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»Das, was geschehen war, schien in der Welt keine Spuren hinterlassen zu haben.« Nicht um weltbewegende Ereignisse geht es in den Kurzgeschichten von Gerhard Lang. Sondern um die kleinen und großen Dinge, die das Leben eines einzelnen Menschen ausmachen, es zum Leuchten bringen oder verdunkeln: Um eine Liebe, die verloren geht. Um das Gefühl von Freiheit beim Streifen durch die Stadt. Um die Sehnsucht, ganz und gar derjenige sein zu können, der man ist. Um den Abschied von Eltern, die noch da sind, aber sich selbst vergessen haben. Um Butterkekse zum Frühstück, einen veralteten Kalender, einen blauen Briefumschlag oder eine DVD, die nach dem Tod ihres Besitzers noch im Player liegt. Um Katzen, Schnecken und den lieben Gott. Die dreiunddreißig Texte in diesem Buch sind konzentrierte Stimmungsbilder, die ein ganzes Leben in einem Tropfen einfangen. Melancholisch oder heiter, realitätsnah oder absurd – und oft all das zusammen. Ute Wielandt
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Seitenzahl: 55
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Für Ingrid †
Der letzte Mensch auf Erden
saß allein in einem Zimmer.
Da klopfte es an der Tür …
Fredric William Brown
Der Schneckenkönig
In jedem Leben gibt es einen Moment
Bevor ich aufbreche ins Ungewisse
Am liebsten streife ich durch die Stadt
Das zerrupfte Milchbrötchen
Ich habe die Zeit zur Freundin
In diesem Teil der Stadt
Der kleine Junge
Man könnte auch sagen
Jemand hat Schuld an seinem Tod
Auf dem Heimweg
Der Vater weiß nicht mehr
Warum meinst du
Er stützt ihn beim Hinabgehen der Stufen
Ob er, unser Großer
Was hat mein Stolz aus mir gemacht!
Es war einer dieser Momente
Es war ein Karfreitag
Georg hatte apokalyptische Fantasien
Es sei doch längst überfällig
Der Dichter steht am Fenster
Das verdanke man nur der Vorsehung
Mit der nassen Hand
Bei einem Einkaufsbummel
Dann wäre es nur ein »Hallo«
Auf dem Parkplatz vor einem Möbelhaus
Als der japanische Kaiser Hirohito
Dann hat er immer mal wieder
Ich habe doch alles gesagt
An der Bettkante
Als sie zu ihm sagt
Die Katze kauert reglos
Das Glück sei ihr zeitlebens treu geblieben
Der Schneckenkönig hat die höchste Stelle erreicht. Lange hatte er an dem bemoosten Stein gewartet. Nun ist die Wärme des Tages feucht geworden, als er den Stein hinaufkriecht, seine Augen auf die vorbeihuschenden Schatten ausrichtet, die ihn jedes Mal zusammenzucken lassen. Aber die abendliche Feuchte und die Stimmung, die ihn jetzt beherrschen, spornen ihn zum Weiterkriechen an, diesem Lockduft entgegen, der schon so nah zu sein scheint, dort bei diesen vibrierenden, huschenden Schatten, derentwegen er immer und immer wieder zusammenzuckt, die ihn aber nicht daran hindern können, sich dieser Verlockung zu nähern.
Sein muskulöser Körper stellt sich auf, seine Fühleraugen orten den Duft, der ihn weglockt von seiner feuchtwarmen Umgebung, hin zu dieser harten und rauen Oberfläche, die seinen muskulösen Kriechfuß zu mehr Schleimbildung anregt, um noch zügiger voranzukommen.
Der kaum wahrzunehmende und im gleichen Moment auch schon wieder entschwundene Schatten hat ihn nur andeutungsweise noch zusammenzucken lassen, nur andeutungsweise noch Augen und Kopf in sein Spiralenhaus zurückziehen lassen – als schon im gleichen Augenblick der Liebende überrollt wird. Seine Liebespfeile konnten es nicht verhindern.
In jedem Leben gibt es einen Moment, in dem ein letztes Mal alles möglich ist. Du musst ihn spüren, Liebster, es gibt keine Wiederholung, Liebster mein.
Es bleibt eine hübsche Lüge, »Ewig jung sei nur die Fantasie.« Die Fantasie ist so grau. So grau, so grau und hat so lange Schatten, so ewig lange Schatten, Liebster, du. Aber das Meer, das Meer ist noch dasselbe, das uns trennt.
