Kill Girl - Mörderisches Begehren - A.R. Torre - E-Book

Kill Girl - Mörderisches Begehren E-Book

A.R. Torre

4,3
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das KILL GIRL ist zurück – und ist gefährlicher als je zuvor!

Als Webcam-Girl verdient Deanna Millionen im Internet. Was ihre Kunden nicht ahnen: Deanna, die sie als »JessReilly19« kennen, wird von Mordfantasien gequält und hat ihr schäbiges Apartment seit Jahren nicht verlassen – aus Angst, jemanden zu töten. Dann lernt sie den UPS-Boten Jeremy kennen. Er verliebt sich in Deanna ... und begibt sich damit in tödliche Gefahr. Denn einer ihrer Kunden schreckt vor nichts zurück: Um an JessReilly19 heranzukommen, bringt er Jeremy in seine Gewalt. Doch er hat die Rechnung ohne das Kill Girl gemacht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 511

Bewertungen
4,3 (16 Bewertungen)
10
1
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Als Webcam-Girl verdient Deanna Millionen im Internet. Was ihre Kunden nicht ahnen: Deanna, die sie als »JessReilly19« kennen, wird von Mordfantasien gequält und verlässt ihr schäbiges Apartment so gut wie nie – aus Angst, jemanden zu töten.

Als einer von Deannas Kunden zu aufdringlich wird, lässt sie ihre Seite für ihn sperren. Was Deanna nicht weiß: Dieser Kunde ist Marcus Renza, einer der größten Grundbesitzer Floridas, der seine sadistischen Gelüste ungehemmt auslebt. Er ist besessen von JessReilly19 und schreckt vor nichts zurück, um sie in seine Gewalt zu bringen. Als sein Internetspezialist Deannas wahre Adresse herausfindet, gerät sie in tödliche Gefahr …

Autorin

A.R. Torre ist das Pseudonym der amerikanischen Autorin Alessandra Torre. Nach dem überwältigenden Erfolg ihres ersten erotischen Romans, den sie als E-Book selbst veröffentlichte und der bis an die Spitze der amerikanischen E-Book-Charts kletterte, rissen sich die Verlage förmlich um die junge Autorin.

Alessandra Torre lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im sonnigen Florida.

Von A. R. Torre bereits erschienen

Kill Girl – Tödliches Verlangen

Kill Girl – Mörderisches Begehren

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet undwww.twitter.com/BlanvaletVerlag

A.R. TORRE

KILL

MÖRDERISCHES BEGEHREN

GIRL

EROTIC THRILLER

DEUTSCH VON VERONIKA DÜNNINGER

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»Do Not Disturb« bei Redhook Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by A. R. Torre

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company,

New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Bitzer

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

WR · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17207-7V001

www.blanvalet.de

Für Dad. Danke, dass du immer stolz auf mich warst – du bist der beste Vater, den sich ein Mädchen wünschen könnte. Ich bin so glücklich, dich zu haben.

In Marathon, Florida, bei Meile zwei der alten Seven Mile Bridge, steht ein Baum. Er ist durch einen Riss im Asphalt gewachsen, hat als dünner Zweig begonnen, wurde dann zu einem Trieb und ist jetzt eine junge Kiefer, einen Meter fünfzig hoch, mit Ästen, die sich über die Breite eines Wagens ausdehnen. Der Baum steht auf dem kargen Streifen Beton, der den Überrest der alten Brücke darstellt. Meilenweit ging die asphaltierte Straße, bis sie in einer Sackgasse mitten in der Luft endet. Das Mittelstück der Brücke wurde vor Jahren abgerissen, um zu verhindern, dass sich menschliches Gewicht je wieder darauf niederlässt. Jetzt bietet diese Insel aus gerissenem Untergrund nur noch Vögeln, dem Regen, der Salzluft und diesem Baum ein Zuhause. Sie ist ein Ding der Unmöglichkeit, diese Kiefer, weil sie an einem solch unwirtlichen Ort wächst. Kein Erdreich, keine Nährstoffe, die sie daraus aufnehmen könnte, nur harter, unnachgiebiger Beton umgibt ihre Wurzeln. Und doch steht sie da. Von einem Trieb zu einem Baum herangewachsen, hat sie mit ihren Wurzeln den Beton zur Seite geschoben, hat sich von nichts ernährt und ist dennoch gediehen, hat Hurrikane, Tornados und Dürren überstanden, hat mit hemmungslosem Vergnügen Zweige und Nadeln hervorgebracht.

Ich sah den Baum, als ich fünfzehn war, den Kopf gegen ein warmes Fenster gelehnt. Ich hatte Kopfhörer aufgesetzt, und die Musik übertönte die unaufhörlichen Geräusche von Summer und Trent. Unsere Familie war nach Miami geflogen, hatte sich dort einen SUV gemietet und war hinunter nach Key West gefahren. Der Baum erregte meine Aufmerksamkeit, und ich hielt den Blick auf ihn geheftet, während unser Wagen an ihm vorbeirollte, über die neue Brücke gleich neben der abgerissenen alten. Sekunden später verlor ich ihn aus den Augen, während mein Vater weiterfuhr. Damals faszinierte mich der Baum.

Heute macht er mir schreckliche Angst.

Denn er führt mir eines deutlich vor Augen: Sosehr ich meine Triebe vielleicht unterdrücken kann, sosehr ich mich selbst vor Fallstricken und Auslösern schützen kann … es kann überleben. Die Finsternis in meinem Verstand kann leben, kann zu etwas heranwachen, das zu groß ist, um es unter Kontrolle zu halten.

TEIL 1

»Küss mich. Jetzt.«

1

Ich erinnere mich an den Nervenkitzel vor meinem ersten Date. Mein erstes Date war ein Junge namens Josie. Sein Name hätte der erste Warnhinweis sein sollen. Mich hätte auch stutzig machen müssen: sein ausgesprochenes Stilgefühl, seine Filmauswahl (Hairspray) und seine Neigung, aufgeregt mit den Händen herumzufuchteln, während er die letzte Staffel von America’s Next Top Model beschrieb. Aber ich war fünfzehn, naiv und das ganze Dinner über wortkarg und nervös, während ich unter dem Tisch im Ruby Tuesday in einem fort meine Hände knetete und mich fragte, was ich mit ihnen tun würde, wenn er mich am Ende des Dates küsste.

Er küsste mich nicht. Es gab einen verlegenen Händedruck, bevor ich in mein Elternhaus flüchtete. Den Rest des Abends drückte ich schmollend mein Gesicht ins Kissen und analysierte jeden Teil des Dates. Ich versuchte zu ergründen, was mit mir nicht stimmte. Ohne Penis geboren zu sein – das war mein Problem. Aber selbst eine gute Fee hätte wohl nur in ihr kunstvoll besticktes Taschentuch gekichert und mir die Schulter getätschelt, wenn ich diesen Wunsch geäußert hätte.

Jetzt, acht Jahre später, ist dieser Nervenkitzel vor dem ersten Date wieder da. Es ist jedoch eine völlig andere Art als damals. Ich starre Jeremy über den Tisch hinweg an, während ich mich frage, ob ich das Date überstehen werde, ohne zu versuchen, ihn zu töten.

