Kings & Thieves (Band 1) - Die Letzte der Sturmkrallen - Sophie Kim - E-Book
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Kings & Thieves (Band 1) - Die Letzte der Sturmkrallen E-Book

Sophie Kim

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Beschreibung

Ein König. Eine Diebin. Ein tödlicher Deal. Lina ist eine Sturmkralle, eine Diebin und Assassine. Da wird ihre Gang von den Schwarzkranichen getötet und Lina muss für die Mörder arbeiten. Bis ihr nach einem Diebstahl Rui erscheint – der Herrscher der mächtigen Dokkaebi. Zur Strafe für ihre Tat entführt er Lina in sein Reich. Dort bietet Rui ihr jedoch einen Deal an: Gelingt es ihr, ihn innerhalb von vierzehn Tage zu töten, lässt er sie gehen. Das Problem: Dokkaebi gelten als nahezu unsterblich. Und Lina kommt dem König näher als gedacht … Tauche ein in die Welt dieser koreanischen Jugendfantasy mit prickelnder Romance! Sophie Kim entführt dich in ihrer fesselnden Fantasy-Trilogie in eine Welt, in der koreanische Sagenelemente auf die geheimnisvolle Welt der Diebe und Verbrecher treffen. Diese einzigartige Kombination aus koreanischer Mythologie und Sagenwelt mit einem fesselnden Einblick in das Leben der Diebe und Verbrecher schafft eine atemberaubende Kulisse für die Geschichte – mit einer toughen Protagonistin, spannenden Plottwists und einer Enemies-to-Lovers-Geschichte, von der man nicht genug bekommen kann. Herzklopfen garantiert!

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Seitenzahl: 594

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INHALT

Anmerkung der Autorin

Kapitel 1 – Der Tempel des …

Kapitel 2 – Wunderschön«, flüstert Kalmin …

Kapitel 3 – Nach mickrigen zwei …

Kapitel 4 – Es beginnt mit …

Kapitel 5 – Im Innern des …

Kapitel 6 – Ich stehe über …

Kapitel 7 – Eben habe ich …

Kapitel 8 – Als ich fünfzehn …

Kapitel 9 – Wie auch immer …

Kapitel 10 – Der Schrank ist …

Kapitel 11 – Lina« sagte Chryse …

Kapitel 12 – Füllig und kaum …

Kapitel 13 – Mich aus der …

Kapitel 14 – Kalmin lebt also …

Kapitel 15 – Eunbi sah mich …

Kapitel 16 – Vollkommen erschöpft von …

Kapitel 17 – Wir haben uns …

Kapitel 18 – An der Tür …

Kapitel 19 – Funkelndes Licht fällt …

Kapitel 20 – Der nächste Tag …

Kapitel 21 – Ich hatte Unima …

Kapitel 22 – Wenn das so …

Kapitel 23 – Als ich bis …

Kapitel 24 – Der Ton der …

Kapitel 25 – Nachdem ich für …

Kapitel 26 – Schlecht gelaunt stapfe …

Kapitel 27 – Ich hatte vergessen, …

Kapitel 28 – Als ich mich …

Kapitel 29 – Du hast sie …

Kapitel 30 – Ich komme gerade …

Kapitel 31 – Der Strand ist …

Kapitel 32 – Kaum habe ich …

Kapitel 33 – Es ist so …

Kapitel 34 – Schwer atmend wische …

Kapitel 35 – Sang?«, krächze ich. …

Kapitel 36 – Ich trete in …

Kapitel 37 – Endlich war der …

Kapitel 38 – Ich bin nicht …

Kapitel 39 – Weinend beuge ich …

Kapitel 40 – Mit flatternden Lidern …

Kapitel 41 – Ein paar Stunden …

Kapitel 42 – Vier Tage vergehen …

Kapitel 43 – Der Garten liegt …

Kapitel 44 – Rui steht ruckartig …

Kapitel 45 – Jiwoon schnaubt, während …

Kapitel 46 – Lina«, krächzt jemand, …

Kapitel 47 – Sie wissen nicht, …

Kapitel 48 – Ich stehe auf …

Danksagung

Content Note

Für diejenigen von uns, die sich schon lange gewünscht haben, in einer Geschichte wie dieser aufzutauchen.

Und für meine Familie, die mich bei jedem einzelnen Schritt ermutigt hat.

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Ende des Buchs eine Content Note.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte! Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

ANMERKUNG DER AUTORIN

Eine der vielen schönen Seiten der Mythologie ist, dass all ihre Geschichten reif für Neuinterpretationen und Nacherzählungen sind, die das Interesse an traditionellen, aus alten Zeiten stammenden Sagen wieder neu entfachen können. Solche Legenden sind dazu gedacht, über Epochen hinweg mündlich oder schriftlich weitererzählt zu werden. Sie sollen ewig und beständig sein, um trotz der vielen Jahrhunderte fortzubestehen, die die Welt seither erlebt hat. Nacherzählungen halten diese Geschichten am Leben und verankern sie in der modernen Zeit, selbst wenn die Gefahr besteht, dass jedes ihrer Worte in Vergessenheit geraten könnte.

Umso bedauerlicher fand ich es, wie sehr die koreanische Mythologie im Universum der Nacherzählungen bislang vernachlässigt wurde. Dabei hat sie eine wunderbare Mischung aus Magie, Romantik, Verrat, philosophischen Gedanken und politischen Intrigen zu bieten. Reale Ereignisse der koreanischen Geschichte werden mit fantastischen Elementen wie Yong (Drachen) und Gwisin (Geistern) vermischt … Dennoch wurde ihr bisher kaum Beachtung geschenkt – genauso wenig wie nicht stereotypen koreanischen Charakteren, die meist zugunsten des Gegenteils außer Acht gelassen wurden.

In meiner Kindheit sind mir selten Figuren begegnet, die mir äußerlich glichen und nicht die klischeehafte Rolle der »nerdigen besten Freundin« einnahmen. Obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als mich in der Rolle der abgebrühten Assassine, verwegenen Piratin oder furchtlosen Kriegerin wiederzuerkennen … Doch das geschah nie. Es hätte mir viel bedeutet, ein Buch in die Finger zu kriegen, das vor koreanischer Mythologie und koreanischen Charakteren nur so strotzte. Wie gern hätte ich koreanische Göttinnen und Götter gesehen – statt die immergleichen überkommenen Stereotypen, die sowohl die Literatur als auch die Leinwände Hollywoods bevölkern. Als ich begann, Kings & Thieves – Die Letzte der Sturmkrallen zu schreiben, war es daher eine meiner stärksten Motivationen, andere Leser*innen mit meinem Buch zu inspirieren.

Doch bevor ich den Stift in die Hand nahm, habe ich viel recherchiert, um den ursprünglichen Hintergrund der koreanischen Mythologie vollkommen verstehen und würdigen zu können – genau wie das kulturelle Narrativ dahinter. Es war mir außerordentlich wichtig sicherzustellen, dass dieses Buch – obwohl es eine neue Variante der ursprünglichen Sagen darstellt – von einer Autorin geschrieben wurde, die die Ursprünge der Geschichten ihrer Kultur verinnerlicht hat und zu schätzen weiß.

Das Königreich Sunpo und das verborgene Reich von Gyeulcheon sind frei erfunden, aber die Mythologie dieses Settings entstammt Jahrhunderten koreanischer Geschichte und Tradition. (Natürlich mit Ausnahme der Figur des Spielmanns in diesem Roman. Dieser hat seinen Ursprung im Rattenfänger von Hameln, einer deutschen Sage.)

Kings & Thieves – Die Letzte der Sturmkrallen soll keine Einführung in die traditionelle koreanische Mythologie sein. Dieses Buch ist eine Nacherzählung und weicht als solche vielmals von den Originalgeschichten ab. Ein Beispiel: Die ursprüngliche Erzählung von Manpasikjeok (auch bekannt als Der schwarze Jadegürtel und Die Flöte, die zehntausend Wellen zähmte) unterscheidet sich deutlich von der Geschichte in diesem Buch. Der eigentliche Mythos stammt aus der Regierungszeit Kaiser Sinmuns (681–692), des 31. Herrschers der Silla-Dynastie. Die magische Flöte wurde nie von einem sarkastischen, sinnlichen Dokkaebi-Herrscher gespielt. Der Legende nach erhielt stattdessen Kaiser Sinmun Manpasikjeok () als Geschenk von einem Seedrachen. Aber auch darüber hinaus wird die Originalgeschichte von einer wunderbaren Mystik getragen.

Dieses Buch enthält zudem neue kreative Deutungen des koreanischen Pantheons, der Dokkaebi, Imugi und Gwisin – sowie des Unterweltreichs Jeoseung. Wenn ihr mehr über die ursprünglichen Sagen erfahren möchtet, empfehle ich den Besuch von folkency.nfm.go.kr, wo ihr euch über koreanische Mythologie und traditionelle Kultur informieren könnt.

Kings & Thieves – Die Letzte der Sturmkrallen ist eine Liebeserklärung an die Legenden meiner Ahnen, aber auch eine Liebeserklärung an die Leser*innen, die sich schon immer in einem Buch wie diesem wiederfinden wollten. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass es euch gefällt.

Herzlichst

Eure

Sophie Kim

KAPITEL 1

Der Tempel des Verderbens ist seit Jahrhunderten verlassen, doch eine unausgesprochene Regel besagt, dass keiner die hochaufragende Pagode betreten darf. Denn den Legenden nach lauern finstere, furchtbare Dinge in ihren Tiefen – Kreaturen mit Reißzähnen, die aus dem Dunkel hervorstürzen und ahnungslose Sterbliche in eine albtraumhafte Unterwelt verschleppen.

