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Köln 2017 Der 16-jährige Schüler Karl sieht sein Vaterland in Gefahr. Das korrupte Merkel-Regime öffnet mit seiner Flüchtlingspolitik dem großen Austausch Tür und Tor, während echte Deutsche wie er selbst und seine alkoholkranke Mutter mit Sozialleistungen abgespeist werden. Angestachelt durch seine Kameraden beschließt er, sich endlich zu wehren. Köln 1933 Die 16-jährige Jüdin Esther macht sich große Sorgen. Die Nationalsozialisten haben die Wahlen gewonnen. Seit Tagen marschieren sie in den Straßen auf und ab, singen ihre hasserfüllten Lieder und greifen Jüdinnen und Juden auf offener Straße an. Gestern erst wurden die Scheiben von Vaters Geschäft mit weißer Farbe beschmiert. Und heute brachten ihre Brüder einen bewusstlos geschlagenen und übel zugerichteten jungen Mann nach Hause. Wo sollte das alles noch enden?
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Seitenzahl: 204
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In Gedenken an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter
Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.
Max Frisch
Disclaimer: Selbstverständlich handelt es sich hier um einen Roman mit rein fiktionalem Charakter.
Entsprechend sind sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und deren Handlungen sowas von zufällig.
Habt Spaß mit der Lektüre und macht was draus.
Sean und ich werden 10% der Einnahmen aus dem Buchverkauf regelmäßig an eine NGO spenden, die den Kampf gegen Nazis oder die Rehabilitierung ehemaliger Nazis zu ihrer Aufgabe gemacht hat.
Kapitel EINS
Kapitel ZWEI
Kapitel DREI
Kapitel VIER
Kapitel FÜNF
Kapitel SECHS
Kapitel SIEBEN
Kapitel ACHT
Kapitel NEUN
Kapitel ZEHN
Kapitel ELF
Kapitel ZWÖLF
Kapitel DREIZEHN
Kapitel VIERZEHN
Kapitel FÜNFZEHN
Kapitel SECHZEHN
Kapitel SIEBZEHN
Kapitel ACHTZEHN
Kapitel NEUNZEHN
Kapitel ZWANZIG
Kapitel EINUNDZWANZIG
Kapitel ZWEIUNDZWANZIG
EPILOG
Köln Mülheim. Kennt man spätestens, seit die Keupstraße in den Medien für kurze Zeit die Schlagzeilen beherrschte. Aus einem Beispiel für gelungene Integration türkischer Kultur und Zeichen friedlichen Zusammenlebens von Menschen aller Nationen wurde das Symbol für den feigsten rechtsextremen Anschlag in der neueren deutschen Geschichte, von manchen als „NSU-Affäre“ bezeichnet, unter den Teppich gekehrt. Im Film „Der Kuaför aus der Keupstraße“ bringt es die Blumenhändlerin auf den Punkt:
„... Es gab zwei Bomben. Die eine hatte diese Wucht mit den Nägeln und die andere war einfach der Rechtsstaat, der nicht funktioniert hat. Das war eigentlich die größere Bombe ...“
Hier in Köln Mülheim lebte Karl Borowicki. In der Nähe des Wiener Platzes, nur einen Katzensprung von der Keupstraße entfernt. In einem der vielen Veedel Kölns, wo der einfache Kiosk, das Büdchen in der Straße das Flair spiegelte. Keine angesagten Clubs oder Restaurants. Karls Geschichte möchte ich dir erzählen, und das ist eine ungewöhnliche Geschichte.
Wer ich bin? Das ist fürs Erste irrelevant. Vielleicht verrate ich es dir später. Zunächst solltest du wissen, das Dilemma begann im Jahr 2017. Karl ist da siebzehn Jahre alt, und höchstwahrscheinlich wirst du ihn hassen. Oder auch nicht. Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, was ich von ihm halten soll. Alles begann mit einem seltsamen alten Mann ...
