Kill Girl - Tödliches Verlangen - A.R. Torre - E-Book

Kill Girl - Tödliches Verlangen E-Book

A.R. Torre

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Beschreibung

Thrill me, kill me, fulfill me!

Deanna Maddens Leben funktioniert, solange sie die Regeln befolgt:

1. Verlasse niemals die Wohnung. Nicht in einem Notfall. Nicht, um Besorgungen zu machen. Die Tür bleibt verschlossen. Immer.

2. Entwickle niemals Gefühle für einen Kunden. Ziehe dich aus, stelle dich vor die Kamera und performe. Hüte ihre Geheimnisse. Wenn sie dich fragen, erzähle ihnen Lügen.

3. Töte niemanden.

Diese Regeln befolgte Deanna seit drei Jahren, und ihr Leben funktionierte. Bis sie anfing, die Regeln zu brechen …

Thriller meets Erotik - aufregender geht's nicht!

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Seitenzahl: 407

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A.R. TORRE

KILL

TÖDLICHES VERLANGEN

GIRL

EROTIC THRILLER

DEUTSCH VON VERONIKA DÜNNINGER

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»The Girl in 6E« bei Redhook Books, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2014

im Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH

Copyright der Originalausgabe © 2014 by A. R. Torre

This edition published by arrangement with Little, Brown

and Company, New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015 by

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Redaktion: Lisa Bitzer

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von istockphoto.com

wr · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-14553-8

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist Terezia gewidmet, einer Schwester,

die die Schönheit eines großartigen Buches,

einem Nickerchen zwischendurch,

Dr. Pepper und Welpenatem versteht.

Ich habe ihn mir so oft vorgestellt, dass meine Fantasie ein Monster mit grotesken Gesichtszügen und seltsamen Proportionen erschaffen hat. Aber vor mir steht, mit schräg gelegtem Kopf und stechendem Blick, ein ganz normaler Mann. Er sieht durchschnittlich aus, mit leichtem Ansatz zur Glatze, zwanzig Pfund zu schwer, den Mund zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Seine Augen verengen sich, seine Haltung ist stramm, der Gesamteindruck düster. Dieser Typ, dieser kahl werdende, dicke Mann, hat mir ins Ohr geflüstert, sich seine widerlichen Gedanken von der Seele geredet, mir das finstere Böse in seinem Herzen gezeigt. Und jetzt tritt er näher, während die Erregung von seinem Körper wie ein fauliger Geruch ausströmt. Er denkt, ich bin schwach. Er denkt, er kann mich manipulieren, mich unterwerfen. Mich töten wie so viele Mädchen vor mir. Er hat keine Ahnung, dass hinter meiner zierlichen Gestalt und meinen feinen Zügen etwas steckt, das es mit ihm aufnehmen kann.

Ich taste nach dem Messer in meiner Hosentasche und versuche, mir ein Grinsen zu verkneifen.

Das ist der Moment. Das ist meine Zeit.

WARTEN

Der Geist ist eine Welt für sich, in der er aus der

Hölle einen Himmel und aus dem Himmel eine Hölle machen kann.

John Milton, Das verlorene Paradies

Sich auszuziehen ist eine alltägliche Angelegenheit. Die meisten Frauen tun es gedankenlos, mit automatischen Bewegungen, die zum gewünschten Resultat führen. Aber auf die richtige Art ausgeführt, kann das Entkleiden das ultimative Vorspiel sein, eine sexuelle Verführung, die jeden rationalen Gedanken ersticken und dir einen Mann auf Gedeih und Verderb ausliefern kann. Ich beherrsche diese Kunst meisterhaft.

Ich knie auf dem Bett und gleite mit den Fingern über meine Haut – mit leichten, neckenden Liebkosungen, die dazu gedacht sind, meine Sinne zu schärfen und meinen Körper zu stimulieren. Ich atme in langsamen, zitternden Zügen aus, während meine Hände in die Nähe empfindlicher Stellen wandern, meinen Brustansatz streicheln, die Spitzenborte über meinen Rundungen. Ich halte den Blick gesenkt, unterwürfig, und warte auf den Befehl. Es kommt immer einer.

»Zieh dich aus. Langsam.« Seine Stimme klingt fremdländisch, englische Worte in Kultur und Dialekt getaucht. Ich gehorche, hebe den Blick und beiße mir sanft auf die Unterlippe; meine Zunge schnellt hervor, und prompt höre ich ihn aufstöhnen. Meine Hände gleiten über meinen Hals und dann weiter nach unten, streifen die Oberseite meines Schlüsselbeins und wandern unter die Seide meines Negligés. Ich schiebe erst den einen, dann den anderen Träger von den Schultern, die Seide bauscht sich über meinen Brüsten, und der Stoff bleibt an meinen Brustwarzen hängen. Dann richte ich mich auf, verschränke die Arme vor dem Oberkörper und schiebe den Stoff höher, sodass er langsam, Zentimeter für Zentimeter, die Rundungen meiner Brüste enthüllt.

»Gut«, stöhnt er. »Sehr gut. Ich mag dich, Jessica.«

Jessica. Das ist nicht mein richtiger Name. Er denkt, er kennt mich. Sie alle denken, sie kennen mich. Schließlich haben sie meine Facebook-Seite gesehen, die mit Photoshop bearbeiteten Fotos, aus denen mein künstlich erschaffenes Leben aufgebaut ist. Sie glauben, was sie sehen – weil sie es glauben wollen. Sie wollen glauben, dass ich normal bin. Und in den kurzen Momenten, in denen ich mit ihnen zusammen bin, wiege ich mich ebenfalls in diesem Glauben.

Ich drehe mich zur Wand um und stehe auf, ziehe den teuren Tanga über meine straffen Pobacken, beuge mich vor und setze meinen intimsten Bereich seinem hungrigen Blick aus. Die gestickte Spitze rutscht das restliche Stück an meinen Beinen hinunter und fällt um meine Knöchel, bleibt an den italienischen Stilettos hängen, in denen perfekt pedikürte Füße stecken. Jetzt bin ich nackt und lasse mich hinuntergleiten, lege mich auf einen Ellenbogen gestützt vor ihm auf die Seite, während sich seine Augen begierig an meinem Körper weiden. Die strahlend hellen und heißen Lichter beleuchten meine nackte Haut und lassen sie schimmern. Er spricht, und ihm ist die Erregung anzuhören, sein Akzent wird stärker.