Die gute Nachricht ist, dass er eindeutig hetero ist. Hetero auf eine typisch amerikanische, wunderbare Art, neben der Josie wie die fleischgewordene Regenbogenfahne der Gay-Community aussieht. Ich konzentriere mich auf seine Züge, ein markantes Gesicht mit dunkelbraunen Augen, umrahmt von dichten Wimpern. Es sind Augen, die mich genau beobachten, während ein Lächeln diesen sinnlichen Mund umspielt, der zwei perfekte, perlweiße Zahnreihen verbirgt.

Ein Lächeln? Er sollte nicht lächeln. Ich sehe ihn stirnrunzelnd an, was ein Glucksen auf der anderen Seite des Tischs auslöst.

»Hör auf, so ein mürrisches Gesicht zu machen.«

Er streckt eine Hand nach meiner aus, schnappt sie sich und hält sie fest, bevor ich sie unter dem Tisch verstecken kann.

»Damit siehst du erst recht sexy aus, und …«

Er hält einen Augenblick inne, während er die Oberseite meiner Hand genau mustert. Zwischen seinen riesigen Händen sieht sie kleiner aus, als sie ist.

»Ich kann dich nicht schon jetzt auf die Palme gebracht haben. Wir haben noch nicht mal das Essen bestellt.«

Das Essen. Meine morbiden Gedanken werden von kulinarischen Tagträumen abgelenkt. Seit meinem einmaligen erfolgreichen Ausflug ans Tageslicht spiele ich mit dem Gedanken, meine Lebensmittel selbst einzukaufen. Meine Essenslieferungen abzubestellen und die Welt rohen Fleischs, frischen Obstes und regionaler Produkte zu erobern. Gesunde Ernährung ist mit Sicherheit eine angemessene Ausrede, um die Wohnung zu verlassen – auch wenn ich weiß, dass es eine Ausrede bleibt. Ich sehe auf die Speisekarte, berühre sie zögernd am Rand, klappe sie auf und werfe einen Blick in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Alle Gedanken an Tod und Gemetzel lösen sich in Luft auf, als ich die Fotos der gebratenen Steaks sehe, die zwischen den Vorspeisen und den Desserts abgebildet sind. Es sieht so harmlos aus, als wäre es das Normalste der Welt, sich ein dickes Stück frischen roten Fleischs zu bestellen – eines, das nur mit einem brutzelnden Grill und sonst nichts in Berührung gekommen ist. Ich schlucke in der Sorge, ich könnte im wahrsten Sinne des Wortes über die laminierten Seiten sabbern.

Wir werden von einer Bedienung unterbrochen, einer erschöpft wirkenden Bohnenstange mit tiefen Falten und krausen Haaren, die uns kaum eines Blickes würdigt, während sie ihren Bestellblock zückt. »Was nehmen Sie?«

Jeremy sieht mich an. »Bitte, nach dir.«

Mein Blick huscht über die Seite. Die Unentschlossenheit nagt an mir, während ich von einer köstlichen Speise zur nächsten sehe. »Ich nehme das Filet, bitte.«

»Beilage?«, fragt sie gedehnt.

»Backkartoffel, bitte. Gefüllt.«

Der Gedanke an frischen Sauerrahm und, oh mein Gott!, echte Butter jagt einen Schwall von Euphorie durch meinen Körper. Jeremy sieht mich seltsam an, und weil ich meine Mundwinkel an den Ohrläppchen spüre, wird mir bewusst, dass ich breit grinse.

»Salat?«

»Ja, bitte. Mit Ranch-Dressing. Und könnte ich auch eine Portion Brokkoli bekommen?« Mein Blick klebt an der Gemüseliste fest. »Und Champignons«, ergänze ich rasch.

Die Bedienung hält ihren Stift in der Schwebe, während sie in meine Richtung sieht. Ihr Stift. Er ist billig, ein Kuli, das Ende abgekaut, sodass es nur noch ein krummes, knotiges Stück Plastik ist. Als mein Blick darauffällt, frage ich mich, ob er – wenn man schnell genug damit zusticht – die sonnengebräunte Haut ihres Halses durchdringen würde.

»Und grüne Bohnen.«

Ihr Mund verzieht sich zu einer Art Grimasse.

»Bitte«, füge ich hinzu.

Bitte. Bitte lass mich über deinem Körper stehen und dir beim Sterben zusehen. Ich werde noch ein »Ach bitte, bitte!« hinzufügen, wenn du mir versprichst, stark zu bluten.

Jeremy bestellt rasch, und der Krauskopf flüchtet, als wüsste sie, dass sie dem Tod nur knapp entronnen ist. Ich sehe ihr nach, bis ich von Jeremys Stimme in die Gegenwart zurückgeholt werde.

»Hungrig?«

Sein ironischer Tonfall gibt mir zu denken, und ich hebe den Kopf und sehe ihn an. »Entschuldige. Ich habe nicht an die Kosten gedacht.« Mein Blick fällt wieder auf die Speisekarte. »Ich hatte vor, meinen Anteil selbst zu bezahlen.«

»Es ist ein Date, du bezahlst nicht. Und die Kosten sind mir egal. Es ist nur …« Er zuckt mit den Schultern und lächelt mich an. »Du bist so zierlich. Bei den ganzen Diätmenüs, die du geliefert bekommst, dachte ich wohl, du wärst so ein Salat-ohne-Dressing-Mädchen.«

Ich grinse. »Die Diätpläne sind einfach. Und erfordern nicht viel Nachdenken. Ich habe seit … Es ist schon eine Weile her, seit ich zuletzt etwas Richtiges gegessen habe.«

Ich führe den Gedanken nicht weiter aus. Er weiß es. Jeremy weiß, dass ich mich seit drei Jahren in meiner Wohnung einschließe, dass heute, abgesehen von meinem verheerenden Road Trip vor zwei Wochen, das erste Mal ist, dass ich Apartment 6E verlasse.

»Vielleicht könnte ich mal für dich kochen.«

Ich lächele matt. »Warten wir ab, wie es heute Abend läuft.«

»Bis jetzt warst du artig.«

»Sie hat noch nicht die Steakmesser gebracht.«

Er lacht, als wäre es witzig, als würde keine echte Gefahr drohen. Ich lege die Stirn in Falten.

»Hör auf damit«, sagt er grinsend. »Und bitte entspann dich ein bisschen. Ich werde nicht zulassen, dass du mir etwas antust.«

Ich werde nicht zulassen, dass du mir etwas antust. Eine seltsame Ankündigung für ein erstes Date – aber eine, die gut zu uns passt.

»Sei dir nicht so sicher, dass du mich aufhalten kannst«, warne ich ihn.

»Kannst du bitte wieder nackt sein, wenn du es das nächste Mal versuchst? Das hat mir gefallen.«

Sein ernster Ton überrumpelt mich, und ein Lachen perlt auf einmal in mir hoch, hemmungslos auf seiner unberechenbaren Bahn.

Es ist gut möglich, dass das hier das seltsamste erste Date aller Zeiten ist. Aber ich benehme mich. Ich halte mein Steakmesser fest in der Hand und kann verhindern, es Jeremy in den Arm zu hacken. Ich konzentriere mich auf das Essen, stürze mich mit voller Wucht in den Genuss dieser unverpackten Köstlichkeiten ohne Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker. Jeremy ist die ganze Zeit über amüsiert, kaut sein Essen langsam, während er mich beobachtet und mit einer Ehrfurcht anstarrt, die mir bald schon auf den Geist geht, denn ich habe sie nicht verdient. Anschließend bestellt er jedes Dessert auf der Karte und sieht mit grenzenlosem Entzücken dabei zu, wie ich mir den Bauch vollschlage.