Den Geruch nach Taubendreck aus der Unterführung in der Nase, schlurfte die Gestalt langsam die Wallstraße hinauf. Je weiter sie aus der Dunkelheit unter der Mülheimer Brücke hervortrat, desto mehr formte sich ihre Silhouette zum Abbild eines uralten Mannes, dessen gesamte Haltung nicht nur epochales Leid, sondern auch einen soliden Stolz ausstrahlte. Seine Kleidung wirkte nicht heruntergekommen. Er trug einen perfekt sitzenden schwarzen Anzug, dazu einen robusten, dunkelgrauen Mantel, der alles andere als billig aussah. Die langen schneeweißen Haare verliehen ihm die Attitüde eines Künstlers oder Filmstars.
Am Ende der Wallstraße steuerte er auf das Büdchen an der Ecke zu. Viele kamen um diese Abendstunde, um ihren Biervorrat noch einmal aufzufüllen, suchten dabei, wie es in Köln oft vorkommt, das Gespräch mit den Veedel-Nachbarn. Dafür tauschten sie sich problemlos erfolgreich in verschiedenen Sprachen aus.
Der Alte trat vor die Eingangstür und seine grauen Augen reflektierten das Licht der Neonbeleuchtung. Die Augen wirkten kalt, fast unbarmherzig. Erst als der junge Türke ihm freundlich die Tür zum Laden aufhielt, füllte sich der Gesichtsausdruck des Alten mit etwas Wärme.
„Danke Mehmet“, brummte er.
„Sie wünschen?“, fragte Mehmet und stellte sich hinter die Theke. Dabei wunderte er sich, dass der Kunde seinen Namen kannte. Kannten sie sich? Nein, bestimmt nicht. An so eine eindrucksvolle Erscheinung wie den Alten hätte sich Mehmet ganz sicher erinnert. Gehörte er zu der Sorte Rassist, für die alle Türken Mehmet oder Ahmet heißen? Rassismus war Mehmet nicht fremd. Der Alte aber, befand Mehmet, war wohl knapp dreißig Jahre aus der Mode mit seiner speziellen Form der Xenophobie. Andererseits, überlegte Mehmet weiter, so alt wie der schräge weißhaarige Typ schien, war er bestimmt bei allem um Jahrzehnte aus der Mode.
Der Alte sah sich um, ließ sich viel Zeit dabei, summte kaum hörbar eine Melodie in seinen Bart. Das oberste Regal war nur hochprozentigem Schnaps gewidmet. Darunter der Spagat von Chips, Flips, Erdnüssen hin zu Ketchup, Brot und Konserven. Alles gegenüber einer mageren Auswahl erschwinglicher Weine. Mehrere gefüllte Getränkekühlschränke, Bier, Cola, Fanta, Wasser, Milch- und Energydrinks. Ein Regal mit deutschen und internationalen Zeitschriften, DIE ZEIT, Spiegel, Süddeutsche, BILD, Le Monde, Fanat, Washington Post, Daily Mirror und viele weitere; ganz oben die – ebenfalls polylingualen Tittenheftchen. Leere und volle Getränkekästen und hinter dem Tresen lagen Rauchwaren und allerlei diverser Klimbim, von Feuerzeugen und Kondomen bis hin zu Cannabisersatzprodukten. Von seinem Platz hinter dem Tresen, zwischen Kasse und dem bunten Regal mit Süßigkeiten, an dem die Kinder vorzugsweise ihr Taschengeld verzuckerten, verfolgte Mehmet mit zweifelndem Blick jede noch so kleine Bewegung seines eigenartigen Kunden. Endlich, nach gefühlten Minuten des Schweigens, wandte sich der Weißhaarige dem Tresen und Mehmet zu.
„Einen Kaffee mit dreimal Zucker und eine Schachtel Zigaretten. Egal welche“, brummte er und grinste dabei.
Mehmet füllte den Kaffee ab, insgeheim froh darüber, dass dieser nicht frisch aufgesetzt werden musste, dann legte er seinem Kunden eine Big Box John Player hin.
„Zehn Euro Fünfzig bitte.“
„Bitte zahl, Gandalf, und geh einfach“, dachte Mehmet. „Irgendetwas stimmt hier nicht ...“
Der Alte hielt ihm einen Zwanziger hin. Mehmet nahm ihn hastig entgegen.
„Nicht grabschen“, grummelte der Alte, dann verließ er das Geschäft, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Mehmet sah keinen Sinn darin, einen Reisenden wegen so etwas trivialem wie Geld aufzuhalten.
