5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €
Zwei vermisste Mädchen und ein Netzwerk des Grauens …
Der spannende Thriller mit Nervenkitzel-Garantie
Zwei Mädchen werden vermisst, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, aber in ganz unterschiedlichen Teilen Deutschlands leben. Das Einsatzteam um Alexander Bierbrauer ist alarmiert und arbeitet zusammen mit der SoKo Stralsund auf Hochtouren, um die Kinder zu finden. Doch die Ermittlungen laufen ins Leere und geraten immer wieder ins Stocken. Als eines der Mädchen ermordet in einem Waldstück entdeckt wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn sie haben es gleich mit mehreren Tätern zu tun, die vor nichts zurückschrecken …
Erste Leser:innenstimmen
„Ein packender Kriminalthriller und nichts für schwache Nerven!“
„Fesselnde und vielschichtige Geschichte, die bis zum Schluss für Spannung sorgt.“
„Nach "Tödliche Ufer" habe ich den zweiten Fall von Alexander Bierbrauer und Katie Hansen ebenso verschlungen.“
„Klare Leseempfehlung für diese authentische Regionalkrimiserie mit ihren interessanten Protagonisten und Ermittlungsteams!“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 571
Zwei Mädchen werden vermisst, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, aber in ganz unterschiedlichen Teilen Deutschlands leben. Das Einsatzteam um Alexander Bierbrauer ist alarmiert und arbeitet zusammen mit der SoKo Stralsund auf Hochtouren, um die Kinder zu finden. Doch die Ermittlungen laufen ins Leere und geraten immer wieder ins Stocken. Als eines der Mädchen ermordet in einem Waldstück entdeckt wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn sie haben es gleich mit mehreren Tätern zu tun, die vor nichts zurückschrecken …
Erstausgabe Juni 2023
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-144-5 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-151-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-329-6
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Dudarev Mikhail, © Tatyana Domnicheva, © Jorge Anastacio stock.adobe.com: © AVTG Lektorat: Birgit Förster
E-Book-Version 27.09.2024, 12:43:58.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
TikTok
YouTube
Zwei vermisste Mädchen und ein Netzwerk des Grauens …Der spannende Thriller mit Nervenkitzel-Garantie
Bevor Sie sich in die Lektüre meines Thrillers „Kinderseelen“ stürzen, möchte ich Sie warnen. Nicht, weil in diesem Buch besonders viel Blut fließt oder weil auch brutale Szenen sehr anschaulich beschrieben werden – das ist schließlich bei all meinen Büchern so. Ich warne Sie, weil es in dieser Geschichte um ein Thema geht, das viele Menschen zutiefst schockiert: den (sexuellen) Missbrauch von Kindern.
Ich kann das sehr gut verstehen, denn als ich zum ersten Mal mit diesen Verbrechen und ihrem mutmaßlichen Ausmaß konfrontiert wurde, war ich ebenso entsetzt. Als Journalistin tat ich das, was mir naheliegend erschien: Ich recherchierte und versuchte, mir ein Bild davon zu machen, ob das, was sich da andeutete, tatsächlich wahr sein konnte.
Was ich erfahren habe und was durch spektakuläre Enthüllungen, wie Lügde, Münster und Bergisch Gladbach, bestätigt wurde, macht mich wütend und traurig, es lässt mich in einem Gefühl der Hilflosigkeit zurück, und es beschämt mich. Denn was sagt es über uns alle aus, wenn in der Welt, in der wir leben, lieben, lachen und leiden Derartiges möglich ist? Wenn wir die Schwächsten unter uns nicht vor einem Leben in Angst, Schmerz und Hoffnungslosigkeit schützen können?
Doch was können wir tun? Als Einzelne auf den ersten Blick vielleicht nicht viel. Aber in jedem Fall kann jede und jeder von uns hinschauen und zur Kenntnis nehmen, dass der massenhafte sexuelle Missbrauch von Kindern nicht der Fantasie krankhafter Geister oder unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker entsprungen, sondern Realität ist. Und dass zumindest die Konsumenten der Ware Kind in allen gesellschaftlichen Kreisen zu Hause sind – auch in unserer Nachbarschaft. Das macht uns aufmerksamer, und es schützt uns davor, unwissentlich zu Mittätern zu werden, weil wir nicht hinschauen, wenn Kindern genau vor unserer Nase unendliches Leid zugefügt wird.
Deshalb mein Wunsch: Seien Sie nicht hysterisch, aber aufmerksam. Helfen Sie dabei, Missbrauchstäter aus der Komfortzone zu jagen, die es nur deshalb gibt, weil sie ein Verbrechen verüben, das für die meisten von uns zu unvorstellbar ist, um seine Existenz zu akzeptieren.
Falls Sie sich (und mich) nun fragen, ob ein Roman das richtige Mittel ist, um Menschen für dieses hunderttausendfache Unrecht zu sensibilisieren, muss ich Ihnen sagen: Ich weiß es nicht. Bestimmt ist es das nicht für jeden und jede. Aber es ist das, was ich tun kann. Und deshalb tue ich es. Zumindest bekommt das Unvorstellbare auf diese Weise Namen und Gesichter, was ja in aller Regel hilft, uns das Schicksal fremder Menschen näherzubringen.
Allen, die sich dem Thema lieber (oder in Ergänzung) auf sachlicher Ebene nähern wollen, empfehle ich die Bücher des ehemaligen Ersten Kriminalhauptkommissars Manfred Paulus zu Organisierter Kriminalität und Menschenhandel. Falls Sie nach dieser Lektüre das ungute Gefühl haben, dass meine „Geschichte“ lediglich die Spitze eines gewaltigen Eisbergs ist, dann entschuldige ich mich für das damit verbundene Unbehagen, freue mich aber darüber, dass Sie zu denjenigen Menschen gehören, die nicht länger wegschauen wollen.
Allen Leserinnen und Lesern, die sich auf meine fiktive Geschichte einlassen, um ein leider sehr reales Problem kennenzulernen, wünsche ich, dass Sie sich trotz aller Herausforderungen, die Ihnen das Thema abverlangen mag, gut unterhalten fühlen – auch wenn ich Ihnen bei einem Roman, der sich an der Realität orientiert, keine Hoffnung auf ein allumfassendes „Happy End“ machen kann.
Doris Litz
Neuwied, im Mai 2023
Es hatte ein romantischer Ausflug werden sollen. Doch dann fing sie an zu nörgeln. Das tat sie immer. Er liebte sie, aber diesen quengelnden Tonfall, der sich dicht am Heulen entlanghangelte, konnte er nicht ertragen. Was dachte sie sich dabei? Er hatte sich so viel Mühe gegeben. Frei genommen, alles bis ins Detail geplant. Die malerische Burgruine, die sie ganz für sich allein haben würden. Weiche Decken, Sandwiches und ihre Lieblingslimonade, alles hatte er dabei. Ihr zuliebe war er mit seinem Wagen bis tief in den Wald hineingefahren, damit sie nicht so weit laufen mussten. Er wusste schließlich, dass sie keine gute Läuferin war. Sogar die Sonne spielte mit. Es war ein wundervoller, ungewöhnlich warmer Herbstnachmittag. Alles war perfekt.
Sie hätten sich nahe sein können, ohne gestört zu werden. Alles wäre möglich gewesen. Er hätte sanft und behutsam sein können. Oder sie hätten sich von ihrer Leidenschaft hinwegtragen lassen. Er wusste, wie leidenschaftlich sie sein konnte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie sich ihm hingab. Sie war eine wundervolle Geliebte. So zart und sanft, dass sie ihn manchmal an einen kleinen Vogel erinnerte, den er beschützen musste. Dann wieder konnte sie aufbrausend sein und störrisch. Sie schlug sogar nach ihm, wenn ihr Temperament mit ihr durchging. Sie war kein unkomplizierter Charakter, aber auch dafür liebte er sie. Und zweifellos liebte sie ihn.
Nur wenn sie jammerte und rumheulte, verabscheute er sie. Sie wusste genau, dass sie ihn damit zur Weißglut trieb. Warum nur tat sie es dann ständig? Vielleicht wollte sie ja, dass er sie schlug. Es gab solche Frauen. Sie trieben die Männer, die sie liebten, dazu, ihnen wehzutun. Immer und immer wieder. Diese Frauen machten ihre Männer mit voller Absicht wütend. Sie hatte ihn mit voller Absicht wütend gemacht. Hatte einfach nicht aufgehört. Obwohl er sie gebeten hatte, still zu sein. Er hatte gefleht und gebettelt. In seiner Verzweiflung hatte er ebenfalls geweint. Und er schämte sich seiner Tränen nicht. Am Ende dieses gemeinsamen Ausbruchs hatten sie sich geliebt. Auf diese wütende Art, die keinen Raum für Zärtlichkeit ließ. Die dazu diente, etwas freizusetzen. Etwas, das normalerweise tief in seinem Innern eingesperrt war, aber im Taumel der Leidenschaft Ketten sprengte und Zellentüren aufbrach. Etwas, das mit Macht nach Frieden suchte und ihn nur in den duldsamen Armen der Geliebten finden konnte.