Um sechs Uhr verlassen wir das Restaurant, und eine Viertelstunde später stehen wir wieder vor meiner Wohnungstür. Der Anblick des stählernen Türblatts von dieser Seite ist mir unvertraut, fremd. Mir fällt auf, dass das metallene Schild mit der 6E darauf etwas schief hängt, fast lose ist, und dass mein Türknauf aus Messing ist, während die ganzen anderen Beschläge silbern sind. Natürlich ist es anders. Mein Schloss ist das einzige, das dazu gedacht ist, jemanden einzuschließen, anstatt Fremde fernzuhalten.

Ich wende mich nervös zu Jeremy um, betaste meinen Schlüssel, während ich überlege, was ich tun soll. Ich bin aus der Übung, nicht sicher, wie gut ich mich unter Kontrolle habe. Ich spüre die Panik, die sich meiner bemächtigt, den viel zu kleinen Flur, die Wärme und den Geruch von Jeremys Körper, genau da, ich müsste nur die Hand ausstrecken, damit wir uns berühren.

Er lehnt sich an die gegenüberliegende Wand, in einer lässigen, entspannten Haltung, so weit weg von mir wie nur möglich, und meine Anspannung legt sich ein wenig. Er ist aus der Gefahrenzone.

»Danke«, sagt er leise. »Für das Date.«

Ich erröte, denn es wäre an mir gewesen, diese Worte zu sagen. Ich bin vielleicht aus der Übung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich im Allgemeinen das Mädchen bei dem Mann bedankt, vor allem wenn er die Zeche für die halbe Speisekarte gezahlt hat.

»Dank dir«, sage ich.

»Ich würde dich gern küssen, wenn es dir recht ist«, sagt er.

Ich zögere. Es ist so dumm. Vor zwei Wochen haben wir drei Tage zusammen verbracht, unsere Körper nachts ineinander verschlungen, und sein Mund war während dieser Zeit unzählige Male auf meinem. Ich kenne seinen Kuss, ich weiß, dass ich ihn will – und noch viel mehr.

Vor zwei Wochen … Vor zwei Wochen war ich gebrochen, und Jeremy hat mich geheilt. Jetzt bin ich wieder gesund, und meine Triebe sind so stark wie eh und je. Ich bin besorgt, was passieren wird, wenn er mir so nah ist, besorgt, wie mein psychotischer Verstand mit der Nähe umgehen wird: ob er sich in den Hintergrund verkriechen und stillhalten wird, um es mir zu gestatten, die Erfahrung zu genießen. Oder ob er die Zähne fletschen und zum Spielen herauskommen wird.

Ich lasse die Schlüssel auf den Boden fallen und strecke die Hände nach Jeremy aus. »Könntest du mich bitte festhalten? Nur zur Sicherheit.«

Ich weiche seinem Blick aus, während ich die Worte sage, starre auf meine Arme, die ausgestreckt auf seine Berührung warten. Dann spüre ich, wie er näher kommt, und ich sehe seine kräftigen Hände, die meine Handgelenke umklammern und mich zu ihm ziehen. Er schlingt seine Arme um mich und legt seine Hände auf einem Punkt auf meinem Rücken ab, wo sie sich berühren. In dieser neuen Position ist sein Körper dicht an meinem, mein Gesicht liegt in seiner Halsbeuge, und sein Atem beschleunigt sich, während er uns vorwärtsschiebt, bis mich sein Körper gegen die Stahltür zu meinem Apartment drückt.

Es ist zu viel, dieser Schwall von Empfindungen. Empfindungen, die ich vergessen habe, entweder absichtlich oder durch Vernachlässigung. Der harte Druck seiner Hüften gegen meine, seine warme Hand über dem dünnen Stoff meines Kleides, ein Bein, das sich zwischen meine beiden schiebt und sie spreizt, mein Becken, das sich instinktiv an seinem Schenkel reibt – eine Bewegung, die dazu führt, dass er mit leicht geöffneten Lippen zischend Luft holt.

»Deanna …« Er flüstert meinen Namen, während er den Kopf neigt, und für einen kurzen Augenblick herrscht Stille, als unsere Lippen innehalten, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

»So?«, flüstert er, und ich kann zur Antwort nur nicken.

Dieses Verlangen. Es ist stärker als mein Blutdurst, und es begräbt jeden Gedanken in meinem Kopf unter sich. Ich will diesen Mann so unbedingt. Ich will ihn am Leben lassen, und ich will, dass er mich mit seinem Leben, seiner Süße, erfüllt.

Unsere Münder treffen sich, und ich schmecke das Aroma eines Pfefferminzbonbons, fühle die raue Berührung seiner Zunge an meiner und verliere jeden Gedanken in dem süßen Aufruhr unterdrückter Lust.

2

Hausarrest-Countdown: 3 Monate

Zweiundzwanzig Monate. Marcus hat zweiundzwanzig Monate weggesperrt wie ein Tier gelebt. Umgeben vom Abschaum der Gesellschaft, die Hälfte davon zu dumm, um die Umstände der Situation, in der sie sich befanden, überhaupt zu begreifen. Fast zwei Jahre an einem Ort, an dem er eineinhalb Meter neben einem Schwerverbrecher scheißen musste. Viel zu lange. Für einen Mann seiner Stellung, ohne Vorstrafen und bei der schwachen Beweislage … Die fünfjährige Freiheitsstrafe war lächerlich. Und die Tatsache, dass seine Anwälte zweiundzwanzig Monate brauchten, um ihn da rauszuholen, ist schlicht und ergreifend inakzeptabel.

Aber jetzt ist er frei, und der Schreianfall kann bis Montag warten. Jetzt, um 18:14 Uhr an einem Freitagabend, steht Marcus auf dem Gehsteig vor dem Gefängnis und atmet tief ein. Es ist frische Luft, die auf dieser Seite des Maschendrahtzauns anders schmeckt. Sie ist voller Hoffnung. Wiedergeburt. Nie wieder wird er hinter diesen Zaun treten. Nie wieder wird er den Griff der Gefangenschaft um seine Handgelenke spüren.

Er ist dumm gewesen. Nachlässig. Hat Fehler begangen, die er nicht wiederholen wird. Er wird in Zukunft mehr denken und weniger handeln. Schlauer sein.

Marcus tritt auf den wartenden Wagen zu, den schnittigen Bentley, in dessen Karosserie sich die Sonnenstrahlen spiegeln wie ein Signalfeuer seiner Seele. Die elektronische Fußfessel wiegt schwer an seinem rechten Knöchel und erinnert ihn an die drei Monate Überwachung, die vor ihm liegen.

Die hintere Tür geht auf, und er beugt sich in den Fond. Grinst in das Gesicht seines Anwalts. »Ich werde dich nächste Woche dafür zusammenstauchen, wie lange es gedauert hat, bis ich rausgekommen bin. Jetzt wird erst mal gefeiert.«

Türen schlagen, Umarmungen werden in der unbequemen Enge des Wagens ausgetauscht, dann beugt sich der Anwalt vor und setzt sich über Marcus’ Vorschlag hinweg, indem er dem Fahrer ein paar Worte hinwirft.