Der Alte ging hinaus um die Ecke und blieb ein paar Schritte weiter im Schatten stehen.
Er zündete sich eine an, zog und inhalierte tief den schädlichen Qualm. Dann, wie aus heiterem Himmel, drehte er sich um 180 Grad und schlug mit aller Kraft die Faust gegen die Hauswand. Wieder und wieder und wieder. Ohne ein Wort zu sagen, ohne die Miene zu verziehen.
Blut, Knochensplitter und Stücke des verrotteten Klinkers der Hauswand spritzten zu gleichen Teilen. Ein knirschendes Knacken, ein Laut von der Art, die einen bis in die schwärzesten Alpträume verfolgt, begleitete die sinnlose Aktion und der Alte starrte auf den offenen Bruch, der einmal seine Hand gewesen war.
Zwei Finger baumelten nur noch an Fetzen.
„Bekackte Schmerzen“, dachte er. „Wie damals!“, und erinnerte sich …
Zuerst waren da unglaubliche Schmerzen. Mein Kopf dröhnte. Egal. Schmerzen.
Irgendwas im Mund. Ich spuckte aus. Mein Mund war voller Dreck und voller Blut. Aber die Zähne schienen alle noch da zu sein. Langsam kehrten meine Sinne zurück. Ich lag. Ich sah Laub, Äste, schwindelig. Schmeckte die Erde, den Dreck und das Blut. Ein Park? Wie kam ich in einen Park? Stadtgarten? Aachener Weiher? Oder das Grünstück am Mediapark? Ich hob den Kopf. Schmerzen. Nur Dreck und Blut und Schmerzen.
Nein, das war kein Park. Viel zu verwildert, viel zu ungepflegt, nirgendwo Müll und Spritzbesteck. War ich im Wald? Rätsel über Rätsel. Aber primär Schmerzen. Ich stützte mich auf die Arme und ging auf die Knie. Fuck! Ich war splitternackt. Sogar die Verbände an meinen rot entzündeten Tätowierungen waren verschwunden. An meiner Schläfe fühlte ich eine klaffende Wunde, die mir, nass vor Blut, krasse Schmerzen bereitete. Es blitzte vor meinen Augen. Helles Licht, wie ein Stroboskop. Mir wurde schwindelig. Dann wieder schwarz vor Augen. Ich kippte nach vorne. Dann wurde es wieder ganz schwarz und leer ...
Etwa zeitgleich zu Mehmets subtilem Gefühl des Unwohlseins in Gegenwart des weißhaarigen Weirdos, in ungefähr zweihundert Meter Luftlinie Entfernung, drückte Karl die Enter-Taste seines Notebooks. Sofort erschien sein Post in der Facebook-Gruppe, Sekunden später kamen die ersten Likes und Kommentare.
Blaue Herzen, geballte Fäuste, schwarzrotgoldene Fahnen, Hashtag nurAfD, Hashtag Esreicht! Hashtag Wirsinddasvolk, Hashtag Ausländerraus, die vereinzelte belgische Nationalflagge.
Die Facebook-Gruppe nannte sich „Patrioten für den Erhalt Deutschlands“, eine von vielen mehr oder weniger offen rechtsextremen Social Media-Gruppen, in denen Karl regelmäßig „Volksaufklärung“ betrieb. Seit ein paar Monaten driftete Karl immer weiter in den Dunstkreis Jener Bürger*innen, die sich sehr um den Erhalt der sogenannten „Deutschen Rasse“ sorgten. Die der Meinung waren, es bestünde ein ominöser „Umvolkungsplan“ einer ebenso ominösen kleinen Gruppe mächtiger Männer,
(Hashtag Weltverschwörung, Hashtag Kraken, Hashtag JewTube)
die mittels „demographischer Werkzeuge“ wie Geburtenrückgang und Massenmigration die Weltpolitik gestalteten.
Das erklärte Ziel sei die Ausrottung der edlen und tugendhaften weißen Rasse und ihr Austausch mit dem Gegenteil.