Und die Götter krümmen keinen Finger, um ihnen zu helfen.

Dennoch flüstere ich ein Gebet, während ich den verfluchten Tempel beäuge, den Konrarnd Kalmin als Ziel meines mitternächtlichen Raubzugs auserkoren hat.

Es überrascht mich nicht, dass ich keine Antwort bekomme.

Sie haben uns bereits vor Jahrhunderten im Stich gelassen, diese Götter, zunehmend ermüdet von den Belanglosigkeiten des Menschenreichs. Sie sind nicht hier. Keiner von ihnen. Nicht einmal die Dokkaebi blicken heute Nacht auf dieses Königreich.

Ich bin allein. Absolut und vollkommen allein, wie immer.

Doch wenn ich daran denke, wen ich hier bestehle … Unwillkürlich zucke ich zusammen. Dieses eine Mal ist meine Einsamkeit wohl eher ein großer Segen als ein Fluch.

Mein Inneres verkrampft sich vor lauter Nervosität, als ich mich auf dem Dach des schäbigen Holzgebäudes, das direkt an den Tempel grenzt, zum Sprung bereit mache. Im Licht des halbherzigen Mondes schimmert die scharlachrote Pagode provozierend.

Blutrote Säulen und eine gewundene tintenschwarze Krone recken sich den Sturmwolken entgegen, die im Begriff sind, die bereits blassen Sterne über dem heruntergekommenen Königreich Sunpo auszulöschen.

Ich habe mich schon durch fast jeden Spalt des schäbigsten Landes des Östlichen Kontinents gezwängt, mich durch jede Schenke und jedes Bordell, jedes vornehme Haus und jedes Armenviertel in den vier Bezirken geschlichen. Und die Orte, an denen ich noch nicht gewesen bin, haben mir Sang und die Zwillinge beschrieben. Aber weder Sang noch die Zwillinge sind je dort drin gewesen.

Ich knabbere nervös an meiner Unterlippe und überprüfe kurz, ob sich mein Dolch auch wirklich in der Scheide an meiner Taille befindet. Er ist da. Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich das geschwungene Ziegeldach vor mir und gebe mir alle Mühe, meine beklommene Vorahnung in eiskalte Entschlossenheit zu verwandeln.

Für Eunbi.

Ich schnelle hoch und sprinte in einer einzigen geschmeidigen Bewegung über die zerklüfteten Schindeln. Frischer Wind peitscht mir ins Gesicht, als ich mich abstoße. Einen wundervollen Moment lang genieße ich das Gefühl absoluter Schwerelosigkeit, ehe mir der Magen in die Kniekehlen sackt und ich tief-tief-tief-tief herabstürze …

Wie ein karmesinroter Klecks rast das Dach der Pagode auf mich zu.

Ich lande in der Hocke, halte mich mit einer Hand an einem gebogenen Ziegel fest. Den anderen Arm strecke ich nach hinten aus.

Der jähe Aufprall jagt einen bohrenden Schmerz durch mein linkes Bein, das von einem tückischen Messerstich vernarbt und geschwächt ist. Ich unterdrücke ein Stöhnen, tue mein Bestes, das Ziehen gar nicht zu beachten. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, eine Position einzunehmen, in der ich die Balustrade der Pagode sehen kann. Sie befindet sich knapp fünf Meter unter der vorkragenden Traufe des roten Dachs. Ein Kinderspiel.

Meine Stiefel kommen mit einem weichen Plumpsen auf. Noch ein Sprung und schon stehe ich auf der Balustrade. Einen Augenblick später schwinge ich mich über die geländerartige Konstruktion und lande vor Erleichterung leise seufzend auf dem Holzboden.

Trotzdem darf ich keine Zeit verlieren. Das Fenster, durch das ich einsteigen will, und Kalmins kostbare Beute warten schon. Mit einer behandschuhten Hand berühre ich das Glas. Dabei fahre ich mir mit der Zunge über die Schneidezähne. Gewiss, das Fenster ist klein, aber doch groß genug, dass ich mich hindurchzwängen kann.

Hoffentlich.

In einer schnellen, entschlossenen Bewegung ramme ich meine Faust gegen das Glas und erwarte, es auf diese Weise komplett einzuschlagen. Aber es knackt nur; ein breiter Riss läuft durch die quadratische Scheibe.

Mein Unterkiefer verspannt sich.

Ich hatte bisher noch nie Schwierigkeiten damit, ein so dünnes Glas zu zerschmettern, aber ein Jahr Schufterei für Kalmin bei miesem Essen und Misshandlungen hat mich geschwächt.

Und meine Wut entfacht.

Rot glühend bringt sie mein Blut zum Kochen. Mit einem rauen Knurren hämmere ich den Knauf meines Dolchs gegen die Scheibe. Das Glas zerbricht in einem Scherbenregen.

»Na endlich«, murmele ich und betrachte grimmig den neu geschaffenen Zugang zum Tempel des Verderbens, während ich mir Splitter aus dem Haar bürste. Dann spähe ich in die tintenschwarze Dunkelheit.

Man kann sich gut vorstellen, dass der Tempel des Verderbens einst ein Ort der Verehrung gewesen ist – gewidmet dem berüchtigten Spielmann. Nachdem die Götter unsere Welt einer anderen zuliebe im Stich ließen, hat der Dokkaebi die Drei Königreiche des Östlichen Kontinents regiert und dabei sowohl über Sterbliche als auch über Seinesgleichen geherrscht.

Und diesen König werde ich jetzt bestehlen.

Na großartig.

Ich fluche vor mich hin, wobei ich nach dem oberen Fenstersims greife und meine Beine durch die kleine Öffnung schiebe. Zwar kann ich ihn nicht sehen, aber irgendwo unter mir muss der Boden ja sein. Also stoße ich mich mit einer leichten Armbewegung vom Fensterbrett ab.

Im Tempel erklingt eine Reihe bellender Verwünschungen, als ich feststelle, dass es zweifellos einen Boden gibt – nur leider fast zehn Meter unter mir. Ich stürze durch die Finsternis und es gelingt mir gerade noch, meinen Körper so zu drehen, dass ich nicht mit dem Kopf zuerst aufschlage.

Geschickt rolle ich mich ab, um den Aufprall abzufedern, und stelle mir dabei vor, Konrarnd Kalmin mit einem besonders großen Schwert zu durchbohren. Möge er verdammt noch mal in den Tiefen von Jeoseung schmoren, weil er mich hierhergeschickt hat. Möge er verflucht sein, weil er mir so viel genommen hat und im Gegenzug noch schöne kleine Kostbarkeiten erwartet.

Wieder fährt ein schneidender Schmerz durch mein verletztes Bein, während ich mich aufrappele. Ich krame das Feuerzeug aus der Tasche meines Tarnanzugs. Mit einem Zischen erzeugt es eine Flamme, aber ihr flackerndes Licht kann den Raum um mich herum kaum erhellen.

Der Tempel des Verderbens ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe.

Ich hatte mir einen Palast im Innern der Pagode ausgemalt, mit Wendeltreppen, verschwenderisch ausgestatteten Räumen voller wispernder Schatten, die Luft schwer von düsterer Erwartung.

Stattdessen erstreckt sich vor mir ein schlichter, großer Raum, der fast wie das Atelier eines Künstlers wirkt. Entgeistert stelle ich fest, dass er leer ist – bis auf eine dicke schneeartige Staubschicht, die bereits auf meinem Anzug und auch auf einer kleinen schwarzen Kiste in der Mitte des Saals liegt.

Kein Anzeichen von heulenden Gwisin. Keine Geister hier – ich bin allein mit der Stille und dieser seltsamen kleinen Truhe. Ich muss mir ein ungläubiges Lachen verkneifen.

Der berüchtigte Tempel des Verderbens ist nichts weiter als ein leerer Raum. Der unübersehbare, offensichtliche Beweis, dass die Dokkaebi dem Territorium, über das sie einst herrschten, kaum mehr Beachtung schenken. Und warum sollten sie auch? Die Unsterblichen beschäftigen sich in ihrem eigenen Nischenreich Gyeulcheon mit interessanteren Angelegenheiten.

Langsam humple ich hinüber zu der Truhe, in der bestimmt der Wandteppich liegt, den Kalmin so dringend haben will. Ich puste den dicken Staub von der Kiste und unterdrücke ein Niesen, als eine weiße Wolke aufsteigt.

In das Schloss sind kleine silberne Zeichen in einer Sprache eingraviert, die ich nicht sofort identifizieren kann. Vielleicht ist es die Alte Sprache aus der Zeit der Götter. Das Schloss selbst scheint nicht besonders kompliziert zu sein – ich habe schon Hunderte, wahrscheinlich sogar Tausende Verriegelungen geknackt. Bei dieser hier wird es nicht anders sein.

Und doch zögere ich.

Die Dokkaebi zu bestehlen …

Mit grimmiger Miene frage ich mich, ob ich den Zorn des Spielmanns zu spüren bekommen werde. Ob er mich mit seiner magischen Flöte entführen wird, wie er es schon mit so vielen Sterblichen getan hat, um mich dann in seinem verborgenen Reich niederzumetzeln. In meiner Brust macht sich ein makabres Gefühl der Befriedigung breit.

Wenn mich der Spielmann holt, werde ich große Freude daran haben, ihm zu erklären, dass es Konrarnd Kalmin war, der mich in den Tempel des Verderbens geschickt hat. Kalmin und seine kleine Gang der Schwarzkraniche.

Wenn ich zugrunde gehe, dann ziehe ich sie mit mir in den Abgrund.