»Komm schon«, knurrt Marcus. »Ich war weggesperrt und habe Hundefutter zu fressen bekommen. Ich habe zu Visionen eines Porterhouse-Steaks gewichst, das so blutig war, dass meine Zähne davon fleckig wurden.«

»Entspann dich, Marcus.« Der dünne Mann wirft ihm einen warnenden Blick zu. »Und pass auf, was du sagst.«

»Scheiße. Haben denn alle ihren Sinn für Humor verloren, während ich weg war?«

Im Wagen herrscht für einen Moment Schweigen, und ihm wird bewusst, wie vulgär er wirken muss. Er ist als Gentleman ins Gefängnis gegangen und als Tier wieder herausgekommen. Er zupft am Hemdkragen seiner Gefängniskluft, ein billiger Stoff, der sich inzwischen normal auf der Haut anfühlt. Wenn er zu Hause ankommt, wird er sich als Erstes umziehen. In seiner Steingrotte duschen und sich den Geruch des Knasts abschrubben. Einen Tausend-Dollar-Anzug anziehen und sich in Erinnerung rufen, wie es ist, ein Mann zu sein. Wie sich saubere Fingernägel anfühlen. Wie frisches Obst und hochwertiges Fleisch schmecken. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Worauf er, Marcus Renza, einer von Floridas größten Grundbesitzern, ein Anrecht hat.

Eine Stunde später biegt der Wagen um die Ecke, die gesicherten Tore seiner Nachbarschaft ziehen an ihm vorbei, und seine Mundwinkel heben sich leicht. Er tauscht Stacheldraht gegen Eisentore. Gefängniswärter gegen Fußfessel. Ein Gefängnis gegen ein anderes. Aber drei Monate Hausarrest werden leicht sein verglichen mit dem, was er in letzter Zeit durchgemacht hat. Drei Monate, in denen er sein Haus, sein Bett, sein Personal hat. Mahlzeiten, die rund um die Uhr für ihn zubereitet werden. Einen Swimmingpool, einen Fitnessraum und Tennisplätze auf seinem Grundstück. Sein Büro. Immobilienbestände, die er überprüfen, Angestellte, die er wieder auf Zack bringen, Respekt, den er sich nach zwei Jahren Abwesenheit erneut verschaffen muss. Die Arbeit wird ihn ablenken. Die Arbeit hat ihn immer abgelenkt.

Ja, drei Monate werden leicht sein.

Er sieht eine Frau vorbeijoggen, der gelbe Sport-BH, den sie trägt, klebt feucht vom Schweiß an ihren Rundungen. Seine Finger hören auf, auf die Armlehne zu trommeln, und sein Nacken verspannt sich, während er gegen den Drang ankämpft, sich umzudrehen, auf ihren prallen Arsch zu starren und ihr nachzusehen, während sie sich entfernt.

Scheiße. Vielleicht wird es doch nicht so leicht sein. Es ist so lange her.

3

Jeremys Kuss wird fordernder, seine Hüften pressen mich gegen die Tür, seine Hände ziehen meine Handgelenke leicht nach unten, sodass meine Brust an seine gedrückt wird. Mein Kopf weicht zurück, und ich löse mich für einen Moment von seinen Lippen. Als sie sich wieder nähern, sind sie sanft, streifen fast unmerklich über meinen Mund, eine Liebkosung, von der ich mehr brauche, und er drängt sich an mich, während mein Mund voller Verlangen reagiert.

Ich bin in meinen Bewegungen eingeschränkt – sein harter Oberschenkel steckt zwischen meinen Beinen, mein Kleid ist hochgeschoben, und der Stoff seiner Jeans erzeugt ein köstliches reibendes Gefühl an meinem dünnen Slip. Ein leiser Laut entfährt mir, und Jeremy hält einen Moment inne. Mit der linken Hand umfasst er meine Handgelenke, hält sie fest umklammert, seine rechte gleitet sanft an meinem Bein hoch, schiebt sich unter mein Kleid und weiter nach oben, bis sie meine Hüfte erreicht.

Ich sträube mich gegen seinen festen Griff, ich will ihm mit den Händen durch die Haare fahren, sein Hemd hochschieben und über die Konturen seiner Bauchmuskeln gleiten, meine Finger im Hosenbund seiner Jeans vergraben und die Hitze seiner nackten Haut auf meinen Handflächen spüren. Sein Daumen malt ein verführerisches Muster auf die Innenseite meines Schenkels, und ich hebe das Bein höher, schlinge es um seinen Körper und drücke ihn fest an mich.

Sein Mund ist vollkommen, nicht zu fordernd. Er lässt sich Zeit und genießt die Berührung meiner Lippen, während er jeden Knopf an meinem Körper genau so drückt, dass ich bis zum Äußersten erregt bin. Dann zieht er sich zurück, gleitet noch einmal sanft mit seinen Lippen über meine, bevor er meine Hände loslässt und einen Schritt nach hinten macht. Ich versuche es zu verhindern, ziehe ihn mit dem Bein wieder zu mir, bevor ich schließlich aufgebe. Ich lehne erschöpft an der Tür, mein Blick ist auf Jeremy geheftet, Fragen rasen durch meinen Kopf, aber noch kommt mir keine über die Lippen.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht?«, stammele ich.

Das kommt unerwartet. Vielleicht ist mein Ego von Webcam-Chats mit fünfzigjährigen Männern und verwirrten Transvestiten ja über die Maßen aufgebläht, aber ich bin es gewohnt, begehrt zu werden. Schließlich verbringe ich zehn Stunden meines Tages virtuell im Bett mit Fremden. Und jetzt, mit einem Kerl aus Fleisch und Blut vor mir, bekomme ich einen Kuss und ein »Gute Nacht«?

Jeremy sieht auf seine Armbanduhr. »Du hast gesagt, ich soll dich spätestens um sieben zu Hause abliefern.«

Der Aufzug sucht sich genau diesen Augenblick aus, um zu ächzen. Er lässt ein lautes Rumoren vernehmen, das gleich in ein Quietschen übergehen wird. Sein schwerfälliger Aufstieg macht genau so viel Krach, dass seine Insassen sich vermutlich fragen, ob das seine letzte Fahrt sein wird, ob das der Augenblick sein wird, in dem er stecken bleibt und sagt: »Scheiß drauf, ich bewege mich keinen Zentimeter weiter.«

Aber schließlich schafft die Kabine den Aufstieg doch, und ich nehme Haltung an, während ich zusehe, wie die Türen langsam aufgehen. Noch etwas, das ich noch nie gesehen habe. Dieser lange Flur und die Bewegung der Türen. Ich habe sie tausendmal gehört, habe mir immer die Menschen vorgestellt, die aussteigen, die Mienen auf ihren Gesichtern, den Geruch ihrer Haut.

Eine Gestalt schlurft aus der Aufzugkabine, und ich erkenne den hageren Körperbau, den ich bislang immer nur verzerrt durch mein Guckloch gesehen habe. Die blasse Hand des Mannes fährt durch das kurze dunkle Haar, und er schiebt seinen Rucksack höher, während er vom anderen Ende des Flurs einen Blick auf uns wirft.

»Da bist du auf dem Holzweg!«, ruft er. Seine Stimme hallt von den schmutzigen Wänden wider, während er näher kommt. »Sie wird diese Tür nicht aufmachen.«

Ich lächele über seine Stimme, ungedämpft ohne die Tür zwischen uns, und werfe einen Blick auf Jeremy, um zu sehen, ob er die Bemerkung des Mannes versteht. Seine Miene verblüfft mich. Er sieht angespannt aus, löst seinen Rücken von der Wand und drückt die Schultern nach hinten, während er sich aufrichtet. Ich habe ganz vergessen, dass er Simon kennt, dass sie sich schon unzählige Male wegen der Pillenpäckchen, die er jeden Monat liefert, gezankt haben.