»Berühre dich. Nur mit den Fingern. Ich will sehen, wie du kommst.«

Er will ein raffiniertes Vorspiel – eine verführerische Darbietung von Stöhnen, Keuchen und Fingerfertigkeit. Irgendwann werden ihm meine Finger nicht mehr genug sein. Bei seinem nächsten Besuch wird er mehr wollen, etwas Größeres, Tieferes – mein Stöhnen soll lauter werden, meine Orgasmen heftiger. Es wird keine Geheimnisse mehr geben, keine Grenzen, keine Wünsche, die er nicht gern äußern wird. In diesem Moment gehöre ich ihm, um zu tun, was immer er will. Und genau jetzt will er meine Finger.

Ich arrangiere mich so, dass er meine gespreizten Beine sehen kann, mein völlig entblößtes, feuchtes Geschlecht. Mit geübten Bewegungen dringe ich erst mit einem, dann mit zwei Fingern in mich ein, gleite immer wieder hinein und hinaus, mit langsamen, verführerischen, streichelnden Bewegungen. Ich habe die Augen geschlossen und den Kopf nach hinten gelegt. Ich höre sein Keuchen, das Rascheln von Kleidern, einen Reißverschluss und dann ein Aufstöhnen, als seine Hand seinen Schwanz findet. Unverständliche Worte, ein kurzes Abgleiten in eine andere Sprache, die Bedeutung ist klar trotz des fremden Zungenschlags. Ich beschleunige das Tempo meiner Finger, dann halte ich inne, spreize die Schamlippen und entblöße die empfindliche Knospe, die die Macht über meine Ekstase besitzt. Ich stöhne leise auf, ein gehauchter Seufzer, der von Begehren und Bedürfnissen spricht, und verteile den Beweis meiner Lust auf meiner geschwollenen Klitoris. Der Tempowechsel löst ein Stöhnen bei ihm aus.

»Jessica …« Er flüstert meinen Namen. Sehnsucht und Verlangen liegen in jeder Silbe. »Bitte. Ich muss sehen, wie du kommst.«

Ich blicke auf und starre in die grellen Lichter vor mir, ein dünner, feuchter Schimmer glänzt auf meiner Haut. Ich beiße mir auf die Unterlippe und reiße die Augen weit auf, während meine Finger mit schnellen, hastigen, zielsicheren Bewegungen erneut tief in mein Innerstes vorstoßen, Haut trifft auf Haut, mit jedem Stoß reibt mein Handballen über meine Klitoris in einer köstlichen Berührung, die mich in die ungefähre Richtung eines Orgasmus bringt.

Ich werde nicht kommen. Ein echter Orgasmus ist ein gelegentliches Vorkommnis, eines, das mein gemarterter Körper in erschöpfter Verzweiflung ausspuckt, eines dieser »Hier, nimm schon!«-Geschenke. Meistens bin ich völlig übersättigt von Sex, und mein Körper, meine Muschi, sind immun gegen die Stimulation. Aber das weiß dieser Mann nicht. Er weiß nur, dass ich zehn Minuten nachdem meine Finger zum ersten Mal in die feuchten Falten meines Allerheiligsten eingedrungen sind, den Rücken krümme, die Augen schließe und den absolut tollsten, fantastischsten, umwerfendsten Orgasmus meines Lebens habe. Ich schaudere, ich stöhne; ich hole alles aus diesem vorgetäuschten Orgasmus heraus. So wie immer.

Er ächzt bei meinem Höhepunkt, seine Hand erzeugt in einem unglaublichen Tempo glitschige Geräusche, und ein erstickter Laut dringt an meine Ohren, ein schauderndes Stöhnen, das schließlich in schwere, keuchende Atemzüge übergeht.

Dann absolute Stille. Kein Atmen, kein Rascheln von Stoff, keine zufriedenen Seufzer.

Ein elektronisches Piepsen ertönt, ein Signal, das ich schon Tausende Male gehört habe. Ich strecke mich, schnappe mir die Unterwäsche und rolle mich herum, springe vom Bett und gehe auf zehn Zentimeter hohen Absätzen vorsichtig über weichen Teppich, bis ich die Tastatur meines Computers erreiche. Ich drücke auf eine Taste und verlasse die Webseite.

Die Lichter gehen aus.

1

Ich habe seit drei Jahren keinen anderen Menschen berührt. Das hört sich schwierig an, ist es aber nicht. Nicht mehr, dank des Internets. Dem Ort, der mir mein Einkommen sichert und mich im Tausch gegen meine Kreditkartennummer mit allem versorgt, was ich mir wünsche. Ich musste wegen gewisser Umstände in den Untergrund gehen, und sobald ich in dieser Welt war, deckte ich mich mit ein paar praktischen Dingen ein, zum Beispiel einer neuen Identität. Jetzt bin ich, wenn nötig, Jessica Beth Reilly. Ich verwende einen Decknamen, um zu verhindern, dass andere Leute von meiner Vergangenheit erfahren. Mitleid ist ein Biest, dem ich lieber aus dem Weg gehe. Der Untergrund bietet eine Fülle von Versuchungen, aber bislang habe ich, mit einer bemerkenswerten Ausnahme, die Finger von illegalen Waffen und nicht registrierten Pistolen gelassen. Ich weiß, wo die Grenze ist.

