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Wenn er Jack lieben wollte, durfte er nichts von ihm verlangen oder erwarten, er musste ihn als den Menschen annehmen, der er war. Matthew hat gerade den Tiefpunkt seines Lebens erreicht: Seinen Job musste er kündigen, weil dieser vollkommen unerträglich war, er wohnt in miesen Verhältnissen, um sein bisschen Geld zu sparen und wie es für ihn weitergehen soll, kann er beim besten Willen nicht sagen. Als er auf Jack trifft, einen berühmten Profibasketballer, der ebenfalls gerade eine schwierige Phase durchmacht, sieht er erstmals wieder ein bisschen Licht am Horizont. Wohin das Ganze führen soll, lässt sich allerdings nicht sagen – denn da ist irgendetwas zwischen ihnen. Etwas, das Mut erfordert, und sehr viel Vertrauen … Und definitiv keine halben Sachen. Ca. 77.000 Wörter, das entspricht ungefähr 380 Taschenbuchseiten
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Wenn er Jack lieben wollte, durfte er nichts von ihm verlangen oder erwarten, er musste ihn als den Menschen annehmen, der er war.
Matthew hat gerade den Tiefpunkt seines Lebens erreicht: Seinen Job musste er kündigen, weil dieser vollkommen unerträglich war, er wohnt in miesen Verhältnissen, um sein bisschen Geld zu sparen und wie es für ihn weitergehen soll, kann er beim besten Willen nicht sagen.
Als er auf Jack trifft, einen berühmten Profibasketballer, der ebenfalls gerade eine schwierige Phase durchmacht, sieht er erstmals wieder ein bisschen Licht am Horizont. Wohin das Ganze führen soll, lässt sich allerdings nicht sagen – denn da ist irgendetwas zwischen ihnen. Etwas, das Mut erfordert, und sehr viel Vertrauen … Und definitiv keine halben Sachen.
Ca. 77.000 Wörter, das entspricht ungefähr 380 Taschenbuchseiten
von
Sandra Gernt
„Ich meine es bloß gut mit dir.“ Toby stand mit verschränkten Armen neben dem Tisch und sah zu, wie Matthew selbigen gründlich reinigte, anschließend das Tablett mit den leeren Gläsern ergriff und es in die Küche trug. Er blieb ihm hartnäckig auf den Fersen, auch als Matthew begann, in der Bar Flaschen zu sortieren. „Hey, hörst du mir zu?“, fragte Toby nach einigen Minuten, in denen Matthew wirklich alles gegeben hatte, um seinen großen Bruder zu ignorieren.
„Nein, warum sollte ich?“, entgegnete Matthew spitz und schrieb einige Likörsorten auf die Bestellliste. „Du willst, dass ich mir einen anderen Job suche. Das erklärst du mir seit über zwanzig Minuten. Ich hab’s schon beim ersten Mal begriffen. Warum sollte ich dir also noch länger zuhören? Ich will keinen anderen Job. Ende der Ansage.“
„Matt …“ Toby ließ resigniert die Arme sinken.
„Was? Denkst du, diese Arbeit ist nicht gut genug für deinen Bruder? Hm? Wo sie offensichtlich gut genug für deine Frau ist? Sagst du zu ihr ebenfalls, sie braucht etwas anderes?“
Nun verdrehte Toby wild die Augen.
„Matt, mir und Lara gehört der Laden! Wir schmeißen ihn gemeinsam. Als Ehepaar. Das ist was anderes. Du hingegen brauchst etwas Besseres als einen Aushilfsjob. Sieh dir die Anzeigen doch wenigstens an, die ich dir ausgedruckt habe. Lauter Angebote für Leute wie dich.“ Er schob ein Blatt näher an Matthews Hand heran.
„Bankangestellter. Ja. Großartig. Du hast mir in den letzten zwei Wochen richtig intensiv zugehört, wie ich sehe“, knurrte Matthew angewidert. „Ich hab das ernst gemeint: Diesen Drecksjob mache ich nicht mehr. Ende der Diskussion.“
„Matt, hör zu. Du bist sechsundzwanzig, nicht sechzehn. Okay? Hör auf, dich wie ein bockiger Teenager zu benehmen und lass das Augenrollen sein. Nur weil du in deinem alten Job so unglücklich warst, muss es beim nächsten Institut nicht genauso schlimm sein. Es gibt dort unterschiedliche Aufgabenbereiche, das hast du selbst gesagt. Es ist absolut okay, dass du gekündigt hast. Aber ehrlich, du kannst mit deinem Hintergrund nicht auf ewig in einer Bar die Tische abwischen und Getränkebestellungen herumtragen. Es ist ein verdammter Aushilfsjob! Klar, das hier ist der Staat Minnesota und nicht New York, aber von dem bisschen, das Lara und ich dir zahlen können, kannst du dich unmöglich über Wasser halten. Das reicht doch kaum für die Miete, und essen willst du schließlich auch. Sollen denn deine ganzen Ersparnisse draufgehen?“
„Der bockige Teenager geht jetzt übrigens nach Hause!“ Matthew riss sich die schwarze Schürze mit dem grünen Schriftzug herunter. „The boar and the beaver“ war darauf gedruckt, der Name der Bar, die wegen ihrer leckeren Snacks und den hervorragenden Cocktails zu vernünftigen Preisen vor allem bei Studenten sehr beliebt war. „Ich habe mein Studium in Rekordzeit abgeschlossen, Toby. Mit einem verdammten Teilstipendium, wie du dich vielleicht erinnerst. Seit der High School habe ich nichts anderes gemacht, als ohne Unterbrechung zu arbeiten. Erst fürs Studium und meinen Unterhalt, dann für meinen Job.“ Er atmete kurz durch, versuchte zur Ruhe zu kommen, was leider vergeblich war, denn all diese Dinge kochten schon viel zu lange in ihm. „Eigentlich habe ich sogar davor nichts anderes getan, weil ihr mir immer alle erzählt habt, dass ich schön fleißig sein soll, damit mal was aus mir wird. Dass ich brav und vernünftig sein muss, um auf das bestmögliche College zu kommen. Daneben Gelegenheitsjobs wie dieser, um Mom und Dad zu unterstützen. Lernen und arbeiten, um zur Elite zu gehören und einen verdammten Bankerjob zu landen. Weißt du was, Bruderherz? Ich finde, es steht mir zu, gelegentlich mal wie ein Teenie zu bocken. Als ich noch einer war, hatte ich nämlich keine Zeit für so viel Vergnügen!“
Er stürmte in den kleinen Nebenraum bei der Küche, wo er sich seine Jacke und den Rucksack schnappte, und ignorierte Toby mit seinem verletzten Gesichtsausdruck auf dem Weg hinaus genauso wie Lara, die in der Küche stand und ihn großäugig anstarrte.
Es war eigentlich nicht seine Art, Leute einfach stehenzulassen, sie übellaunig anzuknurren, ihnen den Ärger über sein verkorkstes Leben ins Gesicht zu brüllen. Schließlich hatte er es selbst verkorkst, niemand hatte nachgeholfen, es war alles ganz allein seine Entscheidung gewesen, die Brocken zu schmeißen und zu kündigen. Genauso wie er sich entschieden hatte, gewisse Details vor seinem Bruder und seiner Schwägerin zu verheimlichen. Damit sie sich nicht aufregen mussten.