Nun war er ganz ruhig. Nichts konnte ihn mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Er war mit sich und der Welt im Reinen. Er wusste, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde. Aber hier und jetzt genoss er es. Er schaute auf sie herunter. Ganz ruhig lag sie neben ihm. Erschöpft von seinem hemmungslosen Begehren und der eigenen wilden Antwort darauf. Er würde sie noch ein wenig schlafen lassen. Er beugte sich zu ihr herab und strich ihr sanft über die weichen blonden Locken. Schließlich wickelte er sie fest in die große rote Decke. Sie sollte sich nicht erkälten. Seufzend begann er, die Sachen in den Picknickkorb zu räumen, die während ihrer wilden Jagd herumgefallen waren und nun überall verstreut lagen. Sie war tatsächlich vor ihm weggelaufen, seine wilde kleine Meerjungfrau. Er lächelte versonnen. Als alles zum Aufbruch bereit war, nahm er sie behutsam in die Arme und trug sie auf den kleinen Balkon, der an einer Seite der Ruine in den Wald hineinragte. Vorsichtig legte er sie auf einem Mauervorsprung ab, der groß genug war, dass sie sich im Schlaf umdrehen konnte. Hier konnte sie ruhen. Es versetzte ihm einen Stich, sie zurückzulassen. Doch er wusste, dass es nicht anders ging. Sie konnten nicht so weitermachen. Es war vorbei. Sie würden sich hier und jetzt trennen, auch wenn es schmerzhaft war. Sanft beugte er sich zu ihr hinunter, atmete ihren scharfen Geruch ein und streichelte die zarte Haut ihrer Wangen. Dabei bemühte er sich, die blauen Male an ihrem Hals nicht zur Kenntnis zu nehmen. Da war sie selbst schuld, und das wusste sie auch. Noch einmal schaute er ihr in die schönen hellblauen Augen mit dem dunklen Kranz, die ihn ohne jede Regung anzustarren schienen. Wie sehr er diese Augen liebte. Dann wickelte er das lose Ende der Decke fest um ihren Kopf, drehte sich um und verließ die Ruine durch den Eingang, der dem Balkonausgang genau gegenüberlag. Er drehte sich nicht um, das hatte keinen Sinn. Aber als er an seinem Wagen ankam, war der Kragen seines Hemdes von Tränen durchnässt.
Als die Türglocke ging, zuckte Sina Lehmann zusammen. Unwillkürlich glitt ihr Blick zur Uhr am unteren Rand des Fernsehbildschirms. Fünf nach acht. Um diese Zeit bekam sie normalerweise keinen Besuch mehr. Misstrauisch blickte sie zum dunklen Flur hinüber, machte aber keine Anstalten aufzustehen. Der Nachrichtensprecher verkündete gerade, dass es im Fall der kleinen Valerie keine neuen Erkenntnisse gebe. Das Kind blieb verschwunden. Ein Foto der Vierjährigen war links über der Schulter des Sprechers eingeblendet. Sinas Blick glitt über das hübsche Kleinmädchengesicht und die langen blonden Locken, die es einrahmten. Beinahe konnte sie spüren, wie weich das Haar sich unter den zärtlichen Händen einer glücklichen Mutter anfühlen musste. Nur dass Valeries Mutter derzeit alles andere als glücklich war. Ihr kleines Mädchen war seit mehr als zwei Wochen verschwunden. Zu lange, wie Sina wusste. Schließlich hatte sie einige Jahre für die Koblenzer Kripo gearbeitet und kannte die Regeln: Je länger ein Kind vermisst wurde, umso unwahrscheinlicher war es, dass man es lebend fand. Nach achtundvierzig Stunden waren die Chancen statistisch betrachtet bereits gegen null gesunken. Andererseits wusste niemand so gut wie sie selbst, dass es auch ganz anders laufen konnte.
Es klingelte erneut. Ungeduldig diesmal. Wer immer dort draußen stand, wusste, dass sie zu Hause war, und wollte unbedingt herein. Sina zögerte. Asha, die bislang seelenruhig auf ihrem Kissen geschlafen hatte, spitzte die Ohren, öffnete ein Auge und schaute ihre Herrin fragend an. Ein leises Grollen kam aus ihrer Kehle. Die Hündin würde gleich aufspringen und ein Heidenspektakel veranstalten. Das ließ sich nur vermeiden, indem sie selbst die Initiative ergriff und damit ihrer Rolle als Rudelführerin gerecht wurde.
„Ist alles in Ordnung, Sina? Soll ich zur Tür gehen?“
Alex hatte sie schon eine ganze Weile beobachtet. Jetzt erhob er sich und schlüpfte in seine Schuhe, die er ausgezogen hatte, als er es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte.
Sina schüttelte den Kopf und lächelte ihn freudlos an, während sie sich aus ihrem ledernen Ohrensessel schälte.
„Nein, ist schon gut. Ich habe nur einfach keine Lust auf Besuch. Aber wer immer vor der Tür steht, wird wohl nicht einfach wieder gehen.“
Zur Bestätigung klingelte es erneut. Asha sprang auf und postierte sich bedrohlich knurrend im dunklen Flur, wo sie die Eingangstür fest ins Visier nahm. Sina schlüpfte in ihre Birkenstocks, zog sich das T-Shirt glatt und zwängte sich an Asha vorbei.
„Ist schon gut, Liebes. Geh wieder auf deine Decke. Ich kümmere mich darum.“
Sofort zog die kniehohe weiße Hündin sich zurück und überließ Sina das Feld. Allerdings würde sie wachsam bleiben. Genau wie Alex. Im Notfall wären sie beide innerhalb von Sekunden an ihrer Seite. Dieses Wissen gab Sina ein gutes Gefühl.
Das Licht ließ sie ausgeschaltet.
Sie wollte ihrem ungebetenen Besucher keinen unnötigen Vorteil verschaffen. Trotzdem brauchte sie eine Weile, um den gepflegten älteren Herrn einzuordnen, der so unnachgiebig Einlass gefordert hatte und nun ungeduldig vor ihrer Tür wartete. Es war dieser Unmut, der sie schließlich auf die richtige Fährte brachte.
Gerald Baumgarten, erfolgreichster Unternehmer im Großraum Koblenz, war es nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ. Sein Begrüßungslächeln fiel entsprechend gezwungen aus.
„Sabrina, meine Liebe. Ich war gerade in der Nähe und dachte mir, ich schaue mal nach, wie es dir geht.“
Ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hätte, betrat der Unternehmer den Flur und küsste sie erst rechts und dann links auf die Wange. Auch dazu hatte sie ihn nicht ermuntert.
Kaum hatte er sie wieder freigegeben, steuerte Baumgarten ihr Wohnzimmer an, wo die noch immer vor sich hin knurrende Asha seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Wie ich sehe, wirst du gut beschützt.“
Seine Abneigung gegen die Hündin konnte er kaum verbergen.
Sina, die hinter ihm ins Zimmer getreten war, blickte kurz zu Asha hinüber, was diese sofort verstummen ließ. Allerdings behielt sie den unwillkommenen Gast im Auge.
Erst jetzt schien Baumgarten Alex zu bemerken, der noch immer neben dem Sofa stand und ihm die Hand entgegenhielt.
„Alexander Bierbrauer. Ich bin ein Freund von Sina.“
Mit deutlicher Missbilligung ergriff Baumgarten Alex’ Rechte. „Gerald Baumgarten. Ich bin ein Freund von Jan.“
Als sei damit alles gesagt, wandte er sich Sina zu.
„Entschuldige, dass ich einfach hier hereinplatze, aber ich dachte, wir könnten uns kurz unterhalten.“
Alex verstand den Wink und griff nach seinen Wagenschlüsseln, die auf dem kleinen Wohnzimmertisch gelegen hatten.
„Ich muss ohnehin zum Dienst.“ Er hauchte Sina einen Kuss auf die Wange und war innerhalb von Sekunden verschwunden.
Eine Welle des Zorns stieg in Sina auf. Baumgartens selbstgefällige Art gefiel ihr nicht. Sie wusste, dass er Jan ein väterlicher Freund gewesen war und ihm beim Aufbau seiner Firma geholfen hatte. Aber Jan war tot, und sie selbst dachte nicht im Traum daran, dem dominanten Unternehmer einen Platz in ihrem Leben einzuräumen. Auch deshalb bugsierte sie ihn in die formellere Essecke statt auf die gemütliche Couch. Am liebsten hätte sie ihm nicht einmal einen Kaffee angeboten, aber schließlich war er ein enger Freund ihres Mannes gewesen. Also ging sie in die Küche, startete die hochmoderne Maschine und ließ den gewünschten Cappuccino in eine extragroße Tasse laufen.
„Was kann ich für dich tun?“
Sie schoss die Frage ab, kaum dass das Getränk vor Baumgarten stand.
Der ließ sich von Sinas Ruppigkeit nicht beeindrucken.
„Einer meiner leitenden Mitarbeiter zieht hier in die Nachbarschaft, deshalb war ich in der Nähe. Er kommt aus unserem Werk in Tschechien. Guter Mann. Ich habe das Haus für ihn gemietet. Man muss heute einiges investieren, wenn man Spitzenleute halten will.“
Er lächelte sie an. Ganz der Mann von Welt.
Sina sagte nichts. Ihr stand nicht der Sinn danach, Interesse zu heucheln. Sie wollte Baumgarten nur schnellstmöglich loswerden. Doch der hatte offenkundig nicht vor, so bald zu verschwinden.
„Weißt du, ich dachte, du könntest dich ein wenig um diese Leute kümmern. Sie wohnen schräg gegenüber, in dem Haus des alten Markwort.“
Der alte Herr war vor einigen Monaten gestorben, und seine Erben hatten lange versucht, das Anwesen zu verkaufen. Allerdings waren ihre Preisvorstellungen selbst für den noblen Wingertsberg völlig überzogen gewesen. Schließlich stand ihr Haus in Neuwied, nicht in Köln. Nun lebte also Baumgartens Mitarbeiter dort. Sina konnte nicht behaupten, dass ihr der Gedanke gefiel. Und ganz sicher hatte sie nicht vor, engen Kontakt zu Menschen zu suchen, die dem Unternehmer zu Dank verpflichtet waren und ihm alles, was sie tat und sagte, zutragen würden.