Simon hält inne, seine Schritte verlangsamen, als er ungefähr drei Meter entfernt ist, er mustert Jeremy misstrauisch. »Oh. Hey, Mann.«

Jeremy sagt nichts, nickt nur unbestimmt in Simons Richtung.

Dessen Blick huscht nach links, mustert mich von Kopf bis Fuß. Er lässt sich Zeit. »Bringt dich der Lieferjunge etwa hierher, um die Freakshow zu sehen?«, gackert er. »Ich habe viel aufregenderes Zeug bei mir zu Hause. Wenn du willst …«

Simon, ein Junkie par excellence, tritt grinsend näher, und ich sehe, wie Jeremy die Fäuste ballt.

Ich lächele breit, setze mein schönstes Unschuldslächeln auf – jenes, das meine Kunden lieben, jenes, das die ganze Anspannung löst, das einfach alle besänftigt. Simon kommt noch näher, und ich trete mit einem Mal vor, reiße das Knie hoch, genau in das weiche Fleisch zwischen seinen Beinen unter der Jogginghose. Der Tritt in seine Eier sorgt dafür, dass er die Augen fest zusammenpresst. Sein Oberkörper krümmt sich, während in einem einzigen keuchenden Atemzug alle Luft auf einmal aus seiner Brust entweicht. Er stöhnt auf, und ich schmettere meinen Unterarm gegen sein Kinn, drücke fest dagegen und presse ihn nach hinten gegen die Wand. Mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen bin ich mit ihm auf Augenhöhe.

»Hi, Simon«, sage ich genüsslich, während ich zusehe, wie seine rot umränderten Augen panisch hin und her huschen. Die Erkenntnis legt sich langsam auf sein Gesicht. »Willkommen zur Freakshow.«

4

Jeremy zerrt mich weg. Nicht dass es wirklich nötig ist. Ich habe keine Waffe bei mir. Und mein Knie-in-die-Eier-Move ist so ziemlich der einzige Trick, den ich beherrsche. Er gehört seit der Mittelschule zu meinem Repertoire, einer Zeit, als ein im richtigen Moment gestreckter Mittelfinger fast ebenso effektiv war.

Wäre Simon von dem Angriff auf seine Eier nicht so überrumpelt gewesen, nicht immer noch überwältigt vom Schmerz, hätte ich ihn unmöglich nach hinten drücken, meinen Arm unter sein Kinn und fest gegen seine Kehle pressen können. Er erholt sich schnell, und als Jeremy mich wegzerrt, kommt er bereits wieder zur Besinnung und begreift, was passiert ist. Ein paar Sekunden später, und er hätte mich einfach weggestoßen. Daher bin ich froh, dass Jeremy dazwischengegangen ist. Er hat meine Glaubwürdigkeit gerettet, während er mir trotzdem das Gefühl gegeben hat, echt hart drauf zu sein.

Jeremy stellt sich vor mich hin, mustert mein Gesicht. »Geht es dir gut?«

Geht es dir gut? Ein unbeteiligter Zuschauer würde vermuten, dass er fürsorglich ist, dass er mich fragt, ob ich verletzt oder gekränkt oder in irgendeinem anderen Zustand bin, der einen Retter in der Not auf den Plan ruft. Aber ich weiß, was er in Wahrheit wissen will: ob ich mich unter Kontrolle habe. Ob dieser Ausbruch von Gewalt ein Funken war, der zu einem wild lodernden Waldbrand führen wird. Ich spüre ein warmes Gefühl in meinem Bauch aufwallen, weil Jeremy es versteht. Weil ihm bewusst ist, was möglich ist.

Ich sehe Simon an, dessen Miene zwischen Ungläubigkeit und Bewunderung schwankt, vermutlich eher im Hinblick auf mein Aussehen als über meine mickrigen Fähigkeiten, ihm in den Arsch zu treten.

»Neun Uhr?«, frage ich.

Er nickt, mit gesenktem Blick. »Ja. Tut mir leid wegen … Ja. Neun Uhr. Ich werde hier sein.«

Simon stolpert zur Seite, weicht Jeremys wütend funkelndem Blick aus und stürzt den Flur hinunter, bis das Klimpern von Schlüsseln die Ankunft an seiner Wohnungstür verkündet.

Jeremy flucht leise und nimmt meine Hand, hebt den Schlüsselbund auf, der immer noch auf dem Boden liegt, und rammt einen Schlüssel ins Schloss. Er dreht und drückt, bis der Knauf nachgibt, dann drückt er die Tür auf und tritt ein.

»Was ist aus unserem Abschied geworden?«, frage ich, mit den Füßen noch immer im Flur, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich sehe zu, wie er wartet, mir mit einer Hand ungeduldig die Tür aufhält.

»Komm rein, bitte. Bevor dieses Stück Scheiße wiederkommt.«

Ich grinse über seinen Ton, der eher ein Knurren als eine klar artikulierte Aussprache ist, und genieße seinen gequälten Gesichtsausdruck, während ich langsam an ihm vorbei über die Türschwelle gehe. Ich werfe meine Tasche in die Ecke, genieße den Anblick, wie sie zu Boden fällt. Ich bin normal. Ich kann ausgehen und nach Hause kommen und meine Handtasche auf den Boden werfen, als würde ich das jeden Tag machen.

»Und hör auf, so selbstgefällig zu grinsen«, ergreift Jeremy wieder das Wort. »Dieser Spinner ist gefährlich.«

»Selbstgefälligkeit ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Und Simon ist harmlos. Er wird nicht die Hand beißen, die ihn füttert.«

»Bis jetzt wusste er nicht, wie du aussiehst.«

Ich zucke mit den Schultern, setze mich auf das Bett und schlüpfe aus den High Heels. Meine Füße tun verflucht weh. Ich sehe Jeremy an, wie er mit einem Stirnrunzeln im Gesicht dasteht, zur Tür gewandt, als würde er damit rechnen, dass sie jeden Moment aufgeht.

»Deine Fürsorglichkeit ist süß, aber ich komme schon klar.«

Mehr als das. Um genau zu sein, hoffe ich sogar, dass Simon den Flur wieder hinunterkommen und an meine Tür klopfen wird. Dass er versuchen wird, mich zu überreden, ihn hineinzulassen.

Auf einmal kann ich es kaum erwarten, dass Jeremy endlich geht. Ich hoffe, dass er abschwirrt, damit ich meinen Safe aufschließen und meine Messer hervorholen kann, damit ich Zeit habe, sie zu schärfen – nur für alle Fälle. Ich schließe die Augen, balle die Fäuste und versuche den Gedanken zu verdrängen, an etwas anderes zu denken als daran, wie leicht es wäre, Simon zu töten. Wie leicht es wäre, die Gegebenheiten zu ignorieren und selbst in Aktion zu treten. Zu Simons Tür zu gehen, anstatt zu hoffen, dass er meine abschließen wird. Wieder in meine High Heels zu schlüpfen und diesen Flur hinunterzuschlendern, mein Stilettomesser in der Handtasche versteckt. Er würde die Tür öffnen, mich hereinbitten und dann die wahre Bedeutung des Wortes »Freakshow« kennenlernen. Die Freakshow würde mein Neuanstrich seiner Wohnung mit seinem Blut sein. Seine Haut würde unter meinen Händen erkalten, während das Blut allmählich aus seinem Körper weicht …

Als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, reiße ich die Augen auf und zucke instinktiv zusammen.