Es ging sie schließlich gar nichts an, dass seine Geldreserven unter der für ihn persönlichen Wohlfühlgrenze zusammengeschrumpft waren und er deshalb morgen sein Auto verkaufen würde. Mit dem Bus und einem kleinen Fußmarsch kam er problemlos zur Arbeit und er brauchte das Geld dringend, um über die Runden zu kommen und sich sicher zu fühlen, was ein gewisses Polster beinhaltete. Für eine Weile würde das schon gehen.
Wie es danach weiterlaufen würde … Blieb abzuwarten.
Fakt war: Matthew wusste das alles. Er wusste, dass er mindestens einen weiteren Job bräuchte, um sein Leben finanzieren zu können. Er wusste, dass er gerade nicht die Kraft dazu hatte, mehr als ein paar Stunden Aushilfskellnern bekam er psychisch einfach nicht auf die Reihe. Er wusste, dass Toby nicht blöd war, natürlich ahnte er, wie viel mehr im Busch war als Matthew zugeben wollte.
Fakt war eben auch: Es ging ihn nichts an! Matthew war erwachsen. Ende der Ansage.
Klar. Vielleicht hätte er nicht ausgerechnet zu seinem großen Bruder flüchten und ihn um einen Job anbetteln sollen. In diesem verdammten Land gab es hunderttausende Bars und in so ziemlich jeder hätte er garantiert einen Aushilfsjob bekommen. Er war jung, sah passabel aus, wie er fand, hatte gesunde Hände, war arbeitswillig, trank nicht, nahm keine Drogen. Toby kannte ihn zu gut und natürlich machte er sich Sorgen und wollte helfen. Es war bloß ein unerträglicher Gedanke gewesen, völlig allein auf dieser Welt dazustehen, darum war Matthew nach der Kündigung ins Auto gesprungen und die über vierhundert Meilen hergefahren.
Ach, verdammt. Es war eben eine Phase. Auf Dauer würde Matthew sich einen vernünftigen Job suchen. Langfristig wollte er nicht durchhängen, das könnte er mit sich selbst gar nicht vereinbaren. Noch ein, zwei Wochen. Erst einmal wieder richtig auf die Füße kommen. Sich klarmachen, in welche Richtung das Leben für ihn weitergehen sollte.
Zurück zu den seelensaugenden Vampiren in der Finanzbranche wollte er jedenfalls nicht. Mit seinen Abschlüssen, Fortbildungen und Berufserfahrungen konnte er durchaus andere Arbeiten erledigen. Irgendein Sachbearbeiterjob sollte schon drin sein. Versicherungen schloss er aus, das waren auch alles Vampire.
Ach, er musste eben schauen, welche Gelegenheiten sich boten. Dafür würde er auch wieder wegziehen. Sobald die Phase vorbei war.
Es war frostig kalt hier draußen, er wollte möglichst schnell nach Hause. Matthew wühlte in den Taschen seiner Jeansjacke nach den Autoschlüsseln. Heute war er noch einmal damit hergekommen, es sollte die Abschiedstour mit seinem Wagen sein. Zum Glück gehörte er nicht zu den Männern, die emotional an ihren Autos hingen; für ihn war das einfach ein Gebrauchsgegenstand.
In Gedanken war Matthew bei der heißen Dusche, dem Krimi, den er gerade auf dem Tablet las und der Tasse Tee, die er dazu genießen wollte. Dazu schnell etwas kochen, vermutlich eine Portion Rührei auf Sandwichbrot. Das war mehr als nichts und er konnte es sich leisten. Und dann Feierabend, nicht mehr denken, schlafen. Ja, der Plan gefiel ihm.
Da er die Schlüssel nicht fand, nahm er den Rucksack von den Schultern und wühlte darin weiter. Von seiner überhasteten Flucht aus Chicago nach hier waren noch alle möglichen und unmöglichen Dinge darin – Verbandszeug, Energieriegel, Schraubendreher, zwei Taschenmesser, ein dünnes Seil, Taschen- und Feuchttücher, Batterien, Zeugs, Kram … Ah, und da waren auch die verdammten Autoschlüssel.
Während der Suche war er quer über den Parkplatz gelaufen, der jetzt um sieben Uhr abends randvoll war. Das lag in erster Linie an der Spielhalle nebenan, die sich mit der Bar den Parkplatz teilte. Ein billiger Schuppen mit diversen Spielautomaten und einem Billardtisch, wo man noch bis zum Morgengrauen sein Geld verzocken konnte. Die Kundschaft war eine völlig andere als diejenige, die in die Bar kam, um mit einem süßen Cocktail oder einem Bier gemeinsam mit Freunden den Feierabend zu genießen. Darum lohnte es sich für seinen Bruder auch nicht, die Bar länger offen zu lassen.
Meistens war um Mitternacht schon quasi nichts mehr los und jetzt, mitten in der Woche, gab es häufig auch um sieben Uhr abends kaum Gäste. Oft kamen später noch mal welche, aber das große Geschäft wurde freitags und am Wochenende gemacht. Da blieb Matthew dann auch bis zum Schluss, während es von Montag bis Donnerstag nur für zwei bis drei Stunden Arbeit für ihn gab. Selbst das war ihm manchmal noch zu viel …
Mit den Schlüsseln in der Hand steuerte er auf seinen Wagen zu und stoppte dann abrupt. Scheinwerfer blendeten ihn, die vor einer Sekunde noch nicht geleuchtet hatten. Quietschende Reifen. Ein harter Ruck, als er zur Seite gestoßen wurde.
Erschrocken lag Matthew am Boden und begriff erst mit viel Verspätung, dass er um ein Haar vor ein Auto gelaufen wäre. Der Fahrer hupte, eine Faust wurde in seine Richtung geschüttelt, bevor der dämliche Penner, der mindestens genauso viel Schuld an diesem Beinah-Unfall hatte wie er selbst, rasant beschleunigte und davonfuhr.
„Alles in Ordnung?“ Sein Schutzengel, also derjenige, der ihn geistesgegenwärtig gepackt und aus dem Weg geschubst hatte, beugte sich über ihn.
Eine tiefe, wohlklingende Stimme. Starke Hände umfassten Matthews Arm. Als er aufblickte, sah er nur einen Schatten. Ein großer Schatten, der den Eindruck von verdammt vielen Muskeln und Kraft vermittelte. Der Schreck saß Matthew noch arg in den Knochen und gerade kamen die ersten Schmerzen in seinem Bewusstsein an. Er war unsanft aufgeprallt. Aber besser so, als auf einer Windschutzscheibe zu landen.
Vermutlich hätte es ihn nicht umgebracht, das Auto war nicht schnell gefahren, aber für Knochenbrüche hätte es garantiert genügt. Die erste geistige Bestandsaufnahme besagte, dass alles Wichtige heil geblieben zu sein schien.
Erneutes Scheinwerferlicht beleuchtete ein freundliches, besorgt wirkendes Gesicht. Jung. Attraktiv. Dunkles Haar, dunkle Jacke.
Das Licht verschwand.
„Alles okay bei dir?“ Noch immer hielten die starken Hände Matthew an den Armen.
„Ich glaube ja“, stammelte er und ließ sich auf die Beine ziehen. „Prellungen höchstens. Nichts Schlimmes. Äh – danke. Danke! Ich hab den Wagen nicht gesehen.“
„Der ist ohne Licht losgefahren und hat es erst angeschaltet, als er dich schon fast erwischt hatte“, entgegnete der Fremde. „So wie der beschleunigt hat, hätte das übel für dich ausgehen können.“
„Danke, Mann. Du hast mir den Hintern gerettet“, murmelte Matthew beschämt und griff dann zu seinem Handy, um die Taschenlampe zu aktivieren. Seine Autoschlüssel waren heruntergefallen und aus seinem geöffneten Rucksack hatten sich ebenfalls einige Dinge verabschiedet.