„Betterfeld ist ein netter Kerl. Seine Frau ist ein wenig gehemmt. Russin eben. Fremdes Land, keine Freunde. Du weißt schon. Die jüngere Tochter ist ein Schatz. Die ältere – na ja, sie ist sechzehn. Schwieriges Alter. Du kannst doch gut mit Jugendlichen …“
Offenkundig hatte Jan ihm erzählt, dass sie früher als Sozialpädagogin bei der Koblenzer Kripo viel mit Kindern gearbeitet hatte, die in Kriminalfälle verwickelt waren. Und womöglich wusste er sogar, dass sie nach Jans Tod ihren beruflichen Schwerpunkt wieder auf die Therapie von Kindern und Jugendlichen gelegt hatte. Er hatte sich über sie erkundigt. Sina war wütend, aber sie wusste, dass jeder offene Streit mit Baumgarten ihm noch mehr über sie und ihren seelischen Zustand verraten hätte. Also schwieg sie.
Der Unternehmer ignorierte es. „Doch kommen wir zum Wichtigsten: Wie geht es dir, meine Liebe? Du weißt ja, dass Maja und ich jederzeit für dich da sind. Jan war wie ein Sohn für uns. Deshalb solltest du dich nicht scheuen, uns als deine Familie zu betrachten.“
Sina musste sich eine zynische Bemerkung verkneifen. Gerald Baumgarten wusste genau, dass Jan ein ausgesprochen distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt hatte und dass es ihr, seiner Witwe, nicht anders ging. Ihre eigenen Eltern waren gestorben, als sie gerade fünf Jahre alt war. Der Gedanke, stattdessen mit den gesellschaftlich hochgestellten Baumgartens zu verkehren, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Schon damals, als Jan noch lebte, hatte sie den Kontakt auf das unumgängliche Maß reduziert. Baumgartens waren allein seine Sache gewesen, und das nicht nur, weil Sina das affektierte Gehabe der „besseren Kreise“ unerträglich fand. Vor allem Maja Baumgarten, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte und damit nur mäßig zurechtkam, war ihr regelrecht zuwider. Aber auch Gerald selbst löste bestenfalls widersprüchliche Gefühle in ihr aus. Zwar wirkte er auf den ersten Blick sympathisch und sogar großzügig. Aber er hatte eben auch diese selbstgefällige und bestimmende Art, die Sinas Freiheitstrieb radikal entgegenlief.
„Das ist nett von euch. Aber ich komme gut allein zurecht. Trotzdem danke.“
Nur die steile Falte über Gerald Baumgartens Nasenwurzel verriet seine Verärgerung. „Das ist doch Unsinn, Sina. Man hat niemals genug Freunde. Außerdem weißt du genau, dass ich viel für dich tun kann. Schließlich musst du dir überlegen, wie es für dich weitergehen soll. Jan ist seit über einem Jahr tot …“
„Ich komme klar.“
Sina sah ihn direkt an. Mehr als Worte es vermocht hätten, signalisierte der kühle Blick ihrer dunklen Augen ihm, dass er im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten.
Doch Grenzen hatten Gerald Baumgarten noch nie aufgehalten. „Du bist doch nicht etwa wieder mit diesem Polizisten zusammen?“ Er fixierte sie mit seinem Chef-Blick, doch Sina hielt ihm stand. „Das geht mich zwar nichts an, aber wir beide wissen, was Jan davon halten würde. Er hat diesen Kerl verabscheut …“
Sina platzte der Kragen, was sich bei ihr darin äußerte, dass ihr Blick zu Eis erstarrte.
„Du hast recht, Gerald. Das geht dich nichts an. Und bevor du dich noch tiefer in meine Angelegenheiten einmischst, gehst du besser.“
Dieser glatte Rauswurf ließ selbst Baumgarten zögern. Doch er gab sich noch nicht geschlagen.
„Aber Sina, ich will dir doch gar nicht in dein Leben reinreden. Wie ich dir schon sagte, stand Jan unserer Familie sehr nahe. Vielleicht ist dir gar nicht klar, wie eng unsere Beziehung war. Bevor er dich kennenlernte, lebte er praktisch bei uns. Er ist mehr oder weniger bei uns aufgewachsen.“
Sina ärgerte sich über den kaum verhüllten Vorwurf, der aus diesen Worten sprach, aber sie wusste auch, dass Gerald Baumgarten nicht übertrieb. Er hatte Jan tatsächlich das Zuhause geboten, das er bei seinen egozentrischen Eltern schmerzlich vermisst hatte. Dennoch sträubte sich ihr Innerstes dagegen, auf Baumgarten einzugehen.
„Ich frage mich nur, wie du ausgerechnet zu diesem Polizisten zurückkehren kannst, wenn du Jan wirklich geliebt hast. Damit besudelst du sein Andenken, Mädchen.“
Das war zu viel.
„Nun, vielleicht liegt es ja daran, dass dieser Polizist mich aus den Fängen eines psychopathischen Serienkillers befreit hat, nachdem Jan mich diesem Irren auf dem Silbertablett serviert hat. Soll ich ihm dafür dankbar sein? Ich könnte ebenfalls tot sein, und das wäre ganz allein seine Schuld.“
Gerald Baumgarten hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen. Allerdings hielt dieser Zustand nur wenige Sekunden an.
„Nun, meine Liebe. Diese Einschätzung scheint mir doch arg übertrieben und sehr subjektiv, meinst du nicht auch? Aber ich sehe sehr deutlich, wie angegriffen du noch bist. Falls du dich dazu entschließen kannst, meine Hilfe anzunehmen, lass es mich wissen. Ich werde dir dein heutiges Verhalten nicht nachtragen. Melde dich einfach, wenn du so weit bist. Und mach dir keine Mühe: Ich finde allein raus.“
Er stand auf und ging Richtung Flur, blieb dann aber noch einmal stehen.
„Ach ja, die Sache mit der Firma kann womöglich nicht so lange warten, bis du dich von deinem Trauma erholt hast. Wenn du verkaufen willst, lass es mich wissen. Ich habe Jan geholfen, den Laden aufzubauen. Ich werde dir helfen, einen guten Käufer zu finden.“
Sina schaute ihn einen Augenblick schweigend an. Sie war wieder völlig ruhig.
„Ich will nicht verkaufen.“
Baumgarten blickte sie entgeistert an.
„Also bitte, Sina. Du hast nicht die geringste Ahnung vom Geschäft. Was meinst du, wie schnell du den Betrieb runtergewirtschaftet hast? Das Unternehmen ist zwar klein, aber es war Jans Lebenswerk. Willst du ihn bestrafen, indem du alles zerstörst, was er für euch beide aufgebaut hat?“
Baumgarten schüttelte missbilligend den Kopf.
Sina drehte sich wortlos um und ging zum Sofa. Nach wenigen Sekunden hörte sie die Tür ins Schloss fallen. Sie fühlte sich, als habe sie eine Schlacht geschlagen, die ihre letzten Reserven verbraucht hatte. Das Schlimmste war, dass sie nicht einmal sagen konnte, wer dieses Scharmützel gewonnen hatte.
Es war keiner von den guten Tagen im Leben von Kriminalrat Jochen Berg. Schon vor dem Frühstück hatte es einen heftigen Streit mit seiner Frau gegeben. Weil er vergessen hatte, am Abend zuvor die Mülleimer rauszustellen, und Sandra kurz nach sechs im Joggingdress auf die Straße hechten musste, als sie das Getöse des Müllautos in der kleinen, verkehrsberuhigten Straße gehört und sein Versäumnis bemerkt hatte. Zum Glück wohnten sie ganz hinten in der Sackgasse. Die Jungs von der Müllabfuhr hatten auf Sandra gewartet, und zum Dank hatte sie ein wenig mit ihnen geflirtet. Er hatte die Männer bis in den ersten Stock strahlen sehen. Klar, Sandra war ja auch eine Augenweide. Die kurzen dunklen Haare lässig zerzaust, Jogginghose und T-Shirt klebten wie eine zweite Haut an ihren makellosen Rundungen, und die großen blauen Augen sprühten vor Lebensfreude. Wenigstens so lange, bis sie wieder im Haus war. Denn kaum hatte sie ihren frisch geduschten und völlig entspannten Ehemann entdeckt, verwandelte sich die quirlige Sommerbrise in einen üblen Gewittersturm und die eben noch strahlenden Augen sprühten Blitze.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten hatte sie ihn daran erinnert, dass sie nicht sein Dienstmädchen sei und dass sie ohnehin viel mehr im Haushalt erledige als er. Wie immer hatte Jochen dazu gar nichts gesagt. Das hatte sie wie immer noch wilder gemacht, was ihn in seiner Taktik bestärkte. Ignorieren unerwünschten Verhaltens war die in seinen Augen bei Weitem sinnvollste Lektion, die er in unzähligen Fortbildungen und Deeskalationstrainings kennengelernt hatte. Auch wenn sie in diesem Fall eher als Provokation gemeint war und ebenso aufgenommen wurde. Er wusste, dass Sandra es hasste, wenn er sie in ihrem gerechten Zorn auflaufen ließ. Aber schließlich wusste Sandra auch, wie wichtig es für ihn war, seinen Tag in Ruhe beginnen zu können. Sie waren ja lange genug verheiratet.