Lächelnd schiebe ich die schmale Spitze meines Messers in das Schlüsselloch. Ich bohre sie noch tiefer in das Schloss, wobei ich vor lauter Konzentration die Brauen zusammenziehe. Genau … ungefähr … so.

Mein Grinsen wird breiter. Da haben wir es.

Mit einem befriedigenden Klick springt das Schloss auf.

Langsam öffne ich die Truhe.

Sobald der Schein meines Feuerzeugs auf den Inhalt fällt, wird mir klar, warum genau dieser Wandteppich den Aufwand wert ist.

Er sieht unfassbar prachtvoll aus.

Im Licht meiner Flamme schimmert er in einem Feuerwerk strahlender Farben. Mit Fäden befestigte kleine funkelnde Juwelen blitzen zwischen jedem Stich der Stickerei hervor. Tausende von ihnen.

Ich sauge scharf den Atem ein.

Mit zitternder Hand hebe ich den Wandteppich aus seinem Ruhebett. Er wiegt bestimmt so viel wie ein kleines Kind, ist aber kaum länger und gerade mal so breit wie eine Fußmatte – zumindest vermute ich das anhand der Tatsache, wie oft er gefaltet ist. Die Juwelen bohren sich in meine behandschuhten Finger und schneiden mit furchterregender Leichtigkeit durch den dicken, gesteppten Stoff. Mein Herz beginnt zu rasen. »Bei den Göttern«, hauche ich.

Diese Juwelen stammen aus Gyeulcheon, aus ihrem Reich, das durch die Magie der Dokkaebi verborgen wird. Selbst die Edelsteine aus dem Königreich des Südlichen Kontinents – Oktari, das bekannt für seine kostbaren Juwelen ist – können da nicht mithalten.

Als ich über die Steine fahre, steigt ein Gefühl der Leichtigkeit in mir auf und dazu das Bild eines lockigen Mädchens mit Zahnlücken; eines Mädchens mit Funken sprühenden Augen und einem ansteckenden Lachen. Eunbi.

Ich überlege, welche furchtbaren Folgen es hätte, wenn ich den Wandteppich an mich nehmen und fliehen würde. Vielleicht könnte ich die Männer in den Yaepak Bergen mit den Juwelen bezahlen … Aber nein. Kalmin würde seine Spießgesellen anweisen, meine Schwester zu töten, noch ehe ich es bis zu ihrer Schule oben auf dem Gipfel geschafft hätte.

Meine Kehle zieht sich zusammen, während ich mir den Wandteppich unter den Arm klemme und jede Fantasie über ein Leben in Freiheit zusammen mit meiner kleinen Schwester gewaltsam unterdrücke. Mit einem dumpfen Klacken, das durch den verlassenen Tempel hallt, schließe ich die leere Kiste.

Kalmin giert nach seinem Schatz.

Also wird er ihn bekommen. Wie immer.

Als der Mond mich auf dem Heimweg durch die dunklen Straßen von Sunpo begleitet, könnte ich fast schwören, dass Dalnim, die dunkelhaarige Mondgöttin, mich beobachtet.

KAPITEL 2

Wunderschön«, flüstert Kalmin und seine Lippen verziehen sich zu einem triumphierenden Grinsen, als er einen Schritt von seinem schwarzen Lackschreibtisch zurücktritt. Darauf ausgebreitet liegt der farbenprächtig schillernde Wandteppich.

Neben ihm betrachtet mich Kalmins Stellvertreterin Asina mit kühler Miene, aber auch sie kann die Bewunderung in ihren kantigen Zügen nicht verbergen.

Ich gestatte mir, ebenfalls einen Blick auf den Wandteppich zu werfen. Und bemerke erst jetzt, dass mich der Nervenkitzel des Diebstahls zu sehr abgelenkt hat, um mich zu fragen, was für ein Bild die mit Edelsteinen durchwirkte Stickerei eigentlich darstellt. Während ich es auf mich wirken lasse, reiße ich unwillkürlich leicht die Augen auf, gebe mir aber alle Mühe, ansonsten möglichst unbeeindruckt auszusehen.

Der Wandteppich zeigt einen von Lichtstrahlen gesprenkelten Garten, in dem es hier und da blau schimmert. Zwischen farbenprächtigen Blumen und Grashalmen windet sich eine orangefarbene Schlange, deren Augen aus funkelnden Juwelen bestehen. Ein wolkenloser Himmel umschließt einen weißen Vogel und silberne Edelsteine formen kleine Halbmonde, die den Garten darunter in ein ätherisches Licht tauchen.

Ich schnappe nach Luft. Dieses eine Mal hat Kalmin recht. Der Wandteppich ist wunderschön. Geradezu hinreißend.

Wahrscheinlich wäre ich damit zufrieden, ihn für immer zu betrachten. Könnte das Hallakkungis Garten sein? In den Legenden wird der Garten des Blumengottes als üppig und voller Leben beschrieben. Mit einem Lächeln stelle ich mir vor, wie Hallakkungi zwischen den Lotosblumen und den Chrysanthemen steht.

Deshalb bekomme ich nur am Rande mit, dass Kalmin etwas sagt. Seine Stimme klingt leise und gedämpft, als befände er sich unter Wasser. Obwohl ich es besser weiß, schenke ich ihm keine Beachtung, denn mein Blick hat sich in den winzigen, wunderschönen Juwelen und den hypnotisierenden Strahlen des weichen, einladenden Mondlichts verloren.

Klatsch.

Eine Schmerzexplosion bringt mich aus dem Gleichgewicht, während sich ein weißes Brennen durch meine Wange fräst, und ich taumle ein paar Schritte rückwärts. Eine Sekunde später lege ich die Hand an die glühende Wange und spucke in ungezügelter Wut auf den Boden.

Asina, dieses götterverdammte Miststück, hat mich geschlagen.

Ein Knurren entweicht meinen geschürzten Lippen, aber die schlanke, kahlköpfige Frau bleibt so ungerührt, dass es mich nur noch mehr reizt. Ihre großen Glupschaugen sind kalt vor Abscheu und sie hat die rechte Hand noch immer erhoben – bereit, ein weiteres Mal zuzuschlagen.

»Ich empfehle dir zuzuhören«, sagt sie und ihre Stimme trieft vor arroganter Selbstzufriedenheit.

In einer einzigen fließenden Bewegung richte ich mich zu voller Größe auf, halte dann aber inne, weil Kalmin mich warnend ansieht.

Konrarnd Kalmin ist skrupellos. Gewalttätig. Sein Haar hat die Farbe von Rost, seine Haut die von frisch gefallenem Schnee. Seine Augen erinnern mich an die einer fürchterlichen Schlange – sie sind von einem dunklen, trüben Grün und permanent zu Schlitzen verengt, was ihnen einen gerissenen, berechnenden Ausdruck verleiht.

Götter, schenkt mir Stärke. Es kostet mich jedes Quäntchen Selbstbeherrschung, unter seinem scharfen Blick nicht in mich zusammenzusacken und mir ins Gedächtnis zu rufen, dass dieser Mann unfassbar gefährlich ist – selbst für eine erfahrene Amsalja, eine Assassine wie mich.

Es heißt, dass er dem brutalen Königreich des Nördlichen Kontinents Brigvalla entstammt und vor dreißig Jahren in eine gut betuchte Familie hineingeboren wurde. Es heißt weiter, dass er mit einem Messer in der Hand zur Welt kam, mit dem der nur wenige Minuten alte Kalmin erst seine Mutter tötete, dann seinen Vater und schließlich die Hebamme.

Als mein Leben noch einfacher war, habe ich über diese Geschichte immer nur gespottet. Doch seit ich Kalmin persönlich kenne, seit ich für ihn arbeite … Seither kann ich mir gut vorstellen, wie es zu dieser Legende gekommen ist.

»Hast du mich etwa ignoriert?«, fragt er sanft und legt den Kopf schief. Mir tun die Backenzähne weh, so fest beiße ich sie aufeinander.

Ich höre seine Stimme jeden Tag, aber noch immer kann ich nicht darüber hinweggehen, wie er die Sprache unseres Kontinents verhöhnt. Da, wo seine Worte melodiös und moduliert sein sollten, sind sie ausdruckslos und abrupt. Es ist offensichtlich, dass er ein krankes Vergnügen daran findet, unsere Sprache und ihren Rhythmus zu verstümmeln. Im Gesamtbild ist das vielleicht nur eine kleine Kränkung. Doch sie sorgt dafür, dass mir das Blut zu Kopf steigt und ich innerlich erneut zu brodeln beginne.

Bastard, denke ich.

»Antworte mir.« Seine betont abgehackten Worte sind plötzlich so scharf wie eine frisch gewetzte Klinge und stehen in krassem Gegensatz zu dem widerlich süßen Gesäusel von eben. »Hast du mich etwa ignoriert, Shin Lina?« Der ätzende Ton seiner Frage verrät mir, dass ich auf der Hut sein muss.

Meine Fingernägel graben sich tief in meine Handflächen, wo sie zweifellos halbmondförmige Abdrücke hinterlassen. »Nein«, stoße ich zwischen zusammengepressten Kiefern hervor.

»Na-na-na«, macht Kalmin spöttisch und hebt eine seiner schmalen Augenbrauen. »Es steht dir nicht zu zu lügen. Das begreifst du doch, oder?« Wieder neigt er den Kopf zur Seite und seine Schlangenaugen leuchten in einem erbarmungslosen Grün. »Sag mir, wer du bist.«

Ich zittere vor lauter Anstrengung, ihm nicht das schneeweiße Gesicht zu zerfetzen, als seine blutroten Lippen die Worte formen, die ich mich zu sagen weigere.