Der UPS-Mann kennt mich inzwischen – er weiß, dass er die Päckchen für mich im Flur stehen lassen und meine Signatur selbst auf sein Unterschriftenpad kritzeln soll. Sein Name ist Jeremy. Vor etwa einem Jahr war er krank, und ein Fremder kam an meine Tür. Er weigerte sich, das Paket stehen zu lassen, ohne mich gesehen zu haben. Ich hätte fast die Tür geöffnet und ihm sein Kartonmesser aus der Hand gerissen. Sie tragen fast immer etwas Scharfes mit sich rum. Das ist eine der Sachen, die ich an Lieferanten liebe. Ich blieb jedenfalls hart und weigerte mich zu öffnen, und er blieb stur und stritt sich mit mir durch die geschlossene Tür hindurch, bis er es leid war und ging und das verdammte Paket wieder mitnahm. Seitdem ist Jeremy nicht wieder krank gewesen. Ich weiß nicht, was ich tun werde, sollte er je kündigen. Ich mag Jeremy. Aus meiner verzerrten Gucklochperspektive gibt es sogar vieles an ihm, was man mögen muss. Kräftig gebaut, kurze dunkle Haare und ein Lächeln, das sich schnell und leicht über sein ganzes Gesicht ausbreitet, selbst wenn es keinen einzigen verdammten Grund zu lächeln gibt.

Der erste Seelenklempner, den ich hatte, sagte, ich hätte Anthropophobie, was so viel wie Angst vor menschlicher Interaktion bedeutet. Das, gemischt mit einer ungesunden Dosis Daknomanie – der Besessenheit vom Töten. Das hat er mir über Skype erzählt. Als Gegenleistung für seine psychologischen Ansichten habe ich ihm dabei zugesehen, wie er sich einen runtergeholt hat. Er hatte einen kleinen Schwanz.

Ich glaube, mit der zweiten Hälfte seiner Diagnose hatte er recht. Aber ich habe keine Angst vor menschlicher Interaktion. Ich habe Angst davor, was passieren wird, wenn ich einem anderen Menschen nahe genug komme, um zu interagieren. Sagen wir einfach, ich kann nicht gut mit anderen Leuten umgehen. Obwohl ich mir alle Mühe gebe, direkte menschliche Kontakte zu vermeiden, verbringe ich den ganzen Tag mit virtueller Interaktion. Für die Leute, mit denen ich camme, bin ich JessReilly19, eine quirlige neunzehnjährige Collegestudentin mit Touristik im Hauptfach, die auf Popmusik, Alkoholausschank an Minderjährige und Shoppen steht. Keiner von ihnen kennt mein wahres Ich. Ich bin, was sie wollen, dass ich bin, und genau das gefällt ihnen. Mir auch. Mein wahres Ich zu kennen, würde ihnen den Spaß verderben. Mein wahres Ich ist Deanna Madden, deren Mutter ihre ganze Familie getötet und anschließend Selbstmord begangen hat. Damals war es eine Riesennachricht, die »Tragödie trifft Vorzeigefamilie«-Story des Sommers. Mein Name wurde mit Mitgefühl und Mitleid in Verbindung gebracht, und die ganze Geschichte machte mich zu einer traurigen Berühmtheit. Aber dann schlugen andere Tragödien zu, und meine Familie war Schnee von gestern. Ich habe viel von meiner Mutter geerbt, unter anderem die edlen Gesichtszüge, die langen Beine und das dunkle Haar. Doch das größte genetische Geschenk war ihr Drang zum Töten. Das ist der Grund, weshalb ich mich von anderen Leuten fernhalte. Weil ich töten will. Ständig. Es ist fast das Einzige, woran ich denken kann.

Meine inneren Dämonen haben mich hierhergetrieben, in Apartment 6E, seit drei Jahren meine Welt, wo auf achtzig Quadratmetern alles, was ich brauche, zu finden ist. Innerhalb dieser Wände habe ich gelernt, wie ich mein Einkommen erwirtschaften und kontinuierlich steigern kann. Von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags arbeite ich auf einer Webseite namens sexnow.com, deren Kundschaft überwiegend aus Asiaten, Europäern und Australiern besteht. Von sechs Uhr abends bis elf Uhr nachts bewege ich mich auf amerikanischem Gebiet, cams.com. Die Zeit zwischen den Schichten verbringe ich mit Essen, Trainieren, Duschen und dem Beantworten von E-Mails – immer in dieser Reihenfolge. Ich lebe nach einem strengen Zeitplan. Das hilft mir, meinem Gehirn zu sagen, wann es sich wie verhalten soll, und es hilft mir, meine Impulse und Fantasien zu kontrollieren.

Wenn möglich, versuche ich die Kunden zu bewegen, die Cam-Seiten zu umgehen und meine eigene Webseite zu benutzen, um einen Termin zu buchen und zu bezahlen. Wenn sie über meine Webseite gehen, bekomme ich 96,5 Prozent dessen, was sie bezahlen, außerdem kann ich das Geld am Fiskus vorbeischleusen. Die Cam-Seiten geben mir nur 28 Prozent von den Einnahmen, was an Wucher grenzt. Ich berechne 6,99 Dollar die Minute. In einem guten Monat mache ich um die 55 000 Dollar mit dem Camming – in einem schlechten ungefähr 30 000.

Dieser Verdienst macht 70 Prozent meines gesamten monatlichen Einkommens aus; der Rest kommt von den Abonnements meiner Webseite, die es den Männern ermöglichen, sich ein Videofeed meiner verschiedenen Cam-Sessions anzusehen. Ich sende mindestens vier Stunden täglich und berechne den Abonnenten zwanzig Dollar im Monat. Ich selbst würde ja keine zehn Cent bezahlen, um mich online masturbieren zu sehen, aber dreihundertfünfzig Abonnenten sehen das offenbar anders.

Die 6,99 Dollar pro Minute räumen den Kunden die Möglichkeit ein, ihre sexuellen Fantasien nach Herzenslust zu offenbaren, ohne Angst vor Bloßstellung oder Kritik haben zu müssen. Ich verurteile die Männer und Frauen, die mit mir chatten und ihre verborgensten Wünsche und Perversionen preisgeben, nicht. Wie könnte ich? Mein Geheimnis – meine Besessenheit – ist schlimmer als jede dunkle Seite von ihnen. Um sie unter Kontrolle zu halten, tue ich das Einzige, was ich tun kann: Ich schließe mich ein. Indem ich das tue, sorge ich dafür, dass ich selbst und alle anderen in Sicherheit sind.

