Kehrwieder - Martin Barkawitz - E-Book

Kehrwieder E-Book

Martin Barkawitz

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Beschreibung

Partynächte auf St. Pauli, brennende Autos im Schanzenviertel, Kifferseligkeit am Elbestrand von Blankenese. Hamburg ist für den jungen Provinzler Gregor Borchert die coolste Stadt der Welt. Doch dann wird seine schöne Mitbewohnerin Bea grausam ermordet. Gregor ist geschockt - weniger über die Hilflosigkeit der Polizei als über seine eigenen Gefühle. Der zuvor so friedfertige Student will Blut sehen, das Blut des Mörders. Wer hat Bea auf dem Gewissen? Gregor beginnt auf eigene Faust mit der Killersuche. Dabei gerät er nicht nur selbst unter Tatverdacht, sondern verstrickt sich auch immer tiefer in eine sadomasochistische Abhängigkeit zu einer faszinierenden Unbekannten. Und die Mordserie ist längst noch nicht vorbei …

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BÜCHER DIESER REIHE

In dieser Reihe bisher erschienen7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee7004 Alfred Wallon Endstation7005 Angelika Schröder Böses Karma7006 Guido Billig Der Plan Gottes7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten7008 Martin Barkawitz Kehrwieder7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago7011 Uwe Schwartzer Das Konzept7012 Stefan Melneczuk Wallenstein7013 Alex Mann Sicilia Nuova7014 Julia A. Jorges Glutsommer7015 Nils Noir Dead Dolls7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut7019 Markus Müller-Hahnefeld Lovetube7020  Nils Noir Dark Dudes7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten7022 Astrid Pfister Bücherleben7023 Alfred Wallon Der Sohn des Piratenkapitäns7024 Mort Castle Fremde7025 Manuela Schneider Die Waffe des Teufels

KEHRWIEDER

ALLGEMEINE REIHE

BUCH 8

MARTIN BARKAWITZ

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2012 Blitz Verlag

Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH

Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Umschlaggestaltung: Mark Freier, München

Alle Rechte vorbehalten

eBook Satz: Gero Reimer

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-301-8

7008 vom 01.08.2024

INHALT

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Epilog

Über den Autor

PROLOG

Beate Wilbers hatte den letzten Fehler ihres zwanzigjährigen Lebens gemacht.

Sie zitterte am ganzen Körper. Und das lag nicht daran, dass sie nur mit einem ärmellosen lila Shirt und einem Tangaslip bekleidet war. Beate konnte nicht glauben, was mit ihr passierte.

Erst vor einer Stunde hatte sie genüsslich an der Shisha gesaugt, und bei der Wodkaflasche war kaum jemand außer ihr zum Zuge gekommen. Aber jetzt war von der Wirkung der Droge und des Alkohols nichts mehr zu spüren. Die Furcht hatte Beate mehr ernüchtert als das Eintauchen in eisiges Wasser.

Wasser!

Sie hatte die Rettung direkt vor Augen. Ein Sprung über die Kaimauer, und sie war gerettet. Sie musste nur ins Hafenbecken springen. Ins Kehrwiederfleet, genauer gesagt. Gewiss, die brackige Brühe war nichts, was man gern in den Mund bekam. Bei Nacht erschien das Wasser fast schwarz, und die unzähligen Lichter der Stadt blinkten auf den Wellen. Doch es war zu spät, um sich auf diese Art in Sicherheit zu bringen.

Beate hätte springen sollen, bevor ihr Peiniger ihr die Beine gebrochen hatte.

Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen. Mehr als ein leises schmerzerfülltes Stöhnen drang nicht aus ihrem Mund. Sie strich ihre langen blonden Rastazöpfe aus dem Gesicht, obwohl sie den Teufel dadurch nur noch besser sehen konnte. Er stand vor ihr, ergötzte sich an seinem bösen Werk. Beate konnte spüren, wie er durch ihre eigene Angst immer stärker wurde. Der Satan war so groß und unüberwindlich geworden. Sie wollte schreien, um Hilfe flehen. Aber wer würde sie hören? Wer war für sie da an diesem Ort?

Hamburg.