(Hashtag Rassenkunde, Hashtag Herrenrasse, Hashtag DeutschesblutDeutscherstolz)
Polemische Schlagworte wie „Asylantenflut“, „Umvolkung“ und „Islamisierung“ waren längst salonfähig geworden, sogar vom „Genozid am deutschen Volke“ war in Karls digitalen Umgangskreisen die Rede. Mit seinen siebzehn Lebensjahren, ein Teenager voller Zweifel, Angst und Unsicherheit, gequält vom Leben und im Epizentrum der Pubertät steckend, erlebte Karl sein politisches Erwachen. Finanziell von der Grundsicherung in abhängigen Verhältnissen lebend, mit einer alkoholkranken Mutter, die ihm zum letzten Geburtstag eine halbvolle Flasche Korn
geschenkt und Stein und Bein geschworen hatte, den Geburtstag nicht vergessen zu haben, rangierte er in den Top Ten der typischen Opfer völkischer Seelenfänger.
Aber Karl würde kein Opfer sein. Oh, nein! Seit er begriffen hatte, was in seinem Land passierte, seit er einen Einblick in die großen Pläne der Verwässerung bis Vernichtung deutschen Blutes erhalten hatte, wollte er kein namenloses Mitglied der schweigenden Masse mehr sein. Nein, Karl würde kämpfen für sein Volk, sein Land und, … und, …
Naja. Zu seinem Glück fand politischer Kampf heutzutage nicht mehr nur auf der Straße, sondern mehr und mehr auch im Internet statt. In den sozialen Netzwerken. Facebook, Twitter, Instagram und dergleichen. Hier konnte man Menschen beeinflussen, hier konnte politischer Wille gebildet und geformt werden.
Und das ging überraschend einfach. Man nehme zunächst ein Foto, das beispielsweise vier möglichst dunkelhäutige Männer in Hängematten zeigt, die alle gebannt auf ihre Smartphones schauen. Dann unterlegt man dieses an sich harmlose Foto mit einem eingängigen, auch für minderintelligente Mitrassisten verständlichen Slogan. So etwas wie „Danke, Merkel, für die fleißigen Fachkräfte!“ Somit werden komplexe tagespolitische Themen wie Fachkräftemangel, dessen Ausgleich durch Zuwanderung und die Merkel-Regierung aufgegriffen und auf Schlagwortform reduziert. Gleichzeitig wird eine „europäische Tugend“ wie Fleiß mit den in Hängematten liegenden dunkelhäutigen Männern in ironischen Bezug gebracht. Das spielt natürlich auf das unter Rassisten verbreitete Vorurteil an, Afrikaner seien faul und arbeitsscheu. Die Hängematten symbolisieren subtil die sogenannte „soziale Hängematte“. Die vier Afrikaner sind also nicht auf der Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung nach Europa gekommen, sondern nur, um hier auf Kosten der Allgemeinheit zu faulenzen und zu schmarotzen. Der Betrachter hat ja den optischen Beweis dafür vor Augen.
Dass das Foto ausschließlich Männer zeigt, ist ebenfalls ein rassistisches Motiv: Es kämen keine Familien auf der Flucht nach Deutschland, sondern nur Männer. Und die nähmen uns edel-hellhäutigen Deutschen unsere Frauen weg – ebenfalls ein gängiges rassistisches „Argument“ für die angebliche „Umvolkung“.
Den ersten Stein dabei werfe der, von dem es keine Urlaubsfotos gibt, die ihn mit ein paar Freunden beim Chillen zeigen. Oder der, der eben empfänglich ist für rassistische Propaganda und sich in seinen eigenen rassistischen Ressentiments bestätigt sieht.
Bei Karls aktuellem Meme handelte es sich um eine Fotomontage, die den ehemaligen Kanzlerkandidaten der SPD zusammen mit einem grinsenden Schimpansen zeigte. Die Bildüberschrift lautete: „Ehe für Alle“. Karl Borowicki war einer der Wenigen, denen es regelmäßig gelang, Hetzparolen und diffamierende Kommentare ohne Rechtschreibfehler zu verfassen. Es mag allerdings angezweifelt werden, ob die Empfänger seiner politischen Botschaften davon überhaupt Kenntnis nahmen.