„Gehört das dir?“, fragte der Typ amüsiert und reichte ihm ein Päckchen Kabelbinder, ein Feuerzeug und extrafestes Panzertapeband sowie einen Familienpack Traubenzucker an.
„Äh – ja. Ich bin gerade erst umgezogen“, murmelte Matthew beschämt.
„Keine Angst, die Polizei rufe ich erst bei blutigen Einmalhandschuhen und Bleiche“, sagte sein Retter und lachte dabei, während Matthew hektisch seine Habseligkeiten in den Rucksack stopfte.
Verdammt! War das alles peinlich.
Das hätte wirklich in jeder Beziehung denkbar mies ausgehen können, denn alle Beteiligten waren abgelenkt gewesen. Der Ford Mustang-Fahrer hatte ein Handy in der Hand gehalten, da war sich Jack sicher. Der junge Typ, den es beinahe erwischt hätte, hatte gedankenverloren nach seinen Schlüsseln gekramt. Und Jack selbst hatte ebenfalls auf sein Handy geschaut. Dafür schämte er sich jetzt, denn im Dunkeln über einen vielgenutzten Parkplatz zu laufen, das war nicht der Ort und nicht der passende Zeitpunkt, um eine Nachricht seines Coachs zu lesen, bei der es um Spielerstatistiken ging. Das hätte verdammt noch mal Zeit bis später gehabt.
Normalerweise wäre Jack gar nicht auf diesem Parkplatz gelandet. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, er hatte einen freien Platz von der Straße aus erblickt und ihn rigoros genutzt, obwohl er weder die Spielhalle noch die Bar besuchen wollte, sondern bloß einen Umschlag in den Briefkasten werfen, der eine Ecke weiter stand. An der Stelle gab es keine Möglichkeit zu parken. Gerade war er tatsächlich froh über diese verquickten Umstände, die dazu geführt hatten, dass er spontan Schutzengel spielen konnte. Der Typ, den er gerettet hatte, war jedenfalls definitiv zu jung zum Sterben. Ein bisschen sonderbar wirkte er. Kein regelrechter Spinner, bloß etwas verpeilt mit seinem Rucksack voller Handwerkszeug und Krempel und der irgendwie niedlichen Schamhaftigkeit. Mittelgroß schien er zu sein, soweit man das in den matten Lichtverhältnissen sagen konnte, sehr schlank, beinahe noch schlaksig, auch wenn er schon deutlich über zwanzig Jahre alt sein dürfte. Das Scheinwerferlicht vorhin hatte hellbraunes oder vielleicht auch dunkelblondes Haar offenbart, modisch und adrett geschnitten – oben mittellang und leicht gewellt, an den Ohren und im Nacken kurz rasiert. Kein Bart, und durch die Jeansjacke und den Rucksack wirkte er vermutlich jünger, als er war. Das war zumindest der Eindruck, den Jack jetzt im Schein der Taschenlampen-App gewann. Er fand noch ein Päckchen Zahnseide, das er ihm anreichte, dann wollte er aufstehen. Der Typ hatte dieselbe Idee, exakt im selben Moment. Es knallte regelrecht, als Jack ihn mit dem Kopf im Gesicht erwischte.
Für Jack war es kaum mehr als ein Ruck. In seinem Job war er es gewohnt, Schläge einzustecken. Der Rucksackträger hingegen stöhnte laut und zog zischend die Luft ein, deutliches Zeichen, dass der Zusammenstoß weh getan haben musste. Sein Handy fiel zu Boden, zum Glück aus geringer Höhe und auf den sandigen Grund des Parkplatzes.
„Shit!“, stieß er aus und presste sich die Hände vor das Gesicht.
Verdammt! Normalerweise war Jack besser koordiniert.
„Sorry, Bro!“, sagte er, hob das Handy auf und versuchte, den Schaden zu beleuchten, den er angerichtet hatte. Mit der freien Hand zog er behutsam an den Armen des jungen Mannes.
Ein vorwurfsvoll-schmerzerfüllter Blick aus dunklen Augen traf ihn.
„Ich bin nicht dein Bro!“, knurrte es Jack entgegen. Da der Typ dafür die Hände sinken ließ, konnte er nun erkennen, welchen Volltreffer er gelandet hatte: Der Mann blutete heftig aus der Nase und die Unterlippe war leicht aufgeplatzt. Shit! Na, das hatte er ja sauber hinbekommen.
„Sorry“, wiederholte Jack beschämt und nahm den Rucksack an sich, der nach wie vor offen war. Er wusste, dass sich Taschentücher darin befanden, er hatte es eben gesehen. Zum Glück entdeckte er das Päckchen rasch in diesem Chaos, zupfte zwei Taschentücher heraus und drückte sie vorsichtig gegen die blutenden Wunden.
Der Typ hatte ein schönes Gesicht. Ebenmäßig, hohe Wangenknochen, ein starkes Kinn. Männlich, noch ein wenig jungenhaft. Da fehlte vielleicht eine Nuance an markanter Ausstrahlung, als dass es zum Model gereicht hätte.
Jack blinzelte, verwirrt von seinen eigenen Gedankengängen. Da kauerte ein Kerl vor ihm. Ein Kerl, der blutete, weil Jack nicht aufgepasst hatte. In diesem Zusammenhang war es schon ein wenig pervers, über männliche Schönheit nachzudenken. Schließlich war er kein Vampir und der Anblick von Blut machte ihn für gewöhnlich auch nicht an.
„Ich hoffe, mit den Zähnen ist alles in Ordnung? Du hast dir nicht auf die Zunge gebissen, oder? Warte mal kurz.“ Er streckte die Hand aus und tastete über die Nase, was ihm einen weiteren schockierten Blick und eine leise Schmerzreaktion einbrachte. „Nichts gebrochen, würde ich sagen, bloß angeschlagen. Prellungen sind trotzdem unangenehm.“
„Ich bin okay. Die Zähne sind heil und ich kann atmen.“
„Das ist gut.“ Jack zog ihn beiseite, als gleich zwei Autos auf einmal kamen. Sie standen hier denkbar ungünstig und die Spielsüchtigen zog es zu den Automaten. Er hingegen wollte definitiv keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, er war immerhin ein verdammter Promi. Irgendwelche verwackelten Handyvideos von ihm, wie er vor einem blutenden Kerl stand, am besten mit reißerischen Schlagzeilen, dass er die Kontrolle verloren und harmlose Passanten zusammengeschlagen hatte, konnte er sich jetzt echt schenken.
Er zog ein drittes Taschentuch hervor und übte leichten Druck auf die verletzte Nase aus. „Schön den Kopf unten halten, bloß nicht in den Nacken legen“, sagte er. „Vielleicht sollten wir in die Bar da drüben reingehen. Die haben garantiert Eis, das du dir in den Nacken legen kannst, und die Lippe sollte besser gereinigt und desinfiziert werden, sobald sie nicht mehr blutet. Ich hab Spray und Verbandszeug dabei, es wäre aber sinnvoll, wenn ich sehe, was ich tue.“
Der Mann musterte ihn, die Augenbrauen wanderten amüsiert in die Höhe.