Beate hasste diese Stadt plötzlich. Hamburg war zu ihrer persönlichen Hölle geworden. Nur, dass es hier nicht nach Schwefel roch, sondern nach Schiffsdiesel. Und man hörte nicht die Schreie der Verdammten, sondern den fernen metallischen Arbeitslärm von den Werften am anderen Ufer der Elbe.

Die junge Frau lag auf dem Rücken und war wie gelähmt, doch ihren Kopf konnte sie noch drehen. Wenn sie nach links schaute, erblickte sie die Boote des exklusiven City-Sporthafens bei der Niederbaumbrücke. Rechts von ihr befand sich der protzige und immer teurer werdende Rohbau der Elb-Philharmonie, nachts von privaten Security Guards bewacht. Ob die Uniformierten ihre Schreie hören würden? Oder war Beate zu weit von der Baustelle entfernt?

Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Fest stand nur, dass es Nacht war. Und bei ihr war niemand außer diesem Teufel in Menschengestalt. Oder war er in Wahrheit ein Dämon, der nur im Körper eines Mannes ihr Vertrauen erschlichen hatte?

Es war weit mehr als das geschehen.

Der Peiniger war tief in ihre Seele eingedrungen. Und das war eine Entblößung, die Beate kaum noch ertragen konnte. Doch ihr Leiden war noch nicht beendet.

Es dauerte noch eine Weile, bis ein gnädiger Tod sie von ihren Qualen erlöste.

1. KAPITEL

Einen Monat zuvor

Als ich nach Hamburg kam, wurde mein Leben zu einer einzigen geilen Party.

Mein frisch erworbener Studienplatz für Computerlinguistik an der Hamburger Uni erschien mir wie der sprichwörtliche Sechser im Lotto. Er war eine Eintrittskarte in eine andere Welt. Endlich konnte ich dem Kleinstadtmief des verschlafenen Städtchens Nordhorn Adios sagen – und zwar für immer, wenn es nach mir ging.

Hamburg rockt, das hatte ich schon bei mehreren Kurztrips während der Abi-Zeit festgestellt. Natürlich dachte ich auch daran, nach Berlin zu gehen. Aber St. Pauli und die Schanze gefielen mir doch besser als Kreuzberg, wobei neuerdings auch Neukölln als Kultstadtteil schwer im Kommen war. Letztlich fiel meine Wahl auf Hamburg, weil mein Kumpel Kasper schon dort lebte. Als ich dann noch meine Zusage für den Studienplatz kriegte, gab es kein Halten mehr für mich.

„Gregor, ich hab' da was läuten hören von einem freien Zimmer.“

Kasper rief mich auf meinem Handy an, als ich gerade im Bummelzug Richtung Elbe saß. Natürlich war es ätzend, stundenlang mit irgendwelchen Prolls und Spießern in der Bahn hocken zu müssen. Doch mein schmales Budget reichte nicht für die teuren ICEs, also musste ich mit dem Niedersachsen-Ticket per Bimmelbahn nach Hamburg gurken.

„Echt, Kasper? Das wäre super, bin gerade auf dem Weg zu dir.“

„Dann solltest du nichts anbrennen lassen. Du kannst dir ja denken, dass die angesagten Adressen schnell weg sind. Ich sage nur: Susannenstraße.“

„Cool.“

Eigentlich wusste ich nicht wirklich, wo sich die Susannenstraße befand. Aber ich wollte nicht den blöden Provinzler geben, sondern machte mir sofort eine Notiz. Wozu gibt es schließlich Stadtpläne?

„Okay, das ist eine Vierer-WG. Der Typ, den ich kenne, heißt Arne. Bei denen ist kurzfristig ein Zimmer frei geworden. Ich gebe dir mal seine Handynummer.“

Ich schrieb fleißig mit und bedankte mich tausendmal. Nachdem ich mich von Kasper verabschiedet hatte, rief ich sofort diesen Arne an.

„Ach, du bist Kaspers Sandkastenfreund.“

Seine Stimme klang total nett, soweit man das bei dem Krach in dem scheiß Regionalexpress sagen konnte.