„Elende Sozialistenzecken!“, murmelte Karl und klappte das Notebook zu. Er hatte sich bereits die Schnürstiefel angezogen, nahm seine schwarze Thor-Steinar-Jacke vom Stuhl und verließ die kleine Wohnung in der Seidenstraße, in der er mit seiner Mutter bescheiden lebte. Frau Borowicki hatte ihren Mann kurz nach Karls Geburt verloren. Ein Autofahrer hatte auf der A3 am Leverkusener Kreuz die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und in der Baustelle drei Arbeiter überfahren. Karls Vater starb noch an der Unfallstelle. Karl wuchs daher nicht mit Daddy auf, sondern mit dem Jobcenter Köln. Autorität wurde ihm vermittelt durch Kürzungen der Einkünfte seiner Mutter, die mal wieder einen Termin verpasst hatte, weil Karl krank geworden oder sie selbst zu betrunken gewesen war. Sinnlose Maßnahmen des Jobcenters, lächerliche Jobangebote und eine Absage nach der anderen. Bereits zu Karls Einschulung hing Frau Borowicki an der Flasche. Inzwischen kaputt genug, um unbehelligt ihre gesicherte Armut in Form von Hartz4 zu genießen. Mittlerweile benötigten sie das Geld, das Karl bei Mehmet im Laden verdiente – mindestens die Hälfte davon finanzierte Monat für Monat Frau Borowickis unstillbaren Durst. Das alles kotzte Karl an. Aber bald würde sich einiges ändern. Nachdem er jetzt den Durchblick hatte, ihm die „Harten Jungs“ die Schuldigen präsentierten, wollte Karl sich nicht mehr mit der Ungerechtigkeit im eigenen Land abfinden. Er musste sich sein Vaterland zurückholen.
„Bin weg! Wird spät!“, rief er in die Küche, wo seine Mutter mit einer fast leeren Flasche billigen Nordhäuser Nordbrand am Tisch saß und ihre Zigaretten für den nächsten Tag stopfte. Die BILD als Unterlage, auf der sich unzählige Tabakkrümel angehäuft hatten. Die übliche Dose „Pall Mall“, leere Hülsen, fertige Zigaretten, ihr abgewetztes Etui, der randvolle Aschenbecher und der Geruch von Alkohol, Zwiebeln und Raumspray, mit dem Frau Borowicki stündlich ihre Schuldgefühle kompensierte. Karl hätte sich nicht gewundert, wenn man das Ozonloch nach seiner Mutter benannte.
Mit einem brennenden Glimmstengel im Mundwinkel nuschelte sie zurück: „Ist gut, mein Junge.“
Die Küche war spärlich eingerichtet. Die Hängeschränke und der Tisch stammten aus den Neunzigern und zahlreiche Umzüge hatten an vielen Stellen die Kunststoffschicht auf dem Pressspan zerschlissen. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr. Daneben quoll der Mülleimer über und Verpackungen umrahmten den Bereich vor der Spüle. Es war noch lange kein Messi-Haushalt, dafür sorgte Karl. Aber der allmählichen Verwahrlosung Einhalt zu gebieten? Dazu hätte er der aktiven Mitarbeit seiner Mutter bedurft. Diese einzufordern, hatte Karl inzwischen aufgegeben.
Karl griff sich eine Handvoll Selbstgestopfte und drückte seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann verschwand er durch die Tür.
Karl zerriss es jedes Mal das Herz, wenn er in seiner Mutter den kaputten Menschen erkannte, den die Jahre aus ihr gemacht hatten. Wie langsames Ertrinken kam es ihm vor. Ein langsamer Prozess, der aus ihrem Niedergang und seiner latent wachsenden Erkenntnis bestand. Am Ende war es eh zu spät. Ein Stück weit suchte Karl nach einem Schuldigen dafür. Früher hatte er, wie es Kinder halt so machen, sich selbst die Schuld gegeben.
Glaubt nicht, er sei unterbelichtet. Er besuchte erfolgreich die zehnte Klasse auf der Willy-Brand-Gesamtschule. Obwohl er kaum Mühen investierte, gelang ihm mit Leichtigkeit ein Notenschnitt von gut bis befriedigend. In Sport hatte er stets eine Eins, denn Karl strotzte vor Kraft und Agilität.