»Geht es dir gut?«

Jeremys Blick huscht von meinem Gesicht zu meinen Händen, meinen Fäusten, die so fest geballt sind, dass die Haut an den Knöcheln weiß hervortritt.

Ich nicke und öffne die Fäuste, dehne die Hände und schüttele sie aus, um sie zu lockern. Ich versuche mich auf Jeremys Gesicht zu konzentrieren, den Worten zu lauschen, die er sagt, aber ich kann nichts hören. Das Dröhnen in meinem Kopf wird immer lauter, während ich an Simon denke, an das aufflackernde Interesse in seinem Gesicht – meine Gelegenheit! – und an die Möglichkeiten, die in Jeremys Gegenwart ungenutzt verstreichen. Das Dröhnen lässt ein klein wenig nach, als ich ihm in die Augen sehe, denn das flackernde Verlangen in ihren Tiefen bringt mich auf andere Gedanken.

Verlangen. Ein völlig anderes als mein eigenes, aber ebenso vorhanden.

Ich balle die Fäuste, hole schaudernd Luft und sage mit zitternder Stimme, bevor mein Wunsch zu töten übermächtig wird: »Küss mich. Jetzt.«

5

Er zögert keine Sekunde. Ich glaube, er ist bei mir, noch bevor ich meine Bitte vollständig ausgesprochen habe. Seine Hand kommt hoch, um meine Haare zur Seite zu streichen und mein Gesicht zu umfassen, seine Lippen legen sich auf meine, und mein Körper sackt nach hinten aufs Bett. Jeremy ist über mir, das Gewicht seines Körpers liegt warm auf meinem, und es fühlt sich anders an. Völlig anders als in den vergangenen Nächten, in denen wir uns aneinandergekuschelt und getröstet haben. Das hier ist pure, hitzige Leidenschaft, jeder Gedanke an Simon verdrängt von dem Sturm an Empfindungen, der mein Gehirn auf einmal überrollt.

Ich schließe die Augen und lasse ihn kommen. Lasse zu, dass seine Lippen mich berühren und sein Körper es sich auf meinem bequem macht. Meine Beine spreizen sich instinktiv, schlingen sich um seine Taille und ziehen ihn fester an mich.

Da regt sich auf einmal etwas in mir – meine Jungfräulichkeit.

Es ist schon komisch, wie der Verstand funktioniert. Binnen weniger Minuten gelange ich vom wahnsinnigen Wunsch zu töten zum lustvollen Schmachten nach Sex – und zur sinnlosen Debatte über meine Unberührtheit. Warum bin ich eigentlich noch immer Jungfrau? Es gibt keine moralischen Bedenken, die es verhindert haben. Eigentlich war es eher eine Frage der Gelegenheit. Ich habe es durch pures Glück bis zum neunzehnten Lebensjahr geschafft, Jungfrau zu bleiben, und danach habe ich mich drei Jahre lang in mein Apartment eingeschlossen. Jeremy ist der erste Mensch, den ich seitdem geküsst habe.

Ist heute Abend der Abend? Der Abend, an dem ich mich von meiner Jungfräulichkeit verabschiede? Manche würden sagen, dass ich sie schon vor langer Zeit verloren habe. Zum Beispiel als ich zum ersten Mal einen Dildo durch das dünne Jungfernhäutchen stieß, sodass ein paar Blutstropfen quollen, woraufhin mich mein verärgerter Kunde beschuldigte, meine Tage zu haben. Er hatte ja keine Ahnung, dass er mein Erster war … Noch viel weniger konnte er wissen, dass er in diesem sechsminütigen Internet-Chat Zeuge eines Schlüsselmoments war. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Anschluss sein Geld zurückverlangte.

Ich drücke eine Hand gegen Jeremys Brust, unterbreche unseren Kuss. Sein Atem geht ebenso abgehackt wie mein eigener, und ein fragender Ausdruck liegt in seinem Blick, als er zu mir hinuntersieht.

»Kein Sex.«

»Okay.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich habe sowieso kein Kondom dabei.«

Er küsst mich wieder, als wäre meine Bemerkung nicht der Rede wert, als würde sich seine Hose nicht ausbeulen, als wäre die Schwellung hinter dem Reißverschluss nicht offensichtlich, während er sich an meinem Körper reibt und mich durch meinen dünnen Slip jeden Zentimeter seines Verlangens spüren lässt. Ich gleite mit den Händen an seinem Körper hinunter, schiebe sie unter sein Polohemd, ziehe den Stoff hoch und über seinen Kopf. Sein Mund löst sich widerstrebend so lange von meinem, dass er aus dem Hemd schlüpfen kann.

Ich liebe das Gefühl seiner Haut auf meinen Fingerspitzen. Die heiße Oberfläche, die sich unter meinen Handflächen dehnt und atmet, während meine Finger über ein klar konturiertes Waschbrett streichen und dann höher hinauf, zu den Muskeln seiner Brust gleiten. Ich bewege die Hände wieder nach unten, bis sie das Leder seines Gürtels berühren, und schiebe sie unter den rauen Stoff seiner Jeans. Ein leichter Atemzug unterbricht unseren Kuss, und Jeremy keucht: »Hör auf!«

»Keine Ahnung, was du meinst«, flüstere ich.

Meine Hände bewegen sich rasch voran, streifen über das Gürtelleder, das Messing seines Knopfes, die Schnalle, die auf einmal geöffnet ist, stoßen auf weichen Baumwollstoff hinter dem Reißverschluss. Ich ziehe den Saum der Boxershorts leicht nach unten und werde mit einem kurzen Blick auf eine straff gespannte, glitzernde Eichel belohnt.

Ein Schwanz. Ein echter, lebendiger Schwanz. Der zuckt und wippt und nach mir lechzt.

Der letzte, den ich sah, war in den ersten Wochen auf dem College, als eine Freibier-Party an einem Freitagabend zu einem heftigen Herumknutschen auf einer schwarzen Ledercouch im ersten Stock führte, wo der kurze Stummel meiner neuen Bekanntschaft eine Ladung Sperma in meine Hand pumpte, nur wenige Augenblicke, nachdem ich das winzige Ding aus der Hose gepfriemelt hatte. Der Typ lachte verlegen, rülpste und stand auf, um noch mehr Bier zu holen. Ich sah ihn nie wieder.

Jeremys Schwanz ist völlig anders. Er ist anders als der des Collegetypen, anders als die fünfzehn Dildos, die nur ein paar Meter weiter liegen. Er ist da, ich kann ihn sehen, und ich will nichts mehr, als ihm die Hose herunterzuziehen, damit er herausspringt.

»Wenn du mich da anfasst, werde ich mich nicht mehr beherrschen können«, murmelt Jeremy.

Er will mich. Ich höre das Verlangen in seiner Stimme, kann die Leidenschaft in jeder seiner Berührungen spüren, seine elektrisierte Gänsehaut, als meine Hand noch weiter nach unten gleitet. Dieses Wissen verleiht mir Macht, es stärkt mein Selbstbewusstsein. Deshalb bin ich überrascht, als er auf einmal zurückweicht, ans Ende des Betts rutscht, mein Kleid hochschiebt, mit der Hand daruntergleitet und zögernd den Saum meines Slips berührt. Er sieht zu mir hoch, und ich nicke, nicht sicher, wozu ich mich damit eigentlich bereit erkläre.