„Ja, genau. Ist das Zimmer noch zu haben?“

„Momentan schon. Wir wollen es allerdings schnell neu vergeben, wegen der Kohle.“

„Kein Problem, ich sitze bereits im Zug nach Hamburg. Ich schätze, dass ich am späten Nachmittag bei euch aufschlagen kann.“

„Genial. Die Adresse hat Kasper dir gegeben?“

Ich bejahte. Arne meinte, dass wir dann bei einem Kaffee den Rest besprechen könnten. Wir beendeten das Gespräch. Ich war total nervös, denn ich hatte schon von regelrechten Bewerbungsmarathons für ein angesagtes WG-Zimmer gehört. Selbst für eine Bude in einem öden Vorort wie Elmshorn oder Quickborn musste man sich ein Bein ausreißen.

Ich checkte erst mal auf meinem Stadtplan die Susannenstraße. Mein Adrenalinspiegel jagte in schwindelerregende Höhen. Die WG befand sich mitten im Schanzenviertel. Die Susannenstraße war eine Verbindungsstraße zwischen Schulterblatt und Schanzenstraße. Das wäre so genial, wenn ich das Zimmer kriegen würde!

Ob ich gute Chancen hatte? Immerhin war ich ein Freund von Kasper. Ich wusste allerdings nicht genau, wie Kasper und Arne zueinander standen. Also rief ich meinen alten Kumpan lieber noch einmal an.

„Arne ist schwer in Ordnung, ein lockerer Typ“, versicherte Kasper. „Ich glaube, ihr werdet euch gut verstehen. Er macht sein Ding, er weiß, wo es langgeht.“

„Schon kapiert“, gab ich zurück. Eigentlich klang das etwas nebulös, aber vielleicht wollte Kasper sich am Telefon nicht genauer darüber auslassen. Schließlich weiß inzwischen jedes Kind, dass Handys nicht abhörsicher sind. Von Kasper wusste ich, dass er genau wie ich gerne mal eine Tüte durchzieht. Man konnte also davon ausgehen, dass auch Arne nichts gegen Gras hatte. Damit war eine Basis gegeben, der Rest würde sich finden.

Kasper erzählte nichts Genaueres, wünschte mir aber Glück.

In Bremen musste ich in den Metronom umsteigen, der noch voller als der blöde Regionalexpress war. Leicht genervt traf ich mit Verspätung an der Elbe ein. Immerhin kannte ich den Hamburger Verkehrsverbund inzwischen gut genug, um auf Anhieb in der richtigen S-Bahn zu landen. Ich stieg an der Station Sternschanze aus und machte mich zu Fuß auf den Weg durch den kultigsten Stadtteil von Hamburg; neben St. Pauli, versteht sich.

Die WG befand sich im ersten Stockwerk eines schönen, wenn auch leicht abgerockt aussehenden Jugendstilhauses. Aber die abblätternde Fassadenfarbe und die stinkenden Mülltonnen störten mich nicht die Bohne. Wenn ich auf klinisch reine Vorgartenidylle abgefahren wäre, hätte ich ja auch in Nordhorn bleiben können.

Als ich an der Wohnungstür läutete, spürte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Mir war klar, dass viel von der Zimmerbesichtigung abhing. Hoffentlich sah man mir nicht an, wie sehr ich durch den Wind war.

Die Tür wurde geöffnet.

Innerlich hatte ich mich auf Arne eingestellt. Stattdessen stand eine Frau vor mir, schätzungsweise ungefähr in meinem Alter. Und sie war einfach phantastisch. Ich meine, sie war überhaupt nicht aufgebrezelt oder so. Auf Tussis stehe ich sowieso nicht. Aber ihr Anblick verschlug mir glatt die Sprache.

Ihr Gesicht war geprägt von ihren großen grünen Augen, die neugierig in die Welt schauten. Ihr Teint war eher blass, die Lippen schmal. Aber das war okay, denn diese Augen machten sie zu einer richtigen Schönheit. Ihre langen blonden Haare trug sie als Rastazöpfe. Der schlanke Körper steckte in einem Minikleid, das irgendwie retromäßig aussah. „Bist du Gregor?“

Ihre Stimme war glockenhell. Ich brummte zustimmend und versuchte, locker zu wirken. Sie streckte mir ihre Rechte entgegen.

„Ich bin die Bea. Komm doch rein, wir sitzen in der Küche.“

Ich schlurfte hinter ihr her in die große Wohnung mit den hohen Räumen. Sofort musste ich grinsen, denn es roch nicht nur nach frisch gebrühtem Kaffee, sondern auch nach Gras. Wie es aussah, kam ich gerade im richtigen Moment.

