auch die Soko-Leiterin hatte zwischenzeitlich Verstärkung angefordert, wobei die Situation rücksichtsvoll entschärft werden musste.

Maik Holzner und Carlotta Bayer-Westholdt schossen mit dem BMW X3 der OFA den Westschnellweg herunter und bahnten sich mit Blaulicht und Martinshorn den Weg zum Stöckener Bad. Als ehemaliger Pressesprecher hatte Maik heute noch gute Kontakte in die Medienszene. Sein Telefon klingelte und das Display zeigte den Namen ‚Marina Swodicz‘ an.

Maik nahm das Gespräch an.

„Hey Marina, ist grad ganz schlecht. Kann ich dich zurückrufen?“

„Grüß dich, Maik, nur ganz kurz, bevor ihr es offiziell erfahrt. Ich höre, ihr befindet euch gerade auf einer Einsatzfahrt, und vermute, ihr seid auf dem Weg nach Stöcken zu dem aufgefundenen Jungen, stimmt’s?“

„Netter Versuch, Marina, aber du weißt, ich kann schweigen wie ein Grab“, wollte er die Situation entschärfen.

„Kein Versuch, mein Lieber, läuft schon alles über den Ticker samt Fotos eures Chefs mit Kristin in frivolem Badeoutfit. Das Problem ist nur, dass sie vor der Leiche des Jungen stehen, was keinen guten Eindruck macht. Ich schicke es dir. Mehr wollte ich nicht. Bye“, verabschiedete sie sich wieder.

Marina Swodicz hatte vor Jahren über die Mordserie der Bräute des Pelikans berichtet, und sie war selbst ins Visier des Täters geraten. Dabei hatte sie auch Thorsten und das gesamte OFA-Team näher kennengelernt.

Das Handy von Maik signalisierte eine eingegangene Whatsapp-Nachricht. Er reichte Carlotta das Mobil­telefon rüber.

„Guck du mal“, bat er, „beim Fahren ist mir das zu riskant.“

Die LKA-Psychologin schlug eine Hand vor den Mund. „Ach du Scheiße. Wenn das man keinen Ärger gibt.“

Sie hielt dem Fahrer kurz das Foto vors Gesicht. „Was ist das denn? Das ist doch ein Fake“, vermutete Maik sofort.

Sie fuhren direkt vor das Stöckener Bad, parkten neben weiteren Einsatzfahrzeugen und passierten die Polizeiabsperrung. Carlotta und Maik fiel ein Stein vom Herzen, als sie Kristin und Thorsten in der Kleidung antrafen, in der beide heute Morgen die Besprechung verlassen hatten.

Sie begrüßten ihr Team. „Trotz der Umstände sind wir froh, euch hier in diesem Outfit anzutreffen. Was können wir tun?“

Kristin nahm Carlotta an die Seite und stellte sie nach einer kurzen Einweisung Kevins Mutter als Psychologin vor. Carlotta sprach beruhigend mit ihr und bat sie, sich vorerst von ihrem Sohn zu verabschieden, damit die Polizei ihre Arbeit fortsetzen konnte.

Beide wurden von einer jungen Beamtin der Soko in den Aufenthaltsraum der Schwimmmeister geführt, in dem Anja Schlüter mit dem Vater von Kevin sowie einem weiteren Beamten saß.

Während Bestatter den Leichnam von Kevin abtransportierten und in die Rechtsmedizin überführten, wurde Maik von Thorsten in die Bergung des Toten und die ersten Erkenntnisse eingewiesen.

Maik stutzte bei der Schilderung seines Chefs

„Habe ich das richtig verstanden, ihr habt keine Polizeitaucher hinzugezogen, sondern seid da selbst runtergetaucht?“

Thorsten nickte, ohne zu ahnen, was dann geschah.

„Kristin und du?“, hakte Maik weiter ungläubig nach.

„Mit den beiden Schwimmmeistern“, berichtete Büthe.

Maik war echauffiert darüber.

„Na, denn ist ja alles gut. Dafür hast du dir eine überdimensionale Badeshorts angezogen und eine pinkfarbene Schwimmbrille aufgesetzt. Und Kristin hatte zufällig ihren pinkfarbenen Badeanzug aus der fünften Klasse mit dem aufgenähten Seepferdchen-Abzeichen dabei. Tja, und in dem Outfit habt ihr dann auch gleich eine Leichenschau an einem getöteten zwölfjährigen Jungen durchgeführt. Bei allem Respekt, Chef. Was habt ihr denn geraucht?“

„War das Kristins Variante oder wie kommst du da­rauf?“, wunderte sich der OFA-Chef.

Maik zog sein Handy aus der Tasche und öffnete das Pressefoto.

Thorsten entglitten die Gesichtszüge, was äußerst selten vorkam.

„Wer hat das geschossen? Kristin wird ihn töten! Das muss sofort raus. Kannst du das regeln, Maik?“, bat der Profiler verzweifelt.

