Keine ganze Ewigkeit - Rainer Grote - E-Book

Keine ganze Ewigkeit E-Book

Rainer Grote

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Beschreibung

Keine ganze Ewigkeit Der neue Roman von Rainer Grote Ist dies das Ende der Welt? "Was wäre, wenn…?" lautet die Kernfrage dieses spannenden Romans, dessen Handlung in der brisanten Zeit, die wir gerade durchleben, gar nicht so weit hergeholt zu sein scheint, denn auf Knopfdruck könnte alles ein jähes Ende nehmen.

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Keine ganze Ewigkeit
Roman
Rainer Grote
Copyright © 2024 ff Verlag GmbH, Detmold
Alle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch geschilderten Personen und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen ist zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln - elektronisch, mechanisch, durch Fotokopie, Aufzeichnung oder auf andere Weise - reproduziert oder in einem Datenabrufsystem gespeichert oder übertragen werden.ISBN: 978-3-938637-60-91. AuflageUmschlaggestaltung: Addways Markenberatung, Lage
Über dieses Buch
Ist dies das Ende der Welt?
„Was wäre, wenn…?“ lautet die Kernfrage dieses spannenden Romans, dessen Handlung in der brisanten Zeit, die wir gerade durchleben, gar nicht so weit hergeholt zu sein scheint, denn auf Knopfdruck könnte alles ein jähes Ende nehmen.
Weitere Informationen unter: www.ff-verlag.com
Woher die Dinge gekommen sind, dorthin müssen sie auch wieder zurück – zu ihrem Untergang. So will es das Gesetz. Denn sie müssen Buße tun für das Unrecht, dass sie vorhanden waren.
Anaximander
Kapitel I
Es war bereits dunkel. Der juniklare Mond stand fast vollendet an einem wolkenlosen Himmel. Ich lag in meinem Bett, halbwach, nur darauf wartend, dass mich der Schlaf übermannte. Den Tag über hatte ich harte Arbeit geleistet in der Werkstatt eines Freundes, dem ich hier und da zur Hand ging, wenn die Last, die er zu tragen hatte, wieder einmal größer war als die, die er zu stemmen vermochte. Jenseits der vier Flügel meiner Fenster vernahm ich die Geräusche unseres Dorfes, das mich umgab. Rollende Räder auf dem Asphalt, das Gezwitscher nimmermüder Vögel und zum Ende einer jeden Viertelstunde das Schlagen der Glocke unserer Kirchturmuhr. Manchmal, ja manchmal mischte sich auch die lärmende Laune eines Betrunkenen, der ohne Rücksicht auf mich und die anderen seinen Weg vom Gasthof nach Hause suchte, in diese Geräusche. Dann erschrak ich und verfluchte jenen, der mir keine Ruhe gönnte.
Zwei Stunden nach Mitternacht – ich hatte bereits geträumt – wurde ich durch das Jaulen meines Hundes geweckt. Doch war es nicht dieses Jaulen, das er an den Tag legt, wenn ich die Pansen auf dem Herd erhitze, bevor sie in seinem Napf landen. Auch nicht jenes, das er von sich gibt, wenn er am Morgen – diesseits der verschlossenen Eingangstüre – ungeduldig darauf wartet, hinausgelassen zu werden, auf dass er seine Notdurft verrichten könne. Nein, es war ein ganz feines Jaulen. Es war ein leises Wimmern. Zweimal erwog ich es, aufzustehen, um nach dem Rechten zu sehen, doch dann entschied ich mich dagegen und schlief ein.
Als ich am darauffolgenden Morgen erwachte, blickte ich auf die Zeiger meines Weckers. Es war Punkt sieben. Ganz gemächlich ging ich hinüber ins Badezimmer. Ich legte meinen Schlafanzug ab und stieg in die Dusche. Als ich den Wasserhahn aufdrehte, glucksten nur ein paar Tropfen aus ihm hinaus, bis er schließlich vollends versiegte. Verwundert zog ich mir meinen Schlafanzug wieder an und ging hinunter in den Flur, dorthin, wo mein Telefon steht. Jonathan, mein Hund, folgte mir bereitwillig. Doch als ich den Hörer an mein Ohr hielt, um geradewegs einen Freund anzurufen, war ich noch mehr verwundert: Die Leitung war unterbrochen. „Kein Wasser – kein Telefon“, resümierte ich. Noch immer recht gelassen knipste ich an einem der Lichtschalter, um zu sehen, ob denn im Mindesten der Strom floss: Fehlanzeige. Und dann dachte ich nach: „Dass drei voneinander unterschiedlich gesteuerte Kreisläufe nicht funktionieren, ist kategorisch ausgeschlossen. So etwas geschieht nur im Krieg.“
In Windeseile zog ich mich an. Gemeinsam mit Jonathan lief ich hinaus zum Haus der Nachbarin. Auf dem Weg dorthin sah ich ein Fahrzeug, das mitten auf der Fahrbahn stand. Und auf einmal erkannte ich, dass die Geräusche, die allmorgendlich unser kleines Dorf mit unzähligen Klängen erfüllten, verstummt waren. Nicht ein einziges Auto fuhr vorüber, einzig die Vögel trällerten ihre altbekannten Lieder.
Die Türe war verschlossen. Also betätigte ich die Klingel, die nicht läutete. Reihum ging ich zu jedem Haus, aber nirgendwo war jemand zugegen. Schließlich gelangte ich auch zu dem Auto, das mitten auf der Straße stand. Niemand saß darin, doch durch die Seitenscheibe sah ich, dass der Zündschlüssel noch im Schloss steckte. Die Türen aber waren verriegelt. „Was geht hier vor sich?“, fragte ich mich und fühlte ein Unbehagen in mir aufsteigen. Schnurstracks lief ich zu meinem Haus zurück, den Hund im Schlepptau. Wir werden mit meinem Wagen ins Dorf fahren, um nach der Lage dort zu sehen, beschloss ich. Doch würde sich der Motor starten lassen?
Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss. Und ebenso vorsichtig drehte ich ihn nach rechts. Der Motor heulte auf. „Gott sei Dank!“, entfuhr es mir. Das Auto fuhr los. Auf dem Weg ins Dorf standen drei Fahrzeuge wieder mitten auf der Fahrbahn. Jedes von ihnen war verwaist. An der Tankstelle hielt ich an. Auch sie war menschenleer. Ich zog einen Zapfhahn aus seiner Verankerung, um zu erkunden, ob das Benzin noch floss und wurde enttäuscht. Wir fuhren weiter. Auf dem Gelände des Supermarktes bot sich uns dasselbe Bild: Kein Mensch war zu sehen und es war gespenstig still. Gemeinsam mit Jonathan erkundete ich das Areal. Auf dem großen Parkplatz stand kein einziges Auto, und die Schiebetür am Eingang des Marktes war verschlossen. Wir suchten nach weiteren Türen und fanden schließlich eine unverriegelte auf der Rückseite des Gebäudes. Offensichtlich war sie den Lieferanten vorbehalten. Wie ein Dieb schlich ich mich hinein, Jonathan an meiner Seite wissend. Im Inneren des Marktes herrschte Grabesstille. Nur spärlich floss das Morgenlicht entlang der Regale, sodass wir unsere liebe Mühe hatten, uns zurechtzufinden. An der Kühltheke, im letzten Winkel angelangt, ergriff ich eine Milchtüte, um zu fühlen, wie kalt sie noch war. Zehn, zwölf Grad, schätzte ich. Es war nun halb neun. Folglich musste sich der Stromausfall drei bis vier Stunden nach Mitternacht ereignet haben, vielleicht auch etwas später, malte ich mir aus.
Jonathan schien sich um all das Obskure, das uns aus der Bahn geworfen hatte, nicht zu scheren. Jedenfalls bot sein Verhalten keinerlei Anlass zur Besorgnis. Meine Gedanken hingegen kreisten auf Hochtouren, wenngleich ich zwar eine gewisse Angst ob der unglaublichen Vorkommnisse der vergangenen Stunden verspürte. Bedrohlich erschien mir die Situation dieses 23. Juni jedoch nicht. Immerhin waren keine Anzeichen einer wie auch immer gearteten Gewalteinwirkung zu erkennen. Und das beruhigte mich ungemein. Vielleicht war ein Dorf weiter alles in bester Ordnung und all die Irritationen würden sich wie von selbst in Luft auflösen?
„Wie geht es Mutter?“, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Mit quietschenden Reifen fuhren wir ihr entgegen. Doch anders, als ich es ersehnt hatte, bot sich auf der Zufahrtsstraße ein ebensolches Bild wie zuvor: Hier und dort standen verlassene Autos mitten im Weg, und nicht ein einziger Mensch verlor sich auf dem Gehweg. Im Haus meiner Mutter suchte ich in allen Zimmern, aber ich fand sie nicht. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass all das, was ich seit drei Stunden erlebte, etwas war, was die Grenzen meines Vorstellungsvermögens sprengte. Etwas Unglaubliches, das ich mit meiner simplen Logik nicht erfassen konnte. Etwas, das mich vor eine ungeheure Herausforderung stellte. „Mutter und all die anderen Menschen sind nicht tot“, versuchte ich mich zu beruhigen, „sie sind nur irgendwo anders.“ Dann fuhren wir nach Hause.
Auf dem Weg dorthin schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. „Was war geschehen?“, fragte ich mich ein ums andere Mal. Und – das war für mich das Wichtigste: „Hatte sich das Unheil lediglich in meiner Region verbreitet oder auch darüber hinaus, vielleicht sogar auf der ganzen Welt?“ Und während ich so grübelte, fiel mein Blick auf mein Autoradio. Überstürzt schaltete ich es ein. Aber sowohl auf der Ultra-Kurz-Welle als auch auf der Mittelwelle war der Empfang versiegt. Ein leises Rauschen war alles, was ich vernahm. Es verblieb noch die Kurzwelle, die die ganze Welt umspannt, das wusste ich. Und ein Empfangsgerät lag irgendwo bei mir im
Keller herum.
„Wie ist es den Tieren ergangen?“, fragte ich mich weiter. Zwar waren Jonathan und die Vögel wohlbehalten, doch was war mit den anderen Kreaturen? Anstatt nach Hause zu fahren, entschloss ich mich, unseren Reiterhof aufzusuchen. Das Gestüt lag gut einen Kilometer von meinem Haus entfernt. Bereits von weitem sah ich, dass kein Pferd auf der Weide stand. Als ich den Hof betrat, war alles ruhig. Kein Wiehern, wie es mir sonst entgegen tönte und auch kein Scharren der Hufe auf dem Estrichboden der Paddocks. Die Reitpferde waren verschwunden. Nur die Fliegen, von denen es hier unzählige gab, flogen umher, als sei nichts geschehen. Sie hatten auch überlebt, dachte ich, obgleich mir der Begriff ‚Sterben‘ nicht in den Sinn kam, denn noch immer war ich davon überzeugt, dass alles eher auf einem Zufall beruhte. Wie sonst ließe sich erklären, dass Jonathan, die Vögel, die Fliegen und ich daselbst ungeschoren davongekommen waren? Einen Augenblick lang dachte ich an das Jüngste Gericht, das über Nacht all die Sündigen in die Hölle geschickt hatte. Was aber hatten die lieben Pferde verbrochen? Und – bezog sich dieses Tribunal nicht einzig und allein auf uns Menschen, die wir mitunter Dinge tun, die nicht im Einklang mit den Zehn Geboten stehen? Kopfschüttelnd kniete ich hinab in den Staub der Erde. Mit den Fingern grub ich tiefe Riefen in den Boden, um zu sehen, ob sich dort noch andere Lebewesen versteckt hielten. Einen Tausendfüßler entdeckte ich und unter einem platten Stein drei Kellerasseln. Die kleinen Tiere waren also immer noch zugegen. Warum aber waren die Pferde verschwunden und Jonathan nicht? „Solange das Ökosystem im Reinen ist, solange werden wir auch weiterleben“, resümierte ich und fuhr schließlich nach Hause.