Auf dem Flur gab es ein breites Bücherregal und eine Garderobe, auf der Jacken und Mäntel wie ein Krebsgeschwür wucherten. Aus einem der Zimmer tönte Musik, ein Stück von den Black Eyed Peas.

Bea führte mich in die Küche, die im Sperrmüllstil eingerichtet war. An dem großen Holztisch saßen ein Typ und eine Frau. Der Mann hatte gerade eine Tüte in der Hand und legte sie in einen Steingut-Aschenbecher, um mir die Hand zu schütteln. „Arne.“

Seine Stimme erinnerte mich an das Klirren von verrostetem Metall. Jetzt klang er nicht mehr so nett wie am Telefon. Ich spürte sofort, dass er gefährlich war. Seine Bewegungen waren irgendwie raubtierhaft, von unterdrückter Kraft geprägt. Die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, sein schwarzes Haar stand wirr von seinem Kopf ab. Von Arne konnte ich mir gut vorstellen, dass er leicht ausrastete. Es war gewiss besser, ihn nicht zum Feind zu haben.

Mich grinste er jedenfalls an, denn ich war ja ein Freund von Kasper. Ich lächelte zurück und drückte seine Hand. Bei der Berührung seiner Finger erhärtete sich mein Verdacht. Er musste eine ungeheure Stärke in sich haben. Und er starrte mich unentwegt an, als ob er mir auf den Grund meiner Seele schauen wollte. Aber vielleicht gehörte das ja zu einem WG-Vorstellungsgespräch dazu. Ich hatte keine einschlägigen Erfahrungen, denn bisher hatte ich stets bei meinen Eltern gelebt.

Nachdem Arne meine Hand wieder losgelassen hatte, deutete er auf die Frau am Tisch. „Das ist Vanessa.“

Vanessa erhob sich. Ihre Hand war so weich und weiß wie ein Windbeutel mit Puderzucker. Sie trug eine Brille und war ungefähr Anfang dreißig. Wie so viele dicke Frauen war sie ganz in Schwarz gekleidet. Eigentlich war sie nicht durchgängig übergewichtig, nur ihre Oberschenkel und ihr Hinterteil hatten enorme Ausmaße.

Bea servierte mir unaufgefordert einen Becher Kaffee und bot mir mit einer Handbewegung einen Platz an. Arne reichte den Joint an mich weiter. Ich inhalierte den Rauch und gab die Tüte an Vanessa, die neben mir saß. Sie schüttelte den Kopf, aber Bea rauchte gerne mit. Die Atmosphäre war locker. Es kam mir so vor, als ob ich schon ewig dort wohnen würde.

„David ist überraschend nach Nicaragua gedüst, für ein Entwicklungshilfe-Projekt“, sagte Vanessa. „Und sein Zimmer steht jetzt leer. Er hatte schon gar nicht mehr mit der Reise gerechnet, deshalb ist dieser Monat noch voll bezahlt.“

„Was kostet das Zimmer denn überhaupt?“, wollte ich wissen. Im nächsten Moment bereute ich die Frage bereits, denn ich wollte nicht wie ein geiziger Spießer erscheinen. Aber meine Mitbewohner in spe schienen sich nicht darüber zu mokieren. Wahrscheinlich hatten sie genauso wenig Geld wie ich selbst.

„300 Euro warm, inklusive aller Nebenkosten“, sagte Bea und stieß langsam den Rauch aus ihren Lungen. „Wir haben hier auch DSL-Anschluss in allen Räumen.“

Nun war die Tüte wieder bei Arne gelandet.

„Willst du das Zimmer erst mal anschauen?“, bot Bea mir an.

„Gern.“

Sie führte mich hinaus, während Arne und Vanessa weiterhin in der Küche hockten. Mit meiner bekifften Birne kam es mir so vor, als ob Bea extra eine Gelegenheit gesucht hätte, um mit mir allein zu sein. Doch ich wusste ja nicht, was hier lief. Vielleicht war sie ja mit Arne zusammen. Mit dem war gewiss nicht gut Kirschen essen. Wenn er eifersüchtig wurde, dann konnte es eng für mich werden. Bei einem Kampf mit Arne hätte ich sofort den Kürzeren gezogen. Darüber machte ich mir keine Illusionen. Obwohl er auf den ersten Blick nicht besonders muskulös wirkte, verfügte er über eine wahnsinnige Power. Das war jedenfalls mein erster Eindruck.

