Karl - 2050 - Sandra Kristin Meier - E-Book

Karl - 2050 E-Book

Sandra Kristin Meier

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Beschreibung

Nach einem Nachtmaskenvergehen kommt der linientreue Karl ins Arbeitslager. Dort lernt er die Dissidentin Rita kennen. Er verrät sie. Sie kehrt zurück und entführt ihn in eine andere Welt.

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Seitenzahl: 108

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Inhaltsverzeichnis

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

TEIL II

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil I

Kapitel 1

Mit einem Schrei fuhr Karl aus dem Schlaf und riss sich die Nachtmaske vom Gesicht.

Schon wieder hatte ihn dieser furchtbarste aller Alpträume heimgesucht: die große Führerin war gestorben, woraufhin die Seuche mit voller Wucht über das Land hereinbrach und die Millionen Tote forderte, die der Hohe Virologische Rat prognostiziert hatte.

Karl schaute auf die Uhr. Es war früh um fünf. Noch eine Stunde also bis zum allgemeinen Wecken.

Dreißig Jahre dauerte der Lockdown nun bereits und er war eine Erfolgsgeschichte. Karl spürte tiefe Dankbarkeit gegenüber der großen Führerin und dem Hohen Rat, die seit 2020 alles vom Ende her gedacht und das Land auf Sicht durch die Krise gesteuert hatten. Nur ihrem brachialen Quarantäne-Regime mit Ausgangsverboten und Kontaktsperren war es zu verdanken, dass es gar nicht erst zum Ausbruch der Epidemie gekommen war. Die Statistiken wiesen schon im ersten Jahr des Virus eine Untersterblichkeit aus; es gingen daran also viel weniger Menschen zugrunde als alljährlich an der Grippe. Das sprach eindeutig für die Effektivität der durch die Führung umgehend eingeleiteten Maßnahmen --- Karl konnte es einfach nicht fassen, dass es damals noch Menschen gegeben hatte, die diesen doch so simplen Zusammenhang anfangs nicht durchschauten.

Die Jahre 2020/21 waren eine gute Zeit für Karl gewesen. Er hatte ehrenamtlich für die Maskaran gearbeitet, jene verschworene Truppe, die so genannte Maskenverweigerer aufspürte und an die psychiatrischen Krankenhäuser überstellte, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen. Noch heute erfüllte es ihn mit Unverständnis, ja, Abscheu, wie diese Leugner sich der allgemeinen Maskenpflicht widersetzten, ihre vom Hohen Virologischen Rat vorgeschriebenen Kontakt-Tagebücher nicht ordnungsgemäß führten und damit den Tod von Menschen aus reinem Egoismus billigend in Kauf nahmen.

Leider wurden die Maskaran bald darauf aufgelöst, denn es gab nach Einführung der elektronischen Masken, denen sich dank flächendeckender Impfung und Markierung niemand entziehen konnte, keinen Bedarf an seiner Tätigkeit mehr.

Mit Wehmut dachte Karl an die alte Zeit zurück, als er und seine Genossen auf der Jagd nach Gesetzesbrechern mit Baseballschlägern durch die Straßen gezogen waren. Auch in Wohnungen kontrollierten sie, wenn es Informationen gab, dass sich dort nicht an die Regeln, die man sich gegeben hatte, gehalten wurde. A-H-A-A-L + GGGGG lautete die griffige Formel, die sich ihm auf Lebenszeit ins Hirn eingebrannt hatte: Abstand halten – Hygiene beachten – Alltagsmaske – App – Lüften + die fünf unbedingt zu vermeidenden G-Faktoren: Geschlossene Räume, Gruppen, Gedränge, Gespräche, Geselligkeit.

Noch schöner als die alte war nur die neue Zeit.

Um 7 Uhr würde er seine mit Sensoren versehene Alltagsmaske aufziehen, die von jedem Bürger bis zur allgemeinen Nachtruhe um 20 Uhr zu tragen war.

Korrekter Sitz und volle Funktionsfähigkeit wurden von Drohnen überwacht, deren vertrautes Surren er aus den Häuserschluchten durch das einen Spalt weit geöffnete Fenster vernahm.