Was mich nach all den Jahren, die nun vergangen sind, verwundert, ist die Tatsache, dass ich damals nicht in Panik ausgebrochen bin. Die Menschen waren wie vom Erdboden verschluckt, die Freunde ebenso, und dennoch behielt ich einen kühlen Kopf. Ja, auf eine gewisse Art genoss ich sogar diese Einsamkeit, war sie doch für mich mit keinerlei Nachteilen verbunden. Ich lebte wie zuvor. Ohne zu bezahlen, konnte ich mir überall das nehmen, was ich begehrte, und meine Freiheit war größer als jemals zuvor. Selbst ein Kamerad war mir mit Jonathan verblieben. Stundenlang hörte er mir zu, wenn ich über all das redete, was mir unter den Nägeln brannte. Und treu und anschmiegsam war er zudem. Nur antworten konnte er mir nicht.
Einen Tag später stahl ich mir in einer Apotheke allerlei Medikamente, die mir für den Notfall von Wert sein könnten, auch Mullbinden und Pflaster. Aus dem Supermarkt besorgte ich mir eine ganze Reihe Konserven, Kekse, Wasser und Obst und Gemüse. Doch was ich am dringlichsten benötigte, fand ich nirgends: Diesel-Treibstoff für mein Auto. Unmöglich war es mir, die großen unterirdischen Behälter an der Tankstelle anzuzapfen, weil die Pumpen durch Strom angetrieben werden. Nach langen Überlegungen kam ich auf einen Gedanken: Jeder Bauer verfügt über einen Diesel-Tank auf seinem Hof. Mit etwas Geschick könnte es mir gelingen, dort Treibstoff zu hamstern.
Ausgestattet mit allerlei Utensilien aus meiner kleinen Werkstatt, fuhr ich zum nächstgelegenen Bauernhof. Jonathan saß neben mir auf dem Beifahrersitz. Wie ich es bereits erwartet hatte, war sämtliches Großvieh verschwunden. Die Ställe waren wie leergefegt. Lange musste ich nicht suchen, bis ich den Tank fand. Grünangestrichen stand er unweit eines riesigen Bassins, in dem die Silage aufgetürmt war. Und zu allem Glück befand sich zuunterst eine Ablass-Schraube, die sich problemlos öffnen ließ. Mittels eines Schlauches, den ich mitgebracht hatte, füllte ich meinen Tank. Mit den achtzig Litern würde ich rund vierhundert Kilometer fahren können – und wieder zurück, das wusste ich. Und dann verpasste ich Jonathan vor lauter Freude einen Klaps.
Mein erstes Ziel war Bielefeld. Schon auf dem Weg dorthin erkannte ich, dass das Unheil auch diese Stadt ereilt hatte. Doch anders als in unserem Dorf standen hier derart viele Fahrzeuge mitten auf den Straßen herum, dass es sehr beschwerlich für mich war, ihnen auszuweichen und mir den Weg zu bahnen. Einmal musste ich sogar umkehren und eine andere Route einschlagen. Es war bereits Mittag, als Jonathan um Futter bettelte. In der Nähe des Bahnhofs hielt ich an und versorgte ihn. Und während ich so durch die Gegend schaute, entdeckte ich die Werbetafel eines Elektronikmarktes, die in luftiger Höhe an der Fassade eines fünfstöckigen Gebäudes thronte. Auf einmal kam mir eine Idee: Wenn ich ein professionelles Funkgerät hätte, dann könnte ich mir das Herumfahren ersparen. Ohne größere Anstrengung würde ich in Erfahrung bringen, ob sich irgendwo in unserem Lande noch Menschen befinden. Und das ganz einfach von zu Hause aus.
Der Markt befand sich im zweiten Obergeschoss, sodass es keinen Sinn ergab, einen Einkaufswagen zu benutzen. Ich erklomm die Treppenstufen. Es dauerte nicht lange, bis ich fand, wonach ich suchte. Und da ich kein Geld für das Funkgerät entrichten musste, ergriff ich das teuerste aus dem Sortiment. Nach kurzer Überlegung wählte ich noch ein zweites aus, für den Fall, dass es Komplikationen geben sollte oder eines der beiden einmal ausfallen würde. Als ich die Geräte in meinem Kofferraum verstaut hatte, packte ich sie aus, um zu sehen, mit welcher Betriebsspannung sie betrieben werden. Beide liefen mit 220 Volt, und bei beiden wurde die Spannung durch einen Transformator auf zwölf Volt gedrosselt. Über eine Autobatterie ließen sich die Geräte folglich problemlos mit Strom versorgen. Zwei solcher Batterien verschaffte ich mir in einer Autowerkstatt. Sie sahen aus wie neu und standen direkt neben dem Ladegerät, sodass ich davon ausgehen konnte, dass sie nicht entladen waren. Am frühen Abend war ich wieder zu Hause. Nachdem ich Jonathan gefüttert hatte, lud ich die Funkgeräte und die Batterien aus dem Kofferraum meines Wagens und trug sie auf den Dachboden.
Noch einmal ging ich zum Anwesen meiner Nachbarin und suchte in allen Ecken und Winkeln. Ihr Bett war unberührt, was mich nicht weiter verwunderte, denn sie legte sich erst dann schlafen, wenn der Morgen bereits graute. Also mochte sie auf dem Sofa im Kaminzimmer gelegen haben, wie sie dies stets zur Mitternacht zu tun pflegte. Auch dort aber fand ich nur einen halb ausgelöffelten Joghurtbecher, in dem der Löffel noch steckte, ein angebissenes Croissant, das mit Orangenmarmelade bestrichen war und einen Riegel Schokolade, der noch zur Hälfte in Stanniolpapier eingewickelt war. Nichts Ungewöhnliches also, denn die Frau eines ehemaligen Diplomaten, wie sie eine war, führte ein recht unkonventionelles Leben, das frei von allen Zwängen war. Dass sie bereits 95 Jahre alt war, mag diese Umstände erklären.