Das Zimmer hatte laut Bea ungefähr zwölf Quadratmeter. Darin standen noch ein eisernes Feldbett und ein Sperrmüll-Kleiderschrank.

„Die Möbel stammen von David, er nimmt sie natürlich nicht mit nach Nicaragua. Seinen anderen Kram hat er bei seinem Bruder eingelagert. Aber wenn du willst, können wir das Bett und den Schrank auch wegschmeißen.“

„Nein, warum? Je weniger Zeug ich aus Nordhorn hierher schaffen muss, desto besser.“

Bea grinste. „Du kommst aus Nordhorn?“

Ich gab es zu, obwohl ich vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Doch Beas Grinsen war nicht fies.

Sie legte mir ihre schmale Hand auf den Unterarm. „Hey, cool bleiben. Ich stamme aus Bramsche, das ist auch nicht gerade eine Weltmetropole. Vanessa ist aus Paderborn, Arne aus Reutlingen.“

Beas Worte waren sehr beruhigend für mich. Bea, Vanessa und Arne wirkten nicht gerade wie unbedarfte Landeier. Sie hatten es offenbar geschafft, sich in Hamburg zu akklimatisieren. Es war so, als würden sie schon seit ewigen Zeiten an der Schanze leben. Das würde mir auch gelingen, da war ich mir sicher. Ich nickte und schaute mich genauer um. Es war ein richtig schönes Altbauzimmer mit Stuck an der Decke und einem hohen Fenster zu einem grünen Innenhof hin. Es fühlte sich richtig an, genau an diesem Ort zu sein und Bea an meiner Seite zu haben. Ich war total euphorisch, obwohl ich mich innerlich zu bremsen versuchte. Schließlich wusste ich ja noch gar nicht, ob ich überhaupt das Rennen machen würde. Gewiss gab es jede Menge Interessenten für das Zimmer. Und was hatte ich schon zu bieten, außer, dass Kasper ein Kumpel von mir war?

Bea zeigte mir noch das riesige altmodische Bad mit einem Durchlauferhitzer und einer seltsamen Badewanne mit Löwenfüßen. Dann ging sie mit mir in die Küche zurück.

„Was machst du eigentlich?“, fragte Vanessa.

„Ich studiere Computerlinguistik. Und ihr?“

„Ich arbeite in einer Buchhandlung“, erwiderte Vanessa.

„Ich studiere Kunstgeschichte“, sagte Bea.

Arnes Blick wurde noch lauernder, bevor er seine Antwort gab. „Ich fackle nachts mit meinen Kumpels Autos ab. Hast du ein Problem damit?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nö, wieso? Ich habe ja überhaupt keine Karre.“

Aus irgendeinem Grund schienen alle meine Bemerkung irre komisch zu finden. Sogar Vanessa, die gar nichts geraucht hatte, brach in ein hysterisches Gekicher aus.

Dabei hatte ich gar keinen Joke machen wollen. Ich besaß wirklich kein Auto, hatte aber immerhin mit Ach und Krach die Führerscheinprüfung bestanden. Und wenn Arne irgendwelche Nobelkarossen anzündete, dann war das seine Angelegenheit. Ich würde ihm deshalb gewiss keine Moralpredigt halten, schließlich war ich kein Spießer.

Als alle sich wieder beruhigt hatten, wischte sich Arne die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Du bist okay, Gregor. Wenn es nach mir geht, kannst du das Zimmer kriegen.“

Arne hatte ein Machtwort gesprochen. In diesem Moment wusste ich genau, dass ich gewonnen hatte. Ich spürte, dass sich die beiden Frauen nicht gegen Arne wenden würden. Vanessa machte einen gleichgültigen Eindruck, und Bea schien mich zu mögen. Oder war das nur Wunschdenken von mir?

Jedenfalls zog ich in die WG ein. Viele Habseligkeiten wollte ich ohnehin nicht aus meinem Jugendzimmer in Nordhorn mit an die Elbe nehmen. Es passte alles in den VW Kombi meines Cousins, und nach einem halbwegs stressigen Wochenende hatte ich mich gut eingerichtet. Nun wollte ich erst mal Party machen. Meine Besuche an der Uni beschränkte ich auf das Notwendigste. Schließlich war ich nicht nach Hamburg gekommen, um den Streber zu spielen. Kasper schleppte mich zu Konzerten in angesagten Reeperbahn-Klubs mit, und Arne hatte Verbindungen zu Performance-Künstlern im Gängeviertel. Wir machten die Nächte durch und hatten jede Menge Spaß.