„Aha. Du hast also auch einen halben Hausstand an lebensnotwendigem Krempel am Leib?“, fragte er, was Jack mit einem Grinsen und leichtherzigem Schulterzucken quittierte. Er hatte im Laufe seiner Sportkarriere schon so oft einen Ellenbogen in die Fre… Nun ja, mitten auf die Zwölf bekommen, und manchmal platzten Krusten in den merkwürdigsten Momenten ab und die Wunden bluteten erneut. Da war es sinnvoll, Desinfektionsspray und Verbandsmaterial stets dabei zu haben.
„Hör zu, Mann, die Bar gehört meinem Bruder und seiner Frau. Die beiden werden sich um mich kümmern, du musst nicht mit reinkommen“, sagte der Mann und übernahm nun entschlossen die alleinige Herrschaft über die Taschentücher in seinem Gesicht. „Dank dir für deine Hilfe, das vorhin … Das war echt knapp. Also mach’s gut, und danke noch mal, ich komme jetzt klar.“
Jack zögerte, aber als der Typ sich umdrehte und in Bewegung setzen wollte, hielt er ihn energisch auf. Die Sorge, hinterher vielleicht doch noch wegen Körperverletzung, unterlassener Hilfeleistung oder sonstigem Scheiß verklagt zu werden, mochte irreal sein, trotzdem hielt er es mit „Better safe than sorry“ und war lieber einmal zu viel paranoid.
„Warte. Ich habe dich verletzt und das ist meine Verantwortung, und wenn es dreimal bloß ein dämlicher kleiner Unfall war. Ich begleite dich mit rein und erkläre deiner Familie, was passiert ist.“ War schließlich auch eine Möglichkeit, dass der Typ plötzlich Wackelknie bekam und in Ohnmacht fiel, seine Verwandtschaft die Polizei holte und man Jack zur Fahndung ausschrieb … Ja, er war paranoid. Dafür gab es gute Gründe!
Er hätte es deutlich bevorzugt, einfach nach Hause zu fahren. So schlimm war das Nasenbluten gar nicht mehr, die Lippe hatte sich bereits beruhigt und es war schlichtweg peinlich, was in den letzten fünf Minuten abgegangen war. Sein Bruder brauchte nicht noch mehr Bestätigung, dass Matthew ein Versager war, der sein Leben nicht im Griff hatte. Ein Fremder, der ihn davor bewahren musste, sich von irgendeinem Spinner über den Haufen fahren zu lassen, war da garantiert der endgültige Beweis: Matthew gehörte in Watte und Noppenfolie gewickelt und am besten unter permanente Vormundschaft gestellt, denn ließ man ihn für länger als drei Sekunden allein, machte er nichts als Unfug. Dinge, wie einen topbezahlten Job kündigen beispielsweise.
Zum Glück waren in der Zwischenzeit keine neuen Gäste reingekommen, wie er mit einem routinierten Blick feststellte. Schlecht für Toby und Lara, klar, aber wenigstens keine anderen Leute, die sich womöglich noch einmischen wollten.
Seine Schwägerin Lara stand am Tresen, als Matthew mit seinem Retter hereinkam. Ihre Augen wurden groß, dann eilte sie auf ihn zu.
„O Gott, Matt! Wurdest du zusammengeschlagen? Wollte dich einer von den Spielern nebenan ausrauben? Ich ruf die Polizei!“ Sie packte ihn aufgelöst am Arm und zwang ihn, sich auf den nächstgelegenen Stuhl zu setzen. „TOBY!“, brüllte sie.
„Ma’am.“ Der Typ fasste Lara an der Schulter und schaffte es mit seinem ruhigen Tonfall, ihr Paniklevel spontan um mindestens drei Stufen herunterzufahren, bevor er sich neben Matthew hinsetzte. „Matt und ich hatten einen Zusammenstoß. Es war etwas unglücklich.“
„Was ist los?“ Toby kam aus der Küche geeilt und reagierte ebenfalls entsetzt, sobald er ihn erblickte. Zum Glück wusste Matthew, dass Blut im Gesicht immer gleich hochdramatisch aussah und es sich vermutlich als halb so schlimm erweisen würde, sobald er das erst einmal fortgewaschen hatte. Falls nicht, konnte er die nächsten Tage unmöglich arbeiten.
Gemeinsam mit dem Typ, der sich mittlerweile als Jack vorgestellt hatte und im Lichtschein noch sehr viel größer, muskulöser und beeindruckender wirkte, erklärte Matthew, was genau geschehen war. Lara holte Eiswürfel, die sie in ein Tuch wickelte und ihm in den Nacken drückte.
„Ich wollte niemanden beunruhigen“, versicherte Jack. „Mir war bloß wichtig, dass Matt wirklich in Ordnung ist und die Platzwunde desinfiziert wird. Na ja, und dass niemand denkt, es müsse gleich die Polizei gerufen werden, weil hier jemand brutal zusammengeschlagen wurde.“ Er zwinkerte lustig in Laras Richtung, doch irgendetwas in seinem Tonfall verriet, dass er sich ernstlich Gedanken deswegen gemacht hatte. Bei seinem Körperformat konnte man sich vorstellen, dass es bereits falsche Anschuldigungen gegeben haben könnte. Er hatte nicht die extremen Ausmaße wie ein Arnold Schwarzenegger, war sogar für seine Größe eher schlank. Aber seine Armmuskeln konnte man nur als beeindruckend bezeichnen und es war klar, dass er ein Sportler sein musste, vielleicht sogar auf professioneller Basis.
„Na, so schnell verurteilen wir hier die Leute nicht“, murmelte Toby. „Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert, Matt. Das Kennzeichen von dem Fahrzeug hast du dir vermutlich nicht merken können?“
„Ich hab nicht mal gesehen, was für ein Auto das war“, entgegnete Matthew. Der Blut versiegte allmählich, wofür er dankbar war, er mochte Nasenbluten wirklich gar nicht leiden. Er tupfte noch ein bisschen, nahm dann den Eispacken vom Nacken und schaute hoch.
„Sieht aus, als wäre es vorbei“, sagte Jack bestätigend. „Lara, können Sie mir Einmalhandschuhe geben? Dann könnte ich mir kurz Matts Lippe vornehmen.“
„Natürlich.“ Sie holte Handschuhe aus der Küche, die dort aus hygienischen Gründen unentbehrlich waren, sobald sich jemand an den Händen verletzte. Dazu brachte sie ein feuchtes Handtuch, mit dem Jack vorsichtig das Blut abwischte und -tupfte.
Er sah attraktiv aus. Etwas älter als er, Ende zwanzig bis Anfang dreißig, vermutete Matthew. Dichtes, dunkelbraunes Haar, braun-grüne Augen, Dreitagebart, eine leicht schiefe Nase. War da eine Narbe …? Ja, eine schmale, weiße Narbe spaltete die linke Augenbraue. Es gab Jack etwas verwegenes, trotz der Ruhe, die von ihm ausstrahlte. Seine Hände waren stark und rau, er sprengte beinahe die Latexhandschuhe. Er bewegte sie mit Selbstvertrauen und Routine, offenbar hatte er schon mehr als eine Wunde in seinem Leben versorgt. Es brannte leicht, als er das Desinfektionsspray auftrug und er inspizierte noch einmal die Nase.
Mittlerweile waren die Schmerzen angekommen. Es puckerte und wummerte in Matthews Gesicht und dem gesamten restlichen Körper, ein bisschen flau war ihm ebenfalls und wirklich sicher war er sich gerade nicht mehr, ob ihn das Auto nicht vielleicht doch überrollt hatte. Nichts weiter Schlimmes. Ein tüchtiger Schreck und eben Prellungen. Er würde nachher die schlimmsten davon kühlen. Eine Nacht drüber schlafen, dann sollte es hoffentlich wieder gut sein.