Karl machte sich viele Gedanken um das persönliche Wohlergehen der großen Führerin, die ihr Amt nun schon fünfundvierzig Jahre ausübte. Ihr letzter öffentlicher Auftritt datierte aus dem Februar 2047. Es kursierten Gerüchte, dass sie schon seit drei Jahren tot war. Laut in schwedischen Medien kolportierten Satellitenbildern sei ihr Privatzug da zum letzten Mal in der Uckermark gesichtet und kurz darauf verschrottet worden. Dies entnahm Karl einem Gespräch, das er erst gestern in der Untergrund-Bahn belauscht hatte.

Selbstverständlich hatte er die Maskenummern der zwei tuschelnden Fahrgäste umgehend notiert und den Behörden gemeldet. Das Abhören von Feindsendern und das Verbreiten von Fake News war nämlich streng verboten.

Von der Meldung versprach Karl sich zehn Punkte für sein Sozialkonto. Im Falle einer Verhaftung der Delinquenten inklusive Schuldspruch könnten weitere zehn Punkte gutgeschrieben werden. Wenn alles perfekt lief, würde Karl in etwa zwei Jahren die Punktzahl erreicht haben, die ihn zur Beantragung eines FDGB-Urlaubes an der Ostsee berechtigte.

Natürlich durfte er sich selbst nichts zuschulden kommen lassen, denn schon allerkleinste Übertretungen der Regeln des Allgemeinen Infektionsschutzgesetzes konnten zu Punktabzug führen. Nachbarn, Freunde, Kollegen und Verwandte lauerten ja nur darauf, diese zur Anzeige zu bringen und damit ihre eigenen Konten aufzustocken. Diese gegenseitige, zivilgesellschaftlich couragierte Kontrolle war eine sehr gute Sache, fand Karl, denn sie diente der prophylaktischen Eindämmung des Virus und der allgemeinen Stabilität im Lande. ---

Mit diesen positiven Gedanken drehte er sich auf die Seite und schlief weiter.

Kapitel 2

Um 6 Uhr wurde er wie jeden Tag durch die Sirenen des Seuchenschutzes geweckt. Er streifte schnell die Nachtmaske ab und nach der angeordneten, das Immunsystem stärkenden musikalischen Morgengymnastik, der ‚Medizin nach Noten‘, reinigte und desinfizierte er seinen Körper und nahm ein veganes Frühstück ein. Punkt 7 Uhr ertönte das Signal der Drohnen zum allgemeinen Anlegen der elektronischen Alltagsmasken.

Dann wurden am Wandscreen seiner Stube wie immer die aktuellen Tagesbefehle eingeblendet. Oh, er hatte Nachricht vom Sozialamt!

„Finden Sie sich heute um 10 Uhr zur Klärung eines Sachverhaltes im Amt ein. Betreff: Maskenvergehen.“

Karl traf der Schlag. Maskenvergehen? Was hatte das zu bedeuten? Es musste sich um eine Verwechslung handeln und würde sich bestimmt rasch aufklären.

Masken waren Karl heilig. Sie schützten zuverlässig vor den Infektionen, die ohne sie längst ausgebrochen wären und alles Leben im Umkreis vernichtet hätten.

Peinlich genau hielt er sich an die Vorschriften. Und er hatte viele Bürger gemeldet, die er eines nicht akkuraten Maskensitzes verdächtigte, der dem Virus Tür und Tor zu öffnen drohte. Allein durch das Anzeigen von Maskenverbrechen hatte er über die Jahre nicht wenige Sozialpunkte gesammelt. Sein Punktekonto war der Dreh- und Angelpunkt, ja, der Sinn seines Lebens. Die Auswertungen der letzten Jahre hingen fein säuberlich an der Wand. Rot markiert hatte er jeweils die höchsten Scores für einzelne Meldungen. Sie datierten meist nach Besuchen bei seiner Mutter im Altersheim.

So wie vor einigen Wochen erst, als es zu einem Zwischenfall gekommen war. Die 90-jährige Greisin hatte sich plötzlich mit letzter Kraft aus ihrem Rollstuhl erhoben und war um das Plexiglas mit der Sprechanlage herum auf Karl zugekommen. Ehe er reagieren konnte, tauchte ihr Gesicht ganz nah vor dem seinen auf. Eine Träne kullerte aus ihren Augen, als sie mit den Worten „mein Jungchen“ ihre Hand nach ihm ausstreckte.

Beinahe wäre es zu einer körperlichen Berührung gekommen.