Um ganz sicherzugehen, verschaffte ich mir Zugang zum Haus eines weiteren Nachbarn. Das Ehepaar, zwei Architekten, die ebenso viele Kinder großzogen, wohnte ebenfalls in einer Villa, nur war sie etwas kleiner als die meine. Wie ein Spion durchsuchte ich jedes Zimmer. Die Bettdecken im Schlafzimmer waren zerwühlt, geradeso, als hätten dort vor nicht allzu langer Zeit noch zwei Menschen gelegen. Im Kinderzimmer bot sich mir das gleiche Bild. Die übrigen Häuser unseres Viertels zu betreten, ersparte ich mir in dieser Nacht, da ich davon überzeugt war, auch dort keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen. Als Jonathan winselte, um hinausgelassen zu werden, war ich zurück in meinem Heim. Eher beiläufig betätigte ich noch einmal einen der Lichtschalter, drehte den Wasserhahn auf und hob den Telefonhörer aus der Gabel. Doch wie ich es schon erwartet hatte, waren alle Quellen versiegt.
Oben im Turm meines Hauses befand sich mein Arbeitszimmer. Von dort aus konnte ich die Straße überblicken, die ins Dorf führte, und deshalb setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Vielleicht würde mir von hier aus etwas Ungewöhnliches auffallen. Ein Passant auf dem Gehsteig oder ein Auto, das vorüberfuhr. Doch alles blieb wie ausgestorben. Nur ab und an flog eine Fledermaus an einem der Fenster vorbei – wie an jedem Abend. Auf einem Blatt Papier begann ich zu kritzeln. Erst nur ganz wirr, dann etwas konkreter. Ich malte mir aus, dass alle Menschen vor etwas geflohen waren, das mir unbekannt war. Da ich selbst aber noch da war, musste es etwas geben, das verhindert hatte, dass auch ich die Flucht antreten musste. Weil aber keinerlei Anzeichen einer Zerstörung erkennbar waren, oder überhaupt irgendetwas, vor dem jemand hätte fliehen müssen, verwarf ich diesen Gedanken und zerknüllte das Papier. Auf einem anderen Blatt begann ich erneut zu kritzeln. Ich skizzierte eine Sammelstelle in unserem Ort, an dem sich alle getroffen hatten, mitten in der Nacht, und noch einige weitere in der näheren Umgebung. Von diesen Punkten ausgehend zog ich vier Pfeile zu einer übergeordneten Sammelstelle und schraffierte dieses Feld mit feinen Bleistiftstrichen. Doch als mein Vorstellungsvermögen meiner Fantasie Einhalt gebot, warf ich auch dieses Blatt in den Papierkorb. Eines jedoch war mir die ganze Zeit klar: Wenn ich noch da war, dann musste es auch noch andere geben, denen es ebenso wie mir ergangen war.
„Was“, so fragte ich mich, „würde ein anderer tun, um herauszufinden, ob er nicht alleine ist?“ Erst einmal stand die Antwort in enger Abhängigkeit zum Alter der betreffenden Person. Ein Kind wäre ohne die Hilfe seiner Eltern wohl verzweifelt. Sehr alte Menschen hätten sich ihrem Schicksal ergeben, vielleicht an eine göttliche Fügung glaubend. Junge Zeitgenossen hätten den Vorfall ganz sicher wie ein willkommenes Abenteuer erlebt – für solche, die mit beiden Beinen im Leben standen, käme er unter Umständen einer Herausforderung gleich. Ebenso wie mir, der ich darauf drängte, Licht ins Dunkel der Ereignisse zu bringen.
Die Reaktionen der Betroffenen, also jener, denen es wie mir ergangen war, fasste ich gedanklich kurz und knapp zusammen: Allesamt würden sie sich auf die Suche begeben. Doch wie sucht jemand einen anderen auf dieser großen, weiten Welt, wenn er nicht einmal weiß, ob es ihn überhaupt noch gibt? Und wie meistert ein solcher diese Herausforderung? Was ich tun würde, das wusste ich. Wie aber gingen es die anderen an? Mein neues Funkgerät würde mir nur dann einen guten Dienst erweisen, wenn auch ein anderer auf diese Idee käme. „Halt nein!“, fuhr mir meine innere Stimme in alle Theorien. „Noch weißt du nicht, ob anderswo auf der Welt noch alles beim Alten ist.“
Noch am Abend stieg ich hinauf auf den Dachboden und installierte die Funkgeräte. Als Laie tat ich mir schwer, musste ich doch jeden einzelnen Handgriff unter Zuhilfenahme der Bedienungsanleitung vornehmen. Es war bereits Mitternacht, als ich endlich bereit war. Doch, anstatt meinen Lauschangriff zu beginnen, hielt ich plötzlich inne. „Willst du wirklich wissen, ob du ganz alleine bist?“, tönte es aus der Tiefe meines Inneren. Einen Augenblick überlegte ich. Auf einmal überkam mich die Angst. Schließlich antwortete ich, ohne dass es ein anderer hören konnte: „Nein, ich will es nicht.“
Die Ungewissheit ist ein seltsamer Bruder. Zum einen hält sie die Gedanken in der Schwebe, weil sie nicht mit der Wahrheit herausrückt –, zum anderen schürt sie die Neugierde, die uns bisweilen ins Verderben stürzt.
Am Nachmittag des zweiten Tages fuhr ich zu einem Krämerladen. Der Besitzer war mir wohlbekannt, war er es doch, der mir immer wieder aushalf, wenn mir eine Schraube, ein Werkzeug oder sonst irgendetwas fehlte, was ich für meine Handwerksarbeiten benötigte. Auch Fahrradschläuche führte er im Sortiment und Gase, auf die ich es abgesehen hatte. Die Hintertüre der Werkstatt stand offen, also ging ich hinein. Mit aller Kraft hievte ich eine Helium-Flasche in meinen Kofferraum und verschwand sogleich wieder. Auf meinem Weg zurück nach Hause drang ich noch einmal in den Supermarkt ein. Ich hatte die Batterien für meinen Wecker vergessen. Am wichtigsten aber waren mir Luftballone. Zwei- oder dreihundert davon lagen dort abgepackt in Zwanziger-Einheiten im Regal. Ich nahm sie alle und noch mehrere Packungen Gefrierbeutel dazu.