»Du bist die Schnitterin. Sunpos beste Assassine. Und meine beeindruckendste Trophäe.« Kalmin lächelt, ein gefühlloses, totes Lächeln.

Eine Stille, so scharf, dass sie Glas zerschneiden könnte, zerteilt den Raum.

Mein Herz hört auf zu schlagen, als sich mein Verstand an dieser Bezeichnung, an diesem Anspruch verhakt …

Trophäe. Die Welt hält in ihrer Drehung inne, während ich bei diesem Wort rot sehe.

Rot, weil das die Farbe ist, die ich auch im Haus der Sturmkrallen in jener Nacht gesehen habe – als alles in einer Katastrophe mündete. Die Farbe sickerte aus ihren leblosen Körpern, den Körpern meiner Gang, meiner Familie. Rot, weil das die letzte Farbe war, die ich sah, ehe mir ein schwerer Lumpen, getränkt mit dem bitteren Geruch eines Schlafmittels, auf das Gesicht gepresst wurde und meine Welt im Dunkel versank.

Es fällt mir unglaublich schwer, nicht über den glänzenden schwarzen Schreibtisch zu hechten und alles aufs Spiel zu setzen, das mir noch geblieben ist. Mein ganzer Körper bebt, um den Drang nach Gewalt, der sich in mir regt, zu unterdrücken. Kalmin tauscht einen belustigten Blick mit Asina.

Und damit zerreißt etwas in mir.

Ich kann es tun.

Ich kann mich über diese kleine Fläche lackierten Holzes zwischen uns schwingen und ihm das Gesicht zerkratzen, seine Brust – bis aus ihm dasselbe rote Blut sickert wie in jener Nacht aus den Sturmkrallen, meiner Gang. Ich fletsche die Zähne, spanne alle Muskeln an, lasse meine Hand zu meinem Messer gleiten … Dann fällt mir Eunbi ein und ich erstarre.

Eunbi mit ihrem pausbäckigen, sommersprossigen Gesicht und den fröhlichen Spatzenaugen.

Eunbi mit ihrer Vorliebe für klebrige Süßigkeiten und einem Lachen, das wie das Klimpern eines Windspiels klingt.

Eunbi. Meine Eunbi. Unschuldig und lieb und bar jeder Mordlust. Immer noch ein Kind, klein und empfindsam, mit ihrem ganzen Leben vor sich.

Und mit einer Chance, die Frau zu werden, die ich nie werden konnte.

»Reißen wir uns zusammen, ja?« Langsam kommt Kalmin um den Schreibtisch herum. »Morgen wirst du dich mit einem meiner oktarianischen Kunden in der Mausefalle treffen, um ihm seinen Anteil an den Juwelen zu geben. Wenn er sich weigert, dir das Geld zu zahlen, tötest du ihn.« Ich spüre, wie er mich ansieht. Sein Blick hinterlässt einen feuchten Film auf meiner Haut. »Wenn er zögert, töte ihn. Wenn er versucht, dir weniger zu geben als die vereinbarte Summe …«

»Lass mich raten«, unterbreche ich ihn und funkle den stets wachsamen Mond durch das Fenster an. Ich frage mich, ob Dalnim meinen steten Strom von Gebeten hören kann, auch wenn sie schon vor langer Zeit den Mond im Reich der Sterblichen verlassen hat. »Töte ihn.«

»Ich kann jederzeit andere zahlungskräftige Abnehmer finden. Die Oktarianer gieren nach weiteren Edelsteinen und sie haben die nötigen Mittel, um sie zu erwerben. Diese Juwelen, sie sind Schätze der Dokkaebi. Ich werde sie nicht unter Wert verkaufen.« Kalmin tippt mit dem Fingernagel kurz und scharf auf einen der Edelsteine. »Selbst dir scheint der Wandteppich gut zu gefallen.« Etwas in seiner Stimme sorgt dafür, dass sich mein Magen zusammenzieht. Was auch immer jetzt kommt – es kann nichts Gutes sein. »Deshalb darfst du diejenige sein, die ihn auftrennt. Du hast doch noch deinen Dolch, oder?«

Ihn auftrennen? Verwirrt runzle ich die Stirn. Aber warum nur …? Oh.

Der wunderschöne Garten, die akkuraten, winzigen Stiche in leuchtenden Farben interessieren diese Leute nicht. Die oktarianischen Käufer wollen einzig die Steine, nicht die Kunst.

»Mach es doch selbst«, stichle ich und versuche, in jedes meiner Worte so viel gleichgültige Arroganz zu legen, wie ich aufbringen kann. »Ich habe den Rest der Nacht zu tun.« Das reicht nicht, denke ich, als Asina genervt die Augen verdreht.

Oder – vielleicht ist es auch zu viel.

Kalmin versteift sich und betrachtet seine abgekaute Nagelhaut. »Lina, Lina«, sagt er dann warnend und ein grausames Lachen verzerrt meinen Namen. »Wenn die Edelsteine nicht abgetrennt werden, bekomme ich kein Geld. Und wenn ich mein Geld nicht bekomme, wird das sehr schlecht für dich ausgehen. Und für deine Schwester.« Obwohl ich diese Drohung schon oft gehört habe, rutscht mir das Herz in die Hose. Kalmin deutet auf seinen Schreibtisch. »Sieh zu, dass du bei Sonnenaufgang fertig bist.« Sein Schlangenblick wandert zu Asina. »Behalte sie im Auge«, fügt er an sie gewandt hinzu.

Es ist eine kleine Genugtuung, dass Asina unglaublich verdrossen dreinschaut.

Ich schenke ihr ein süßliches Lächeln und beschließe, mir sehr, sehr viel Zeit beim Auftrennen des Wandteppichs zu lassen.

Stunden später tun mir die Hände weh und vor meinen Augen verschwimmt alles vom gewissenhaften Durchtrennen der Fäden, um die funkelnden Schätze zu lösen.

Asina ist auf Kalmins Stuhl eingenickt, kommt aber schnell wieder zu sich und sieht mich mürrisch an, während die schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne durchs Fenster sickern.

Hunderte von Edelsteinen waren auf den Teppich genäht, jetzt liegen sie in einem Haufen abgetrennter Fäden. Mit zugeschnürter Brust und schwerem Herzen habe ich den Garten zerstört und die sonnenuntergangsfarbene Schlange zerschnitten. Es hat sich falsch angefühlt, vollkommen falsch, aber hatte ich eine andere Wahl?

Für einen Wandteppich werde ich nicht das Leben meiner Schwester opfern.

Als ich es endlich geschafft habe, rapple ich mich vom Boden hoch, auf dem ich die ganze Zeit gekniet habe. Nach dem stundenlangen Schweigen kostet es mich jetzt Kraft, meine Stimme zu benutzen. »Ich bin fertig«, sage ich heiser zu Asina, und ohne auf ihre Antwort zu warten, stolziere ich zur Tür hinaus.

Zu dreist, raunt mir die leise Stimme der Vernunft warnend zu, während ich durch das Hauptquartier der Schwarzkraniche marschiere, aber ich achte nicht auf sie. Die Sonne ist bereits aufgegangen und ich habe die Spielchen satt.

Ich erwarte, dass Asina mir nachläuft und verlangt, dass ich die Fadenreste aufsammle, doch das tut sie nicht. Niemand behelligt mich, als ich durch das Gebäude gehe, das nun schon ein Jahr lang mein Gefängnis ist.

Die schmalen Gänge sind von Gemälden gesäumt, die aus sämtlichen Museen des Kontinents gestohlen wurden. Unschätzbar wertvolle Malereien hängen schief an den abgestoßenen Wänden. Ein verbogener Kerzenleuchter wirft sein Licht auf mich, während ich auf eine Tür zugehe, die halb unter einer Treppe mit unebenen Stufen verborgen ist.

Ich betrete meine armselige Version eines Zimmers, ohne dem großflächig tätowierten Schwarzkranich, der ein paar Schritte von meiner Tür entfernt Wache hält, Beachtung zu schenken. Drinnen streife ich mir sofort die Stiefel von den schmerzenden Füßen. Keine Ahnung, wer diesen Raum vor mir bewohnt hat. Doch dass jemand hier gewohnt haben muss, steht außer Frage, denn die Schwarzkraniche nehmen ständig Geiseln.

Bis auf eine verschlissene Decke auf einer schmalen Pritsche, eine Holzkiste mit Kleidern und einen Eimer trüben Wassers, der mir hingestellt wurde, damit ich mir das Gesicht waschen kann, ist mein »Schlafgemach« leer. An der Wand hängt noch ein kleiner Spiegel, abgestoßen und mit Sprüngen vom jahrelangen Gebrauch.

Ich schäle mich aus dem Oberteil meines Anzugs, wobei ich bewusst nicht in den Spiegel schaue. In dem verschmierten Glas gibt es nichts zu entdecken, was ich gern sehen würde – nur das Bild von Schmutz und Hunger, den Inbegriff von Schuld und Verzweiflung.

Also kehre ich dem verdammten Ding den Rücken zu und gebe mir alle Mühe zu ignorieren, dass ich meine Rippen zählen kann. Zu ignorieren, wie fettig und filzig sich mein hüftlanges schwarzes Haar anfühlt, als ich meinen Zopf löse.

Dann spritze ich mir kühles Wasser aus dem Eimer ins Gesicht, wobei ich unter meinen Fingerspitzen die Konturen meines Gesichts – kantig und hager – spüre. Der Hunger hat meine ohnehin schon spitze Nase noch spitzer werden lassen und meine Wangenknochen stehen unangenehm knochig hervor.

So ist es nicht immer gewesen.

Ich bin nicht immer so gewesen.