Karl konnte gerade noch zurückweichen und den Saal schreiend im Laufschritt verlassen. Zu Hause eingetroffen, entledigte er sich sofort aller Kleidung und begab sich über die Sicherheitsschleuse in die Desinfektionsdusche, mit der jede moderne Gemeinschaftsunterkunft im Jahre 2050 natürlich ausgestattet war. Gleich darauf verfasste er eine schriftliche Meldung über das Ablegen der Maske und die Unterschreitung des Sicherheitsabstandes durch die besuchte Person der Risikogruppe.

Das Melden von Verwandten ersten Grades brachte Bonuspunkte, weil es als Beweis besonderer Zivilcourage galt. Diese Punkte wurden seiner Mutter dann abgezogen. Aber das sollte sie in ihrem fortgeschrittenen Alter ja nicht stören; ihr wurde halt für Wochen das Fleisch und der Nachmittagskuchen gestrichen. Ohnehin starb sie nur drei Tage nach dem Vorkommnis, was Karl ja recht gab. Ihn brachte es jedenfalls seinem großen Traum eines FDGB-Urlaubs an der Ostsee näher. Er hatte das Meer seit seiner Kindheit, die ja vor den Transformationen von gigantischem historischen Ausmaß lag, nicht mehr gesehen.

Apropos Kindheit. Neidvoll blickte Karl auf die Kinder von heute. Mit sieben Jahren schon wurden sie in der neuen Zeit in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Die feierliche Maskenweihe, die virtuell vollzogen wurde, da die Kindergärten und Schulen seit 30 Jahren geschlossen waren, markierte den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, und jede JungbürgerIn bekam ein Exemplar der Autobiographie der großen Vorsitzenden ‚Aus meinem Leben‘ zugesandt.

All diese Gedanken durchwaberten Karl spontan, als er die Nachricht des Sozialamtes auf dem Bildschirm blinken sah. Viel Zeit blieb nicht mehr. Er schminkte dezent die Augenpartie und kleidete sich an, wobei er sich für einen Hosenanzug mit roséfarbenem Blazer entschied. Es war die Mode der Zeit; ganz dem Stil der großen Führerin nachempfunden, wobei er heute etwas farbenfreudiger agierte als sein Idol. Er wollte eben einen besonders guten Eindruck beim Sozialamt machen.

Immerhin hatte er damit den vom Gesetz geforderten triftigen Grund, das Haus zu verlassen; etwas Besonderes angesichts der anhaltenden Ausgangssperre. Es war ein trüber Frühlingstag, als er am Sozialamt eintraf. Er war vorher noch etwas über den asphaltierten Parkplatz geschlendert, hatte das vertraute Surren der Überwachungsdrohnen genossen und die Roboterhunde dabei beobachtet, wie sie den Abstand zwischen den wenigen Passanten überprüften. Dann betrat er das riesige Gebäude und wanderte durch lange Flure, bis er vor dem Zimmer Nr. 6 Platz nahm. Er war sicher: alles würde sich aufklären.

‚Vorgang, 11107/5698. Bürgerix Karl!‘ ---

Er trat ein.

Kapitel 3

Ein fünfköpfiges Gremium erwartete Karl und erwiderte seinen obligatorischen Gruß, in dem der Name der großen Führerin vorkam, mit der Formung der Raute. Er stellte überrascht fest, dass nur vier der fünf Amtspersonen ordnungsgemäße Dienstmasken trugen. Eine der Personen, die er intuitiv als weiblich einstufte, obwohl diese diskriminierenden Zuschreibungen ja seit vielen Jahren verboten waren, trug keinen Mund-Nasen-Schutz. Karl hatte gerüchteweise davon gehört, dass höhere Staatsbeamte sowie Nomenklatur-Kader der NEP, der Neuen Einheits-Partei, von der allgemeinen Maskenpflicht ausgenommen waren. Er hatte das, ehrlich gesagt, für eine Verschwörungstheorie gehalten. Aber andererseits hatte es bestimmt seinen tieferen Sinn, denn auch die große Führerin trug nur zu ausgewählten Fototerminen, aber nie im Dienst Maske.

„Bürgerix Karl“, sprach nun diese hochgestellte Persönlichkeit. „Lassen Sie uns ohne Umschweife zur Sache kommen. Sie bereiten uns Kummer. Sie haben sich eines Maskenvergehens schuldig gemacht. Sie haben sich mehrfach unbefugt die Nachtmaske vom Gesicht gerissen.“

„Aber das kann nicht sein“, warf Karl zitternd ein.