„Definitiv nicht gebrochen“, murmelte Jack. „Glück gehabt! Und auch die Lippe muss nicht genäht werden.“
„Sag mal, kenne ich dich?“, fragte Toby. „Du bist nicht zufällig Jack Highfield?“ Ehrfurcht und Erstaunen klang in seiner Stimme mit, was sich noch vertiefte, als Jack ertappt grinste und nickte.
„Der Basketballer, du weißt doch“, wandte sich Toby erklärend an Lara. Matthew verdrehte innerlich die Augen. Toby war ein riesiger Basketballfan. Er hatte als Teenie selbst gespielt, war aber weder groß gewachsen noch talentiert genug gewesen, um in die Mannschaftsauswahl der High School reingewählt zu werden. Es hinderte ihn nicht, sich begeistert die Spiele seines Lieblingsteams anzuschauen.
„Basketball ist langweilig“, entgegnete Lara offenbar im Reflex und lächelte sofort entschuldigend in Jacks Richtung.
„Hör nicht auf meine Süße. Sie hat keine Ahnung von Sport.“ Toby grinste und strich Lara zugleich versöhnlich über die Wange, was sie knurrend akzeptierte. „Jack Highfield ist ein Superstar, Engelchen! Er hat einen Wahnsinnsscore und ohne ihn wären die Minnesota Black Foxes diese Saison untergegangen! Du rockst, Mann, du rockst total!“ Toby begann begeistert Statistiken runterzuleiern und freute sich über irgendwelche Siege und Situationen, die Jack offenbar geklärt hatte. Der nahm die Begeisterung vollkommen gelassen hin und untersuchte derweil ungefragt Matthews linke Hand, die ziemlich verschrammt vom Sturz war. Auch hier trug er das brennende Desinfektionsmittel auf.
Es war surreal, sich von einem fremden Mann medizinisch versorgen zu lassen, während Lara sie voller Sorge beobachtete und Toby vor Freude über diese unverhoffte Begegnung völlig durchdrehte. Vermutlich hätte sein Bruder persönlich für den Beinah-Unfall gesorgt und Matthew noch mal extra zu Boden geschubst, nur um Jack Highfield in seiner Bar begrüßen zu dürfen. Da er selbst nichts zu dem Fachmonolog beizutragen hatte, den sein Bruder von sich gab, schwieg Matthew und ließ die Behandlung still über sich ergehen.
„So, das sollte wohl reichen“, sagte Jack irgendwann und zog seine Hände weg. „Ich hoffe, du hast sonst bloß blaue Flecken. Wenn irgendetwas zu schlimm aussieht, richtig wehtut oder dich am Laufen hindert, geh auf jeden Fall zum Arzt.“
„Es wird wohl kaum wirklich ernst sein, das Auto hat mich ja nicht erwischt“, murmelte Matthew peinlich berührt. Allmählich wollte er nach Hause, sich in sein Bett verkriechen und seine Ruhe haben. Er mochte es absolut nicht, wenn man so viel Aufheben um ihn machte. Es gab absolut keinen Grund, dass gleich drei Erwachsene um ihn herumstanden und ihn anstarrten, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen oder explodieren.
„Wie wär’s, Matt?“, fragte Jack, streifte die Handschuhe ab und packte sein Spray und das Päckchen mit den sterilen Tupfern weg. „Soll ich dir Karten für das nächste Heimspiel besorgen? Das ist übermorgen. Als Wiedergutmachung … Natürlich zwei Karten.“ Er grinste zu Toby. „Auch drei wären kein Problem, aber ich fürchte, Sie hätten daran keine Freude, Lara.“
„Das ist total nett, nötig ist es natürlich nicht und …“ Matthew wollte höflich ablehnen, denn an Basketball hatte er in etwa so viel Freude und Interesse wie seine Schwägerin, an ihn wäre das Geschenk definitiv verschwendet. Sein Bruder ließ ihm allerdings keine Chance.
„Boah, das wäre so geil! Klar, da kann man gar nicht nein sagen! Wäre genau dein Ding, hm, Matt?“ Toby hypnotisierte ihn mit Blicken, beschwor ihn, bloß nichts Falsches zu sagen. Was sollte man da noch tun, außer feierlich nicken und etwas zu brummen, das nach Bestätigung klang?
„Wunderbar! Ich lasse die Karten herschicken. Ich freu mich auf euch!“
Matthew brummte einen höflichen Dank und starrte dabei zu Boden. Wenigstens musste er seine eigene Adresse nicht offenbaren, er wollte ungern zugeben, in welch mieser Gegend er untergekrochen war. Seine Familie wusste es nicht, Matthew war nicht offiziell angemeldet, Toby bezahlte ihn unter der Hand. Was er für niemanden sonst außer ihm tun würde. Eigentlich war Matthew froh, dass die allgemeine Aufmerksamkeit sich jetzt auf Jack fokussierte und nicht mehr auf ihn. Er fühlte sich ziemlich zerschlagen und definitiv nicht als Held dieser Geschichte.
Welch ein Glück, dass er hier auf einen Riesenfan gestoßen war. Bei Licht betrachtet sah Matts Gesicht wirklich schlimm aus und es war Jack mehr als peinlich, dass er dies mit seiner Unaufmerksamkeit verschuldet hatte. Normalerweise achtete er besser auf seine Mitmenschen. Mit seinen 2,12 m überragte er die meisten Leute und als Teenager war er so verdammt unkoordiniert gewesen, dass er häufiger mal jemanden umgerannt oder Gegenstände zerstört hatte, ohne es zu wollen. Schon in der fünften Klasse war er so groß wie die Kids der Abschlussklasse gewesen und seine Eltern hatten mehr als einen Heulkrampf erlitten, wenn es darum ging, ihm Klamotten, Schuhe oder einen passenden Bürostuhl zu kaufen. Für Sport hatte er in dem Alter nie etwas übrig gehabt, er war damit beschäftigt gewesen, seine Koordination auf die Reihe zu bekommen, war häufig umgeknickt und Treppen hinabgefallen, weil er teils drastische Wachstumsschübe hatte. Seine Lehrer wollten ihn zu Hürdenlauf und Weitsprung überreden, und das Footballteam war ebenfalls sehr interessiert. Für ihn war das alles ein Albtraum, mit dem er nichts zu tun haben wollte, obwohl auch sein Hausarzt ihm gut zuredete, Krafttraining zu machen, um seine Muskeln und Gelenke zu stärken. Erst in der High School war er zum Basketball gekommen und hatte dort sofort derart viel Talent bewiesen, dass die Idee an eine Profikarriere aus dem Nichts aufgekommen war. Quasi über Nacht war seine abnorme Größe kein Problem mehr, sondern ein Vorteil, für den er gefeiert wurde. Seine Familie, die wegen seines Riesenwuchses stets besorgt um ihn gewesen war – sein Vater war knapp über 1,70 m, seine Mom mehr als fünfzehn Zentimeter kleiner – konnte plötzlich stolz auf ihn sein. Zum Glück war seine Größe weder hormonell noch tumorbedingt, sondern einfach eine Laune der Natur – mütterlicherseits gab es einige groß gewachsene Männer, die die 1,90 m überschritten hatten. Bis man das gesichert herausgefunden hatte, musste Jack sich endlosen Tests und Untersuchungen unterwerfen, die nicht unbedingt schmerzhaft, dafür sehr beängstigend und belastend gewesen waren.