Noch vor einem Jahr war ich kräftig und trainiert, mein gebräunter Körper straff und muskulös. Obwohl ich schlank war, hatte ich Rundungen, und zwar an den richtigen Stellen. Ich konnte kilometerweit laufen, ohne außer Atem zu geraten, konnte einen Mann, der dreimal so groß war wie ich, mit einer einzigen Bewegung entwaffnen und im nächsten Moment zu Fall bringen.

Natürlich gab es auch schon damals Dinge an mir, die mir nicht gefielen. Dass ich so klein bin, zum Beispiel. Außerdem konnte ich meine Nase nicht leiden. Dass ihre Spitze so gebogen ist, dass sie anstößig wirkt. Sie zeigt zu sehr nach oben. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber eine, die mich immerzu gestört hat.

Jetzt bin ich eine Fremde, ein schwächliches Mädchen mit tiefen dunklen Augenringen. Die Veränderung liegt nicht nur am wenigen Essen. Alles andere trägt auch dazu bei … Der Verlust, die Trauer und am meisten die Schuld.

Die Schuld, die in jeder einzelnen Minute an jedem einzelnen Tag an mir nagt, die nie nachlässt, nie endet. Niemals.

Ich halte mich nicht damit auf, noch weitere Kleidungsstücke abzustreifen, sondern lasse mich auf meine schmale Pritsche fallen, dass die Matratze ächzt. Mein linkes Bein brennt und ist verkrampft von der Anstrengung. Mit vor Qualen verzogenem Gesicht massiere ich die narbige Haut. Es tut ständig weh, aber jetzt ist es durch die Strapazen meiner Mission noch schlimmer.

Es ist ein Schmerz, den ich verdiene. Eine Verletzung, die ich verdiene.

Allmählich wird es besser und nur das übliche dumpfe Pochen bleibt zurück. Ich schließe die Augen. Und gerade, als ich in den Schlaf hinübergleiten will …

… nimmt die Mahnung wie jede Nacht meinen Verstand in Besitz.

Mein ganzer Körper wird steif, in meinen Achselhöhlen und auf meiner Stirn bildet sich kalter Schweiß.

Die Mahnung ist ein widerliches, abartiges Ding, das mit großer Genugtuung in jeden Winkel meines Gehirns vordringt und einen Teppich klebrigen schwarzen Öls hinter sich herzieht.

Ich versuche nicht, dagegen anzukämpfen. Das tue ich nie, obwohl ich weiß, was gleich kommt.

Ich umklammere lediglich meine zerschlissene Decke in einer todesstarren Umarmung und warte.

Was würden sie von dir denken?, zischt die Mahnung mit vorwurfsvoller Stimme. Du dreckige, dreckige Verräterin. Deine Schuld. Deine Schuld. Sie liegen im Schlamm begraben, du aber atmest noch immer die Luft der Stadt, bist die Handlangerin des Monsters, das sie niedergemetzelt hat. Du gestörtes, niederträchtiges, armseliges Ding …

Ich muss würgen, während sich die Mahnung um meine Lungen windet, an mir zerrt, fester und immer fester, bis ich keine Luft mehr bekomme. Bis ich nichts weiter tun kann, als meine Kehle zu umfassen und zu versuchen, wenigstens ein bisschen Luft einzuatmen. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen, Zuckungen erschüttern meinen Körper.

Sang, flüstert die Mahnung. Chara. Yoonho. Chryse. Sang. Chara. Yoonho. Chryse …

Die dunklen Flecken, die vor meinen Augen tanzen, gerinnen. Ich werde ganz schlaff, obwohl meine Lunge nach Luft schreit.

Sang … Chara … Yoonho … Chrysssss…

Mit einem letzten Zischen verschwindet die Mahnung zurück in den hintersten Winkel meines Verstandes, aus dem sie hervorgekrochen ist. Es bleibt nichts zurück außer dem schwachen Widerhall eines leisen, krächzenden Lachens.

Zitternd atme ich tief und stoßweise ein, vergrabe mein Gesicht in den Händen. Manchmal quält mich die Mahnung auch mit Visionen der toten Sturmkrallen, die sich in einer Welt aus trüber Dunkelheit befinden, in der nichts gedeiht – in Jeoseung, dem Jenseits. Manchmal sehe ich sie als Gwisin: verschwommene, durchscheinende Körper, nichts weiter als das flackernde Echo des Lebens, das sie einst geführt haben. Manchmal manövriert die Mahnung mich gewaltsam durch Erinnerungen und lacht triumphierend, wenn ich zu schluchzen beginne.

Sie sucht mich immer in einer frühen Phase des Schlafs heim, wenn ich noch zwischen Bewusstsein und wohligem Vergessen schwanke. Das tut sie nun seit einem Jahr. Ich kann nichts tun, um ihr zu entkommen, nicht wenn sie die Verkörperung meiner eigenen Schuld ist.

Nicht wenn das bohrende, glühende Messer des Selbsthasses für immer in meiner Brust steckt.

KAPITEL 3

Nach mickrigen zwei Stunden Schlaf stehe ich auf dem zentralen Marktplatz der Mausefalle. Die Mausefalle ist das Handelsviertel des Königreichs und liegt nicht weit entfernt vom Münzhof, dem wohlhabenden Bezirk Sunpos, wo sich auch das Haus der Schwarzkraniche befindet.

Ich habe mir eine schwere dunkle Umhängetasche über die rechte Schulter geschwungen, lehne in einer Gasse an einer Mauer und beobachte das Treiben auf dem frühmorgendlichen Markt. Frauen in Hanboks – von edlen und aus Seide gefertigten bis hin zu schäbig verschlissenen – achten darauf, mit ihren Schläppchen nicht in die Dreckpfützen auf der Straße zu treten. Die Männer tragen Paeraengi – Hüte aus geflochtenen Bambusstreifen – und führen Esel mit Körben voller frischem Fisch durch die schlendernde Menge.

Die Makrelen und Lachse kommen aus Grätenfang, dem östlichen Bezirk von Sunpo, der bekannt ist für seine Häfen am Meer von Yongwangguk. Sunpo mangelt es nicht an Fisch – da wir durch die Yaepak Berge von den anderen beiden Königreichen abgeschnitten sind, müssen wir von dem leben, was uns dieses Dreckloch von einem Königreich an natürlichen Nahrungsquellen bietet. Ich mustere die Fischer aufmerksam, betrachte forschend ihre wettergegerbten Gesichter, aber seltsamerweise passt auf keinen von ihnen die Beschreibung der Person, nach der ich suche.

Kalmin zufolge soll ich nach einem Mann um die fünfzig mit ergrauendem Haar und einem hängenden Schnurrbart Ausschau halten – was eigentlich auf die Hälfte von Sunpos Bevölkerung zutrifft und zweifellos auch auf die von Oktari.

Beim Warten spiele ich mit meiner letzten Zigarette; der allerletzten aus dem Päckchen, das sich in der Geheimtasche meines Tarnanzugs befand, als ich vor einem Jahr gefangen genommen wurde.

Sang hat mich zum Halji-Rauchen gebracht. Doch sobald ihm klar wurde, was er damit angerichtet hatte, warnte er mich vor den Gefahren des grauen aschigen Rauchs, aber …

… Sang ist nicht hier, oder?

Jetzt gerade ist ein genauso guter Moment für eine Zigarette wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Mit sämtlichen Fasern meines Körpers lechze ich danach, den Geschmack von Asche und Staub zu inhalieren, die beißende Bitterkeit der Halji-Blätter zu schmecken. Ich nehme die Zigarette zwischen die Lippen und krame nach meinem Feuerzeug. Und verziehe das Gesicht, weil …

»Es ist schlecht für dich, Lina«, höre ich Sangs Stimme und ich kann ihn fast sehen, kann ihn fast neben mir spüren – genau wie in jener Nacht auf dem Dach. »Du musst damit aufhören.«

Ich weiß noch, wie ich damals reagiert habe. Ich verdrehte die Augen und blies ihm eine Rauchwolke ins Gesicht. »Heuchler. Wie viel rauchst du? Zwölf am Tag? Das hier ist gar nichts!«

Sang schaute finster drein. »Ich bin nicht stolz darauf. Und ich hätte dir nie die erste Selbstgedrehte geben dürfen.«

Ich ließ mich gegen die Dachziegel sinken und betrachtete Sang aufmerksam.

Unter Dalnims Mondlicht leuchteten seine Züge und seine haselnussbraunen Locken, die sein Gesicht einrahmten. Sangs Hände, vernarbt von der jahrelangen Arbeit als Spion und Waffenschmied, lagen in seinem Schoß. Er knetete seine Finger, eine nervöse Angewohnheit, die er nur selten zeigte.

»Ich mache mir Sorgen um dich, L«, sagte Sang leise. »Du bist ein kaum noch atmender, lebender Schornstein … Hätte ich das geahnt, hätte ich dir nie eine angeboten …« Er verstummte. Das Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Den beiden Sturmkrallen. Der Amsalja und dem Spion.

»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte ich endlich. »Mir geht es gut.« Es stimmte, mehr oder weniger. Im Gegensatz zu Sangs dramatischer Metapher waren meine Lungen frei und mein Atem ging mühelos.

Noch, warnte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf. Ich hörte nicht auf sie.

»Ich glaube dir nicht. Du bist noch jung. Manchmal denke ich …« Sang schluckte schwer. »Manchmal denke ich, du bist zu jung, um die Schnitterin zu sein.«

Seine Worte klingelten mir in den Ohren und ich wurde ganz still. »Du bist nur drei Jahre älter als ich, Sang.« Ich rollte meine nächsten Worte auf meiner Zunge hin und her, um sie dann wie Patronen aus meiner Lieblingspistole abzufeuern. »Und vor vier Monaten fandest du mich auch nicht zu jung.«

Ein Wirrwarr aus seidigen weißen Laken. Sangs Hand über meiner.