Allerdings wusste ich immer noch nicht, wie Arne und Bea zueinander standen. Ich wollte auch nicht nachfragen, das wäre mir extrem uncool vorgekommen. Als ich einen knappen Monat in der Susannenstraße wohnte, traf ich plötzlich Bea im Nachtleben. Genauer gesagt hatte ich Kasper und meine anderen Freunde im Golden Pudel Club aus den Augen verloren. Mit etlichen Astra-Pils im Blut schwankte ich von der Reeperbahn aus Richtung Hafen. Es dämmerte bereits. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne verpassten den Schleierwolken über der Elbe einen pfirsichfarbenen Ton. Langsam wie ein Raumkreuzer beim Andocken schob sich ein riesiges Containerschiff in den breiten Strom. Bea bemerkte mich überhaupt nicht, denn sie war entweder in diesen Ausblick oder in ihre Gedanken vertieft. Meine Mitbewohnerin saß auf der Davidstreppe, die von der Davidstraße aus hinunter zur Hafenstraße führt. Von dort aus kann man bis weit ans andere Elbufer schauen. Bea rauchte eine Zigarette.

Ich setzte mich neben sie. „Hey.“

Sie drehte langsam den Kopf in meine Richtung und blickte mich an, als ob sie in tiefer Trance wäre. Erkannte sie mich überhaupt? Doch mit einigen Sekunden Verzögerung lächelte sie. „Hey, Gregor. Alles gut?“

„Alles gut. Und bei dir? Störe ich?“

„Nein.“

Ich zündete mir auch einen Glimmstängel an. Obwohl ich betrunken war, konnte ich Bea meine Gefühle nicht zeigen. Und das lag nicht nur daran, dass sie und Arne vielleicht ein Paar waren. Doch wenn ich immer so verklemmt blieb, würde sie niemals erfahren, wie toll ich sie fand. Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Doch bevor ich den Mund öffnen konnte, sagte Bea etwas.

„Ich mag dich, Gregor.“

Hatte ich gerade richtig gehört? Mit diesem Geständnis brachte sie mich völlig aus dem Konzept.

„Echt?“, stieß ich hervor und kriegte knallrote Ohren. Hoffentlich bemerkte Bea das nicht. Zum Glück hatte ich meine Mütze auf. Aber sie schaute mich sowieso nicht an, sondern starrte wie gebannt auf den Containerterminal Waltershof am anderen Ufer.

„Ja, du bist stets so ... unverfälscht. Man weiß bei dir immer genau, was du gerade denkst. Und das kann man nicht von jedem Menschen sagen.“

Ich überlegte, ob ich das wirklich als Kompliment auffassen konnte. Hatte mir Bea nicht gerade eben gesagt, dass ich total leicht zu durchschauen war, nur mit etwas netteren Worten?

„Aha“, murmelte ich. Etwas Besseres kam mir nicht in den Sinn. Da war ich endlich allein und ungestört mit der Frau, die ich total super fand, und mir fielen keine besseren Sachen ein als echt und aha. Ich schob alles auf das scheiß Astra, das meinen Kopf vernebelte.

„Ja, mit dir ist es total entspannt, Gregor. Manche Leute sind wie solche altmodischen Wundertüten. Man hat wirklich keine Ahnung, was sich in ihrem Inneren verbirgt. Ich habe da jemand kennengelernt ...“

Bea brach ab. Trotz meines Betrunkenseins glaubte ich zu bemerken, dass sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Ob sie Arne meinte? Aber den kannte sie doch schon länger, schließlich wohnte sie mit ihm zusammen. Oder meinte sie, dass sie ihn von einer ganz anderen Seite kennengelernt hatte? Arne war schließlich ein undurchsichtiger Typ. Und ich war in diesem Moment entschieden zu besoffen für Hermeneutik. Plötzlich wünschte ich mir, schlagartig nüchtern werden zu können. Jedenfalls hakte ich nicht nach. Wenn ich das täte, würde Bea sofort dichtmachen. Daran hatte ich keinen Zweifel.