Allerdings hatte Sandra noch nie viel Rücksicht auf seine Befindlichkeiten genommen. Früher fand er das reizvoll. Hatte die Leidenschaft, mit der sie ihre Interessen verfolgte, als sinnvolle Ergänzung für seine eher nüchterne Weltsicht betrachtet. Doch das war lange her. In letzter Zeit fragte er sich häufig, ob ihre Ehe überhaupt noch einen Sinn ergab, und er hatte das deutliche Gefühl, dass Sandra sich diese Frage bereits länger stellte als er – und zu einem eindeutigen Schluss gekommen war. Manchmal fürchtete er sogar, dass sie ihn betrog. Würde sie wirklich so weit gehen? Nicht, dass es ihm sonderlich schwerfallen würde, ohne Sandra weiterzumachen. Aber falls sie ihm Hörner aufsetzte, wäre das eine Demütigung, die er nicht so leicht wegstecken könnte. Dann würde die Trennung wirklich unangenehm. Vor allem für Sandra.
„Du solltest das hier anziehen, sonst gibt es gleich ein Donnerwetter.“
Hauptkommissarin Bettina Engelmann hielt ihrem Chef den obligatorischen Schutzanzug samt Gummihandschuhen und Schuhüberziehern entgegen und riss ihn damit aus seinen trüben Gedanken. Schließlich waren sie an einem Tatort. Da latschte man nicht in Straßenklamotten bis zur Leiche durch. Es sei denn, man wollte es sich für alle Zeiten mit dem Rechtsmediziner und den Kollegen von der Spurensicherung verderben.
„Ist alles okay mit dir? Du wirkst schon den ganzen Tag angespannt.“
Seine Begleiterin schaute ihn skeptisch an. Jochen Berg lächelte zu der zierlichen brünetten Kollegin hinunter.
„Ja, alles in Ordnung. War nur ein langer Tag. Aber danke der Nachfrage, Engelchen.“
Sein Grinsen war breiter geworden, als er Bettina Engelmann mit ihrem Spitznamen ansprach. Denn eigentlich war er einer der wenigen, die diese naheliegende Verballhornung ihres Namens nicht benutzten. Gute Freunde und ganz mutige Kollegen taten es offen, die anderen hinter ihrem Rücken. Bettina „Betty“ Engelmann konnte ihren Spitznamen in Wahrheit gut leiden, das wusste er. Aber das würde sie nie und nimmer zugeben. Doch jetzt erwiderte sie Jochen Bergs Lächeln und boxte ihm scherzhaft auf den Oberarm.
„Pass auf, dass der Engel dir nicht eine ordentliche Abreibung verpasst.“
Mittlerweile hatten sie sich den Vorschriften entsprechend vermummt und betraten den Flur des geräumigen Einfamilienhauses im Neuwieder Stadtteil Engers. Ein uniformierter Beamter deutete auf eine dunkle Holztreppe, die vom Wohnzimmer aus schnurgerade auf eine offene Galerie führte. In den frühen Achtzigern war dieser Baustil der Inbegriff von Luxus gewesen. Viel offener Raum, großzügige, aber völlig nutzlose Flächen, braune Fliesen und jede Menge dunkles Holz. Der düstere Eindruck wurde lediglich durch die bodentiefen Fenster aufgelockert, die den Blick auf die ebenfalls mit dunklem Holz belegte Veranda freigaben. Jochen Berg konnte nicht umhin, sich Gedanken über die Stromkosten zu machen, die bei einem solchen Kasten anfielen. Energieeffizienzklasse Z. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf und dachte an sein gemütliches Haus in Ransbach, das sie vor zehn Jahren nach den neuesten Erkenntnissen energetischer Baukunst geplant hatten. Falls Sandra sich scheiden lassen wollte, würde sie ausziehen müssen. Er würde das Haus auf keinen Fall aufgeben. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Betty ihn erneut kopfschüttelnd musterte.
„Schon gut. Ich habe nur überschlagen, was diese Hütte an Energie frisst, und da ist mir ein bisschen schummrig geworden.“
Das Kopfschütteln verstärkte sich.
„Mann, Jochen. Du bist selbst in anderer Leute Angelegenheiten kleinlich. Aber falls es dir ein Trost ist: Die nächste Stromrechnung dürfte die geringste Sorge von Herrn Vetter sein.“
Sie waren vor der offenen Schlafzimmertür angekommen und blickten in den Raum, in dem kaum weniger Betriebsamkeit herrschte als an einem Samstagmorgen in der Kölner Schildergasse. Nur der Hausherr ließ sich davon nicht anstecken. Er lag ausgestreckt auf seinem Bett mit einer klaffenden Wunde in seinem Hals und einem riesigen Loch in der Brust.
Bettina Engelmann drängelte sich an zwei Spusi-Leuten vorbei und schob sich neben Dr. Martin Anhäuser, den Chef der Bonner Rechtsmedizin. Mit einem kaum merklichen Zögern folgte Jochen Berg ihr. Verdammt, die Zeiten, in denen er an Tatorten herumlief und sich durch den Anblick verstümmelter Leichen die Lust aufs Abendessen verderben ließ, sollten längst vorbei sein. Dafür hatte er als Chef des Kommissariats 11, das landläufig als Mordkommission bezeichnet wurde, schließlich seine Leute. Erschwerend kam hinzu, dass er alle Fortbildungen absolviert hatte, die er benötigte, um zum Kripoleiter aufzusteigen – sobald die entsprechende Stelle frei wurde. In Jochen Bergs Augen waren das gute Gründe, andere die Krauterarbeit machen zu lassen. Aber der Polizeipräsident hatte ihn angerufen und aufgefordert, sich persönlich um diese Angelegenheit zu kümmern. Ulrich Vetter war schließlich nicht irgendjemand, sondern Mitglied des Neuwieder Stadtrates – und ein enger Freund von Klaus-Dieter Schmengler, von allen K.-D. genannt und eben besagter Leiter des Koblenzer Polizeipräsidiums.
Weder der eigene Promi-Status noch die Freundschaft zum mächtigsten Polizisten der Region hatten dem Lokalpolitiker viel genutzt.
„Ist es das, wonach es aussieht?“
Jochen Berg schaute Dr. Anhäuser nicht an, denn er konnte den Blick nicht von dem Krater in Ulrich Vetters Brust abwenden.
Anhäuser, der gerade voller Hingabe die ausgefranste Halswunde in Augenschein genommen hatte, sah zu Jochen auf und folgte seinem Blick.
„Ja, ich fürchte, dem guten Mann ist sein Herz abhandengekommen. Ich werde natürlich noch mal genau nachschauen, wenn ich ihn auf meinem Tisch liegen habe. Aber ich denke, es ist weg.“
„Vorher oder nachher?“
Wie in Zeitlupe wandte Jochen Berg sich dem Mediziner zu.
Der blickte ihn einen Augenblick irritiert an. Dann hellte sich seine Miene auf.
„Ach, Sie meinen, ob er noch lebte, als sein Brustkorb geöffnet wurde? Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, er ist an dem hier gestorben.“
Er deutete auf die durchschnittene Kehle des Toten. Die Wunde zog sich vom einen bis zum anderen Ohr. Für Jochen Berg sah es bei näherer Betrachtung aus, als habe jemand den Hals bis zu den Nackenwirbeln geöffnet.
„Viel angenehmer dürfte das auch nicht gewesen sein“, bestätigte Dr. Anhäuser seine Befürchtungen. „So ausgefranst, wie die Wundränder sind, gehe ich von einem Schneidewerkzeug mit unregelmäßigem Wellenschliff aus. Ich tippe auf einen Fuchsschwanz.“
Jochen Berg, der zu Sandras anhaltender Enttäuschung nicht eben ein begnadeter Handwerker war, brauchte einen Moment, bis ihm das passende Werkzeug zu diesem poetischen Namen vors geistige Auge schwebte.
„Oh, Gott.“
Er glaubte nicht, dass er die Säge mit den markanten Zacken jemals wieder anrühren würde. Egal, was Sandra dazu sagte.
„Du gefällst mir nicht.“
Linda saß am Frühstückstisch und trank eine Tasse Kaffee, als Sina die Küche betrat. Tatsächlich hatte sie kaum geschlafen und fühlte sich wie gerädert.
„War ’ne furchtbare Nacht.“
Linda nickte nur, stand auf, nahm einen knallgelben Keramikbecher aus dem Schrank und stellte ihn unter den Kaffeeautomaten. Dann drückte sie auf den Knopf für die extragroße Tasse. „Es ist Samstag. Du kannst dich wieder hinlegen, wenn du willst.“
„Nein, schon gut.“
Sina nahm den dampfend heißen Kaffee entgegen und setzte sich.
„Sie haben das Kind noch immer nicht gefunden.“
Linda, die sich ebenfalls wieder hingesetzt hatte, blickte auf die Tageszeitung, die ausgebreitet vor ihr lag und fast den gesamten Tisch bedeckte. Sina sog hörbar die Luft ein.
„Ja, ich hab’s gestern Abend in den Nachrichten gehört. Furchtbar. Sie ist so ein hübsches kleines Ding.“
„Du glaubst nicht, dass sie noch lebt?“
Sina bemerkte die Angst, die sich in Lindas Augen breitgemacht hatte.