„Das ist in etwa so, als würdest du die Veröffentlichung der Lottozahlen samt Jackpot zurückziehen wollen. Das ist für die Presse die geilste Profilerstory ever. Ihr werdet wohl Weltruhm erlangen“, prophezeite Maik.

Thorsten ärgerte sich maßlos, fing sich aber schnell wieder.

„Was soll’s, raus ist raus. Wir haben hier ein viel größeres Problem. Die Täter sind alle noch nicht strafmündig. Es wird ihnen weder was passieren noch sind Ermittlungen in ihre Richtung zulässig. Auch werden die Medien das sicher ausschlachten. Wir müssen das den Eltern von Kevin jetzt so beibringen, dass der Vater nicht Amok läuft und wir die Täter nicht auch noch schützen müssen. Hast du eine Idee, wie wir das hinbekommen?“

Maik dachte nach. „Das wird nicht einfach. Carlotta und Anja sind ja gerade bei ihnen. Sie werden das in dieser Phase vermutlich noch nicht thematisiert haben. Ist eine weitere oder andere Tatbeteiligung denn ausgeschlossen? Wäre das vielleicht ein Weg, weiter ermitteln zu können?“

„Eine gute Idee“, lobte Thorsten. „Wir stimmen uns dazu mit Anja ab und machen erst mal weiter wie bisher.“

Das Handy des OFA-Leiters vibrierte und der Name seiner Chefin, Iris Höppner, erschien im Display.

„Hey, Iris, wir sind hier noch vor Ort. Was kann ich für dich tun?“

Die Kriminaloberrätin kochte innerlich. „Ich weiß nicht, was ihr da für eine Nummer im Schwimmbad abzieht, aber euer Foto in einem sehr skurrilen Outfit vor einer Kinderleiche geht gerade viral. Die Telefone der Pressestelle und der Behördenleitung stehen nicht still. Der Vize will euch hier umgehend sehen. Ich habe ihm zugesagt, dass ihr hier in 30 Minuten aufschlagt. Kann ich mich darauf verlassen?“

„Wir sind hier noch nicht fertig und …“, weiter kam Thorsten nicht.

„Ihr habt noch 28 Minuten!“ zischte seine Chefin.

„Iris, stopp. Wir werden hier noch gebraucht. Dieses Scheißfoto ist aktuell das Unwichtigste überhaupt. Wir versuchen es in einer Stunde zu schaffen. Okay?“

Die Verbindung wurde getrennt.

Der OFA-Leiter rechnete mit einem umgehenden Anruf der LKA-Leitung, der allerdings nicht erfolgte.

Kristin kam zurück in die Schwimmhalle.

„Und, wie haben sie es aufgenommen?“, fragte Thorsten nach.

„Was erwartest du? Sie sind völlig traumatisiert und kaum aufnahmefähig. Carlotta bleibt erst mal bei ihnen. Zu Hause werden ein Notfallseelsorger und ein Ansprechpartner der Soko die Betreuung übernehmen. Ist bei dir alles okay?“, sorgte sich die Profilerin.

„Nein. Aus einem lächerlichen Foto entwickelt sich gerade ein Flächenbrand“, wobei ihr Thorsten die Pressemeldung auf dem Handy zeigte.

„So ein Arsch! Wer war das?“, fluchte sie.

Einer der Reporter hatte sich am Bad positioniert und durch die Fenster fotografiert.

„Egal, dann ist das so. Wenigstens haben sie die Leiche gepixelt. Wie geht’s hier weiter?“, hakte Kristin nach.

„Wir sind erst mal raus und haben ein Date beim Vize“, klärte Thorsten sie auf und zog eine Augenbraue hoch.

„Lass mich raten. Nicht wegen des Falles, sondern wegen des Fotos, oder?“ vermutete sie. „Na denn los.“

Durch die Sonderkommission wurde im Hallenbad der objektive Tatortbefund erhoben und die Situation des Hubbodens auch unter Wasser dokumentiert.

Die beiden Profiler fuhren direkt in das Obergeschoss des LKA am Waterlooplatz. Mit einem fast mitleidigen Lächeln empfing sie die Sekretärin des Vizepräsidenten.

„Ihr werdet schon erwartet. Toi, toi, toi.“

An einem großen Besprechungstisch saßen neben dem Vizepräsidenten der zuständige Abteilungsleiter, die Leiterin der Pressestelle und als Dezernatsleiterin der OFA, Iris Höppner.

Die beiden Fallanalytiker durften gegenüber Platz nehmen.

Ohne ein Wort der Begrüßung knallte der Vize die Pressemeldung mit dem überdimensionalen Foto der beiden Profiler im Badeoutfit auf den Tisch. „Ich hoffe für Sie, es handelt sich um eine Fotomontage!“

Eigentlich hätte der Leiter der OFA gerne andere Worte gewählt, hielt sich jedoch diplomatisch zurück.

„Wir wären Ihnen dankbar, wenn wir die Situation fallbezogen und vollständig von Anfang an erklären könnten. Auf Fragen gehen wir am Ende ein.“

Der Vize nickte nur.