Eine Flasche Schaumwein auf dem Nachttisch neben zwei Gläsern, eines davon umgekippt. Goldene Tropfen, die auf die über den Boden verstreuten Kleider fallen.

Sang blinzelte – vor Überraschung und sehr wahrscheinlich auch als Schuldeingeständnis. Denn vor vier Monaten … »Ich habe dir gesagt, dass das ein Fehler war.« Er vermied es, mich anzusehen, stattdessen schaute er hinauf zum Mond, in dessen Licht sich das Bedauern deutlich auf seinen Zügen abzeichnete.

Ich fragte mich, ob Dalnim uns von oben beobachtete. Ob die Mondgöttin zusah, wie mein Herz in meiner Brust wieder und wieder zerbrach.

Ich zwang mich dazu, Sang kokett anzulächeln. »Ein sehr kurzweiliger Fehler.«

Seine Wangen färbten sich blassrot. »Hör mit dem Rauchen auf, Lina. Bitte. Wenn deine Gesundheit Schaden nähme, könnte ich es nicht ertragen zu wissen, dass ich es war, der dir die erste Zigarette gegeben hat.« Er schloss die Augen. »Bitte.«

Ich schwieg. Sein Anblick versetzte mir einen Stich.

Es war nicht so, dass ich Sang liebte … so richtig. Ich redete mir ein, es würde nichts bedeuten, doch es einen Fehler zu nennen, hieß schon etwas. Es hieß, dass er die Nacht des Schaumweins und der seidenen Laken bereute. Dass er bereute, wie er danach meine Stirn geküsst hatte, sein Atem heiß auf meiner Haut.

Es war nicht mein erstes Mal gewesen. Aber dennoch, es war geschehen. Und es hatte mir gefallen.

Allerdings ging es Sang offensichtlich anders.

Einen Fehler, ja, so hatte er es genannt.

»Ich höre auf, wenn du aufhörst«, sagte ich schließlich nach längerem Schweigen dort oben auf dem Dach. Nur kurz schaute ich zu ihm hinüber, sah seine schmerzerfüllte Miene, dann ließ ich mich die Schräge hinuntergleiten, landete sicher auf dem Boden und verschwand in der Nacht.

Ich weiß nicht, wie lange Sang danach noch dort gesessen und Dalnims Mond betrachtet hat.

Damals wollte ich es nicht wissen.

Und jetzt werde ich es nie erfahren.

Den Rücken noch immer an die Steinwand in der Gasse gedrückt, stecke ich die Zigarette zurück in meine Tasche.

Ich werde sie aufheben, beschließe ich. Für einen Moment, in dem ich so dringend eine rauchen muss, dass es sich anfühlt, als würden mir Ameisen die Kehle hinaufkriechen.

Dann verbanne ich jeden Gedanken an Sang und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Marktplatz.

Verkäufer lehnen sich über die üppig bestückten Stände und wedeln einladend mit ihren Waren den Marktbesuchern zu, die kaum einen Schritt vor den anderen setzen können, ohne sich gegenseitig anzurempeln.

»Früchte aus Bonseyo!«, ruft ein Mann den Namen eines der anderen beiden Königreiche, während er eine Kakifrucht durch die Luft schwenkt. »Kakifrüchte und Nashi-Birnen aus den berühmten Obstgärten!« Die Frucht ist so reif, so perfekt, dass ich mich frage, ob Jacheongbi höchstpersönlich Bonseyos Pflanzen segnet. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

Es werden nur selten Waren aus dem Königreich ganz am Rande des Östlichen Kontinents angeboten. Für gewöhnlich ignoriert Bonseyo unser heruntergekommenes, im Süden gelegenes Sunpo – hauptsächlich, weil man weit über das Meer von Yongwangguk segeln oder die gefährlichen Pfade über die Yaepak Berge nehmen muss, um hierherzugelangen. Außerdem ist Bonseyo meist zu sehr mit seinen eigenen politischen Angelegenheiten beschäftigt, um sich überhaupt an uns zu erinnern. Denn die königliche Familie dort hat alle Hände voll damit zu tun, die Unruhen innerhalb ihrer Dynastie unter Kontrolle zu bringen.

Heute aber hat Bonseyo Früchte gesandt und unwillkürlich argwöhne ich, es könnte eine Gefälligkeit dafür sein, dass Banditen aus Sunpo ihnen dabei geholfen haben, mit nicht ganz legalen Methoden Streitigkeiten innerhalb der Jeon-Familie aus der Welt zu schaffen.

»Muscheln aus dem Meer von Yongwangguk!«, ruft ein anderer Verkäufer. »Getrocknete, gesalzene Algen! Getrocknete Makrelen!«

»Pelze aus der Wildnis Wyusans! Mit feinem, dichtem Fell, das euch garantiert warm hält!« Obwohl der Handel mit Wyusan immer noch einigermaßen selten ist, findet er doch häufig genug statt, dass Waren von dort auf unserem Markt landen. Die Bevölkerung von Wyusan ist mürrisch und derb – alle sechs Monate überqueren sie die Berge oder segeln übers Meer, wenn ihnen das ordentlich Profit bringt.

»Fleisch aus der Wildnis Wyusans! Große Stücke, eingelegt und köstlich!«

Da der schnurrbärtige Mann noch immer nirgends zu sehen ist, bleibt mein Blick an einem kleinen Marktstand zwischen einem Pelzhändler aus Wyusan und einer Blumenbude hängen. Die Auslage quillt über von noch dampfenden Gebäckstücken, die allesamt einladend in der Morgensonne glitzern.

Die Frau hinter dem Stand ist vollauf damit beschäftigt, dem Pelzhändler aus Wyusan, der gerade mit einem schelmischen Grinsen in eine mit Kompott gefüllte Teigtasche beißt, schöne Augen zu machen.

Mir knurrt der Magen.

Yoonho, der meine Vorliebe für Süßes kannte, hatte immer dafür gesorgt, dass ein Teller mit Gebäck für mich zum Frühstück bereitstand, dazu ein Glas sprudelnder Litschisaft. Chara und Chryse beneideten mich stets darum, worüber ich mich insgeheim freute. Auch wenn ich nicht die langen Beine oder die perfekten Nasen der Zwillinge besaß, so hatte ich zumindest fünf mit Zuckerguss überzogene Stückchen, die zum Anbeißen lecker aussahen.

Ehe ich überhaupt merke, was ich tue, habe ich mich schon von der Wand abgestoßen und schlängele mich über den Markt. Dabei weiche ich geschickt grölenden Männern aus, die von billigem Reiswein bereits betrunken sind und Arm in Arm mit schnatternden, stark geschminkten Frauen durch das Gedränge stolpern.

Es kostet mich keine Mühe, die Finger um ein vom Zucker klebriges Gebäckstück zu legen und mich dann wieder unter die Leute zu mischen, den Mund voll mit süßem, blättrigem Teig.

Es scheint Jahre her zu sein, seit ich etwas anderes als schalen Reis, fauliges Gemüse oder Streifen getrockneten, zähen Fischs gegessen habe. Ich nehme noch einen Bissen, meine Augen füllen sich mit heißen Tränen und ich kauere mich Schutz suchend an die Wand der Gasse. Zuckerkristalle knirschen zwischen meinen Zähnen, erinnern mich daran, wie es war, eine andere als diese kranke, verkorkste Verräterin zu sein.

Eine … menschlichere Person.

»Du liebe Güte«, bemerkt eine nasale Stimme trocken und ich zucke zusammen. »Denkt Kalmin jemals daran, seinen kleinen Huren auch was zu essen zu geben?«

Ich springe auf und ziehe meinen Dolch aus der Scheide.

Der Mann vor mir schnaubt geräuschvoll, dann kratzt er sich mit einem kurzen, dicken Finger an seinem fliehenden Kinn.

Ergrauende Haare, ein langer, hängender Schnurrbart … und ein oktarianischer Akzent. Da, wo ich die Silben rolle und dehne, spricht er sie barsch und schnell aus. Rasch habe ich mich wieder gefasst.

»Du hast dir Zeit gelassen«, blaffe ich ihn an und nehme noch einen Bissen von meinem Zuckerbrötchen, ohne den Dolch sinken zu lassen. »Ich warte schon den halben Tag.«

»Es ist noch nicht mal Mittag«, protestiert der Mann stirnrunzelnd. »Außerdem hatte ich einen viel weiteren Weg. Die Reise von Oktari ist ziemlich …« Er merkt, dass mich das nicht schert, und räuspert sich. »Die Juwelen, wenn du so freundlich wärst.«

»Zuerst das Geld.« Ich verputze den Rest des Gebäcks, wische mir die Hände an der Hose ab und kämpfe gegen den Drang an, mir Zuckerguss und Krümel von den Fingern zu lecken. Nachher, sage ich mir, gehe ich noch mal am Stand der Bäckerin vorbei. Und noch mal. Und noch mal.

Der Mann schnaubt höhnisch. »Woher weiß ich, dass du dich dann nicht mit meinen Edelsteinen aus dem Staub machst?« Er hält inne, um sich wieder am Kinn zu kratzen. »Woher weiß ich, dass Kalmin es überhaupt geschafft hat, in den Tempel des Verderbens einzudringen? Woher weiß ich, dass deine Tasche nicht leer ist?«

Ich verdrehe die Augen, öffne die Schultertasche ein Stück weit und lasse den Mann einen Blick auf die Funken sprühenden Juwelen werfen. Dann ziehe ich die Tasche mit einem Ruck wieder zu und kneife die Augen zusammen. »Zuerst das Geld«, fordere ich in einem Ton, bei dem der Mann zusammenzuckt. Unbeugsam und eiskalt ist der Tonfall der Assassine von Sunpo, der Schnitterin.