„Nein, vermutlich nicht. Aber selbst wenn …“
Linda nickte. Sie wussten beide, was es bedeutete, falls Valerie noch lebte. Schließlich hatten sie es erlebt. Nur knapp waren sie einem irren Massenmörder entkommen. Sina hatte ihn erschossen, weil sie glaubte, sich nur so aus dem Albtraum befreien zu können. Doch wirklich aufgewacht war bislang keine von ihnen. Ihre Männer waren tot, und es gab Nächte, in denen sie das Grauen, das mehr als ein Jahr zurücklag, immer und immer wieder durchlebten.
Seit sie zumindest körperlich in ihr altes Leben zurückgekehrt waren, lebte Linda bei Sina. Ursprünglich sollte es eine vorübergehende Lösung sein, doch schon lange redete keine von ihnen mehr davon, dass Linda in ihr eigenes Haus zurückkehren würde. Sina hätte die Freundin schon deshalb niemals dazu aufgefordert, weil sie sich schuldig fühlte. Schließlich war Linda nur ins Visier des Killers geraten, weil sie ihr nahestand. Und sie selbst war ihm in die Hände gefallen, weil ihr Mann Jan in einem dubiosen Internetforum viel zu viel über sie ausgeplaudert hatte. Die Gedanken, die sie während der Nacht gemartert hatten, kehrten in ihren Kopf zurück.
„Baumgarten war gestern Abend hier.“
Linda schaute sie erstaunt an. Sie wusste, dass Sina den Unternehmer nicht leiden konnte.
„Was wollte er?“
„Sich in mein Leben einmischen, was sonst?“
„Was für eine dumme Idee.“
Sie schwiegen eine Weile.
„Alex war da, als er kam. Das hat ihm natürlich nicht gefallen. Er meinte, ich würde Jans Andenken besudeln, wenn ich mich ausgerechnet mit Alex einlasse.“
Linda zuckte die Achseln.
„Erstens läuft nichts zwischen dir und Alex, und zweitens geht ihn das nichts an, oder?“
„Letzteres hab ich ihm auch gesagt.“
Linda grinste.
„Das hat dem König von Koblenz sicher nicht gefallen. Schade, dass ich nicht dabei war.“
„Stimmt, er wirkte nicht sonderlich amüsiert.“
Sina musste ebenfalls lachen, wurde aber gleich wieder ernst. „Ich habe ihm gesagt, dass meine Entführung Jans Schuld war. Baumgarten war natürlich geschockt.“
Linda wartete, dass ihre Freundin weitersprach. Doch sie blieb stumm.
„Genau wie du selbst …?“
Sina spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Nur mit Mühe bekam sie ihre Stimme unter Kontrolle.
„Bis ich es ausgesprochen habe, wusste ich nicht einmal, dass ich Jan die Schuld an der ganzen Sache gebe. Aber heute Nacht ist mir klar geworden, dass ich eine Scheißwut auf ihn habe. Wie konnte er das nur tun? Ich glaube, ich bin sogar froh, dass er tot ist.“
Die Tränen liefen jetzt ungebremst über Sinas Gesicht und tropften die Zeitung voll.
Linda griff nach ihrer Hand und zog sie sanft an ihre Lippen. Ihre Freundin wusste, dass Sina die Nähe einer Umarmung jetzt nicht ertragen könnte.
„Aber so ist es nicht immer, oder?“
Sina schüttelte den Kopf und schluckte hörbar.
„Nein. Manchmal fehlt er mir unendlich, und dann wünsche ich mir, er könnte mich noch einmal in den Arm nehmen. Nur ein einziges Mal. Damit ich ihm sagen kann, dass ich ihn liebe und dass ich ihm alles verzeihe.“
Linda strich Sina eine Strähne ihres schulterlangen blonden Haares aus dem Gesicht.
„Das schaffst du nicht allein. Du brauchst Hilfe.“
Linda selbst war seit über einem Jahr in Therapie. Genauso lange trainierte sie wie eine Verrückte Tai-Chi. Sie wollte nie wieder so hilflos sein wie damals.
Auch Sina hatte wieder mit ihren Kampfsport-Übungen begonnen. Doch bislang hatte sie sich geweigert, sich psychologische Unterstützung zu suchen. Das lag nicht daran, dass sie diesen Schritt für überflüssig hielt. Sie war nur davon überzeugt, dass die meisten Therapeuten Stümper waren, die im günstigsten Fall keinen allzu großen Schaden anrichteten. Außerdem war es kaum möglich, eine erfolgreiche Therapie zu absolvieren, ohne auf jene Seite ihres Charakters zu schauen, die sie lieber ignorieren wollte. Doch sie wusste, dass Linda recht hatte. Nachdem sie eine Weile lautlos in ihre Tasse geweint hatte, nickte sie ihrer Freundin zu. Schweigend tranken die Frauen ihren Kaffee. Mehr musste zwischen ihnen nicht über die Sache gesprochen werden.
„Erinnerst du dich an die kleine Josy?“, fragte Linda schließlich.
Sina wischte die letzten Tränen fort und überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Sie wurde vor über einem Jahr entführt. Ein paar Wochen bevor … das mit uns passiert ist. Ein kleines blondes Mädchen. Sie war vier, als sie verschwunden ist. Soweit ich weiß, wurde sie nie gefunden.“
Linda streichelte nachdenklich über das Gesicht der kleinen Valerie, das ihnen aus der Zeitung entgegenstrahlte.
„Du meinst, sie sah genauso aus wie Valerie?“
Linda nickte und schaute zu ihr auf.
„Die gleichen blauen Augen, das hübsche Gesicht. Sie könnten Schwestern sein.“
Sina drehte die Zeitung zu sich herüber und betrachtete mit leicht zusammengekniffenen Augen das Bild des verschwundenen Kindes.
„Der gleiche Täter?“
„Ist möglich, oder?“
„Wo kam denn Josy her?“
„Ich glaube, aus Niedersachsen. Oder Schleswig-Holstein.“
Valerie hatte in Bayern gelebt.
„Ist trotzdem möglich.“
In Lindas Stimme schwang ein Hauch von Trotz mit.
Sina wusste, dass sie recht hatte. Aber sie wusste auch, was die anderen denken würden. Die armen Entführungsopfer kommen mit dem, was sie erlebt haben, nicht klar und sehen Gespenster. Serienkiller-Gespenster. Trotzdem würde sie nachhaken, ob in diese Richtung ermittelt wurde.
„Ich werde mit Alex sprechen. Er hat Nachtdienst. Aber ich denke, er wird irgendwann heute Nachmittag hier auftauchen.“
„Ja, da bin ich auch ganz sicher.“
Linda hatte es betont gleichmütig gesagt, doch nun strahlten ihre Augen Sina neckend an.
„He, was soll das? Du weißt genau, dass da nichts läuft. Wir sind Freunde. Das ist alles!“
Auch Sina lachte nun.
„Klar seid ihr das. Ich finde sowieso, dass man mit dem Mann, mit dem man sein Leben teilen will, unbedingt befreundet sein sollte.“
Sina griff nach dem Küchenhandtuch, das neben ihr über der Stuhllehne hing, und warf es Linda ins Gesicht. Die kugelte sich mittlerweile beinahe vor Lachen.
„Du bist albern“, tadelte Sina die Freundin, was deren Gelächter nur verstärkte. Sina konnte sich nicht länger bremsen und stimmte in das hemmungslose Kichern und Prusten ein. Was an ihrem Gespräch so furchtbar witzig gewesen war, hätte keine von beiden sagen können. Wenn sie darüber nachgedacht hätten, wären sie womöglich zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich gar keinen Grund für ihren Heiterkeitsausbruch gab. Außer, dass Lachen seit jeher die wirkungsvollste Therapie gegen das Grauen war.
Kriminalhauptkommissar Alexander Bierbrauer fluchte leise, aber ausdauernd vor sich hin. Er hatte die letzte Strecke zu Fuß gehen müssen, und der schmale Pfad war vom Regen der vergangenen Tage regelrecht durchweicht. Als er die Burgruine endlich erreichte, waren seine braunen Lederschuhe nicht mehr zu retten. Warum hatte er auch die Wanderstiefel aus dem Kofferraum genommen, als er den Wagen letzte Woche gesaugt hatte? „Weil ich nicht mehr zu Einsätzen wie diesem hier ausrücken sollte. Eigentlich!“
Für sein Selbstgespräch erntete er einen skeptischen Blick der jungen Streifenbeamtin, die den einzigen Zugang zu dem alten Gemäuer bewachte und auch ihn erst durchließ, nachdem er ihr seinen Dienstausweis vor die Nase gehalten hatte.
In drei Monaten würde er offiziell die Stelle des K 13-Leiters übernehmen und damit eine Sprosse auf der Karriereleiter nach oben klettern. Vor allem aber würde er die Mordkommission verlassen und sich stattdessen der organisierten Kriminalität zuwenden. Auch wenn er während der vielen Fortbildungen im letzten Jahr, die ihn auf seine neue Aufgabe vorbereiten sollten, die Illusion verloren hatte, dass es im neuen Kommissariat weniger brutal und menschenverachtend zuging, war er heilfroh, das K 11 verlassen zu können. Nie mehr zu Tatorten wie diesem ausrücken zu müssen. Nie mehr das Gefühl zu haben, immer zu spät zu kommen.