Ich weiß nur, dass ich mehr brauche. Alles, was er mir geben will.

Seine Hände schieben sich unter den Saum meiner Pantys, ziehen an dem Stoff, und ich hebe die Hüften, um ihm zu helfen. Das glatte Gewebe rutscht in einer fließenden Bewegung an meinen Beinen hinunter, Jeremys Finger gleiten über meine Haut, während er mir die Pantys abstreift.

»Kein Sex.« Er wiederholt meine Worte, als würde er sich diese Tatsache in Erinnerung rufen müssen.

Bei seinen Worten richte ich mich auf, stütze mich auf die Ellenbogen. Ich sehe ihm begierig dabei zu, wie er sich vor das Bett kniet, meine Beine spreizt und mit den Händen über die Innenseiten meiner Schenkel streichelt.

»Ist das erlaubt?«

Ich weiß nicht, was er vorhat, wofür er um Erlaubnis bittet. Ich weiß nur, dass das Pulsieren zwischen meinen Schenkeln um Aufmerksamkeit schreit. Der Ausdruck in seinen Augen ist so verdammt sexy! Er ist ein loderndes Feuer, begierig wie mein eigenes. Wir sehnen uns beide verzweifelt nach mehr, als wir im Moment geben können.

Dann gleitet seine rechte Hand weiter nach oben, so weit, dass er den Daumen nur leicht bewegen muss, um damit über meine Schamlippen zu streichen.

Ich hole einmal tief Luft – die Berührung eines anderen Menschen ist so anders als meine eigene. Meine Finger verbringen Stunden in diesem Bereich, andere Gegenstände stoßen jeden Tag Hunderte Male zu. Ich sollte immun gegen Berührung sein, sollte die schwielige Kuppe seines Fingers kaum spüren, sollte einen auf cool machen und ihm einen »Was-hast-du-sonst-noch-zu-bieten«-Blick zuwerfen.

Aber ich tue es nicht. Allein schon diese sanfte Berührung seines Daumens erweckt mich zum Leben, jagt Empfindungen durch jeden Nerv meines Körpers. Er bewegt den Daumen wieder, führt ihn zurück zu meinem Schenkel, und ich krümme mich unwillkürlich. Mein Körper schiebt sich instinktiv seiner Hand entgegen, will mehr von dem, was ich eben so flüchtig erfahren habe.

»Ist das erlaubt?«, fragt er noch einmal, den Blick auf meinen geheftet.

Ich keuche fast, als ich ihn anstarre, mit seinem nackten Oberkörper zwischen meinen Beinen. »Ja«, stöhne ich und spanne mich innerlich an in einem jämmerlichen Versuch, das Verlangen niederzuringen, das dort immer heftiger wird.

Jeremy grinst und neigt den Mund zu meiner empfindlichsten Stelle hinunter. Bei der ersten Berührung seiner Zunge bleibt mir der Mund offen stehen. Meine Augen schließen sich unwillkürlich, und ich lege den Kopf in den Nacken.

Ich habe noch nie eine Zunge an meinem Kitzler gespürt. Ich habe noch nie dieses Gefühl genossen, dieses vibrierende Saugen, dieses köstliche Spiel einer talentierten Zunge an einem lusterfüllten Bündel Nerven. Es ist schockierend, wie unglaublich sich das anfühlt.

Meine Nervosität lässt langsam nach, und mein Körper entspannt sich, während meine Beine sich spreizen und Jeremy uneingeschränkten Zugang zu allem gewähren, was er will. Ich strecke die Ellenbogen aus, und mein Oberkörper sackt nach hinten auf die Matratze. Irgendwie finden meine Hände den Weg zu seinem Kopf, und ich fahre mit den Fingern durch seine kurzen Haare. Der Orgasmus baut sich in mir auf, wird größer, schneller, als ich ihn selbst je zustande bringen könnte. Einen Moment lang mache ich mir Sorgen, ich könnte zu schnell kommen, ich könnte keine Zeit haben, dieses unglaubliche Gefühl, das Jeremy in mir hervorruft, zu genießen.

Dann höre ich auf, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich höre auf zu denken und verliere mich in dem wunderschönen Gefühl, das er in meinem Körper auslöst. Ich denke nicht darüber nach, wie nah meine Finger an seinem Hals sind, vergesse, daran zu denken, wie nah meine Finger an seinen Augen sind, wie schnell sie sie verletzen könnten. Ich bin zu vertieft darin, der Ekstase zu begegnen. Und als sie kommt, ist es die vollkommenste Form von Wahn, die ich je erfahren habe.

6

Ich kehre zurück auf die Erde, meine bebenden Beine um Jeremys Kopf geschlungen. Dieser Orgasmus war besser als alles, was ich selbst je zustande gebracht habe.

Dann komme ich zu der Erkenntnis, dass ich eine Tür durchschritten habe – die Tür des Bewusstseins. Ich werde meine Orgasmen nie wieder genießen wie vorher, werde sie von jetzt an immer mit diesem Augenblick vergleichen. Ich schließe die Augen und frage mich, wie sich wohl Sex anfühlen wird. Wie sich Jeremys Schwanz von meinen Spielzeugen unterscheiden wird. Ob sich die unbekannte, ungesteuerte Bewegung mit meinen simulierten Stößen messen kann. Ich entspanne die Beine, nehme sie von seinen Schultern und spüre, dass er aufsteht. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich ihn lächeln, ein schiefer, antörnender Gesichtsausdruck, den ich unwillkürlich erwidere.

»Du siehst zufrieden mit dir aus«, murmele ich.

Ich kenne die Benimmregeln für ein Date nicht. Ist jetzt der Moment, wo ich seinen Schwanz in den Mund nehmen muss? Aber mein Körper ist zu entspannt und mein Gehirn zu träge, um irgendetwas anderes zu tun, als hier zu liegen.

Jeremy lässt sich neben mir aufs Bett fallen, die Matratze quetscht sich unter dem zusätzlichen Gewicht zusammen, und wir starren beide an die Decke. Er legt einen Arm um mich, und ich hebe den Kopf kurz an, sodass er ihn darunterschieben kann. Dann bette ich mich auf seine starke Schulter.

»Ist das auch okay?«, fragt er.

»Ja. Das ist cool.« Ich lächele und genieße den Augenblick, Jeremys Wärme neben mir, und rolle mich leicht zur Seite, bis ich an seinen Körper gekuschelt daliege.

Da kommt mir ein Gedanke. »Geht es dir gut?«, frage ich plötzlich. Ich erröte, versuche die richtigen Worte zu finden, aber mein Vokabular ist zu voll von unfeinen Ausdrücken, um mich einigermaßen anständig auszudrücken.

»Es geht mir gut.« Er drückt mir einen sanften Kuss aufs Haar. »Ich hatte nicht vor, hier hereinzuspazieren und dich flachzulegen. Um genau zu sein, war ich sogar fest entschlossen, ein Gentleman zu sein.«

»Und nur darum ging es bei diesem Küsschen im Flur?«

»Küsschen?« Über seinen spöttischen Ton muss ich lächeln. »Nach deiner Reaktion zu urteilen, denke ich, mein Trick hat ziemlich gut geklappt.«

»Immer schön langsam, Casanova.« Ich pikse ihn in die Seite, und mir gefällt, dass mein Finger auf nichts als harten Muskel trifft. »Ich sorge nur dafür, dass du nicht zu hochnäsig wirst.«

»Verstehe. Bissige Kommentare sind deine Art, das Ego eines Mannes zu streicheln.«

»Streicheln ist eines meiner Talente«, necke ich ihn.