Deshalb durfte er letzten Endes bei den „Harten Jungs“ mitmachen. Die „Harten Jungs“, das waren stramme Nazis, deren Freizeitvergnügen oft in gefährlichen Schlägereien mit Andersdenkenden oder Menschen mit Migrationshintergrund endeten. Die meisten seiner Schulkameraden hatten Karl früher verspottet. Igitt, eine Halbwaise aus armen Verhältnissen ohne modische Kleidung oder teurem Spielzeug. Das hatte sich geändert. Seit er Simon kannte, einen der „Harten Jungs“. Nun respektierte man ihn.
Der tristen Wohnung entkommen, entschied Karl, dass er erst einmal ein Bier brauchte. Ein Schluck kühle Erfrischung nach der luftraubenden Stickigkeit der heimatlichen Hartzerhöhle. Er brauchte nur ein paar Schritte bis zum Büdchen, davor stand der Alte, der Karl wie zur Salzsäule erstarrt mit geweiteten Augen anstarrte.
Karl spürte förmlich diesen Blick aus den kühlen Augen des Unbekannten. Aber er wäre nicht er, wenn er sich von so einem alten Sack einschüchtern ließe.
„Na, Opa“, sagte Karl, grinste provokant, doch der Alte starrte nur weiter. Mit sanftem Druck musste Karl ihn aus dem Weg schieben. Bei jedem anderen wäre er deutlich ruppiger gewesen, aber der Alte sah aus, als hätte er noch in Stalingrad gekämpft. Vom Alter her musste der Kerl bei der Wehrmacht gewesen sein. Oder bei der SS. Und das respektierte ein völkischer Patriot wie Karl natürlich.
Er betrat das Büdchen und nahm sich gewohnheitsmäßig eine Flasche Kölsch aus dem Kühlschrank.
„Na, du Scheiß-Kanake!“, begrüßte er anschließend den türkischstämmigen Jungen, der Karl hinter der Theke breit grinsend beobachtet hatte und den du schon als Mehmet kennengelernt hast.
„Der feine Herrenmensch beehrt unseren Laden. Na, du dumme Nazisau?“, kam die Antwort zurück. Karl lachte und sie gaben sich die Hand. Er und Mehmet, nur zwei Jahre älter als Karl, kannten sich bereits seit der Grundschule. Hin und wieder vertrat er Mehmet im Kiosk und verdiente etwas nebenher, aber das weißt du ja schon.
„Ich nehme an, du hast diese Woche wieder keine Zeit, weil du mit deinem neuen braunen Freund abhängst?“
„Hey, Mehmet. Sei nicht so dumm. Du und dein Vater, ihr seid OK. Ihr lebt und arbeitet schon lange hier. Ihr gehört fast zu uns. Euch wird nichts geschehen.“
„Geschehen? Du Spinner! Ich wünschte, du wärest klüger. Die tun dir nicht gut. Die wollen dir nichts Gutes. Das sind Scheiß-Nazis!“
„Lass mal. Die bekackten Bimbos, Messermänner und Sozial-Schmarotzer, die ganzen fucking Flüchtlinge, die sich hier seit Neuestem breit machen, liegen auch dir auf der Tasche! Merkels Goldstückchen. Die wollen auch deine Schwester ficken.“
„Hey, Vorsicht. Niemand fickt meine Schwester!“
Karl stutzte. Dann lachte er.
„Du hast doch gar keine Schwester, Ölauge!“
Er drückte Mehmet ein Zwei-Euro-Stück für das Bier in die Hand und ging hinaus. In letzter Zeit führte er oft solche Diskussionen mit seinem besten Freund Mehmet. Und er fürchtete sie. Jedes Mal fühlte hinterher einen Knoten im Magen. Mehmet passte so gar nicht in sein jüngstes Weltbild. Umgekehrt quälten Mehmet und seinen Vater, Eigentümer des Büdchens, mittlerweile Zweifel, ob sie es sich leisten konnten, Karl im Geschäft arbeiten zu lassen. Sie hatten durch Karls offen zur Schau gestellte Neonazi-Attitüde schon Kunden verloren. Andere kamen gar nicht erst herein, wenn Karl hinter dem Verkaufstresen stand.
Rücksichtslos rempelte Karl beim Rausgehen einen Mann an, der gerade den Kiosk betreten wollte.