„Wo ist sie?“
Ein Kollege in weißem Overall, Schuhüberziehern und Gummihandschuhen hielt ihm sein Vermummungspaket entgegen und wartete geduldig, bis er sich ebenfalls in die Schutzkleidung gehüllt hatte. Die Spusi-Leute hatten einen Ponton durch den großen Innenraum der Ruine verlegt. Nur keine Spuren verwischen. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand führte ein Mauerdurchlass auf eine Art Balkon. Der kleine Körper lag auf einer Empore aus Lehm und Geröll. Bis auf den Kopf war er umhüllt von einer völlig durchnässten und an verschiedenen Stellen angefressenen, ehemals knallroten Fleecedecke. Alex warf einen langen Blick auf das Gesicht des Mädchens, das selbst in der blassgrauen Färbung des Todes nichts von seiner unschuldigen Schönheit verloren hatte. Dr. Martin Anhäuser, der diensthabende Rechtsmediziner, war neben ihn getreten und folgte stumm seinem Blick. Eine Weile sagte keiner der Männer etwas. Es gab Dinge, an die man sich nie gewöhnte.
Schließlich brach Alex Bierbrauer das Schweigen.
„Was meinen Sie: Ist sie es?“
Anhäuser ließ sich Zeit mit der Antwort.
„Genau kann ich das natürlich erst sagen, wenn ich sie untersucht habe. Aber ich denke: Sie ist es, ja.“
Noch immer konnte Alex den Blick nicht von dem Gesicht des Kleinkindes abwenden. Valerie. Die Vierjährige, deren Foto seit mehr als zwei Wochen die Schlagzeilen beherrschte. Verschwunden in einem kleinen Ort in der bayrischen Provinz – war sie ausgerechnet hier wieder aufgetaucht? In der Sporkenburg bei Eitelborn im Westerwald. Eine Ruine mitten im Wald, von der selbst viele Einheimische noch nie etwas gehört hatten. Gerade gestern hatte er mit Sina über die Kleine gesprochen. Linda hatte sich an ein anderes Mädchen erinnert, das vor über einem Jahr verschwunden war. Sie fand, die Kinder sähen sich extrem ähnlich. Alex hatte nur sehr undeutliche Erinnerungen an den Fall Josy. Kurz nachdem sie verschwunden war, hatte jemand Sina und später auch Linda entführt. Für ihn hatte damals alles andere seine Bedeutung verloren. Er hätte nicht mal sagen können, ob Josy wieder aufgetaucht war. Und falls ja, ob sie da noch lebte. Er hatte Sina versprochen, sich zu erkundigen, war aber noch nicht dazu gekommen. Und nun stand er vor der mutmaßlichen Leiche von Valerie.
Natürlich gab es kaum einen Polizisten in Deutschland, der ernsthaft geglaubt hatte, man werde das Kind lebend finden. Nicht nach so langer Zeit. Aber wie zum Teufel kam die Kleine hierher? Und warum hatte er sich von Jochen überreden lassen, den Fall zu übernehmen? Sie hatten vereinbart, dass er fließend auf seinen neuen Posten wechseln und keine eigenen Mordermittlungen mehr übernehmen sollte. Doch nun waren die anderen im Team entweder in Urlaub, krank oder mit dem toten Neuwieder Stadtrat beschäftigt. Sogar Jochen selbst hatte sich in die Sache mit Ulrich Vetter reingehängt. Betty hatte ihm erzählt, dass der Leiter der Mordkommission mit am Tatort gewesen war – eigentlich eindeutig unter seinem Rang und damit seiner Würde. Vermutlich hatte der große Boss Jochen zu diesem ungewöhnlichen Engagement überredet. Jeder wusste, dass K.-D. mit dem Politiker befreundet gewesen war.
Hätte er Jochen in einer solchen Situation hängen lassen können? Sie waren schließlich Freunde. Trotz allem. Alex wusste, dass er keine Wahl gehabt hatte. Der Notruf war eingegangen, als Alex’ Schicht gerade zu Ende ging. Zwei Ehrenamtliche des „Vereins zum Wiederaufbau und Erhalt der Sporkenburg e.V.“ waren in der Morgendämmerung ausgerückt, um an ihrem freien Sonntagmorgen etwas Produktives zum Bestand der Ruine beizutragen, und hatten die Leiche entdeckt. Das war vor zwei Stunden gewesen. Aber wen interessierte es, dass er eigentlich längst zu Hause sein sollte, um den versäumten Schlaf der Nacht nachzuholen, wenn im Wald ein totes Kind lag? Er schüttelte den Kopf. Wenigstens musste er den Eltern die bittere Nachricht nicht überbringen. Das konnten die bayrischen Kollegen übernehmen.
„Wie lange ist sie schon tot?“
Anhäuser hob die Schultern. „Schwer zu sagen, aber zwei Tage bestimmt.“
Verblüfft schaute Alex den Mediziner an.
„So lange …? Ich meine, die Ruine ist zwar nicht allzu bekannt, aber hier kommen doch bestimmt täglich Leute vorbei, oder?“
Er schaute über das windschiefe Geländer der Balustrade, das vermutlich besagter Verein zum Schutz der Besucher angebracht hatte. Zwei Meter unter dem Vorsprung führte ein Pfad vorbei. Unmöglich, dass ein Wanderer die Decke mit dem toten Kind übersehen hätte.
„Offenbar war das Gelände seit über einer Woche abgesperrt. Großräumige Instandhaltungsmaßnahmen. Und dann der Regen in den letzten Tagen …“
Alex war nicht überzeugt.
„Was ist mit den Leuten, die hier arbeiten? Zumindest die hätten doch etwas merken müssen.“
„Sorry, Kommissar Bierbrauer. Aber das müssen Sie schon selbst herausfinden. Ich bin nur der Rechtsmediziner.“
Dr. Martin Anhäuser schaute ihn ein wenig pikiert an. Alex wurde bewusst, dass sein Ton zu schroff ausgefallen war.
„Ja natürlich, Doc. Ich habe nur laut gedacht. Nichts für ungut. Aber falls sie recht haben und die Kleine schon seit zwei Tagen tot ist, müsste sie dann nicht … übler aussehen? Immerhin liegt der Fundort mitten im Wald. Was ist mit Tieren?“
Anhäuser schaute ihn direkt an.
„Lassen Sie’s gut sein, Bierbrauer. Ich weiß schon, was Sie meinen. Unter normalen Umständen hätten wir nach so langer Zeit womöglich nur noch wenig von so einem kleinen Körper gefunden. Jedenfalls hätten wir das ganze Gelände absuchen müssen, um ihre Einzelteile zusammenzutragen. Aber zum einen war sie ziemlich fest in die Decke eingewickelt. Und zum anderen hat derjenige, der die Kleine hier abgelegt hat, dafür gesorgt, dass die Waldbewohner keinen sonderlichen Appetit auf sie hatten.“ Anhäuser legte eine kunstvolle Pause ein. „Er hat jeden Zentimeter ihrer Haut mit irgendetwas sehr Aromatischem eingerieben, bevor er gegangen ist. Wenn sie ein wenig näher herantreten, riechen Sie, was ich meine.“
Aufmunternd nickte er Alex zu.
Zögernd trat der näher an das tote Kind heran. Er war nicht allzu scharf auf den typischen Verwesungsgestank, den selbst eine einstündige Dusche und eine Wurzelbürste nicht völlig abzuwaschen vermochten. Zum Glück waren sie nicht in einem geschlossenen Raum. Dann wusste er, was Anhäuser meinte. Er fühlte sich spontan in seine frühe Kindheit zurückversetzt. „Wick VapoRub?“
Seine Mutter hatte ihn beim kleinsten Husten mit der stinkenden und klebrigen Salbe eingerieben, die wie Feuer auf der Haut brannte. Kein Wunder, dass die vierbeinigen Waldbewohner einen großen Bogen um das tote Kind gemacht hatten.
Anhäuser lächelte ihn freudlos an.
„Ich tippe auf die modernere Variante: Tigerbalsam.“
Sie einigten sich darauf, dass Anhäuser ihn morgen Vormittag anrufen würde, sobald die Obduktion beendet wäre. Dann erkundigte sich Alex bei den Streifenbeamten nach weiteren Details und gab einige Anweisungen, bevor er sich auf den Rückweg zu seinem Auto machte. Die Schuhe konnte er wegschmeißen.
Kriminalrat Jochen Berg war ein überaus korrekter Mensch. Er hatte die halbe Nacht darüber nachgedacht, wie ernst er die Aufforderung des Polizeipräsidenten nehmen sollte, sich persönlich um den Fall Vetter zu kümmern, und war zu dem Schluss gekommen, besser kein Risiko einzugehen. Deshalb war er es, der die Kolleginnen und Kollegen der eilig einberufenen Soko Deichstadt über die Fakten informierte, die sie bislang zusammengetragen hatten. Es war wenig genug. Die Obduktion war noch im Gange, und auch die Kollegen der Spurensicherung hatten bislang nichts von sich hören lassen.
Nun ja, es war erst halb zehn und dazu Sonntag. Die Mitarbeiter der Rechtsmedizin hatten nicht begeistert auf die spontane Wochenend-Extraschicht reagiert. Normalerweise wäre die Leiche Vetters erst am Montag auseinandergeschnitten worden. Aber das war nun mal kein normaler Fall. Auch wenn die Bonner eine Weile gebraucht hatten, um zu verstehen, dass ein Lokalpolitiker, von dem sie nie zuvor gehört hatten, prominent genug sein sollte, um mehreren lebenden Personen das Wochenende zu versauen. Zu diesen bedauernswerten Geschöpfen gehörte auch Betty Engelmann, die Berg nach Bonn geschickt hatte, damit sie an der Obduktion teilnahm. Vielleicht kamen sie so schneller an Ergebnisse.