Mein Vermögen ist riesig. Einfach ausgedrückt: ein gigantischer Haufen Geld, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich damit anfangen soll. Ich kann nur in begrenztem Umfang in Sexspielzeug und Gleitmittel investieren. Und wenn ich darüber nachdenke, was ich mit all der Kohle anstellen könnte, muss ich an das Leben außerhalb dieses Apartments denken – daher rühre ich es nicht an. Die Beträge werden auf mein Konto eingezahlt und ignoriert. Vielleicht werden sie eines Tages verwendet werden, vielleicht auch nicht. Aber ich bin froh über dieses Polster. Ich fühle mich beschützt, weil ich es habe. Es gibt mir das Gefühl, dass wenigstens ein Teil meines Lebens richtig verläuft.

Ich versuche, jede Nacht mindestens acht Stunden zu schlafen. Die Nacht ist die Zeit, in der ich am schwersten zu kämpfen habe. Das ist die Zeit, in der es mich nach Blut dürstet, nach dem Saft des Lebens. Daher haben Simon Evans und ich eine Abmachung getroffen. Simon lebt drei Türen weiter in diesem Dreckloch, das wir »Apartmentkomplex« nennen. Im Laufe der letzten drei Jahre hat er eine starke Abhängigkeit von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln entwickelt. Ich sorge dafür, dass sein Pillenfläschchen stets gefüllt ist, und er schließt mich nachts ein. Meine Tür ist garantiert die einzige in diesem Wohnhaus ohne einen Schließriegel auf der Innen-, sondern einem auf der Außenseite.

Früher habe ich das von Marilyn erledigen lassen. Sie ist eine großmütterliche Frau, die sich mit dem bisschen Kleingeld über Wasser hält, das sie als Sozialhilfe erhält. Sie wohnt gegenüber von Simon. Aber Marilyn hat sich selbst zu viel Stress gemacht. Sie hatte ständig Angst, es könnte bei mir irgendeinen persönlichen Notfall oder ein Feuer oder sonst irgendetwas geben, und ich müsste die Wohnung verlassen können. Also musste ich jemand anderen finden. Weil ich weiß, was käme, wenn ich Ausnahmen erlauben würde. Nachts würden meine Finger anfangen zu jucken, und ich würde drauf und dran sein, das Telefon in die Hand zu nehmen und sie zu bitten, meine Tür aufzuschließen. Und dann würde ich danebenstehen und darauf warten, dass sich der Riegel bewegt und meine Tür aufgeschlossen würde. Wenn ich sie öffnete und in Marilyns zerfurchtes und erschöpftes Gesicht sähe, würde ich sie töten. Nicht sofort. Ich würde ein paarmal auf sie einstechen, noch ein bisschen Leben in ihr lassen und darauf warten, dass sie wegrennen, dass sie schreien würde. Ich mag das Geräusch von Schreien – echten Schreien, nicht den erbärmlichen Abklatsch davon, den uns die meisten Filme als Laute des Entsetzens verkaufen wollen. Dann würde ich sie zur Strecke bringen und den Rest möglichst langsam erledigen. Ihren Schmerz, ihr Leiden, ihre Erkenntnis, dass sie ihren Tod selbst verschuldet hat, in die Länge ziehen. Ich hatte sogar schon ein Messer ausgewählt und angefangen, es in dem Pappkarton neben der Tür aufzubewahren, der meine ausgehende Post und allen möglichen anderen Kram enthält. Das war der Zeitpunkt, als ich wusste, dass es allmählich zu schlimm mit mir wurde. Das war der Zeitpunkt, als ich mich für Simon entschied. Seine Abhängigkeit ist stärker als jede Sorge, die er sich um mein Wohlbefinden machen könnte.

Ich weiß, was Sie denken. Dass ich theatralisch bin. Dass ich einmal einen Stephen-King-Film gesehen habe und von dem Gedanken an Blut erregt wurde. Aber Sie wissen nicht, wie verkommen mein Verstand ist. Sie kennen die Gedanken nicht, mit denen ich zu kämpfen habe, die Fantasien, die ich verzweifelt in Schach zu halten versuche. Simon kennt mich mit Sicherheit nicht. Er denkt, dass ich eine Einsiedlerin mit nächtlichen Ängsten bin – dass ich schlafwandle. Ich bin sicher, er hält die Hingabe, mit der ich an dem Schloss festhalte, für lächerlich, und die Hartnäckigkeit, mit der ich auf meine strengen Forderungen bestehe, für extrem. Meine Drohungen spitzen sich immer dann zu, wenn er sich verspätet, aber das kommt nicht oft vor. Ich muss die Unterbrechung seiner Versorgung nur erwähnen, und schon ist er wieder auf Zack. Das Verlässlichste auf der Welt sind die Begierden eines Süchtigen. Ich glaube, sie sind schlimmer als meine eigenen. Aber die einzige Person, der Simon mit seiner Sucht etwas antut, ist er selbst. Ich hingegen habe außerhalb dieser Wände eine ganze Welt von Opfern.

2

Seine Fantasien werden stärker. Das letzte Mädchen ist fast drei Jahre her, und sein Trieb hat den rational denkenden Teil seines Verstandes überwältigt. Diese Einladung war auch keine Hilfe. Die Ankündigung, wie ein riesiges leuchtendes Schild, dass sie sechs wird. Sie kam mit der Post, rosa Bastelpapier mit kindlicher Schrift darauf, die nur die ihre sein konnte.

Er hatte gehofft, ein Kratzen würde nicht nötig sein, das Jucken könnte auf ein Minimum zurückgedrängt und auf einem erträglichen, beherrschbaren Niveau gehalten werden. Aber er kann spüren, wie er schwach wird, wie er aus dem Tritt zu kommen droht. Er hofft, dass ein Rollenspiel genügen wird, um den Juckreiz zu befriedigen, und sein Vergnügen an den Sessions macht ihm Hoffnung.