„Hey!“, beschwerte sich der Kunde. Karl musste ihn nur kurz streng anblicken und der Mann beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Von Anfang an bemühte sich Karl, die Freundschaft mit dem Türken von seinem politischen Engagement zu trennen. Deshalb hatte er permanent ein schlechtes Gewissen, denn Simon und die „Harten Jungs“ wussten natürlich nicht - und durften auch niemals erfahren -, dass ihr Neuzugang mit einem Türken befreundet war.
Karl glaubte tatsächlich die Mär von der Überfremdung und ließ sich anstecken von Hetze und Vorurteilen. Während sein Verhältnis zu Mehmet die neuen xenophoben Dogmen verwischte, kannten seine völkischen Freunden nur Schwarz oder Weiß. Im wahrsten Sinne.
Der Alte folgte Karl in großem Abstand. Er erinnerte sich jetzt an alles. Er griff nach diesen Erinnerungen wie ein Süchtiger nach der Flasche. Setzte dabei einen Fuß vor den anderen. Folgte Karl, während er tiefer versank in seinen Gedanken und plötzlich…
plötzlich hörte ich eine Stimme. So was wie „He, da. Junge. Potzblitz, was haben sie nur gemacht mit dir.“ Jemand schüttelte mich. Ein Auge war von Blut verklebt und durch das andere erkannte ich verschwommen einen älteren Mann mit Schirmmütze. So ein altmodisches Teil, wie es mein Opa immer getragen hatte. Dann sah ich plötzlich nichts mehr, weil eine dritte Person mir eine raue Decke übergeworfen hatte. Ich wollte protestieren, aber mir fehlte die Kraft. Hilflos packte man mich und im nächsten Moment wurde ich auf eine harte Unterlage gepfeffert. Der Mann mit der Mütze faselte etwas von „viel Blut verloren“, doch bevor ich etwas sagen konnte, verlor ich schon wieder mein Bewusstsein.
An Gesprächsfetzen erinnere ich mich. Das Geräusch eines Motors, aber in seltsam ungewohnter Art und weit weg. Jemand versuchte immer noch, mich zu packen. Oder wieder? Mein Zeitgefühl hatte mich längst verlassen, aber ich fühlte mich etwas kräftiger, erholter. Ich musste demnach geschlafen haben. Ich erschrak, weil der Mann mit der Schirmmütze mich irgendwie befummelte. Ich sprang hoch.
„Potzblitz!“, rief der Mann und richtete seine Mütze. Ich warf die Decke beiseite, holte sie aber sofort zurück, um meine Eier zu bedecken. Fuck! Ich war immer noch nackt! Ich hockte splitternackt auf der Ladefläche eines alten Pferdekarren, was das Schnauben des Tieres, das daran eingespannt war, just in diesem Moment bestätigte. Gleichzeitig fuhr ein Oldtimer an uns vorbei. So ein Fahrzeug kannte ich nur aus alten Filmen, die meist in schwarz-weiß gedreht worden waren. Neben dem alten Mann mit der Mütze stand ein Junge, vielleicht in meinem Alter, vielleicht auch älter, aber ebenso krass erschrocken und schweigsam. „Was habt ihr Arschlöcher mit meinen Klamotten gemacht?“, brüllte ich sie alle an.
In diesem Moment erschien ein Mädchen, nein, nicht irgendein Mädchen. Das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, mit Zöpfen und einer putzigen Stupsnase. Sie trug auf dem Arm einen Mantel, den sie Schirmmütze reichte. Dieser übergab ihn an mich.
„Wo zum Henker sind wir? Ist hier Oldtimerralley?“, fragte ich.
Da bemerkte ich ein Straßenschild. Kreuzstraße. Pflastersteine statt Asphalt. Mickrige kleine Häuser. Der Pferdewagen stand direkt vor einer Art Tante-Emma-Laden.
A. Rosenbaum Schreiner Antik – An- und Verkauf, stand auf dem Ladenschild. Es waren keine Autos zu sehen. Vereinzelt kamen Radfahrer vorbei. Uralte Drahtesel. Nix Mountainbike. Die Straße war kaum besiedelt. Eine Handvoll Fachwerkhäuser. Nur wenige Menschen ließen sich blicken und beobachteten aus der Ferne neugierig unseren Pferdewagen. Ihre Kleidung wirkte seltsam altmodisch.