Mittlerweile kümmerte sich ein Team aus Profis darum, dass er in perfektem Gesundheitszustand war. Physiotherapeuten, Kardiologen, Orthopäden, Ernährungsexperten, um nur ein paar zu nennen. Wie oft, wie lange, wie hart er welche Muskelgruppe trainierte, was er aß, wie viele Stunden er schlief, nichts wurde dem Zufall überlassen. Er war der Besitz seines Teams, ein Asset, eine Wertanlage. Seine Fähigkeit, gemeinsam mit seinen Kollegen einen Ball häufiger in einen Korb zu versenken als das gegnerische Team, wurde mit sehr viel Geld bedacht. Ein Teil des Geldes war für ihn bestimmt, den Rest sackten seine Besitzer ein. Jack hatte da keine romantischen Illusionen, es könnte sich irgendwie anders verhalten. Wenn er kein Geld mehr einbrachte, würde man ihn abstoßen und mühelos ersetzen. Sollten die Sprunggelenke, die Knie, die Hüften irgendwann nicht mehr mitmachen, endete seine Karriere. Wurde er zu alt und die Reflexe dadurch langsamer, die Sehfähigkeit schlechter, die Erholungsphasen nach Verletzungen zu lang, war es vorbei. Tat er etwas, was dem Image des Teams schadete, endete es genauso schnell. Ein Spieler, der irgendwelche harmlosen jungen Kerle zusammenschlug, landete natürlich nicht sofort auf der Straße, aber es würde ihm keine Bonuspunkte einbringen.
Darum plauderte er noch ein wenig mit den beiden Barbesitzern, die wirklich nett waren, stellte ein Autogramm für Toby aus, machte ein Selfie mit ihm. Nach einem Kompliment über den köstlichen Duft schwatzte Lara ihm eine Portion Fitnesssalatbowl zum Mitnehmen auf. Die klang, als würde sie in seinen Diätplan passen, darum lächelte er, bestand darauf, das Essen zu bezahlen und verabschiedete sich, als Gäste lauthals lachend und schwatzend hereinkamen und sich an einen Tisch setzten.
„Also dann, ihr müsst arbeiten und ich muss langsam los.“ Er nickte Matt zu, der sich so gedreht hatte, dass die Gäste sein Gesicht nicht sehen konnten, und die blutigen Taschentücher einsammelte.
„Denk daran, die Prellungen zu kühlen“, sagte er zu ihm. „Morgen sieht es bestimmt schon wieder okay aus. Gute Besserung.“ Er zögerte, unsicher, ob er sagen sollte, was ihm gerade durch den Kopf ging. „Soll ich dich vielleicht schnell nach Hause fahren? Mit deinen Verletzungen solltest du nicht selbst fahren, falls dir schlecht wird oder die Nase wieder zu bluten beginnt.“
„Oh! Nein, nein, danke. Es geht bestimmt auch so, du hast wirklich mehr als genug getan. Ich komme nach Hause, keine Sorge.“ Matt wirkte erschrocken und der Blick, den er seinem Bruder zuwarf, war schwer zu interpretieren.
„Sei nicht so verdammt stolz!“, zischte Toby. Lara war derweil zu den Gästen gegangen und nahm die Bestellung entgegen; andernfalls hätte sie garantiert auch etwas dazu zu sagen. „Du kannst unter gar keinen Umständen fahren, da hat Jack vollkommen recht. Wenn er es dir anbietet, dann nimm es an.“
Manche Leute glaubten, Promis wären irgendwie Heilige. Sie würden ihnen auch ihre Frauen und kleinen Kinder anvertrauen, beseelt von der absoluten Gewissheit, dass der Star, den man so großartig fand, niemals irgendetwas Böses tun könnte und darum vertrauenswürdig sein musste. Toby schien zu dieser Sorte zu gehören, so eifrig, wie er seinen Bruder drängte, bei einem wildfremden Mann ins Auto zu steigen. Klar, die Gefahr, dass er heimlich ein sadistischer Serienkiller sein könnte, war nicht allzu groß, und trotzdem … Wäre er bloß ein Klempner, hätte Toby vermutlich vorgeschlagen, ein Taxi zu rufen.
So musste Matt jedenfalls seinen Autoschlüssel abgeben, was er mit zusammengepressten Kiefern und entnervtem Blick auch tat, und folgte Jack dann hinaus, nachdem er einen unverständlichen Abschiedsgruß gemurmelt hatte. Von den neuen Gästen hielt er das Gesicht abgewandt, als er an ihnen vorbeiging, und Jack tat es ihm gleich, weil er keine Lust auf noch mehr Fans hatte, die ihn erkennen könnten.
Draußen seufzte Matt.
„Es tut mir leid. Sorry, wirklich. Mein Bruder ist sehr fürsorglich und er hält mich manchmal für unzurechnungsfähig oder vielleicht vergisst er auch gelegentlich, dass ich vor einer Weile erwachsen geworden bin. Vielen Dank für deine Hilfe, du musst meinetwegen nicht noch mehr Zeit verschwenden und irgendwelche Umwege fahren. Ich geh zu Fuß zur Busstation, da sollte in ungefähr zwanzig Minuten der nächste kommen, und der setzt mich quasi vor der Haustür ab. Ehrlich, alles okay. Ich bin keine Jungfer in Not.“
Mit diesen Worten winkte Matt ihm zu und ging derart zügig davon, dass Jack keine Möglichkeit hatte, ihn zurückzuhalten.
Nun denn. Reisende sollte man nicht aufhalten, und so wie Matt gesprochen hatte und sich bewegte, ging es ihm offenkundig gut genug, um ihn allein zu lassen. Wäre er eine junge Frau, würde sich Jack vermutlich nicht abschütteln lassen und sie zumindest bis zur Haltestelle begleiten und warten, bis sie in dem Bus saß. Diese Gegend war nicht die schlechteste, dennoch lungerten manchmal sehr merkwürdige Gestalten an den Ecken. Ein junger Kerl wie Matt war nicht interessant genug für die Drogensüchtigen, da er offenkundig kein Geld besaß. Darum ließ Jack ihn mit einem Schulterzucken ziehen. Denn ja, er wollte auch langsam heim und schauen, ob das Essen, das er unverhofft erhalten hatte, das Richtige für ihn war.
Es war eine kleine Übertreibung gewesen, dass der Bus quasi vor der Haustür hielt, denn ein paar Minuten laufen musste Matthew schon. Schlimm war das nicht, die kühle Nachtluft und Stille um ihn herum gefiel ihm. Um die Uhrzeit war es hier draußen noch nicht allzu bedenklich. Erst ab etwa zehn, elf Uhr nachts fuhren vermehrt Polizeistreifen mit Blaulicht durch die Gegend. Dann hatten die Betrunkenen, die Drogensüchtigen, die Prostituierten beziehungsweise deren Kunden ihren höchsten Aggressionspegel erreicht und es konnte für harmlose Leute gefährlich werden, draußen herumzulaufen. Gangs gab es in dieser Ecke glücklicherweise nicht. Matthew reichte es allerdings auch so und er wollte garantiert nicht ewig hier wohnen bleiben.