Aber zur Sicherheit muss er sich vorbereiten. Für den Fall, dass er straucheln, dass er stürzen sollte, muss alles geregelt sein. Diesmal wird er das Mädchen länger dabehalten. Genügend Erinnerungen schaffen, um längere Zeit danach über die Runden zu kommen. Seine Hände zittern, und er steckt sie in die Hosentaschen, geht über das Gras zum vorderen Ende des Trailers und zieht den zerknitterten Umschlag aus der Tasche, der den Schlüssel enthält. Er sieht sich auf dem leeren Gelände um, während der Wind durch das stille Gebüsch am Rand raschelt. Völlige Abgeschiedenheit umgibt ihn. Er zerreißt das Papier, ignoriert das Schreiben des Vermieters und lässt den Schlüssel in der Hand verschwinden.

Vorbereitung. Nur zur Sicherheit. Vielleicht wird er diesen Ort gar nicht benötigen. Aber für alle Fälle sollte er dafür sorgen, dass alles bereit ist. Vorbereitung hat sich in der Vergangenheit immer bezahlt gemacht.

3

Mein Hörvermögen auf dem linken Ohr ist außergewöhnlich gut, und ich genieße es, an der Tür meines Apartments in der sechsten Etage zu sitzen und auf das Tun und Treiben zu lauschen, das im Flur vor sich geht. Es ist erstaunlich, wie viel die Leute auf dem Weg vom Aufzug zu ihrer Wohnung von sich preisgeben. Manchmal treten sie vor ihre Tür, um ein bisschen »Privatsphäre« zu haben – was ich schlichtweg lächerlich finde. Von meinem Platz neben der Tür aus höre ich die Streitereien, die heimlichen Telefongespräche und die alltägliche Normalität, die so viel über einen Menschen verrät. Simon war lange Zeit der »rauchende Rotschopf«. In dem Pappkarton neben meiner Tür bewahre ich ein Notizbuch auf, in dem ich jedem Bewohner unserer Etage, mich selbst eingeschlossen, eine Seite gewidmet habe. Es gibt fünfzehn »Sechser«, wie ich uns gern nenne, und als Simon einzog, schrieb ich »der rauchende Rotschopf« oben auf die Seite.

Er zog mit einem Mädchen ein, das, soweit ich es durch mein Guckloch erkennen konnte, an Abschaum grenzte. Sie stritten sich, während sie schwarze Müllsäcke mit irgendwelchem Kram hinter sich herschleppten, und ihre Stimme unterbrach seine zweimal zwischen dem Aufzug und der Wohnungstür. Ich legte für sie eine Seite an und machte mir unter der Überschrift »Abschaum-Abby« erste Notizen. Später erfuhr ich, dass sie Beth hieß und in einer Filiale der Restaurantkette Applebee’s arbeitete. Zwei Wochen nachdem sie eingezogen waren, hatten die beiden Streit, sie zog aus, und ich riss ihre Seite aus dem Büchlein. Nach ihren Abschiedsworten zu urteilen, würde sie nicht mehr wiederkommen.

Simons derzeitige Freundin heißt Vicodin. Im Gegenzug dafür, dass er mich in meiner Wohnung einschließt, sorge ich dafür, dass seine Freundin immer wiederkommt. Nach dem Grad seiner Abhängigkeit zu urteilen, ist Vicodin ein anspruchsvolles Miststück, das ihn in den Tagen vor dem Monatsersten, wenn seine nächste Bestellung eintrifft, in einen winselnden, unterwürfigen Kriecher verwandelt. Simon weiß, dass er, sollte er mir je vor dem Morgengrauen die Tür aufschließen und mich hinauslassen, keine Pillen mehr von mir bekommen und seine Sucht unbefriedigt bleiben wird. Ihm ist nicht bewusst, dass er durch meine Hand sterben könnte.

4

Annie

Sie sitzt auf einem der hohen Hocker in der Küche und tritt gegen das Brett unter dem Tresen, sodass ihr Hocker sich langsam dreht, erst nach rechts und dann nach links. Ihre Schultasche, an den Rändern ausgefranst nach drei Jahren Gebrauch im Kindergarten, liegt vergessen am Fuß der Theke, gezeichnet von sichtbaren Spuren eines Tags, der mit Lesen, Schreiben und Busfahren verbracht wurde.

»Hör auf damit«, sagt Annies Mutter, ohne sich umzudrehen. Das Geräusch von den Tritten ihrer Tochter geht ihr auf die Nerven. Sie nimmt zwei Scheiben Brot und bestreicht sie auf einer Seite mit Erdnussbutter, holt einmal tief Luft und schraubt den Deckel zu. Dann öffnet sie das Marmeladenglas und wirft Annie einen warnenden Blick zu.

Annie hört auf, benutzt stattdessen die Hände auf dem Tresen, um ihren Hocker zu drehen, und sieht auf die Digitalanzeige der alten Mikrowelle über dem Herd. 15:49 Uhr. Nur noch zwei Tage bis zu ihrer Party. Sie stemmt sich von ihrem Hocker, und die abgelaufenen Sohlen ihrer Turnschuhe schmatzen über den sauberen Linoleumboden, während sie zu dem runden Tisch hinübergeht, der in einer Ecke der Küche steht. Sie umrundet langsam den Tisch und gleitet dabei mit den Händen über die bunten, glitzernden Plastiktüten, die mit Süßigkeiten, Filzstiften und Bögen mit Abziehbildern gefüllt sind. Zehn kleine Geschenktüten insgesamt, für ihre zehn besten Freundinnen. Als sie ihren Vater rufen hört, wendet sie sich vom Tisch ab und läuft los, folgt dem Klang seiner Stimme, bis sie die Sofalandschaft erreicht, die im Wohnzimmer steht.

Ihr Vater will Gesellschaft, daher setzt sich Annie zu ihm. Die Füße untergeschlagen, rollt sie sich in einer Ecke der Couch, ganz in der Nähe von ihm, zusammen. Ihr Hund, ein Straßenköter, der zwei Wochen lang an der Tür des Trailers, des ärmlichen, wellblechverkleideten kleinen Hauses, gekratzt hat, bevor ihre Mutter schließlich nachgab und ihn aufnahm, springt neben ihr auf das Polster. Er umkreist sie zweimal, bevor er es sich, an ihren Körper gekuschelt, bequem macht. Sein drahtiges schwarz-graues Fell kratzt an ihrem nackten Bein, und sie streckt eine Hand aus und tätschelt ihm den Kopf. Er klopft langsam und gleichmäßig mit dem Schwanz, schlägt ein Auge auf und sieht sie zufrieden an. Er ist ein braver Hund, aber eigentlich hätte sie lieber ein Kätzchen – eines mit einem weichen Fell und großen Augen, das sich abends zu ihr ins Bett legt.