„Hör mal, du Freak. Was ist das hier für ein Kaff? Schlumpfhausen?“, fragte ich die Typen.
Das jähe Aufrichten und die hektischen Bewegungen forderten ihren Tribut. Ich fing an zu taumeln. Mir wurde krass schwindelig. Also hakte ich mich doch bei dem Mann ein. Das hübsche Mädchen nahm den anderen Arm.
„Hast du ihn, Esther?“, fragte der Typ, das Mädchen bejahte.
Esther. Was für ein wundervoller Name …
Wir schafften es knapp ins Haus, dann gaben meine Knie nach und ich brach zusammen.
Auf seinem Weg zum Wiener Platz gingen Karl die meisten Passanten aus dem Weg. Der kräftige junge Mann wirkte durch die Statur, die hohen Schnürstiefel und seinem neuerdings kurz geschorenen Schädel bedrohlich auf die Leute, die oftmals Migrationshintergrund besaßen und Karls optisches Statement korrekt einordneten.
Mit der Straßenbahn fuhr er in den Kölner Speckgürtel nach Merten. An dieser Stelle ein kleiner Exkurs: Wenn du dir das Bewusstsein als eine Strecke von 10 Zentimetern vorstellst, dann hätte das Unterbewusstsein eine Länge von mehreren tausend Kilometern. Deshalb ist das Bewusstsein schnell überfordert und lässt nur einen Bruchteil der Eindrücke um uns herum durch. Schwangere sehen überall Kinderwagen, Leute, die sich ein neues Auto kaufen wollen, nur ihren Favoriten. Folglich sah Karl überall Ausländer. Kanaken. Ölaugen. Im Prinzip ließ jede Fahrt mit dem KVB die Saat der Manipulation durch die xenophoben Einflüsterer ein Stück mehr aufgehen.
Nach einem Fußweg von einer Viertelstunde durch ein spießig anmutendes Siedlungsviertel mit stets gleichen Vorgärten und Fassaden erreichte er den Gasthof, in dem er mit Simon verabredet war. Ein Mann, Karl kannte ihn als Rudi, der scheinbar zufällig im Eingangsbereich herumstand, nickte Karl zu und lächelte. Man kannte und grüßte sich in der Szene. Zusammenhalt und Kameradschaft!
Drinnen saßen ein Dutzend junger Leute. Darunter Mädchen mit der traditionellen Reenie-Frisur. Den Schädel fast kahl, ergänzt durch einen Kranz aus langen Strähnen um das Gesicht herum. Karl fand sie aus irgendeinem Grund erregend. Sie strahlten für ihn große Weiblichkeit aus, obwohl sie sich von allen Schönheitsnormen abgrenzten. Neben zahlreichen solcher Thor-Steinar-Models befanden sich auch Hools und männliche Nazi-Skins im Lokal. Unverkennbar ein Laden der rechten Szene.
Eine kräftige Hand packte Karl an der Schulter.
„Scheiße, da bist du ja endlich. Warte schon eine halbe Stunde. Alles am Start?“
Karl Borowicki nickte.
„Du bewachst die Toilettentür, sobald ich mit dem Kunden drin bin. Verstanden, Kleiner?“
„Ist OK, mach ich.“
„Gut. Bleib hier.“
Simon überragte Karl um einen Kopf. Mitte 30, brutaler Schläger und mehrfach vorbestraft wegen - du hast es wahrscheinlich schon erraten - schwerer Körperverletzung. Er lieferte in jener Zeit den Nährboden für Karls patriotische Gesinnung, und in gewisser Weise hatte er ihn unter seine nationalistischen Fittiche genommen. Sein politischer Mentor, wenn man so wollte – wenn Simon gewusst hätte, was das bedeutete.
Der Hüne mit der polierten Glatze nickte zufrieden und verschwand. Etwa fünf Minuten später kehrte er mit einem anderen Mann zurück und betrat mit ihm die Toilette. Karl folgte den beiden und positionierte sich vor der geschlossenen Türe, zwischen Waschbecken und Pissrinne, während Simon mit dem Mann eine Kabine betrat.
Beißender Geruch nach Urin. Grelle Neonbeleuchtung wie in einer Turnhallen-Umkleide. Ranzige Fliesen an der Wand und auf dem Boden.