An meinem Schreibtisch sitzend, begab ich mich an die Arbeit. Zuerst legte ich mir die Utensilien zurecht, die ich benötigte: einhundert Blätter dickes Papier, die Gefrierbeutel und zwanzig Zentimeter lange Drähte, von denen ich mir zuvor in meiner Werkstatt ein ganzes Bündel von der Rolle abgeknipst hatte. Danach verfasste ich den Text, der kurz und knapp sein musste, weil ich ihn eigenhändig viele Male abtippen musste. Dreimal kritzelte ich zwei Zeilen aufs Papier, und dreimal verwarf ich meine Botschaften am Ende wieder, weil sie mir zu theatralisch erschienen. Schließlich begrenzte ich mein Ansinnen auf eine Art Essenz, die sich einzig auf das Datum des Geschehens, meinen Namen und meine Anschrift konzentrierte. Auf jedes Blatt passten vier Hilferufe. Nach gut zwei Stunden legte ich eine Pause ein und zerschnitt die Blätter in Streifen. Einmal gefaltet steckte ich jeden einzelnen Schnipsel in einen der Gefrierbeutel und verschloss diese mit dem einen Ende des Drahtes. Am nächsten Morgen, das hatte ich mir vorgenommen, würde ich die ersten Ballone in den Himmel aufsteigen lassen. Je nach Windrichtung immer nur zwanzig von ihnen.
Während des Einschlafens grübelte ich noch lange über mein weiteres Vorgehen. Was ich unbedingt benötigte, war frisches Wasser zum Trinken und zum Waschen. Ohne lange nachzudenken, fiel mir ein, dass im Garten der beiden Architekten, also nur fünfzig Meter von meinem Hause entfernt, ein Brunnen stand, der mit einer Handpumpe betrieben wurde. Bis zum späten Herbst würde mir diese Notlösung ausreichen. Dann aber, wenn der Frost einsetzte, müsste ich das Wasser im Inneren meines Hauses in einer Art Zisterne auf Vorrat speichern. Allzu dringlich erschien mir diese Angelegenheit vorerst jedoch nicht.
Am Morgen blies ein Wind aus Nord-Ost. Nachdem ich die ersten Ballone mit dem Helium gefüllt hatte, ließ ich sie aufsteigen. Noch lange verfolgte ich deren Flugbahnen, bevor sie in den grauen Wolken verschwanden. Eigentlich – das hatte ich mir überlegt – wollte ich jedem einzelnen von ihnen noch eine Art ‚Glück-auf!‘  oder etwas Ähnliches mit auf den Weg geben. Doch als es so weit war, verzichtete ich darauf.
Langsam gewann die Sonne die Oberhand. Die letzten Wolken schoben sich über das Bergmassiv des Teutoburger Waldes und es war warm. Und weil mich niemand trieb und niemand meine Nummer wählte, um mir am Telefon den neuesten Stand unserer Projekte mitzuteilen und mich gleichsam mit Fragen überhäufte, nahm ich mir einen Tag Urlaub. Vielleicht würde daraus auch eine Woche, ein Monat oder gleich ein ganzes Jahr werden. Wer konnte dies damals schon ahnen?
Mit meinem treuen Begleiter begab ich mich zum Supermarkt. Die ersten Salate begannen bereits zu welken, doch der Kakao aus der Kühltheke war noch frisch wie eh und je. Ich trank einen Viertelliter davon und aß Müsli dazu. Für Jonathan streute ich ein Häufchen Trockenfutter auf den Boden und alles war gut. Mit einem Apfel in der Hand ging ich hinaus ins Freie. Unser Ziel an diesem Morgen war das Freibad.
Zu dieser Zeit war das Bad den Frühschwimmern vorbehalten. Doch niemand von ihnen war zugegen. Auch kein einziges Handtuch hing über den Plastikliegen, die hier sonst allerorten den Rand des Schwimmbeckens säumten. Das Wasser war frisch und klar, auch roch es nicht nach Chlor, weil dessen Zufuhr nach Strom verlangte. Jonathan gestattete ich es, im Babybecken zu plantschen, was ich ihm die vielen Male zuvor stets verwehrt hatte. Im selben Augenblick sprang er hinein, tummelte sich wie von Sinnen und konnte sein Glück kaum fassen. Ich selbst schritt auf einen der Startblöcke und tauchte hinab in die Tiefe. Doch anders, als ich es sonst erlebte, war diese Tiefe und mit ihr die Ruhe, die mich umspülte, so einzigartig, dass ich nicht imstande bin, sie zu beschreiben. „Ich bin hier ganz alleine, und niemand wagt es, mich zu stören“, dachte ich und tauchte noch tiefer hinab. Meter um Meter schwamm ich voran, nicht daran denkend, Luft zu holen, weil sie es war, die mir den Atem raubte.
Am Abend hatte der Wind gedreht. Ruhig wehte er aus Nord-West. Wieder glitten mir zwei Dutzend Ballone aus den Fingern. Und wieder hegte ich meine Zweifel. „Was wäre denn“, so fragte ich mich, „wenn wir für immer alleine blieben?“ Der Salat und das Gemüse im Supermarkt würden verschimmeln, und auch die Milch würde nicht ewig halten. Aber ich hatte ja meinen Gemüsegarten, den ich ohnehin Jahr um Jahr neu bestellte. Und Korn für das Brot würde ich auch anpflanzen können. Was also würde uns fehlen? Neben der Milch kaum etwas.