Es wäre Jochen Berg wesentlich lieber gewesen, wenn Dr. Anhäuser die Leiche selbst untersucht hätte. Zwar traute er den anderen Ärzten der Bonner Rechtsmedizin die rein technische Seite dieses Jobs durchaus zu. Aber Anhäuser war selbstbewusst und erfahren genug, um sich nicht sklavisch an die Dienstvorschriften zu halten. Das vereinfachte die Zusammenarbeit ungemein. Doch Anhäuser war im Westerwald unterwegs, um die Leiche des Kindes zu begutachten, die dort gefunden worden war. Ein heikles Thema, vor allem jetzt, wo alle Welt um die kleine Valerie bangte. Auch deshalb war er heilfroh, dass er Alex hatte überreden können, sich der Sache anzunehmen. Natürlich war das nicht ganz fair gewesen. Sie hatten schließlich eine Vereinbarung. Insgeheim hoffte er, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Hieß es nicht in der Meldung, dass der Körper in irgendetwas eingewickelt war? Vielleicht hatte ja irgendein Scherzkeks eine Puppe abgelegt, um die ersten Wochenendwanderer zu erschrecken. Falls es allerdings wirklich ein totes Kind war, das dort in einer Burgruine mitten im Westerwald lag …
Jochen mochte gar nicht daran denken, was es bedeuten würde, zwei spektakuläre Mordfälle gleichzeitig bearbeiten zu müssen. Und das bei der derzeitigen Personalsituation. Aber es war ja klar, dass die permanenten Einsparungen der letzten Jahre sich irgendwann bitter rächen würden. Dann war da noch Alex. Falls es tatsächlich eine Kinderleiche war … Jochen Berg wusste genau, wie frustriert sein Freund nach Jahren in der Mordkommission war. Aus Sicht seiner Vorgesetzten war Alexander Bierbrauer ein zwar schwieriger, aber überaus erfolgreicher Polizist mit einer hervorragenden Aufklärungsquote. Bierbrauer selbst sah das anders. Und er hatte ja recht: Sie konnten ihren Opfern weder helfen noch weitere Verbrechen verhindern. Nicht einmal den Angehörigen war ihre Arbeit ein großer Trost. Und selbst wenn sie ein Verbrechen aufklären konnten, hieß das noch längst nicht, dass die Täter für das, was sie getan hatten, angemessen büßen mussten. Zumindest empfanden das sämtliche Angehörige und fast alle Polizisten so. Natürlich würde das niemand offen zugeben, aber untereinander war man sich so gut wie einig, dass das deutsche Strafrecht mit Mördern und Totschlägern viel zu großzügig umging. Vielleicht lag es daran, dass der Blick auf die Welt und ihre tiefen Schatten sich mit jeder grausam verstümmelten Leiche und jedem Obduktionsbericht ein wenig mehr verdüsterte. Polizisten waren von Amts wegen Pessimisten, was die Resozialisierungsaussichten von Kapitalverbrechern anging.
Jochen Berg holte seine Gedanken zurück in den Ermittlungsraum der Soko Deichstadt. Was immer Alex im Eitelborner Wald vorgefunden hatte, musste warten. Jetzt ging es um Stadtrat Ulrich Vetter. Er setzte sich an den Kopf der u-förmig angeordneten Tische und wartete darauf, dass die Privatgespräche der Beamten verstummten. Gerade als er beginnen wollte, kam seine Sekretärin in den Raum gehuscht und reichte ihm eine Mappe: die Kurzfassung des Obduktionsberichts. Im Stillen lobte er Betty für ihr Talent, selbst den unwilligsten Zeitgenossen auf charmante Weise Dampf zu machen. Während er den dreiseitigen Ausdruck überflog, schwoll das Gemurmel wieder an. Doch ein Blick genügte, um auch den Letzten verstummen zu lassen. Alle waren gespannt, was auf sie zukommen würde.
„Herrschaften, wir haben Glück: Kollegin Engelmann hat uns eben eine Kurzversion des Obduktionsberichtes gemailt. Wie Sie bereits wissen, ist der Neuwieder Stadtrat Ulrich Vetter gestern Nachmittag tot in seinem Haus in Engers aufgefunden worden. Herr Vetter war über die Grenzen Neuwieds hinaus bekannt und engagiert. Er war früher im Vorstand eines traditionsreichen Neuwieder Unternehmens und seit zwei Jahren im vorzeitigen Ruhestand. Neben dem Neuwieder Stadtrat gehörte er etlichen weiteren wichtigen Gruppierungen an. Unter anderem war er stellvertretender Vorsitzender im Wirtschaftsverbund Mittelrhein und Mitglied im Lions Club Neuwied-Andernach. Vor drei Jahren wurde ihm das Landesverdienstkreuz verliehen. Kurz: Der Tote war ein herausragendes Mitglied der Gesellschaft.“
Den Hinweis darauf, dass Ulrich Vetter außerdem ein enger Freund des Polizeipräsidenten gewesen war, sparte Jochen sich. Das spielte für die Ermittlungen schließlich keine Rolle. Außerdem wusste es ohnehin jeder.
„Ich sage Ihnen das, damit Sie verstehen, dass das Interesse der Öffentlichkeit in diesem Fall mit Sicherheit noch ausgeprägter ausfallen wird als gewöhnlich. Es ist wichtig, dass wir schnell Ergebnisse vorweisen können.“
Er ließ seinen Blick über die Versammelten gleiten, die ihm schon weniger gespannt zuhörten. Das waren nicht die Dinge, die sie hören wollten. Er beschloss, die Aufmerksamkeit zu erhöhen.
„Zum Obduktionsergebnis.“
Was es dazu zu sagen gab, war wenig appetitlich, und Jochen bemühte sich, den Punkt so nüchtern wie möglich abzuhandeln. Aber es blieb dabei: Ulrich Vetters Kehle war mit einer Säge namens Fuchsschwanz durchschnitten worden, und zwar bis zu den Nackenwirbeln. Als der Täter mit seinem Werk begann, lebte der Mann noch. Allerdings hatte man ihn unter Drogen gesetzt. Vermutlich zuerst mit K.-o.-Tropfen, später mit einem Cocktail aus verschiedenen Beruhigungsmitteln, die man ihm aber wohl erst eingeflößt hatte, als er bereits mit Lederfesseln ans Bett fixiert war. Der Mann hatte nicht die geringste Chance gehabt, sich zu wehren, aber er hatte vermutlich mitbekommen, was mit ihm geschah. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Das Herz war ihm erst nach Eintritt des Todes entfernt worden. Dafür hatten der oder die Täter professionelles Werkzeug benutzt – Skalpell und Rippenspreizer. Auch wenn es keine allzu elegante OP gewesen war, verfügte zumindest einer der Täter über medizinische Kenntnisse. Das Herz war verschwunden.
Während Jochen Berg den Bericht verlas, war es im Raum mucksmäuschenstill geworden. Wahrscheinlich stellten sich alle bildlich vor, welches Gemetzel im Schlafzimmer des Neuwieder Politikers stattgefunden haben musste. Vielleicht bedauerte auch der eine oder andere Betty Engelmann, die dazu verdonnert worden war, der Obduktion beizuwohnen. Der K 11-Chef wischte diesen Gedanken beiseite.
„Es gab übrigens keine Einbruchsspuren. Das Opfer hat seine Mörder vermutlich selbst ins Haus gelassen. Allerdings steht der detaillierte Bericht der KTU noch aus. Ich hoffe, dass er bis heute Mittag auf meinem Schreibtisch liegt.“
Der Rest war Routine. Ein Teil des Teams würde losziehen, um die Nachbarn nach verdächtigen Beobachtungen zu fragen, eine andere Gruppe nahm sich das persönliche Umfeld des Toten vor. Angesichts der Umtriebigkeit des Mannes nicht gerade eine Aufgabe, die schnelle Erfolge versprach. Sobald sie aus Bonn zurück wäre, würde Jochen sich mit Betty unterhalten. Auch wenn die Verantwortung offiziell bei ihm lag, würde sie die Ermittlungen vorantreiben müssen. Er hatte jede Menge andere Dinge zu erledigen. Allem voran musste er sich mit der Pressestelle kurzschließen. Dort liefen die Drähte heiß, schließlich war Ulrich Vetter eine „öffentliche Person“ gewesen. Auf keinen Fall wollte Jochen Berg das mediale Interesse dadurch verstärken, dass die unappetitlichen Details des Falls bekannt wurden. Die Kollegen mussten die Pressemeute noch ein paar Tage hinhalten. Vielleicht gab es bis dahin Erkenntnisse, die er mit gutem Gewissen an die Öffentlichkeit geben konnte. Sobald er das erledigt hätte, würde er Alex anrufen – und beten, dass es kein totes Kind im Westerwald gab.
Der Mann war Sina sofort unsympathisch. Dabei sah er gar nicht übel aus und bemühte sich redlich, freundlich zu sein.
„Hallo, ich bin Artur Betterfeld, Ihr neuer Nachbar. Wir sind gerade erst eingezogen.“
Sina, die mit Asha von ihrer Nachmittagsrunde aus dem Wald zurückkehrte, blieb stehen und ergriff zögernd die Hand, die er ihr entgegenstreckte.
„Sina Lehmann.“
Sein Lächeln vertiefte sich, erreichte aber nicht seine Augen. Stattdessen verfiel er in eine unterschwellige Hektik.