Jeremy knurrt bestätigend, dann rollt er sich auf die Seite, seine Hand berührt meinen Rücken und zieht mich näher, bis ich eng an ihn gedrückt bin, Bauch an Bauch. Dann nimmt er meinen Mund mit einem einzigen langen, atemberaubenden Kuss wieder in Besitz.

Zehn Minuten später, kurz vor der Geisterstunde, verabschieden wir uns voneinander. Eine Stunde später höre ich, wie ein Sperrriegel vor die Tür geschoben wird. Simon hat mich für die nächsten acht Stunden eingeschlossen.

7

Hausarrest-Countdown: 2 Monate, 3 Wochen

Vor einer Woche hat Marcus durch prunkvolle Türen ein leeres Haus betreten. Der abgestandene, schale Geruch wurde durch das Kommen und Gehen von Hausmädchen und Handwerkern leider nicht überdeckt. Es fühlte sich wie das Zuhause eines anderen an – die geschwungenen Treppengeländer, der Kronleuchter, der zehn Meter über ihm aufragte, all die Leute, die ihn anstarrten, als seien sie sich nicht sicher, wer dieser Mann mit den billigen Klamotten und dem unrasierten Gesicht überhaupt ist. Er durchstreifte daraufhin tagelang das Gebäude, suchte Zimmer auf, die er seit Jahren nicht mehr betreten hatte, nickte unbekannten Angestellten zu, während er versuchte, sich mit seinem früheren Lebensstil wieder vertraut zu machen.

Auch heute noch ist ihm unbehaglich, als würde er das Leben eines anderen Mannes führen, ein Hochstapler in einer Welt, die er früher einmal beherrscht hat. Es sind die kleinen Dinge, die ihn darauf aufmerksam machen. Der Duft eines gehobenen Lebensstils – etwas, was seine Nase neu erlernen muss, während jeder einzelne Geruch Erinnerungen und einen Teil des Mannes wiederbringt, der er früher einmal war. Eine Zigarre, frisch geschnitten, ihr rauchiger Duft und das süße Aroma, das sie verströmt, sobald sie angezündet ist. Der Zitrusgeruch von Möbelpolitur, nicht mehr als ein Hauch auf dem Lappen seiner Haushälterin, wenn sie ein Geländer abwischt. Die erdige Würze, die den Perserteppichen, den maßgefertigten Vorhängen und dem feinen Leder anhaftet. Der Merlot, dessen Bukett umso süßer in seiner Nase zur Entfaltung kommt, angesichts der Tatsache, dass die Flasche den Namen seines Weinguts trägt. Diese Gerüche trösten ihn. Helfen ihm zu begreifen, dass er wirklich zu Hause ist.

Doch er riecht noch mehr. Es sind die vertrauten Düfte, die ihm in die Nase steigen und langsam, aber sicher das Selbstvertrauen und den Stolz wiederkehren lassen, die das Gefängnis ihm genommen hat. Angst. Der älteren Frau, die sein Haus putzt, den Blickkontakt meidet und aus dem Zimmer huscht, wenn er es betritt, steht sie förmlich ins Gesicht geschrieben. Unterwürfigkeit. Der Geruch von Schwäche, die sich in einem schlaffen Händedruck, einem flüchtigen Nicken und hektischer Betriebsamkeit als Antwort auf seine Worte zeigt. Respekt. Der beste Geruch von allen, der ihm zeigt, dass die Kompassnadel nach Norden ausgerichtet, dass das Leben in Ordnung, dass er wieder der ungebrochene Herrscher seines Reichs ist.

Er betrachtet stirnrunzelnd seinen Fußknöchel, eine ständige Erinnerung daran, dass er tatsächlich noch nicht wieder ganz auf der Höhe ist. Die Fußfessel blinkt, die ganze verdammte Zeit. Gestern Nacht musste er die Füße unter die Bettdecke stecken, nur damit dieses verdammte Licht ihn nicht vom Schlafen abhielt. Er musste die bedrückende Schwere der Daunenfedern spüren, die sich auf seine Zehen legte. Sich freizustrampeln half nichts – das Gewicht senkte sich jedes Mal wieder, sobald er in der Bewegung innehielt. Diese verdammte Fußfessel! Sie klemmt die Haare an der feinen Haut um seinen Knöchel ein und bringt ihn dazu, dass er sich das Bein rasieren will wie eine Schwuchtel.

Es ist 6:04 Uhr morgens. Er sitzt an seinem Schreibtisch, den Stift in der Hand, die Unterlagen vor sich ausgebreitet wie einen Berg mit Bargeld. Den Kaffee hat er fast ausgetrunken, die weiße Tasse geht beinahe unter in dem Meer von Papier. Jeder Schluck hat ihn an den schwindenden Vorrat erinnert.

Wo ist das Mädchen? Sie hätte längst nachschenken sollen. Die Schwarze, die sie eingestellt haben, vermutlich, weil er sich zu dunklen Frauen nicht hingezogen fühlt, weil er seine Schlampen lieber blass und zitternd mag. Schwarze Frauen haben zu viel Attitüde. Geben Widerworte. Verdrehen die Augen. Lauter Verhaltensweisen, die eine schallende Ohrfeige verdienen. Er nimmt einen letzten Schluck, leert die Tasse, und seine Wut steigert sich, als einen Augenblick später die Bürotür aufgeht und sie hereinkommt, eine Kaffeekanne auf einem Tablett in den Händen.

Na endlich.

Er ignoriert sie. Konzentriert sich auf das Blatt mit den Mietabrechnungen, das vor ihm liegt, liest dieselben Zahlen immer und immer wieder. Die Ziffern verschwimmen vor seinen Augen, während sie näher kommt und ihm schweigend Kaffee nachschenkt. Sie riecht nach Kuchen. Die Tür fällt wieder ins Schloss, als sein Blick zur nächsten Zeile springt – sie ist weg. Er liest die Spalte zu Ende, macht sich eine Randnotiz und greift zum Telefon.

»Guten Morgen, Marcus.« Die Stimme seines Anwalts lässt auf einen hellwachen Mann schließen.

»Ich will diese Fußfessel loswerden. Das ist doch Schwachsinn. Ich bin ein angesehener Mann, Herrgott noch mal. Ich habe ein Geschäft zu führen, das kann ich nicht von zu Hause aus tun.«

»Es ist erst sechs Tage her. Einen Antrag beim Richter kann ich frühestens stellen, wenn du einen Monat draußen bist. Versuch einfach, dich zu benehmen.«

»Habe ich eine andere Möglichkeit? Mein Gott, hättest du nicht wenigstens dafür sorgen können, dass irgendein niedlicher Arsch in meinem Haus auf mich wartet?«

Schweigen. »Es sind drei Monate, Marcus. Drei Monate, in denen der Richter jeden deiner Schritte genau beobachten wird. Wie auch die Familie McLaughlin, die Presse und jeder deiner Feinde. Du musst dich von Frauen fernhalten. Am besten für immer. Zumindest während dieser Zeit. Andernfalls landest du wieder im Gefängnis. So einfach ist das.«

»Ich war fast zwei Jahre weggesperrt. Es ist so lange her, dass mir sogar meine Haushälterin attraktiv erscheint.«

ENDE DER LESEPROBE