Zu später Stunde saß ich im Lehnsessel in meiner Bibliothek und rauchte eine Zigarette. Was auch immer es gewesen sein mag, das dazu geführt hatte, die Bewohner unserer Region – und vielleicht auch darüber hinaus – einfach verschwinden zu lassen, es musste einen Grund dafür geben. Einen triftigen zudem. Wie es aber gelingen konnte, nur ganz bestimmte Lebewesen sozusagen zu eliminieren, ohne eine Spur zu hinterlassen, war mir schleierhaft. Für einen Moment dachte ich an eine Verschiebung der Materie, bei der ein Körper eine Zeitlang im Nichts verschwindet, bevor er dann später irgendwo anders wieder seine ursprüngliche Gestalt annimmt. Und für so abwegig hielt ich diesen Gedanken erst einmal nicht, obgleich er mir vollends fiktiv erschien. Gleichsam dachte ich aber auch daran, dass es noch vor zweihundert Jahren kein Mensch für möglich gehalten hätte, Sprachsignale mittels Funkwellen zu übertragen. Diejenigen, die dies damals als eine Spinnerei von der Hand gewiesen hatten, wurden bekanntlich später eines Besseren belehrt. „Könnte“, diese Frage drängte sich auf, „könnte in diesem Punkt eine Parallele bestehen?“ Wenn ich meine Fantasie bemühte, war dies durchaus denkbar.
Auf der Suche nach dem Grund für das Geschehene tat ich mir schwer. Zwar mehrten sich die Zweifel, dass sich alles rein zufällig ereignet hatte, aber Beweise dafür konnte ich natürlich nicht erbringen.
Frühmorgens fuhr ich mit Jonathan abermals zum Supermarkt, um mir weitere Vorräte zu verschaffen. Auf dem Weg dorthin stand, gegenüber des Hauses des Tierausstopfers, ein Fahrzeug quer zur Fahrbahn und versperrte mir die Weiterfahrt. In gebührendem Abstand hielt ich misstrauisch an und schickte meinen Hund voran. Langsam, ganz langsam folgte ich ihm. Und weil er weder bellte noch knurrte, ging ich weiter auf das Auto zu. Die Fahrertür war unverschlossen. Als ich sie öffnete, um mich hineinzusetzen und den Wagen zur Seite zu schieben, bemerkte ich, dass sich das Fahrzeug bewegte. Weder ein Gang war eingelegt, noch war die Handbremse angezogen. Die Auffahrt zum Haus aber stieg etwas an, woraus ich folgerte, dass das Auto von ganz alleine hinuntergerollt war. Einen Moment lang hielt ich inne. „So etwas geschieht einmal in zehn Jahren“, mutmaßte ich, einen Zufall ausschließend, „aber nicht gerade jetzt.“ Vorsichtig näherte ich mich der Eingangstüre. Der Form halber läutete ich, doch niemand öffnete mir. „Was mag hier geschehen sein?“, fragte ich mich, während ich die Klinke nach unten drückte. Die Türe sprang auf. Nun ist es nicht meine Art, in fremde Häuser einzudringen, und dass ich dies bei unseren Nachbarn getan hatte, war einzig dem Umstand geschuldet, herauszufinden, ob ich denn wirklich ganz alleine war, zudem kannte ich sie recht gut. In diesem Falle jedoch, verfolgte ich eine heiße Spur, die mein irreguläres Verhalten sozusagen legitimierte. Also trat ich ein.
Im Hausflur, der sonnig erleuchtet war, standen drei große Koffer, die braun und abgewetzt waren. Offensichtlich hatten die Bewohner, die ich flüchtig kannte, geplant, eine Reise anzutreten. Sie hatten das Auto oben geparkt, um die Koffer einzuladen und dabei vergessen, die Handbremse anzuziehen. Und den ersten Gang hatten sie auch nicht eingelegt, obgleich selbst ein Fahranfänger weiß, dass ein solches Fehlverhalten bisweilen zu Unfällen führen kann. Davon ausgehend, dass die Familie des Tierausstopfers ihren Urlaub in der Nacht des Unglücks antreten wollte, stellte ich mir die Frage, warum der Wagen nicht einen Tag zuvor auf die Fahrbahn gerollt war. Ein flacher Kieselstein oder sonst irgendetwas, unter einem der Reifen liegend, könnten das Auto eine Zeitlang aufgehalten haben, bevor die Schwere des Fahrzeugs das Hindernis letztendlich überrollte und so den Weg nach unten geebnet hatte. Nein, diese Theorie erschien mir wenig glaubhaft, und deshalb ging ich weiter, die Treppe hinauf. Eher oben als unten wird sich des Rätsels Lösung finden, dessen war ich mir sicher. Der Flur führte in drei kleine Kammern, jeweils im Winkel von fünfundvierzig Grad. Hinter der ersten Türe verbarg sich die Ankleide. Wohlgeordnet hingen dort Kleider, Anzüge, Hemden und Blusen in einem Schrank, der bis zur Decke reichte. Auf der Bodenplatte zuunterst lagen fast dreißig Paar Schuhe, nur fünf davon hätte ich selbst angezogen. Das Bett, das dort stand, war frisch bezogen.
Der zweite Raum war eine Art Freizeitzimmer. In seiner Mitte stand ein Spieltisch, umgeben von zwei Stühlen. Die Wände wirkten recht kahl, nur an der Nordseite hingen Reproduktionen alter Meister, in Rahmen aus Altgold gefasst. Als ich den letzten der drei Räume betrat, fiel mir sogleich ein Geweih ins Auge. Von einem Wapiti musste es stammen, weil es größer war als all die gewöhnlichen Exemplare, die die Jäger hierzulande als Trophäen mit nach Hause bringen. Auf einer kleinen Ablage, die weiß gekachelt war, lag ein sauberes Blatt Papier. „Vergiss bitte nicht, die Blumen zu gießen!“ stand darauf. Und weil ich wusste, dass sich demnächst wohl niemand um die Pflanzen kümmern würde, suchte ich nach einer Gießkanne. Auf der Fensterbank, hinter einem schweren chamoisfarbenen Vorhang wurde ich fündig. Fast randvoll war sie gefüllt mit Wasser, sodass es ein Leichtes für mich war, einmal reihum zu schreiten und stellvertretend für wen auch immer den gewünschten Dienst zu verrichten.