Als er das Haus erreichte, in dem er eine Bleibe gefunden hatte – ein enges, zugiges Zimmer in einer WG – atmete er noch einmal tief durch. Diese WG war nicht gerade heimelig und eigentlich war es hier draußen nicht unangenehm. Der Frühling begann sich sehr langsam durchzusetzen, die Luft war nicht mehr länger frostig kalt und die Nacht sollte trocken bleiben. Sein Gesicht pochte. Seltsamerweise war die Lippe gerade schlimmer als die Nase und er musste sich jetzt endlich ins Warme begeben, ein Coolpack mitnehmen, ins Bett fallen. Wie er heute Zähne putzen sollte, war ihm ein Rätsel. Essen würde jedenfalls ausfallen, ihm war übel und der Gedanke an Nahrung schlichtweg unerträglich.
Vielleicht hätte er sich doch fahren lassen sollen, dann würde er längst unter seiner Decke liegen. Aber nein, er hätte Jack auf keinen Fall noch mehr ausnutzen wollen. Wie Toby sich über die Karten gefreut hatte, die er sich mit seinem Fan-Getue quasi erschlichen hatte … Ein bisschen peinlich war es schon mit anzusehen gewesen. Vermutlich war Jack an solche Dinge gewöhnt und eigentlich war er ziemlich cool und bodenständig für einen Sportsuperstar und Multimillionär. Zumindest ging Matthew davon aus, dass der Mann riesige Summen auf dem Konto liegen haben durfte.
Statt noch länger herumzuzögern, schloss er die Haustür auf und nahm die Treppe in den dritten Stock.
In diesem Wohnsilo lebten hunderte Menschen. Hinter den dünnen Wänden und noch dünneren Türen grellten Streitgespräche, Kinderweinen, Lachen, Musik, Beschallung von Fernsehern in den Flur. Ein schäbiger Flur, Putz rieselte an sämtlichen Ecken, weiß waren die Wände schon lange nicht mehr. Zumindest stank es nicht allzu sehr. Hinter der Tür seiner eigenen Wohnung war es still. Für einen Moment stellte sich Matthew vor, seine beiden Mitbewohner könnten noch unterwegs sein. Auf so viel Glück hoffte er allerdings nicht ernstlich, die Chancen standen da wirklich eher schlecht. Sowohl Kenneth als auch Zack waren arbeitslos und hockten praktisch den gesamten Tag in der Bude. In sehr regelmäßigen Abständen raffte Kenneth sich auf und fand einen Gelegenheitsjob, den er allerdings genauso schnell auch wieder verlor, weil er … nun ja … intellektuell vom Leben etwas herausgefordert war, um es sehr behutsam zu formulieren. Das merkte man im Gespräch nicht unbedingt, er war jung, redselig, ein recht hübscher Kerl noch dazu und konnte sich hervorragend selbst verkaufen. Dann kamen irgendwelche Schwierigkeiten, mit denen nicht zu rechnen war, und schon brach er nervlich zusammen, zerstörte versehentlich teure Maschinen oder brüllte Kunden an. Lesen und Schreiben beherrschte er kaum, selbst die einfachsten Grundrechenarten überstiegen seine Fähigkeiten. Das überspielte er mit Charme und Energie und landete so ständig neue Jobs, auch wenn es sinnlos war. Eigentlich bräuchte er professionelle Hilfe, es war verantwortungslos, von ihm zu erwarten, er könne sich selbstständig durchs Leben schlagen. Da er sich weigerte, sich an die Behörden zu wenden, gegen die seine Eltern ihm abgrundtiefes Misstrauen anerzogen hatten, und selbige ihn vor einem Jahr ohne Vorwarnung einfach auf die Straße gesetzt hatten, versuchte er irgendwie klar zu kommen.
Zach hingegen war einfach ein Loser, der ständig irgendwelche betrunkenen Weiber anschleppte, mit denen er die halbe Nacht wilde Partys feierte.
Momentan war es allerdings dunkel und still in der Wohnung. Es roch nach kalter Pizza, Zachs Zigaretten und feuchtem Muff, da lediglich Matthew die Fenster regelmäßig aufriss, um frische Luft hineinzulassen. Ja, war schon großartig, diese Bude! Und die Nachbarn erst … Na ja. Dafür war die Miete billig und das war der entscheidende Punkt. Alles war besser, als auf der Straße überleben zu müssen, selbst eine verräucherte Chaosbude wie diese hier.
Zach war also vermutlich draußen in den Bars unterwegs und versuchte, eine Frau für die Nacht aufzureißen, während Kenneth entweder schlief oder einen Job gefunden hatte, der ihn bis in den Abend hinein beschäftigte.
Matthew schlich auf Zehenspitzen ins Bad, nur für den Fall, dass seine Mitbewohner schliefen. Er wollte ihnen nicht begegnen, um Erklärungen abgeben zu müssen. Das Badezimmer war ein winziges, klaustrophobisch enges Räumchen mit Toilette, Mini-Waschbecken und Dusche. Als er hier eingezogen war, hatte Matthew diese Kammer des Hygiene-Schreckens erst einmal grundgereinigt, was bei der Toilette einer Mutprobe gleichgekommen war. Die Duschwanne war genauso braun wie die Fliesen gewesen, und der Abfluss völlig verstopft. Mittlerweile funktionierte alles und zumindest Kenneth bemühte sich gemeinsam mit ihm, den sauberen Zustand aufrecht zu erhalten.
Immerhin gab es beinahe durchgängig warmes Wasser, darum wollte Matthew auch gar nicht meckern.
Obwohl er sich innerlich gewappnet hatte, erschreckte ihn sein eigenes Spiegelbild. Kein Wunder, dass die Leute im Bus ihn angestarrt hatten und vor ihm zurückgewichen waren. Seine Oberlippe war einseitig grotesk geschwollen, die Nase wirkte ebenfalls aufgedunsen, an der linken Wange entwickelte sich ein blauer Fleck, und man sah noch Blutspuren am Hals. Er wirkte wie ein Unfallopfer. Oder wie ein Teilnehmer an illegalen Straßenkämpfen. So bleich wie er war, mit diesen beinahe absurd tiefen Augenringen, könnte er sich auch als Statist beim Film melden, um die Leiche in einer Krimiserie zu spielen. Keine Schminksession notwendig, einfach auf die Straße legen und starr in den Himmel blicken.
Matthew wusch mit kaltem Wasser die letzten Blutspuren ab und schlappte dann müde in die Küche, um sich Eiswürfel zu holen. In der vagen Hoffnung, dass überhaupt noch welche da waren. Zach war gut darin, ständig alles zu benutzen, was ihm nicht gehörte, ohne für Ersatz oder Nachschub zu sorgen.
Und nein, Matthew konnte diesen Kerl wirklich nicht gut leiden.
„O Gott!“ Eine fremde Frau jenseits der Vierzig stand plötzlich vor ihm und starrte ihn an. Sie trug nichts als einen pinkfarbenen Slip, von dem man allerdings nicht viel sah – sie schien vor einiger Zeit sehr viel Gewicht verloren zu haben, lose Haut hing traurig an ihrem Körper herab. An für sich wäre es zu beglückwünschen, wenn sie zu einem gesünderen Ich fand, doch die Einstiche in ihrer Armbeuge sprachen eher dafür, dass es andere Gründe als Gemüse und Verzicht auf Fast Food und viel Bewegung für diese Abnahme gab.
„Du siehst echt kacke aus“, stellte sie mit Nachdruck fest. Matthew konzentrierte sich, damit er das Kompliment nicht versehentlich zurückgab, obwohl es der Wahrheit entsprach. Sie war eine wandelnde Ruine. Er wollte dennoch auf keinen Fall eine Ohrfeige riskieren.
„Du gehörst zu Zach?“, fragte er stattdessen und ignorierte angestrengt ihre Nacktheit.