Und die Briefmarken haben jetzt Wölkchen. Aber das Meer, das ganze Meer, ist noch dasselbe. Und auch der Wind, der unser Haar zerzauste, Liebster. Ach, lass es ergraut sein, es ist derselbe Wind, derselbe, der uns das Haar zerzauste, Liebster.
Ihr Blick ist noch immer in die Himmelsnacht verhakt, in die mit Nacht behängten Dächer, ehe sie dann mit einer Hand den Kalender an der Wand wendet und bald schon die Nacht und das Meer und der Wind ihre Schrittchen verschlucken – bis zum Morgendämmern, wenn ihre Hand den Kalender an der Wand wieder wenden wird und ihre Augen blinzelnd über die Dächer hinweg in den schimmernden Himmeldunst zum ahnenden Meer blicken werden, ehe sie endlich die müden Augen schließen wird – um in den Abendstunden zu schreiben: In jedem Leben gibt es einen Moment, in dem ein letztes Mal alles möglich ist. Du musst ihn spüren, Liebster, es gibt keine Wiederholung, Liebster mein …
Für Eneri Maharba
Bevor ich aufbreche ins Ungewisse, schreibe ich dir diesen Brief – nach viel zu langer Zeit, wie ich finde.
Die augenblickliche Stille in mir, in diesen Minuten des Schreibens – das bist du …
Ich wollte dir schon oft schreiben. Habe es aber immer wieder aufgeschoben, was ein Zeichen dafür ist, dass ich es am liebsten verdrängen wollte, denn es fällt mir nicht leicht, gewisse Gedanken und Gefühle, die mich belasten, ohne Aufschub zu bewältigen. Ich bin schwach, ich weiche lieber aus, anstatt mich zu stellen. Aber irgendwann überholen mich die ganzen Unzulänglichkeiten dann doch, und dann trage ich alles unkontrolliert mit mir herum, anstatt es an die Oberfläche kommen zu lassen und für mich zu klären.
Es tut mir weh zu wissen, was ich dir angetan habe. Ich ahne, was du dir gedacht hast, als ich einfach wieder aus deinem Leben verschwunden bin und mich nie mehr gemeldet habe … Es tut so weh, dies zu wissen … In meiner Schwäche weiß ich oft keinen Ausweg und bin hilflos, und nur für den Augenblick fähig zu leben, der mich nicht an gestern und nicht an morgen denken lässt. Das ist irrsinnig kurzsichtig und dumm, aber ich schaffe es nicht, mich längerfristig zu verplanen. Das spontane Erleben und der Augenblick sind wohl die Quellen, aus denen ich meine ganze Energie und Lust schöpfe. Wenn ich anfange zu denken, geht’s mir nicht besonders …
Ich weiß nicht, warum ich dir das alles zu erklären versuche, und doch weiß ich es auch. Und dann schon wieder nicht mehr. So bin ich …
Vielleicht verstehst du – gewiss tust du es –, warum ich dir nie geschrieben habe und dir nie wieder schreiben werde.
Oft denke ich, dass ich nicht in diese Gesellschaft passe. Zwar ist sie (noch) Herausforderung, mich mit ihr herumzuschlagen und mich dabei zu prüfen, inwieweit ich mit ihr zurechtkomme. Andererseits aber weigere ich mich entschieden, ihre Regeln zu akzeptieren, die mir zu oft nicht nachvollziehbar und nicht ehrlich genug sind. Ich möchte verletzlich bleiben und offen und freundlich! Und nicht abstumpfen! Und nicht verbittern! Warum verbittern so viele? Warum sind so viele enttäuscht und gewaltbereit? Von Ängsten und Unsicherheit zerfressen und, und, und …? Und dann, als einzige Reaktion: Cool sein und harte Fassade zeigen? Mir ergeht’s nicht anders, ich verschließe mich …
Vielleicht, irgendwann, werde ich es schaffen, sein zu dürfen, wie ich nur sein kann. Bis dahin – für dich alle die Kraft und die Ausdauer und die innere Ruhe und Stille, die du brauchst – und die ich noch suche …
Am liebsten streife ich durch die Stadt. Es erinnert mich an das Kind, das ich einmal war und das am liebsten im Wald oder in den Mais- und Getreidefeldern umherstreifte – Orte, an denen das Kind sich frei und unbeschwert fühlte – wie in der Geschichte »Der Junge mit der Tarnkappe«, die das Kind gelesen hat.