»Wie war’s in der Schule?« Die Stimme ihres Vaters klingt harsch, aufgeraut von jahrelangem Zigarettenrauchen und Husten. Er greift nach seinem Tee, und ein kondensierter Wassertropfen kullert am Rand des Bechers hinunter und landet mit einem lautlosen Platscher auf seinem Hosenbein.

»Es war schön, Daddy.«

»Gefällt dir die erste Klasse?«

Eine Limonadenreklame kommt im Fernsehen, und Annie sieht zu, wie ein juwelenbehängter Popstar singend und tanzend eine belebte Straße hinunterläuft. »Ich glaube schon.«

»Wie ist deine Lehrerin? Miss Sittich, heißt sie nicht so?«

Annie kichert, streckt eine Hand aus und kneift ihn in den Arm. »Sie heißt Miss Sperling, Daddy. Das habe ich dir schon ungefähr achtmal gesagt.«

»Oh, entschuldige, das bringe ich ständig durcheinander.« Er streicht spielerisch mit einer Hand über ihren blonden Schopf. »Bist du schon aufgeregt wegen deiner Party?«

Sie nickt begeistert. »Superaufgeregt, Daddy.«

5

MÄNNLICHESANUSSPIEL: Viele Männer empfinden passiven Analsex als angenehm, und manche können durch anale Penetration zum Orgasmus kommen – durch die Stimulation der Prostata. Pegging ist der Begriff für die sexuelle Praxis, bei der eine Frau den Anus des Mannes mit einem Umschnalldildo penetriert.[1] Das National Institute of Health stellt in einem im British Medical Journal publizierten Artikel fest: »Es gibt nur wenige veröffentlichte Daten darüber, wie viele heterosexuelle Männer in einer heterosexuellen Beziehung gern hätten, dass ihr Anus sexuell stimuliert wird. Angeblich soll die Anzahl beträchtlich sein. Die Daten, über die wir verfügen, beziehen sich fast ausschließlich auf penetrative sexuelle Akte, der oberflächliche Kontakt des Analrings mit Fingern oder der Zunge ist nur wenig dokumentiert. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es sich dabei um ein häufig auftretendes sexuelles Bedürfnis bei Männern jeder sexuellen Orientierung handelt.«[2]

Der Username eines Kunden kann mir viel über die betreffende Person verraten. Beschreibende Nicknamen wie DoctorPat92 oder 1HotLawyer sagen oft etwas darüber aus, wer sie sind oder wer sie gern wären. Zahlen in einem Usernamen stehen im Allgemeinen für das Jahr ihres Schulabschlusses, ihr Alter oder das Geburtsjahr eines Kindes. In meinem Chatroom bewegen sich jede Menge »Doktoren«, aber DoctorPat ist ausnahmsweise tatsächlich Arzt. Und wie Sie sich vielleicht denken können, habe ich gelegentlich Bedarf an einem.

DoctorPat92s richtiger Name ist Dr. Patrick Henton. Er ist ein fünfundfünfzigjähriger Allgemeinmediziner in einer Kleinstadt in Maine namens Buckfield. Nach seinen Google-Bewertungen zu urteilen, ist er beliebt und kompetent, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie kompetent der einzige Arzt in einer Stadt mit tausendneunhundert Einwohnern sein muss. Für meine Grundbedürfnisse reicht er vollkommen aus. Ein isoliert lebendes Individuum ohne Zugang zur Außenwelt müsste sich schon große Mühe geben, um krank zu werden oder sich zu verletzen. Meine Basisversorgung beschränkt sich auf Folgendes: Medikamente. Nicht für mich, sondern für Simon. Ich bin sicher, DoctorPat denkt, dass ich die Schmerzmittelsüchtige bin. Eigentlich ist es mir egal, was DoctorPat denkt. Er stellt mir Rezepte aus, und ich sehe ihm dabei zu, wie er zwanzig Zentimeter lange Dildos in seinen Allerwertesten schiebt. Es ist eine Win-win-Situation für beide.

Unsere Chats begannen relativ normal und auf dieselbe Weise, wie es die meisten Beziehungen tun.

DoctorPat92: hey.

»Hi, Doc. Ich heiße Jessica. Und du?«

DoctorPat92: Pat. Patrick, wenn du förmlich sein willst.

Ich lachte, während ich im Schneidersitz auf meinem Bett saß, ein breites Grinsen im Gesicht. »Ich bin nicht förmlich. Also, Pat. Bist du wirklich Arzt?«

DoctorPat92: ja.

»Wow! Ich habe schon immer davon geträumt, mit einem Arzt zusammen zu sein.« Ich riss die Augen weit auf und kniete mich hin. »Und woran bist du heute Abend interessiert?«

DoctorPat92: an dir. kannst du deine kleider ausziehen?

»Natürlich. Alle?«

DoctorPat92: du bist schön.

DoctorPat92: ja. langsam bitte.

DoctorPat92: langsamer.

DoctorPat92: danke. und jetzt leg dich hin, einfach so, und erzähl mir von dir.

Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, meine Antworten physisch zu tippen. Die meisten Camgirls tippen, reden aber nicht. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ihr Englisch so grottenschlecht ist oder dass sie in einer Art Camming-Sweatshop arbeiten, wo es klingen würde wie in einem russischen Callcenter, wenn alle Mädchen gleichzeitig reden würden. Die Männer wollen nicht wissen, dass sie einer von vielen sind. Sie wollen sich ein Mädchen in seinem Schlafzimmer vorstellen, ohne irgendjemanden sonst, ein Mädchen, das ausschließlich mit ihnen reden will. Ich glaube, die Tatsache, dass ich rede, trägt zu meiner Beliebtheit bei. Dass ich Amerikanerin bin – für sich genommen schon seltsam genug –, ist ebenfalls ein großes Plus. Das direktere Erlebnis für die Kunden ist ein Grund, weshalb ich mit ihnen rede. Der andere Grund ist, dass es wirklich schwierig ist, gleichzeitig zu tippen und zu masturbieren, jedenfalls für mich. Die Männer scheinen damit kein Problem zu haben.