Ohne eine neue Erkenntnis gewonnen zu haben, ging ich wieder hinunter ins Erdgeschoss. Unten auf der ersten Stufe lag eine Zeitung, die ich wohl übersehen hatte. Im Vorübergehen hob ich sie auf und entdeckte gleich auf der Titelseite neben dem Foto eines Politikers, den ich nicht kannte, eine Depesche, die mit den folgenden Worten überschrieben war: „Meteoriteneinschlag im Kaukasus erwartet.“ Ich nahm die Zeitung an mich und schlich in den Keller. Hinter einer braunen Türe, deren Lack schadhaft war und abzublättern drohte, befand sich die Werkstatt des Taxidermisten. Als ich hineintrat, vernahm ich einen süßen Geruch, der mir die Sinne vernebelte. Auf einer riesengroßen Arbeitsplatte, die inmitten des Raumes stand, lag allerlei Handwerkszeug: zahlreiche Messer in unterschiedlichen Größen und Formen, Nadeln und Garne, Holzwolle, ja sogar Glasaugen in verschiedenen Farben. Rundherum, an den Wänden, befanden sich mehr als zwei Dutzend hölzerne Podeste, auf denen die seelenlosen Hüllen der Iltisse, der Marder, der vielen Vögel und auch die eines Fuchses ausgestopft Spalier standen. Manche von ihnen schauten recht traurig drein, andere eher aufgeregt, und wieder anderen war es anzusehen, dass sie im letzten Moment ihres Lebens erschossen worden waren. Nur dem Uhu schien dieses düstere Szenario gleichgültig zu sein, blickte er doch wie eh und je teilnahmslos auf den, der ihn betrachtete. In einer der finsteren Nischen des Ateliers erspähte ich einen Waffenschrank, der verglast und verschlossen war. Ohne große Mühe hebelte ich ihn auf. Drei Pistolen nahm ich an mich und ein dunkles Gewehr mit verziertem Griff. Erst nach langem Suchen fand ich die Munition. Sie lag in einem Spind, versteckt in einem kleinen Nebenraum, zu dem ich mir gewaltsam Zutritt verschafft hatte.
Jonathan war verschwunden. Ich hatte ihn aus den Augen verloren. Lautstark rief ich seinen Namen – ein ums andere Mal – doch er tauchte nicht wieder auf. Ohne ihn fuhr ich zum Supermarkt. Wieder lud ich all das in mein Auto, was mir noch fehlte und bezahlte nichts dafür. Erst spät am Abend fand mein Hund seinen Weg zurück nach Hause.
Ich schlief wie ein Murmeltier. Und wenn mich Jonathans Kratzen an der Tür meines Schlafzimmers nicht geweckt hätte, dann hätte ich wohl den gesamten Tag verschlafen. Zum Frühstück gab es Pfannkuchen. Noch war die Milch nicht verdorben, und auch die Eier, von denen gut vier Dutzend in meiner Speisekammer lagen, sollten noch eine ganze Weile essbar bleiben. Noch hatte ich keine Hühner gesichtet, ich würde mich aber beizeiten auf die Suche begeben, das hatte ich mir vorgenommen. Um in Zukunft nicht gänzlich auf die Milch verzichten zu müssen, würde ich zu gegebener Zeit auf Babymilch umsteigen. Es gab sie in Pulverform, die mit Wasser angerührt wird. Einmal schon hatte ich sie probiert, und so schlecht schmeckte sie gar nicht.
Die Pfannkuchen brutzelten in der Pfanne. Gottlob hatte ich einen Gasherd, sodass mir das Braten, das Kochen, ja selbst das Backen im Ofen verblieben war. Bald aber würde das frische Fleisch ausgehen, spätestens in ein, zwei Monaten. Zwar hatte ich einige kapitale Stücke in einem Hinterraum des Supermarktes vorsorglich in Eimern mit Salz gelagert, in der Hoffnung, sie mögen bis zum Winter frisch bleiben, verlassen aber konnte ich mich darauf nicht. Plötzlich – die Pfannkuchen wären fast angebrannt – kam mir eine Idee: Wenn ich einige der Kühltruhen, die sich im Supermarkt zuhauf befanden, mit Strom versorgen könnte, dann hätte sich mein Problem von jetzt auf gleich erledigt. Denn sowohl tiefgekühltes Fleisch als auch all die anderen Nahrungsmittel, die eiskalt gelagert werden mussten, um frisch zu bleiben, gab es im Supermarkt in Hülle und Fülle. Und vielleicht würde es mir sogar gelingen, meine geliebte Milch einzufrieren. Noch war es nicht zu spät!
Völlig überhastet verschlang ich einen der Pfannkuchen und trieb Jonathan zum Auto. Der Krämerladen, aus dem ich mir das Helium besorgt hatte, führte Stromaggregate im Sortiment. Zehn Minuten später waren wir dort. Im Ausstellungsraum suchend, wurde ich schnell fündig. Noch dazu wurde eines dieses Geräte-Typs mit Gas betrieben, was ich im Leben nicht erwartet hätte. Drei davon waren vorrätig. Zweimal fuhr ich hin und her, weil mein Kofferraum nicht geräumig genug war. Danach schleppte ich sechs Gasflaschen zum Wagen und transportierte auch diese zum Supermarkt. Das Anschließen der Aggregate gestaltete sich überaus umständlich. Die Kabel, die die Gefriertruhen mit Strom versorgten, waren in den Boden eingelassen und kaum zugänglich. Und um sie zu verlängern, damit ich sie an die Aggregate anschließen konnte, benötigte ich zusätzliches Kabel und Lüsterklemmen. Ich fuhr von Pontius zu Pilatus, bis ich endlich alles beisammen hatte. Es war bereits acht Uhr am Abend, als die erste Truhe aufleuchtete. Die kleinen Lampen unterhalb der Schiebeklappe, die das Eingefrorene ansprechend präsentierten, schraubte ich aus den Fassungen, um Strom zu sparen. Kurze Zeit später waren alle drei Truhen am Netz. Sogleich begann ich, die Tiefkühlkost zu sortieren. All das, was mir besonders gut schmeckte, beließ ich in den Truhen und fügte noch Waren aus den Truhen hinzu, die ich nicht elektrifiziert hatte. Jene Kost, die ich verschmähte, sortierte ich aus. Fast eine ganze Truhe war durch diese Vorgehensweise freigeworden. In ihr gefror ich einhundert Milchpakete, die mittlerweile warmgeworden waren, Pansen für Jonathan und jede Menge Fleisch aus den Kühlschränken. Damit aber die Versorgung mit Gas nicht versiegte, würde ich in den kommenden Tagen so viele Flaschen wie nur möglich bereitstellen.