„Ah, Frau Lehmann. Wie schön, dass wir uns treffen. Herr Baumgarten hat mir bereits von Ihnen erzählt.“
Er sprach fast ohne Dialekt, konnte seine sächsischen Wurzeln aber nicht völlig verleugnen. Hatte Baumgarten nicht gesagt, dass Betterfeld viele Jahre für ihn in Tschechien gearbeitet hatte? Na ja, im Grunde war es egal. Sie hatte nicht vor, nähere Bekanntschaft mit ihm zu schließen. Als Sina an ihm vorbeigehen wollte, stellte er sich ihr in den Weg. Ihr Unbehagen vergrößerte sich schlagartig. Ashas Kehle entschlüpfte ein tiefes Grollen, ihre Augen fixierten den Fremden drohend. Sina rief sie nicht zur Ordnung. Betterfeld verstand die Warnung und trat zwei Schritte zurück, während er ängstlich auf Asha herunterblickte. Sina konnte seine Sorge verstehen, denn die zierliche Hündin zog nun auch noch mit leicht gesenktem Kopf die Lefzen hoch und ließ ihr strahlend weißes Gebiss sehen, während sie den aufdringlichen neuen Nachbarn keine Sekunde aus den Augen ließ. Beinahe hätte Sina vor Stolz geschmunzelt.
Betterfeld bemühte sich um Schadensbegrenzung.
„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht aufhalten. Vielleicht wollen Sie ja mal auf einen Kaffee vorbeikommen, wenn wir alle Kisten ausgepackt haben? Im Moment ist es bei uns noch nicht sehr gemütlich.“
Früher hätte sie ihm eine Chance gegeben. Hätte sich im Stillen für ihre Vorurteile und ihr Misstrauen gescholten und sich bemüht, ihn nett zu finden. Doch seit sie in einem Wald in Mecklenburg auf Jan statt auf ihren Bauch gehört und diesen Fehler mit dem Tod ihres Mannes und beinahe auch mit ihrem eigenen bezahlt hatte, vertraute sie bedingungslos auf ihre Instinkte.
„Wir werden sehen.“
Ohne weiteren Kommentar ging sie mit Asha an ihrer Seite weiter bis zu ihrem Haus und verschwand hinter dem schmiedeeisernen Zaun. Sie schaute sich nicht nach Artur Betterfeld um.
„Mist, verdammter!“
Alexander Bierbrauer zog eine Augenbraue hoch, während er einen resignierten Blick auf Schuhe und Hose warf. Er würde nach Hause fahren und sich umziehen müssen, bevor er bei Sina vorbeischaute.
„Bist du ganz sicher?“
Die Stimme, die aus der Freisprechanlage seines Wagens ertönte, klang beinahe beschwörend. Jochen hatte angerufen, als er gerade in sein Auto gestiegen war, um sich nach der vermeintlichen Kinderleiche auf der Sporkenburg zu erkundigen.
„Was meinst du – ob es tatsächlich ein totes Kind ist oder ob ich sicher bin, dass es Valerie ist?“
Berg zögerte.
„Beides“, brachte er schließlich hervor.
Offenbar schwand seine Hoffnung, die ganze Angelegenheit könnte sich in Wohlgefallen auflösen.
„Mein Gott, Jochen. Natürlich bin ich sicher, dass ein totes Kind im Wald liegt. Ich habe es ja gesehen. Und was seine Identität betrifft: Nein, da bin ich nicht sicher. Wie du dir denken kannst, müssen wir den DNS-Abgleich abwarten, bevor wir sicher sein dürfen. Sie sieht der kleinen Valerie aber verdammt ähnlich.“
Am anderen Ende blieb es so lange still, dass Alex schon glaubte, die Leitung sei unterbrochen. Schließlich stand sein Wagen noch immer mitten im Wald.
„Bist du noch da?“
Er hörte Jochen Berg tief seufzen.
„Ja, klar.“
Wieder Schweigen. Alex startete den Wagen und wendete auf dem aufgeweichten Weg. Das Auto würde er durch die Waschanlage fahren müssen. Am anderen Ende der Leitung war es noch immer ungewöhnlich still. Alexander Bierbrauer wusste genau, was nun kommen würde. Aber er hatte nicht vor, es seinem Freund leicht zu machen.
„Alex, Mann, du weißt, dass ich das nur ungern mache, aber du musst diesen Fall übernehmen. Ich habe kaum Leute und schon diesen toten Politiker am Hals. Und wenn es wirklich Valerie ist – na ja, du weißt selbst, was dann hier los ist …“
Nun war es Alex, der fünf taktische Sekunden lang schwieg. „Ich bin dabei, in ein anderes Kommissariat zu wechseln. Und wir haben eine Vereinbarung.“
„Du weißt doch, dass es nicht anders geht.“
In Jochens Stimme schwang eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Ärger mit. Alex wusste, dass Jochen sich durch sein Zögern gedemütigt fühlte und auf keinen Fall betteln wollte. Schließlich war Jochen sein Vorgesetzter. Noch. Alex wartete ab. Am Ende entschied Jochen Berg sich für Deeskalation. Zumindest teilweise.
„Ich bitte dich, Alex. Zwing mich nicht, den Chef raushängen zu lassen …“
Alexander Bierbrauer drückte die Taste mit dem roten Telefonhörer. Jochen würde toben. Er hasste es, wenn man ihn einfach abwürgte. Aber das war ihm schon immer egal gewesen. Und bald würde er ohnehin nicht mehr in seinem Team arbeiten.
Falls es sich bei dem toten Kind tatsächlich um die kleine Valerie aus Bayern handeln sollte, könnte sich dieser Zeitpunkt allerdings beträchtlich nach hinten verschieben. Denn Jochen würde ihn erst ziehen lassen, wenn der Fall gelöst war oder wegen Aussichtslosigkeit zu den Akten gelegt werden konnte. Angesichts des breiten öffentlichen Interesses würde zumindest Letzteres nicht allzu schnell der Fall sein. Alexander Bierbrauer bog auf die asphaltierte Straße ein und gab Gas. Er musste das Bild des toten Kindes loswerden. Wenigstens für ein paar Stunden. Und es gab nur einen Menschen, der ihm dabei helfen konnte.
Kriminalhauptkommissarin Katie Hansen fluchte leise vor sich hin, während sie langsam die holprige Allee Richtung Putbus entlangfuhr. Hinter ihr bildete sich eine bedrohlich lange Schlange, und im Rückspiegel konnte sie erkennen, wie der Mann am Steuer des silbernen Mercedes S-Klasse gestenreich seinen Unmut äußerte, während die Frau auf dem Beifahrersitz ihm genervte Blicke zuwarf. Es schien nicht zum Besten zu stehen zwischen den beiden, denn Frau S-Klasse regte sich eindeutig mehr über ihren ungeduldigen Begleiter auf als über den dahinschleichenden Audi vor ihrer Stoßstange. Im Grunde konnte Katie die genervten Autofahrer gut verstehen. Schließlich hatten sie die Nebenstrecke über den Rügendamm gewählt, um dem üblichen Wochenend-Stau-Chaos auf der Hauptroute der Insel zu entgehen. Es war Anfang September, und Deutschlands schönstes Eiland war noch fest in Touristenhand. Deshalb war der kleine Umweg über die alte Fürstenstadt Putbus eigentlich eine gute Idee. Es sei denn, man stieß auf ein Hindernis, wie sie es gerade bildete. Dann ging auf der schmalen, unebenen und kurvigen Straße nichts mehr. Die dicken alten Alleebäume, die der Strecke ihren optischen Reiz gaben und an heißen Tagen willkommenen Schatten spendeten, wurden für ungeduldige Zeitgenossen regelmäßig zur Todesfalle. An manchen Stellen waren die Stämme mit großen weißen Totenkreuzen markiert.
Den Mercedesmann schien das nicht zu beeindrucken. Er setzte zum Überholen an. Erst im letzten Moment erkannte er den entgegenkommenden Transit und scherte in einer halsbrecherischen Aktion wieder hinter Katie ein. Die wusste, dass sie etwas tun musste, wenn aus der Fahndung nach zwei kleinen Mädchen nicht ein tödlicher Unfall werden sollte. Also öffnete sie das Fenster des Dienstwagens, rammte mit der linken Hand das mobile Blaulicht aufs Dach und schaltete mit der rechten das Martinshorn ein – für die Wagen, die weiter hinten fuhren und das optische Signal nicht sehen konnten. Sofort ging die S-Klasse auf Abstand. Katie hätte schwören können, dass der Fahrer puterrot anlief, auf jeden Fall breitete sich auf dem Gesicht seiner Beifahrerin ein Grinsen aus.
Doch mehr als einen flüchtigen Blick hatte Katie für dieses Geschehen nicht übrig. Die Mädchen mussten doch irgendwo sein. Angestrengt spähte sie in jeden Weg, der links und rechts in Wald oder Feld führte. Unglücklicherweise gab es hier jede Menge dieser Ausweichmöglichkeiten. Seit Tagen waren die Kinder immer wieder in Stralsund gesehen worden – meist, wenn sie irgendwo etwas klauten. Erwischt hatte man sie nie. Dabei war die Kleinere nach übereinstimmenden Aussagen höchstens vier und ihre Begleiterin nicht älter als acht Jahre alt. Heute Morgen war dann der Anruf von der alten Strelasund-Querung gekommen. Wie unzählige andere ungeduldige Passanten hatten die Mädchen zwanzig Minuten vor der aufgeklappten Dammbrücke ausharren müssen, um den Schiffsverkehr durch den Sund passieren zu lassen.