„Durch das Leugnen von elektronisch aufgezeichneten Tatsachen werden Sie Ihre Lage nicht verbessern“, sagte die Amtsperson streng.

„Aber es geschah immer unbewusst. Im Schlaf. Ich habe Alpträume!“ rief Karl. „Mir träumt, dass die große Führerin gestorben ist, woraufhin die Seuche mit voller Wucht über das Land hereinbricht und die Millionen Tote fordert, die der Hohe Virologische Rat bereits im Jahre 2020 prognostiziert hatte.“

„Wir haben allein in den letzten sechs Monaten siebzehn Verstöße festgestellt“, erwiderte die Anstaltsleiterin ungerührt. „Es gelten immer noch Gesetze und Regeln im Siedlungsgebiet. Unsere Algorithmen haben ausgerechnet, dass Ihr Sozialkonto damit deutlich ins Minus gerutscht ist.“

„Aber was ist mit den Gutschriften und Boni?“ fragte Karl verzweifelt. „Ich habe mehrere Vergehen von Familienmitgliedern gemeldet, darunter auch die meines Elter 1!“

„All diese Boni wurden rückwirkend gestrichen“, entgegnete die Stimme kühl. „Denn unsere Wissenschaftler*ix haben herausgefunden, dass Verwandtschaft nur ein Konstrukt ist. Diese Information wurde vor drei Tagen in unserem freien, öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesendet. Oder wollen Sie etwa andeuten, den Pflichtempfang der ‚Aktuellen Tageskamera‘ verabsäumt zu haben?“ fragte die Amtsleiterin in bedrohlich klingendem Ton.

„Nein, nein! Es war mir leider nur eben entfallen, ich bitte Sie um Entschuldigung!“ entgegnete Karl mit tränenerstickter Stimme wahrheitsgemäß, denn er hatte wirklich keine Sendung verpasst.

„Weitere Abzüge gab es unter anderem für Verstöße gegen die Regeln der gesunden Ernährung“, fuhr die Stimme geschäftsmäßig fort. „Sie erwarben im letzten Quartal ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung eine Reihe wenig nahrhafter Produkte und der aufgenommene Zuckeranteil im Blut war zu hoch, weshalb wir überdies Ihre Beiträge zur Krankenversicherung anpassen müssen. Wir geben Ihnen aber die Möglichkeit, Ihr Sozialkonto auszugleichen.“

„Ja, bitte, was kann ich dafür tun?“ flüsterte Karl. „Ich sammle Punkte für meinen FDGB-Urlaub in zwei Jahren!“

„Das wissen wir“, sagte die Amtsperson milde. „Wir sehen auch Ihre Verdienste wie Ihre frühere Tätigkeit bei den Maskaran. Daher behandeln wir Ihre Vergehen zunächst als bloße Ordnungswidrigkeiten und nicht als Straftaten. Aber auch unsere Geduld ist endlich. Ich sperre jetzt Ihre Kreditkarte. Wir setzen Sie für zwölf Wochen in der Spargelernte ein. Wenn Sie dort die Tagesnorm erfüllen und sich sonst nichts zuschulden kommen lassen, wird Ihr Sozialkonto nach Ablauf dieser Zeitspanne ausgeglichen sein. Es wird Ihnen pro erfolgreich absolviertem Tag ein Punkt gutgeschrieben. Sie begeben sich nun in die Effektenkammer, entkleiden sich dort vollständig und bereiten sich auf die Leibesvisitation durch unser geschultes medizinisches Personal vor. Dann nehmen Sie Ihre Uniform sowie ein Sortiment an Nacht- und Arbeitsmasken in Empfang und warten auf den Sammeltransport nach Beelitz.“

Das Gremium erhob sich. Die Verhandlung war geschlossen. Wie in Trance stammelte Karl einen Dank, formte mit den Händen eine Raute, brachte den vorgeschriebenen Hochruf auf die große Führerin und den Hohen Virologischen Rat aus, schloss die Tür hinter sich und schlurfte über die langen Flure des Amtes in Richtung Kleiderkammer von dannen.

Kapitel 4

Effektenkammer und MedPunkt befanden sich in einem anderen Flügel des riesigen Sozialamts-Komplexes. Karl stapfte allein und unbeachtet durch die langen Gänge.

Was konnte er tun? Fliehen?