Völlig erschöpft fiel ich am Abend ins Bett. Ich wähnte mich glücklich, ob der Errungenschaften, die der Tag mir beschert hatte. „Ich bin stolz auf dich!“, sagte schlaftrunken eine Stimme, die ich so sehr vermisste. Dann schlief ich ein.
Angrenzend an meine Villa befand sich ein kleiner Wald, durch den ein Rundweg verlief. Vornehmlich waren es Buchen, die hier auf hügeligem Gelände turmhoch in den Himmel wuchsen, und wohl deshalb nannte sich dieser Wald der Büchenberg. Für Jonathan war es eine Wohltat, einmal wieder nach Herzenslust umherzutollen, hatte er doch – so glaubte ich zumindest – gar nicht verstanden, was hier vor einigen Tagen geschehen war. Und wie sollte er auch? Einen Spielkameraden tierischer Natur hatte er nicht mehr, seitdem Mimo, sein bester Freund, vor einigen Jahren dem Tierheim überlassen worden war, weil sein Frauchen, eine herzensgute alte Dame, die am Ende unserer Straße wohnte, in die Jahre gekommen war.
Schon von weitem erspähte ich die hölzerne Bank, die, am Wegesrand stehend, zu einer Verschnaufpause einlud. Und als hätte Jonathan meine Gedanken erraten, bellte er und schlich um die Bank herum. Geradeso als suchte er jemanden. Ja, auch er vermisste Julia, und es war ihm nicht zu verdenken, dass er jedes Mal, wenn wir diesen Ort besuchten, darauf hoffte, sie wiederzusehen. Mir erging es nicht anders, ich aber wusste, dass sie längst im Himmel weilte.
Es geschah an einem dieser grauen Novembertage, an denen niemand freiwillig vor die Türe geht. Der Regen peitschte an die Fenster unseres Schlafzimmers, und draußen trieb der Wind die Wasserlachen, die sich auf dem unebenen Asphalt unserer Straße gebildet hatten, wie ein Kommandant zum nächstgelegenen Abfluss. An diesem Morgen hatte sie es eilig. Und wenn man es genau nimmt, dann war dies immer so in diesen Tagen, weil sie getrieben war, ihren Beruf und unser Zusammenleben in Einklang zu bringen. Doch war es nicht ich allein, der sie forderte – obgleich ich stets Rücksicht auf ihre beruflichen Belange nahm und ihr den Rücken freihielt, so gut es eben ging – nein, da war noch ein kleines Wesen in ihrem Bauch, das nur darauf wartete, endlich dazuzugehören, auf dass wir eine richtige Familie werden würden. Sara sollte sie heißen, unsere kleine Prinzessin, auf die wir uns so unbändig gefreut hatten. Auf einmal aber, von jetzt auf gleich, schlug der Zufall eine seiner unbarmherzigen Kapriolen. Julia verstarb bei einem Autounfall an Ort und Stelle, Sara aber war noch am Leben. Zwölf Stunden lang kämpfen die Ärzte um sie, bis schließlich ihr kleines Herz und mit ihm das goldige Lächeln, das wir uns so sehr ersehnt hatten, verstummten.
Ganze zwei Jahre hatte es gedauert, diesen Schlag des Schicksals zu überwinden. Ich zog mich vollends zurück, und einzig und allein mein Beruf hielt mich am Leben. Ich flüchtete vor der Gesellschaft, mied alle und jeden, nur um allein zu sein. Zu dieser Zeit wurde unser Büro damit beauftragt, ein Brückenbauprojekt in Wien zu begleiten. Vornehmlich ging es um die Statik, aber auch übergeordnet sollten wir die Prozesse kontrollieren und steuern. Ein Jahr zuvor hatten wir ein ähnliches Projekt in Jugoslawien begleitet, das mir, dem Statiker unseres Büros, eine gewisse Ehre eingebracht hatte, war doch eine Riege aus dem Bau-Ressort vor Ort mehr als begeistert von unserer Arbeit.
Wir gingen weiter. Jonathan lief voraus und ich folgte ihm. In Gedanken schwelgend dachte ich an Frau und Kind, schaute zum Himmel hinauf, um sie zu grüßen und begann zu weinen. „Wie ungerecht kann das Leben sein?“, fragte ich mich ein ums andere Mal, doch plötzlich hatte Jonathan einen Hasen erspäht! Wie von Sinnen stellte er ihm nach, und es dauerte nicht lange, bis er ihn erlegt hatte. Auf meiner Schulter trug ich das Tier heim und ließ die Trübsal hinter mir.
Kapitel II
Die Augen aufgeschlagen hatte ich in einer kleinen Gemeinde in Niedersachsen. Damals, als der Himmel noch richtig blau war. Der Krieg war längst vorbei, als sich das Leben all der Bewohner unseres Dorfes nach vorne richtete. Gottlob waren wir vom Bombenhagel verschont geblieben, aber die Versorgungslage war miserabel, und deshalb musste jeder von uns mit anfassen. Vor allem den Hunger galt es zu bekämpfen, was auch auf mich – als kleinen Neuling – seine Auswirkungen hatte. Zwar genügten die täglichen Mahlzeiten, um mein Mäulchen zu stopfen –, besonders schmackhaft war das, was mich großziehen sollte, jedoch nicht. Und so spie ich – nicht nur einmal – alles wieder aus und trieb meine Eltern mit meinem wählerischen Essverhalten regelmäßig zur Verzweiflung.
An unser Haus grenzte ein riesiger Garten. Die erste