Wir chatteten acht Mal, bevor DoctorPat eine Webcam bei sich anschloss. Ich mag es, wenn ich die Kunden sehen kann. Es ist schon witzig, wie sich der Verstand ein Bild von einer Person macht und wie sehr diese Vorstellung normalerweise von der Realität abweicht. Bei DoctorPat lag ich allerdings nicht allzu weit daneben. Er war absolut unscheinbar, ein typischer männlicher Erwachsener in den Fünfzigern mit einem dichten, grau melierten Haarschopf, von durchschnittlichem Körperbau und normalem Aussehen. Was ich bei DoctorPats Livestreaming viel erstaunlicher fand, war die Tatsache, dass er vollständig bekleidet war. Mit seiner Drahtgestellbrille auf der Nase sah er so unschuldig aus, als hätte er sich eben hingesetzt, um mit seinen Enkelkindern zu skypen.

Als er seine Webcam das zweite Mal benutzte, fragte ich nach.

DoctorPat92: kannst du mich sehen?

»Ja. Das Video ist on. Hey!« Ich winkte aufgeregt, als hätte ich den ganzen Tag darauf gewartet, ihn zu sehen.

DoctorPat92: gut. entschuldige, kann das audio nicht benutzen. meine frau ist unten.

»Macht nichts. Ist das der Grund, weshalb du angezogen bist?«

DoctorPat92: ja.

Er schien noch mehr tippen zu wollen, daher wartete ich.

DoctorPat92: außerdem.

DoctorPat92: ich bin noch nicht bereit dafür, dass du siehst, was ich gern tue.

»Warum nicht?«

DoctorPat92: es ist seltsam.

Ich lachte. »Ich kann dir versichern, es ist nicht seltsam. Und selbst wenn, seltsam ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Ich mag seltsam.«

DoctorPat92: vielleicht ein andermal.

»Berührst du dich … ich meine, wenn wir chatten?« Ich glitt mit einer Hand langsam über meinen nackten Bauch. Ich lag auf der Seite, auf meiner rosa Tagesdecke, die ich eigens für die Cam-Sessions angeschafft habe. Das Muster und die Farbe wirken mädchenhaft und unschuldig. Jungfräulich. Das mögen die Männer.

DoctorPat92: gelegentlich. wenn niemand da ist, sehe ich dir gern zu. manchmal denke ich später an dich.

»Wenn du mit deiner Frau zusammen bist?«

DoctorPat92: ja. oder wenn ich mich selbst befriedige.

»Warst du je mit einer Patientin zusammen?«

DoctorPat92: nein.

Nach seiner Miene zu urteilen, schien ihm die Frage nicht zu gefallen, daher wechselte ich das Thema. »Ich weiß, dass du noch nicht bereit bist, mir zu zeigen, was dir gefällt. Willst du es mir vielleicht sagen?«

Als erste Reaktion hob er eine Hand und schaltete die Webcam aus.

Ich wartete. Er war im Begriff, entweder den Chat zu beenden oder mir mehr zu erzählen. Aus irgendeinem Grund fühlen sich Männer wohler dabei, ihre Geheimnisse preiszugeben, wenn sie unsichtbar sind.

DoctorPat92: denk nicht, dass ich seltsam bin.

Ich lachte. »Ich verspreche dir, ich werde nicht denken, dass du seltsam bist. Ich schwöre es.«

DoctorPat92: ich stecke gern dinge in mich hinein.

Ich dämpfte meine Stimme und schlug meinen »Du bist ein böser Junge, aber ich finde das heiß«-Tonfall an. »Du meinst, du lässt dich gern vögeln?«

Eine lange Pause. Ich biss mir auf die Unterlippe und hielt den Blick auf die Webcam gerichtet.

DoctorPat92: ja.

»Das ist nicht seltsam. Ich finde es heiß. Ich mag es, wenn ein Mann schräg drauf ist.« Ich glitt mit meiner Hand weiter nach unten, bis sie meine Bikinizone streifte.

DoctorPat92: denkst du, ich bin schwul?

Wenn man getippte Worte liest, lässt sich bei manchen Fragen schwer sagen, wie sie gemeint sind. Ich wusste nicht, ob er selbst herauszufinden versuchte, ob er schwul war, oder ob er wollte, dass ich ihn für schwul hielt, oder ob er einfach meine Reaktion testen wollte.

Ich legte den Kopf auf die Seite. »Ich nehme an, das hängt davon ab, woran du denkst, wenn du penetriert wirst. Du chattest doch gern mit mir, oder?«

DoctorPat92: ja.

»Du weißt, dass es auf dieser Seite Männer, schwule Männer, gibt, die nicht mit der Wimper zucken würden, wenn sie hören, dass du dich gern vögeln lässt. Warum chattest du nicht mit denen?«

DoctorPat92: weil ich dich mag. du bist witzig und süß. ich denke an dich, wenn ich dinge in mich hineinstecke.

DoctorPat92: ich stelle mir vor, wie du mir zusiehst.

Ich kicherte. »Dann lass uns genau das tun! Machen wir einen Termin für irgendwann später, wenn du allein bist …« Ich schob meine Hand noch weiter nach unten, glitt mit den Fingern sanft über meine empfindlichen Schamlippen. »Und ich kann dir dabei zusehen. Ich will dir dabei zusehen. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

DoctorPat92: wirklich nicht?