„Naja“, brachte ich hervor. Nach echt und aha war das der Gipfel an Eloquenz, den ich zustande kriegte. Es war eine richtige Drecksnacht, obwohl ich mit Bea allein war.

Plötzlich stand sie auf und warf ihre Kippe weg. Schwankend kam ich ebenfalls auf die Beine.

„Gehst du zum Nachtbus?“, wollte ich wissen. Das war doch wenigstens eine unverfängliche Frage. Bea schüttelte lächelnd den Kopf. Sie sah einfach phantastisch aus mit ihren blonden Rastazöpfchen, und ihre Augen leuchteten im ersten Morgenlicht besonders intensiv.

„Nein, ich will noch jemanden treffen. Wir sehen uns später in der Küche, okay?“

Und bevor ich etwas erwidern konnte, hauchte Bea mir einen Kuss auf die Wange. Ich blieb mit offenem Mund stehen wie ein Vollidiot, während sie leichtfüßig in Richtung Institut für Tropenmedizin davoneilte.

Es war das letzte Mal, dass ich sie lebend sah.

* * *

Ich hatte gepennt wie ein Toter und wachte irgendwann am späten Nachmittag von allein auf. Mein Kater hielt sich in Grenzen, denn ich hatte lange genug an der Matratze gehorcht. Mir war nur etwas schummrig in der Magengegend, und meine Kehle brannte von zu vielen Zigaretten.

Doch nach einer ausgiebigen Dusche war ich schon wieder fast wie neu. Scheinbar war ich allein in der WG, jedenfalls herrschte eine Grabesstille, was bei uns eher ungewöhnlich war. Ich ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb.

Die Zimmertüren meiner Mitbewohner waren verschlossen. Während ich den heißen Kaffee schlürfte und ein Knäckebrot mit Nussnugatcreme verdrückte, dachte ich voller Selbstverachtung an die vergangene Nacht zurück. Wie konnte man eine gute Chance nur derartig vergeigen! Bea musste mich für einen pflegeleichten, aber beschränkten Trottel halten, der nicht mehr als ein einziges Wort am Stück hervor quetschen konnte. Nur bei der weltbewegenden Frage nach dem Nachtbus hatte ich einen ganzen Satz zustande gebracht. Peinlich!

Ob Bea daheim war? Wenn sie sich in ihrem Zimmer aufhielt, hörte sie meistens Musik. Doch momentan war es ruhig. Man vernahm in der Küche nur den Verkehrslärm auf der Susannenstraße, an den ich mich aber schon beinahe gewöhnt hatte. Ich wusste sowieso nicht, worüber ich mit Bea reden sollte. Momentan war ich zwar wieder nüchtern, aber deshalb wusste ich immer noch nicht, woran ich bei ihr war. Am brennendsten interessierte mich natürlich, ob sie einen Freund hatte. Was war mit diesem Typen, von dem sie gesprochen hatte? War sie über Nacht bei ihm geblieben? Die Eifersucht stach in meine Magengrube wie ein rostiges Messer.

Plötzlich wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Mein Herz machte vor Freude einen hammermäßigen Hüpfer. Kam Bea heim? Doch nur Momente später erkannte ich die voluminöse Gestalt von Vanessa. Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Vanessa war nett, ich hatte mich sogar an ihr schrilles Lachen gewöhnt. Aber ich stand nun einmal auf Bea.

„Hi, Gregor. Super, da ist ja Kaffee auf der Maschine. Hast du geahnt, dass ich komme? Oder hast du meinen Dienstplan auswendig gelernt?“

„Mir kann man eben nichts vormachen“, sagte ich grinsend und voller Selbstironie. In Wirklichkeit hütete zumindest Bea ein Geheimnis, das ich noch nicht gelüftet hatte. Aber Vanessa konnte ja nichts dafür, dass ich in so mieser Stimmung war. Also spielte ich den Gentleman und goss einen Becher Kaffee für sie ein.

„Danke.“ Vanessa setzte sich zu mir und fischte eine Bäckertüte aus ihrer Umhängetasche. Darin befanden sich drei Schokodonuts. Sie hielt mir die Tüte hin. Ich schüttelte den Kopf, ein großer Esser war ich noch nie gewesen. Und meine dunkelhaarige Mitbewohnerin konnte die drei Donuts auch ohne Probleme allein vernichten.