Vor Jahren habe ich diesen Namen zu Ehren der legendären Jeoseung Saja ausgewählt – Boten der Unterwelt, die die Seelen der Lebenden ernteten und sie zu Yeomra brachten, dem Gott des Todes. Der Gedanke, dass ich ihnen ähneln könnte, gefiel mir. Allerdings werde ich nie herausfinden, ob dem wirklich so ist, denn die Jeoseung Saja verschwanden zusammen mit den Göttern und überließen es Leuten wie mir, ihre Tätigkeit fortzuführen.

Der Käufer zieht rasch einen nagelneuen Wechsel aus seiner Tasche und reicht ihn mir. Ich überfliege das Schriftstück kurz, achte aber darauf, meine gelangweilte Miene beim Anblick des Betrags beizubehalten – trotz der hohen Summe. Argwöhnisch lese ich mir auch die Details durch.

Der Name des Mannes ist Doi Arata und er hat den Wechsel wie vereinbart in unserer hiesigen Währung – dem Yeokun – für Konrarnd Kalmin ausgestellt. Ich verstaue das Schriftstück in meiner Tunika und werfe Arata die Schultertasche vor die Füße. Mit fanatischem Eifer lässt er sich auf alle viere nieder, seine gierigen Hände packen die Riemen. Er umklammert sie fest und grinst. Ich betrachte ihn voller Widerwillen.

»Viel Spaß mit deinen Steinen«, sage ich verächtlich und meine schwarzen Stiefel kommen gefährlich nahe neben Aratas Fingern auf, als ich an ihm vorbeimarschiere, froh, die schwere Tasche los zu sein. Im Haus der Schwarzkraniche warten noch drei weitere auf mich, aber darüber will ich mir jetzt keine Gedanken machen.

Stattdessen mische ich mich wieder unter die trubelige Menge auf dem Marktplatz. Gewiss kann ich mir ein bisschen Zeit nehmen, um noch ein oder zwei Gebäckstücke zu stehlen. Ich weiche einer Frau aus, die etwas unsicher ein Fässchen Reis auf dem Kopf balanciert. Trotzdem rieseln mir ein paar Körner auf den Scheitel. Ungeduldig bürste ich sie aus meinem Haar, als mich ein Mädchen anrempelt, das ungefähr in meinem Alter ist. Allem Anschein nach ist sie betrunken, denn sie schwingt eine Flasche mit einer scharf riechenden Flüssigkeit.

»Entschuldigung«, nuschelt das Mädchen und will schon weiterschlendern.

Aber ich packe sie am Handgelenk. Fest. »Gib mir mein Feuerzeug zurück«, sage ich leise. Drohend.

Sie reißt vor Schreck die Augen auf.

Ich lege den Kopf schief und warte. Kleine Taschendiebin.

Mir ist nicht entgangen, wie das Mädchen die Hand in meine Tasche gesteckt hat, und mir ist auch nicht entgangen, dass der stechende Geruch nur von der Flasche ausgeht und nicht von ihrem Atem.

Das Mädchen windet sich in meinem Griff, reicht mir dann aber mit verdrossener Miene das Feuerzeug zurück. Ich nehme es an mich und schiebe es in meine Hosentasche. Doch ich lasse das Mädchen nicht los – noch nicht.

»Einen Rat«, murmele ich und packe kräftiger zu. »Du darfst nicht zögern, wenn du deine Beute herausziehst. Sonst wirst du erwischt. Die Mausefalle heißt nicht ohne Grund so.« Ich gebe das Mädchen frei, woraufhin sie mich noch einen kurzen Augenblick lang anstarrt, ehe sie mit einem ängstlichen Blick über die Schulter davonhuscht. Ich sehe ihr nach und schüttle in einer Mischung aus Mitleid und Verärgerung den Kopf.

Früher war ich dieses Mädchen, das den Passanten ihre Yeokun klaute, das im dichten Gedränge auf der Jagd nach Bargeld war. Aber ich bin nie so ungeschickt gewesen. Dieses Mädchen wird eines Tages erwischt werden, und zwar von jemandem, der nicht so nachsichtig sein wird wie ich.

Rasch drehe ich auf dem Markt meine Runden. Die Bäckerin flirtet noch immer mit dem Pelzhändler, der wirkt, als äße er bereits die dritte oder vierte mit Kompott gefüllte Leckerei. Keiner der beiden merkt, dass ich zwei weitere Gebäckstücke aus der Auslage stehle.

Mit beträchtlicher Genugtuung beiße ich in den Blätterteig, dann verlasse ich den Platz und beschließe, auf einem nahe gelegenen Dach meine gestohlenen Süßigkeiten zu verzehren. Meine Füße baumeln über der Dachkante, während ich die Marktbesucher unten beim Betrachten mancher Waren Oooh und Aaah sagen höre. Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Einen Moment lang weiß ich nicht, was es ist. Aber dann … Oh.

Ich bin glücklich.

Oder zumindest fühle ich etwas, das Glück ähnelt.

Sofort schnürt sich mir der Hals zu und das Aufflackern der wohligen Wärme verpufft. An ihre Stelle tritt eine leere Kälte.

Ich verdiene das Glück nicht, ich verdiene die Zuckerbrötchen nicht, auf die ich mich eben noch so gefreut habe. Plötzlich sind sie zu schwer in meinen Händen. Die Glasur klebt an meinen Fingern wie Blut. Als mir meine wahre Lage wieder bewusst wird, legt sich ein Schleier über meine Augen.

Ich befinde mich auf einem Dach und esse süßes Gebäck.

Meine Gefährten sind tot, ihre Leichen wurden nördlich der Knochengrube im schlammigen Wasser des Flusses am Rande von Sunpo versenkt.

Einmal bin ich dorthin gegangen, um den Flussgott Habaek zu bitten, sie mir zurückzugeben.

Was er nicht getan hat.

Galle brennt in meiner Kehle und mein Blick verengt sich, beginnt gefährlich zu verschwimmen, während ich nach Luft ringe. Ich bohre meine Finger ins Gebäck und rapple mich auf.

Ich sollte die Leckereien nicht haben. Ich verdiene sie nicht.

Mit einem heiseren Knurren hole ich aus und schleudere die Brötchen in die Luft, wobei mein Herz wie eine Kriegstrommel hämmert.

In diesem Moment erscheint der Dokkaebi.

KAPITEL 4

Es beginnt mit einem Wogen.

Ein Wogen um mich herum, als wäre die Luft aus Wasser und jemand hätte einen Stein über die glatte blaue Oberfläche hüpfen lassen. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf, während ich von meinem Hochsitz aus das Dach des Hauses gegenüber beobachte, wo sich die Luft bewegt.

Sie bewegt sich.

Plötzlich scheint mein Atem einerseits zu schwach und andererseits doch zu heftig zu gehen.

Die Luft ist schwer von einem seltsamen Geruch, der ganz und gar nicht unangenehm ist. Er erinnert an den Duft von dunklem Süßholzkonfekt … und lieblichen, aber würzigen Pflaumenblüten.

Wie festgefroren sehe ich die Luft ein letztes Mal hin und her wallen, dann teilt sie sich. Und eine umschattete Gestalt kommt zum Vorschein, die aus einem offenbar endlosen finsteren Gang hinaus auf das Dach tritt. Mit einem leisen Summen hört das Wogen auf, aber der Geruch nach Süßholz und Pflaume bleibt.

Mein Verstand kann nicht begreifen, wer da auf dem gegenüberliegenden Dach steht.

Er will nicht begreifen, dass meine Zuckerbrötchen, die ich nur Augenblicke zuvor durch die Luft geschleudert habe, nun über den ausgestreckten Armen der Gestalt schweben. Mir klappt die Kinnlade runter, als sie hübsch nacheinander auf die wartenden Handflächen plumpsen.

Ein Wort schießt mir durch den Kopf, heiß und glühend wie ein Blitzschlag.

Dokkaebi.

Mir wird der Mund trocken. Unmöglich. Die Unsterblichen kommen nie nach Sunpo … außer um seine Bewohner nach Gyeulcheon zu entführen.

Und das tut nur einer von ihnen. Der Spielmann.

Meine Hand schnellt zu meinem Dolch.

Mist. Mist, Mist, Mist, Mist. Ich möchte den Himmel um Hilfe anrufen, möchte die Götter anflehen, mich zu erhören, mich zu beschützen, mich vor diesem Wesen zu bewahren.

Seokga, denke ich verzweifelt und wünsche mir, dass der Gott der Gauner sich herablässt, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. Bitte, rette mich. Zeig mir einen Trick, einen Trick, um zu entkommen …

Aber das wird er nicht. Das weiß ich.

Ich blicke hinab auf die Gasse und mir gefriert das Blut in den Adern. Keiner dort unten scheint zu bemerken, was auf den beiden Dächern vor sich geht. Alle sind zu sehr mit dem Kauf von Kleinigkeiten und Nippes beschäftigt.

Ich bin allein.

Wie immer.

Ich spüre die Augen des Dokkaebi auf mir ruhen. Der Ausdruck darin wirkt … neugierig. Belustigt. Aber darunter nehme ich eine Reihe von dunkleren Emotionen wahr.

Skepsis. Feindseligkeit. Zorn.

Die Schatten, die die Gestalt auf dem Dach umgeben, flimmern und ziehen sich zurück. Wie schwarze Tinte sickern sie in die Ziegel zu seinen Füßen, bis sie vollkommen verschwunden sind.