»Nein.«

Das war eine glatte Lüge. Ehrlich gesagt werde ich von Männern ziemlich oft gebeten, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich selbst irgendwelche Dinge in den Hintern schieben. Ich verstehe das nicht – aber ich habe auch eine Muschi, die perfekt geeignet für Spielzeug jeder Art ist. Wenn sie eine Muschi hätten, würden sie sich vermutlich auch nichts in dieses andere Loch stecken wollen. Außerdem habe ich keine Prostata. Wenn ich eine hätte, würde ich den Hang zu Analsex vielleicht verstehen. Meinem Sextherapeuten zufolge sind Männer, die sich Spielzeuge im Hintern wünschen, tatsächlich homosexuell – sie weigern sich nur, es vor sich selbst zuzugeben. Sie glauben, wenn ein Mädchen ihnen dabei zusieht, wie sie einen fünfundzwanzig Zentimeter langen schwarzen Dildo anal einführen, fühlen sie sich weniger schwul. Aber die Sache hat eine Kehrseite, sagt zumindest mein Therapeut. Nur weil ein Typ sich selbst penetrieren will, muss er noch lange nicht schwul sein. Es gibt Hetero-Männer, die sich an dieser Art der Stimulation aufgeilen, aber trotzdem kein Interesse an der Berührung eines anderen Mannes haben.

Daher zog ich keine vorschnellen Schlüsse und stellte mir nicht die Frage, ob DoctorPat schwul, hetero oder irgendeine Kombination von beidem war. Ehrlich gesagt, war es mir scheißegal, was er war. Das Einzige, was mich interessierte, war das Ticken der Uhr in der rechten oberen Ecke meines Bildschirms, die ständig voranschritt und mir so einen Dollar nach dem anderen einbrachte.

Das war der Beginn unserer Beziehung. Ich wartete zwei Monate, bevor ich die Sache mit den Schmerzmittelrezepten zur Sprache brachte. Ich wollte zuerst sehen, ob er mir als Stammkunde erhalten bleiben würde. Er blieb es. Ich schlug eine Abmachung vor, und er ging darauf ein. Unseren Deal haben wir jetzt seit zwei Jahren. Ich habe dabei zugesehen, wie dieser absolut durchschnittliche Arzt dicke Plastikdildos reitet, Analperlen benutzt und einmal – an einem x-beliebigen Donnerstag – eine Budweiser-Bierflasche zu seinem persönlichen Lieblingsspielzeug machte. Ein Chat alle zwei Wochen im Gegenzug für ein Rezept pro Monat. Ich glaube, ein Grund, weshalb DoctorPat mir illegale Rezepte ausstellt, ist, dass er sich Sorgen macht, ich könnte ihn erpressen. Er hat eine Frau und drei Kinder im Teenageralter, eine Tatsache, die sich nach vier Minuten bei Google leicht feststellen lässt. Seine Sorge ist unbegründet. Was ihn anmacht, ist seine Sache, nicht meine oder die von irgendjemandem sonst.

[1] Dan Savage, Savage Love, We Have a Winner!In: The Stranger, 21. Juni 2001, http://www.thestranger.com/seattle/SavageLove?oid=7730

[2] Robin Bell, Homosexual Men and Women. In: ABC of Sexual Health,British Medical Journal 318, Nr. 7181 (Februar 1999): 452–55; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1114912/

6

Die Lichter gehen aus – eine automatische Einstellung, die am Ende jedes Chats aktiviert wird. Ich lege mich zurück aufs Bett und gestatte meinem nackten Körper abzukühlen, jetzt, wo die Hitze der Lampen erloschen ist. Ich starre an die Decke hoch, meine Blicke folgen den Linien der freiliegenden Rohre, die im Dämmerlicht zu erkennen sind.

Mein Apartment ist ein einziger großer, offener Raum. Ich habe den starken Verdacht, dass die gesamte sechste Etage ein nachträglicher Einfall war – ein Dachboden, der aufgrund irgendeiner Last-minute-Entscheidung ausgebaut wurde. Die eine Hälfte des Raums ist nicht zu gebrauchen, denn aufgrund der Dachschräge sind ganze Teile der Wand nur einen knappen Meter hoch. Die Küche, die aus einer kurzen Reihe von Schränken und Haushaltsgeräten besteht, befindet sich mittig an der hinteren Wand. Ich betrachte sie als Trennlinie, die mein Apartment in zwei Hälften unterteilt: zum einen in meinen persönlichen Wohnraum, zum anderen in mein Cam-Studio. Der Grundriss ist seltsam, und die schräge Decke garantiert, dass ich mir mindestens einmal im Monat den Kopf anstoße. Aber es war eine der wenigen Wohnungen mit eigener Waschmaschine und Trockner, und allein schon aus diesem Grund war ich von ihr hellauf begeistert. Nächtliche Begegnungen in der Gemeinschaftswaschküche des Apartmentkomplexes hätten mit ziemlicher Sicherheit für eine Unterbrechung in meiner »Ich habe seit Jahren niemanden getötet«-Phase gesorgt.

Ich verstehe, dass mein Leben einem normalen Individuum seltsam vorkommen muss. Aber ich habe es so akzeptiert, wie es ist. Dieses Leben ist für mich okay, da ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe. Wenn ich will, dass andere in Sicherheit sind, muss ich selbst eingeschlossen sein. Würde ich gern frei durchs Leben laufen, Freunde haben, mich verlieben, die Sonne auf meinem Gesicht spüren? Ja. Aber das ist für mich keine Option mehr, daher hat es keinen Sinn, darüber nachzugrübeln und mich damit zu quälen.

Ich habe einmal ein Sammelalbum über mein künftiges Leben angelegt. Ich habe Zeitschriften abonniert und all die Elemente ausgeschnitten und auf quadratische Seiten geklebt, aus denen mein künftiges Leben bestehen würde. Es war mein Pinterest, bevor es Pinterest gab. Mein Seelenklempner sagte damals, meine Bastelei sei schädlich für meinen Fortschritt und mein Glück, und rückblickend betrachtet denke ich, dass er recht hatte. Es war nicht gesund, wie ich über diesen Seiten brütete und in meinen Tagträumen vor dem Einschlafen an Mädchenabende und Romantik dachte. Ich wollte das Album nicht wegwerfen, klammerte mich daran wie ein Alkoholiker an seinen letzten Drink, und meine Gespräche mit Dr. Derek führten zu Auseinandersetzungen, die damit endeten, dass ich den Hörer aufknallte und mit den Fingern ehrfürchtig über die Seiten des Albums glitt. Meine Besessenheit wurde stärker mit jeder Anweisung von ihm, es loszulassen.

ENDE DER LESEPROBE