„Wo ist eigentlich Bea?“, fragte ich so beiläufig wie möglich.

„Keine Ahnung. Heute Morgen, als ich zur Arbeit ging, war sie nicht da. Wieso?“

„Ach, nur so. Ich hab sie vorige Nacht getroffen, da wollte sie noch woanders hin.“

„Dann wird sie da wohl auch noch sein. Ich sehe sie nicht so oft, weil ich tagsüber in der Scheißbuchhandlung bin und nachts schlafe.“

Vanessa pflegte von uns allen den biedersten Lebensstil. Allerdings war sie auch die Einzige in der WG, die sozialversicherungspflichtig arbeitete. Woher Bea und Arne ihre Kohle hatten, wusste ich nicht. Ich selbst wurde von meinen Eltern finanziert.

„Naja, ist auch nicht so wichtig“, log ich. „Ich muss los, man sieht sich.“

„Ciao, Gregor.“

In Wirklichkeit hatte ich überhaupt nichts vor, ich hielt es bloß momentan nicht mehr aus in unserer WG-Küche. Ich musste unbedingt nach draußen, frische Luft schnappen. Vielleicht würde ich ja Bea noch einmal zufällig treffen. Doch während ich Richtung Schanzenpark schlenderte, wurde mir der Irrwitz meiner Wunschvorstellung so richtig klar. Ich wusste verdammt wenig über meine Mitbewohnerin. Was für Lieblingsplätze hatte sie in der Metropolregion Hamburg mit über zwei Millionen Einwohnern?

Ich fuhr mit der S-Bahn bis Reeperbahn. Die sogenannte sündigste Meile der Welt sah bei Tageslicht ernüchternd abgetakelt aus. Ich ging zur Davidstreppe, aber natürlich war Bea nicht dort. Warum auch? Ich hatte sie dort per Zufall getroffen, das war alles.

Ruhelos streunte ich durch Hamburg, landete teilweise in mir völlig unbekannten Gegenden. Schließlich hatte ich mich verlaufen. Aber das war kein Problem. Ich fragte eine nette Omi einfach nach dem Weg zur nächsten U-Bahn-Station. Ich stieg an der Station Rauhes Haus in die U 3, die mich direkt zur Sternschanze zurück gondelte.

Inzwischen war es Abend. In der WG war außer Vanessa immer noch niemand. Meine füllige Mitbewohnerin sagte, dass weder Bea noch Arne inzwischen aufgetaucht seien. Aber das schien sie nicht besonders zu beunruhigen. Ich hingegen war völlig von der Rolle. Um mir nichts anmerken zu lassen, zog ich mich in mein Zimmer zurück und ging ins Internet. Bea und Arne waren beide fort. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Bea hatte sicher jemand kennengelernt, und garantiert einen Typen. Das sagte mir mein Instinkt. Wenn es sich aber doch um Arne handelte? Steckten die Beiden vielleicht gemeinsam in Schwierigkeiten? Hatte Arne Bea zum Autoabfackeln mitgeschleppt?

Aber wenn sie geschnappt worden waren, wären garantiert schon längst die Bullen in unserer WG aufgetaucht. Schließlich mussten Beweise gesichert werden, jedenfalls kannte ich das aus den Fernsehkrimis. Ich überlegte, ob ich in Arnes Zimmer gehen und irgendwelche belastenden Hinweise verschwinden lassen sollte. Aber allein der Gedanke erschreckte mich schon. Ich wollte mir nicht ausmalen, was Arne mit mir anstellte, wenn er herausfand, dass ich in seinen Sachen gewühlt hatte. Nein, ich musste mich raushalten. Momentan konnte ich nur warten. Aber genau das ließ mich fast abdrehen.

Um auf andere Gedanken zu kommen, zog ich mir ein paar Gratis-Games rein. Eines war idiotischer als das andere, aber wenigstens konnte ich mich auf den Schwachsinn konzentrieren. Ich zockte die ganze Nacht. Aus der Geräuschkulisse in der Wohnung entnahm ich, dass Vanessa irgendwann ins Bett ging, um morgens wieder fit zu sein.

Aber Bea und Arne kamen nicht heim.