Mir gegenüber steht tatsächlich ein Dokkaebi.

Ein Dokkaebi, der mich unverwandt ansieht, während er in ein Zuckerbrötchen beißt.

Reine, nackte Angst bohrt sich wie eine Klinge in meine Brust und reißt mich abrupt aus meiner benommenen Schockstarre.

Mein erster Gedanke ist, dass er einer Marmorstatue ähnelt.

Seine markanten Gesichtszüge sind wie gemeißelt, sein Körper ist groß und schlank. Selbst aus dieser Entfernung kann ich sehen, wie sich die Wölbungen seiner festen, muskulösen Brust unter seiner Kleidung abzeichnen – einem langen, fließenden schwarzen Gewand, das an der Hüfte von einer silbernen Schärpe zusammengehalten wird und mit Blumenmustern bestickt ist, die sich auch auf seiner schwarzen Baji-Hose wiederfinden.

Keine einzige Strähne seines mitternachtsschwarzen langen Haars, das ihm bis zur Brust reicht, steht hervor. Aber es gibt durchaus Dinge an ihm, die als menschlich durchgehen könnten, nehme ich an. Seine gebräunte Haut und die glitzernden Silberohrringe zum Beispiel. Aber niemals diese spitzen Ohren. Und seine Augen …

Es sind Fuchsaugen, listig und schräg stehend, und sie glühen in einem unheilvollen Silber, als er mich damit fixiert. Und doch, trotz des Fehlens jeglicher Menschlichkeit in ihren wirbelnden Tiefen … ist er das schönste Wesen, das ich je gesehen habe.

Mir stockt der Atem.

Langsam betrachtet der Dokkaebi das Gebäck in seinen Händen. Ich beobachte ihn mit unruhigem Herzschlag, während meine Finger langsam weiter zu dem Dolch an meiner Taille wandern. Hoffentlich muss ich nicht den Versuch wagen, meine Waffe gegen ihn zu richten.

Warum ist er hier?

»Die hier«, sagt der Dokkaebi, nimmt einen weiteren Bissen von dem Zuckerbrötchen und kaut nachdenklich, »wie heißen die?« Seine Stimme ist sanft, fast samtig, dennoch höre ich den mörderischen Unterton. Er zieht eine Augenbraue hoch und starrt fragend auf das Gebäck.

»Ist es für Euer Volk normal, aus dem Nichts auf einem Dach aufzutauchen?«, stoße ich hervor, ehe ich über meine Worte genauer nachdenken kann.

Der Dokkaebi lacht leise und seine blutroten Lippen verziehen sich zu einem umwerfend schönen Grinsen, während er mich unter dichten dunklen Wimpern ansieht. »Ist es für dein Volk normal, absolut genießbares Essen vom Dach zu werfen?«

Als seine silbern funkelnden Augen mich mustern und einladen, seinen spöttischen, neckenden Ton aufzugreifen, regt sich etwas in meinem gebrochenen, blutenden Herzen.

»Eine Tradition in Sunpo. Es soll Glück bringen.«

»Ach wirklich?« Wenn ich seinem amüsierten Ausdruck glauben darf, dann durchschaut er meinen Unsinn, trotzdem halte ich seinem Blick stand – mehr aus Sturheit denn aus Mut. Ich werde nicht die Erste sein, die wegschaut.

Ich gebe mir alle Mühe, das töricht aufgeregte Pochen in meiner Brust zu ignorieren, und sehe ihn mit schmalen Augen an. »Wohin genau starrt Ihr?«

Ein geisterhaftes Lachen wabert durch die Luft. »Nirgendwohin.« Er hält inne und in seiner Miene blitzt etwas auf, das mich meinen scharfen Ton sofort bereuen lässt. Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Doch im nächsten Moment ist der Funke in seinen Augen schon wieder erloschen. Zurück bleibt nur eine träge Heiterkeit. »Ich bin wohl auf dem falschen Dach.«

Ich schaue ihn ungläubig an. »Dem falschen Dach«, wiederhole ich tonlos. »Dem falschen Dach?«

»In der Tat.« Die leiseste Andeutung eines Grinsens umspielt die Mundwinkel des Dokkaebi. »Leb wohl«, sagt er lässig, zu lässig für einen zweifellos tausendjährigen Unsterblichen, der keine Ahnung hat, was ein Zuckerbrötchen ist.

Ich halte den Atem an und die gespannte Erwartung treibt mir den Schweiß in den Nacken, während ich den Dokkaebi mustere und nach einem Zeichen von Niedertracht, von Böswilligkeit suche … aber keins finde. Sein Grinsen wird noch breiter und mit einer schnellen, anmutigen Bewegung wirft er mein Gebäck in die Luft. Und dann, bevor ich auch nur blinzeln kann, wallt die Luft erneut auf, eine weitere Duftwolke nach Süßholz und Pflaumenblüten umgibt mich, eine Verschattung …

… und er ist verschwunden.

Die beiden Brötchen, die der Dokkaebi zurückgelassen hat, schweben für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft, ehe sie auf die ahnungslosen Marktbesucher herabregnen.

Unmöglich. Götterverdammt unmöglich.

Ich stolpere rückwärts, gehe in die Knie und beginne zu schwanken, verliere beinahe das Gleichgewicht.

Ein Dokkaebi.

In Sunpo.

Der mit mir gesprochen hat.

Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Es muss eine andere Erklärung geben.

Mit zitternden Händen reibe ich mir übers Gesicht.

Entweder ist tatsächlich ein Dokkaebi erschienen und hat sich mit mir über Gebäck unterhalten oder ich habe halluziniert. Letzteres ist sehr viel wahrscheinlicher, beschließe ich, als ich mit wackeligen Beinen und einem dumpfen Rauschen in den Ohren das Dach verlasse.

Aber schon wieder kann ich beinahe den Duft von dunklem Süßholz und würzigen Pflaumenblüten riechen; er legt sich auf den herben, fauligen Gestank, der wie eine erstickende Decke über den Straßen Sunpos hängt. Mit jedem meiner Schritte scheint er zuzunehmen. Eine alles bezwingende Kälte erfüllt mich und trotz des heißen Sommertags fröstle ich.

Während ich mich unsicher an den geduckten hölzernen Chogajips der Stadt vorbeischlängele, deren strohgedeckte Dächer jeden Moment nachzugeben drohen, wird der Geruch noch stärker. Immer wieder begegne ich kleinen Grüppchen von Frauen, die zusammen auf den schiefen Veranden ihrer Häuser sitzen und hinter faltigen Händen und in gedämpftem Flüsterton den neuesten Klatsch austauschen.

Der Unterschied zwischen Münzhof und den restlichen Bezirken Sunpos ist bemerkenswert. Die Gebäude hier heben sich von allen anderen kleinen Hanoks des Königreichs ab. Das Hauptquartier der Schwarzkraniche ist ein Giwajip – ein größeres Haus mit einem Ziegeldach, das für die Oberschicht gebaut wurde und durch ein Tor vom Rest der Stadt abgeschirmt ist. Selbst für Münzhof ist es ein beeindruckendes Anwesen und bestimmt fünfmal so hoch wie die Häuser in den übrigen Vierteln. Dennoch lässt es sich nicht mit der früheren Festung der Sturmkrallen vergleichen.

Dem Giwajip der Schwarzkraniche fehlt die Kultiviertheit des alten, verlassenen Palasts, der auf der anderen Seite des Königreichs in den Ausläufern von Grätenfang liegt, nah dem Meer von Yongwangguk. Ihm fehlt die beeindruckende Treppenflucht aus weißem Stein, die glänzenden schwarzen Säulen unter den geschwungenen smaragdgrünen Dächern. Ihm fehlt der Weidengarten, das Plätschern des Koi-Teichs mit seinen bunt schillernden Bewohnern und das Echo unaufhörlichen Gelächters – die Musik des Lebens und der Liebe.

Dieser Palast war ein Ort voller Brutalität und Heimtücke, aber auch voll Tanz und Trank. Wo Diebe, Spione und kaltblütige Mörder lachend die Weinflaschen hoben und siegestrunken brüllten: »Lang leben die Sturmkrallen! Lang leben die Verdammten!«

Jetzt aber ist unser Haus verlassen – der Garten überwuchert von nimmersattem Unkraut, die Weiden von ihrem eigenen Gewicht nach unten gezogen auf das tote, vertrocknete Gras. Nur Gwisin, die Geister der Verstorbenen, bewohnen die Gänge.

Mein Inneres zieht sich qualvoll zusammen. Trauer nagt an meinem Herzen, gräbt mit messerscharfen Fingernägeln tiefe Furchen in das nutzlose Organ.

Heiße Tränen verschleiern mir die Sicht, als ich mich der dunklen Steinmauer nähere, und ich nehme den Schwarzkranich, der das Tor bewacht, kaum wahr.

Was ich jedoch wahrnehme, ist der harte, schnelle Schlag, der mich in den Bauch trifft.

Ich keuche und taumle zurück auf die Straße, die Luft bleibt mir weg, sodass ich würgen muss. Mit einer Hand fasse ich mir an die Kehle, mit der anderen greife ich nach meinem Dolch.

»Du Miststück«, brüllt der Schwarzkranich mich von oben herab an. »Du verdammtes Miststück!« Während er mich anschreit, hebt er die Fäuste für einen weiteren Angriff und lässt die geballten Hände niedersausen.

Mein Körper reagiert bereits, obwohl ich gedanklich noch weit hinterherhinke. Was habe ich nur getan? Ich weiche seinem Schlag aus, rolle mich zur Seite weg. Das Kopfsteinpflaster drückt sich in meine Arme, ehe ich wieder auf die Beine komme.