„Ja. Er ist gerade noch mal los, ein paar Joints organisieren.“ Sie wandte sich dem Kühlschrank zu und griff nach einer Orangensaftpackung im Türfach.
„Vergiss es!“, knurrte Matthew und nahm sie ihr ab. „Die gehört Kenneth. Siehst du? Steht ein Name drauf. Das da unten ist mein Fach. Ebenfalls tabu. Du darfst dich ausschließlich bei Zach bedienen.“ Er wies auf das vollkommen leere Fach. Dies war die einzige Hausregel, die von allen Bewohnern als Heiligtum anerkannt wurde. Niemand vergriff sich am Essen in den Fächern der anderen, ohne ausdrücklich darum zu bitten.
„Kacke“, murmelte die Frau, zauberte ein Handy hervor – Matthew wollte nicht darüber nachdenken, wo genau sie das wohl reingeklemmt haben mochte – und rief Zach an. „Bring was zu essen mit, in eurer Bude ist nichts da. Was? Na, dann halt ein Joint weniger. Gras macht hungrig, schon vergessen? Die Kohle, die ich dir gegeben habe, sollte für zwei Joints und bisschen Verpflegung ausreichen. Boah, nun mach schon, du … Hasi, du brauchst Energie und ich auch, sonst wird das nichts mit dem Ficki-Ficki. Ja. Beeil dich.“ Sie schnitt eine Grimasse, als sie Matthews völlig verblüfften Blick bemerkte, und zauberte das Handy wieder weg. „Man muss Prioritäten setzen“, erklärte sie ihm feierlich. „Jungs wie Zach verstehen das. Wenn ich ihm schon alles auslegen muss, weil er halt ein totaler Verlierer ist, dann muss er auch nach meinen Regeln spielen.“
„Warum tust du dir diesen Knaller überhaupt an?“, fragte Matthew und füllte eine Schale mit sämtlichen noch vorhandenen Eiswürfeln, was eine ziemlich jämmerliche Menge ergab.
„Krebs“, entgegnete sie und zuckte mit den Schultern. „Kein Geld für die Chemo. Also mach ich jede Nacht Party, solang es noch geht. Ich hab keine Wohnung mehr. Zach hat ’nen Schwanz, der funktioniert, ein Dach überm Kopf, ein Bett, und er nimmt mich. Reicht.“ Sie wandte sich ab und verschwand in Zachs Zimmer.
Halleluja.
Für einen kurzen Moment kämpfte er mit sich und der impulsiven Frage, ob er die kostbaren Eiswürfel mit ihr teilen wollte, denn ihr ging es eindeutig schlechter als ihm. Andererseits schien es ihr egal zu sein, ob sie ihren Schnaps gekühlt trinken konnte oder nicht und sie hatte nicht neidisch gewirkt, als sie auf die Schüssel geblickt hatte.
Matthew beschloss, ihr den Lärm zu verzeihen, den sie gleich mit Zach produzieren würde. Das würde ihm schwer genug fallen. Noch mehr Altruismus konnte heute keiner mehr von ihm verlangen.
Die krebskranke Lady hieß Tonya. Jedenfalls war das der Name, den Zach zwischen den üblichen röchelnden Grunzlauten ausstieß, die er beim Sex immer von sich gab.
Als Matthew ihn das erste Mal gehört hatte, war er tatsächlich besorgt gewesen, hatte an die Tür geklopft und gefragt, ob er den Notarzt rufen sollte. Es klang, als würde ein großes, schweres Tier unter entsetzlichen Qualen verenden. Mittlerweile hatte er sich halbwegs daran gewöhnt.
Tonya wiederum stöhnte, als würde sie für die Hauptrolle eines drittklassigen Pornos üben wollen. Vermutlich war das Show, damit Zach schneller fertig wurde. Oder sie hatte tatsächlich Spaß, wer wusste das schon? Ein einzelner Joint konnte aber wohl nicht ausreichen, um sich dieses Elend hier schön zu rauchen.
Leider war Zach sehr ausdauernd und die beiden ließen auch noch Musik laufen, irgendetwas Hartes, Schnelles, Elektronisches.
An Schlaf war nicht zu denken.
Nun ja. Die Schmerzen halfen auch nicht gerade.
Matthew kehrte in die Küche zurück. Er hatte diffusen Hunger, aber immer noch kein Bedürfnis, etwas zu essen. Stattdessen setzte er sich einen Tee auf, in der Hoffnung, dass ein heißes Getränk für Ablenkung und Beruhigung sorgen würde.
„Hey, Kumpel.“ Kenneth erschien aus dem Nichts, betrachtete ihn einen Moment lang konzentriert, was wohl bedeutete, dass er die Verletzungen wahrgenommen hatte und überlegte, wie er darauf reagieren sollte. „Geht es dir gut?“, fragte er und ließ sich seufzend auf den einzigen funktionierenden Küchenstuhl sinken.
„Läuft. Was ist mit dir?“ Prüfend musterte Matthew ihn. Kenneth plapperte normalerweise fröhlich, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, und er neigte eigentlich nie zum Seufzen.
„Bin mir nicht sicher.“ Kenneth wies mit dem Kinn in Richtung Zachs Tür. Quietschendes Lachen und Grunzen bezeugten, dass der Anlauf für die nächste Runde startete. „Die Neue klingt nicht so schlimm wie die von … von … Du weißt schon. Die Tussi, die die ganze Zeit Fick mich, Baby, yeah! gebrüllt hat. Die war schlimm. Ich wusste nicht, dass man so oft hintereinander Fick mich sagen kann, ohne sich zu verhaspeln.“
„Die vom Sonntag war das. Ja, die war anstrengend. Hatte zwischendurch Sorge, dass sie einen Schlaganfall erleidet, so wie sie geklungen hat. Aber hey, Mann, was ist los? Du siehst nicht gut aus.“
„Hm … Keine Ahnung. Hab in einem Kühlhaus geschuftet“, murmelte Kenneth, der tatsächlich seltsam bleich war. „Vorgestern, gestern, heute. Waren verstauen. Kisten aus dem Lager schleppen. Da ist es echt beschissen kalt. Und jetzt tut mein Hals weh und mir ist kalt. Hab die Miete bezahlt und wenn ich morgen noch mal die Schicht schaffe, kann ich mir Essen kaufen. Vorräte. Und neue Schuhe. Vielleicht sogar zum Friseur. Wäre gut. Mir ist bloß so kalt.“
Er trug einen dicken Wollpulli und sah mit seiner hageren Gestalt darin seltsam verloren aus. Sein unordentlicher Blondschopf ließ ihn jünger als die zweiundzwanzig Jahre wirken, die er war, woran auch der noch unordentlichere, ziemlich fusselige Bart nichts änderte. Matthew berührte ihn an der Stirn, die wie erwartet glühend heiß war.
„Du wirst krank, Mann. Hast du Medikamente da?“
„Nee. Meinst du wirklich? Ich kann jetzt nicht krank werden! Ich muss morgen arbeiten, da kommt eine größere Lieferung und ich darf vier Stunden bleiben statt wie bislang bloß zwei. Daniel hat mich gelobt. Der Vorarbeiter. Er meinte, ich würde was wegschaffen.“ Tief betrübt ließ Kenneth den Kopf hängen. Er war noch nicht sehr oft in seinem Leben gelobt worden.
Matthew seufzte und stellte ihm die Tasse mit seinem Tee vor die Nase.
„Trink das!“, kommandierte er. „Tee ist gut für dich. Ich besorge dir ein paar Medikamente und dann legst du dich schlafen.